Victor Hugo
Notre-Dame in Paris. Erster Band
Victor Hugo

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Vorwort des Uebersetzers

Der berühmte Roman Victor Hugo's wird hiermit der deutschen Leserwelt in einer neuen Übersetzung dargeboten.

Ich habe mich bemüht, Form und Geist dieses größten Erzeugnisses der neuromantischen Litteratur Frankreichs treu und unverkürzt zu übermitteln; nur an einigen wenigen Stellen, wo die Diction forcirt oder für die deutsche Phantasie zu glühend erscheint, sind mit leiser Hand kleine Dämpfungen angebracht worden. Die Übersetzung nimmt trotzdem aber das Recht für sich in Anspruch, eine im Sinne des Originales treue heißen zu können.

Möge meine Arbeit keine Splitterrichter finden, die Gunst des verehrlichen Publikums sich der mit Recht weltberühmten Dichtung aber von neuem zuwenden!

Leipzig, Frühjahr 1884.

B.

 


 

Vor einigen Jahren fand der Verfasser dieses Buches beim Besuche, oder besser gesagt, beim Durchsuchen von Notre-Dame, in einem versteckten Winkel des einen der Thürme das Wort:

ΑΝΑΓΚΗAltgriechisch: Verhängnis, Schicksal. Anm. d. Uebers.

mit der Hand in die Mauer eingegraben.

Diese großen griechischen Buchstaben, die vor Alter schwarz geworden und ziemlich tief in den Stein eingekratzt waren, hatten in ihren Formen und Stellungen so eigenthümliche, an die gothische Schreibkunst erinnernde Züge, daß man in ihnen die mittelalterliche Hand errieth, welche sie da angeschrieben hatte. Ueberdies ergriff der düstere und unheimliche Sinn, den sie enthielten, den Autor in lebhafter Weise.

Er fragte sich, er suchte zu errathen, wer wohl die bedrängte Seele sein konnte, welche diese Welt nicht hatte verlassen wollen, ohne dieses Denkzeichen eines Verbrechens oder Unglücks an der Front der alten Kirche zu hinterlassen.

Seitdem hat man die Mauer mit Mörtel übertüncht, oder irgend jemand sie abgekratzt, und die Inschrift ist verschwunden. Denn so verfährt man seit bald zweihundert Jahren mit den wundervollen Kirchen des Mittelalters. Verstümmelungen erleiden sie von allen Seiten, von innen so wie von außen. Der Priester übertüncht sie, der Baumeister kratzt sie ab; schließlich kommt das Volk darüber und demolirt sie.

Daher ist außer dem schwachen Andenken, welches der Autor dieses Buches ihm hier widmet, heute nichts mehr von dem geheimnisvollen, im düstern Thurme von Notre-Dame eingegrabenen Worte übrig; nichts mehr von dem unbekannten Schicksale, welches es in so schwermüthiger Weise zum Ausdruck bringt. Der Mensch, welcher das Wort auf die Mauer geschrieben hat, ist vor mehreren Jahrhunderten aus der Mitte der Geschlechter verschwunden, das Wort gleichfalls von der Mauer verwischt, und die Kirche wird vielleicht selbst bald von der Erde verschwinden.

Gerade über dieses Wort ist vorliegendes Buch geschrieben worden.

März 1831.


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