Victor Hugo
Notre-Dame in Paris. Erster Band
Victor Hugo

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3. Geschichte eines Maishefekuchens.

Zu der Zeit, in welcher sich diese Geschichte zuträgt, war die Zelle im Rolandsthurme besetzt. Wenn der Leser zu erfahren wünscht, mit wem, so braucht er nur die Unterhaltung dreier rechtschaffener Gevatterinnen anzuhören, welche, im Augenblicke, wo wir seine Aufmerksamkeit beim Rattenloche festhielten, gerade von derselben Seite vom Châtelet herkamen und ihre Schritte den Fluß entlang nach dem Grèveplatze hinlenkten.

Zwei von diesen Frauen waren nach der Art anständiger Bürgerfrauen von Paris gekleidet. Ihr feines, weißes Busentuch, der roth- und blaugestreifte Rock aus Wollenstoff, die gestrickten weißen, mit farbigen Zwickeln gewirkten Strümpfe, welche straff über die Wade gezogen waren, ihre rothgelb carrirten Lederschuhe mit schwarzen Sohlen, und namentlich die Kopfbedeckung, diese Art flittergoldenes, mit Bändern und Spitzen überladenes Horn, welches die Frauen der Champagne, im Wetteifer mit den Grenadieren der kaiserlich russischen Garde, noch heute tragen, – alles das verkündete, daß sie zu jener Klasse reicher Kaufmannsfrauen gehörten, welche die Mitte hält zwischen dem, was unsere Bedienten eine »Frau«, und zwischen dem, was sie eine »Dame« nennen. Sie trugen weder Ringe noch goldene Kreuze; aber es war leicht zu sehen, daß das bei ihnen nicht aus Armuth, sondern ganz offenkundigerweise aus Furcht vor der daraufstehenden Strafe geschah. Ihre Gefährtin war ohngefähr in derselben Weise geschmückt, aber es war in ihrer Haltung und ihrem Wesen ein gewisses Etwas, das die Notarsfrau aus der Provinz erkennen ließ. Man ersah an der Art, wie der Gürtel ihr über den Hüften saß, daß sie lange Zeit hindurch nicht in Paris gewesen war. Dazu denke man sich ein in Falten gelegtes Busentuch, Bandschleifen auf den Schuhen, daß ferner die Streifen ihres Rockes in der Breite und nicht in der Länge liefen, und tausend andere Abgeschmacktheiten, über die sich der gute Geschmack entsetzte.

Die beiden ersten wanderten in jenem, den Pariserinnen eigentümlichem Gange, welcher den Landbewohnern Paris kenntlich macht. Die Landfrau hatte einen starken Knaben an der Hand, welcher einen großen Kuchen in der seinigen hielt. Es ist uns unangenehm, hinzufügen zu müssen, daß er, in Anbetracht der Rauheit der Jahreszeit, aus seiner Zunge ein Schnupftuch machte.

Der Knabe ließ sich mit fortziehen, non passibus aequis,Lateinisch: Nicht in gleichen Schritten. Anm. d. Uebers. wie Virgil sagt, und stolperte jeden Augenblick zum großen Aerger der Mutter. Freilich sah er mehr nach dem Kuchen, als auf den Weg. Zweifelsohne verhinderte ihn irgend ein gewichtiger Beweggrund, in den Kuchen hineinzubeißen; denn er begnügte sich damit, ihn mit zärtlichen Blicken zu betrachten. Eigentlich hätte die Mutter den Kuchen tragen sollen. Es war grausam, aus dem dicken Bausback einen Tantalus zu machen. Indessen unterhielten sich die Bürgerfrauen (die Benennung »Dame« war damals den Edelfrauen vorbehalten) alle drei zu gleicher Zeit.

»Laßt uns eilen, Frau Mahiette,« sagte die jüngste der dreien, die zugleich auch die umfangreichste war, zu der Frau aus der Provinz. »Ich fürchte sehr, wir kommen zu spät; man sagte uns im Châtelet, daß man ihn sofort zum Pranger führen würde.«

»Ah, bah! was sagt Ihr da doch, Frau Oudarde Musnier?« versetzte die andere Pariserin. »Er wird zwei ganze Stunden am Pranger stehen. Wir haben Zeit. Habt Ihr schon jemals einen am Pranger stehen sehen, liebe Mahiette?«

»Ja,« sagte die Frau aus der Provinz, »in Reims.«

»Ach, was! Was will das sagen, Euer Pranger in Reims? Ein elendes Gerüste, auf welchem man nur Bauern umdreht. Das ist was Rechts!«

»Wie? Bauern?« sagte Mahiette, »auf dem Tuchmarkte! in Reims! Wir haben sehr schöne Verbrecher gesehen; und solche, die Vater und Mutter ermordet haben! Bauern! Für was haltet Ihr uns, Gervaise?«

Sicherlich war die Frau aus der Provinz auf dem Punkte, sich für die Ehre ihres Prangers zu ärgern. Glücklicherweise lenkte die besonnene Frau Oudarde aber die Unterhaltung zur rechten Zeit auf einen andern Gegenstand hin. »Da fällt mir ein, Frau Mahiette, was sagt Ihr zu unsern flamländischen Gesandten? Habt Ihr auch so schöne Gesandte in Reims?«

»Ich gestehe,« entgegnete Mahiette, »daß man Flamländer, wie jene, nur in Paris zu sehen bekommen kann.«

»Habt Ihr in der Gesandtschaft den großen Gesandten gesehen, welcher Strumpfwirker ist?« fragte Oudarde.

»Ja!« sagte Mahiette. »Er sieht wie ein Saturn aus.«

»Und jenen Großen, dessen Gesicht wie ein nackter Schmeerbauch aussieht?« entgegnete Gervaise. »Und jenen Kleinen mit kleinen Aeugelchen, die von entzündeten, wimperlosen Augenlidern, ähnlich einem zerfetzten Distelkopfe, umrandet sind?«

»Aber erst ihre Pferde, was sind die schön anzusehen,« sagte Oudarde, »wie sie nach der Mode ihres Landes gezäumt und gesattelt sind!«

»Ach, meine Liebe!« unterbrach sie die Landfrau Mahiette, die ihrerseits den Ausdruck der Überlegenheit annahm, »was würdet Ihr wohl sagen, wenn Ihr im Jahre 61, bei der Krönung in Reims, vor achtzehn Jahren, die Pferde der Prinzen und des königlichen Gefolges gesehen hättet? Schabracken und Decken aller Art; die einen aus Damast und feinem Goldstoffe, mit Zobelpelz gefüttert; die andern aus Sammet mit Hermelinschwänzen gefüttert; wieder andere ganz mit Goldstickereien und großen goldenen und silbernen Troddeln überladen. Und das Geld, das das alles gekostet hatte! Und die schönen Pagen, welche darauf saßen!«

»Das verhindert alles nicht,« entgegnete Frau Oudarde trocken, »daß die Flamländer sehr schöne Pferde haben, und daß sie gestern ein prächtiges Abendessen beim Herrn Oberbürgermeister auf dem Rathhause eingenommen haben, wobei ihnen Confect, Gewürzwein, Zuckergebäck und andere Delicatessen aufgetragen wurden.«

»Was sagt Ihr da, liebe Nachbarin?« rief Gervaise. »Beim Herrn Cardinal, im Klein-Bourbon, war es, wo die Flamländer zu Abend gespeist haben.«

»Nein, nein! Auf dem Rathhause.«

»Bewahre, im Klein-Bourbon.«

»Es ist so gewiß auf dem Rathhause gewesen,« entgegnete Oudarde mit Bitterkeit, »als der Doctor Secourable eine lateinische Ansprache an sie gerichtet hat, von der sie sehr befriedigt geblieben sind. Das hat mir mein Mann gesagt, welcher vereideter Buchhändler ist.«

»Es ist so sicher im Klein-Bourbon gewesen,« entgegnete Gervaise ebenso lebhaft, »als ihnen der Hausmeister des Herrn Cardinal folgendes vorgesetzt hat: Zwölf Doppelquart weißen Gewürzwein, Clairet und rothen Gewürzwein, vierundzwanzig Schachteln vergoldeten Lyoner Doppelmarzipan, ebenso viele zweipfündige Wachskerzen; und sechs Halbohme weißen und moussirenden Beaunewein, den besten, welchen man hat schaffen können. Ich hoffe, daß das unumstößlich ist. Ich habe es von meinem Gatten, welcher Vorsteher der Fünfzigmänner im Rathszimmer der Bürgerschaft des Châtelets ist, und der heute morgen einen Vergleich machte zwischen den flamländischen Gesandten und denen des Presbyter JohannesDer Presbyter Johannes, Korkhan, wird im Mittelalter als christlicher Fürst in Asien genannt. Anm. d. Uebers. und des Kaisers von Trapezunt, die, unter dem letzten Könige, von Mesopotamien nach Paris gekommen sind und Ringe in den Ohren trugen.«

»Wahr ist, daß sie auf dem Rathhause zu Abend gespeist haben,« erwiderte Oudarde, die sich von diesen Auskramungen kaum berührt fühlte, »daß man niemals einen solchen Reichthum an Gerichten und Delicatessen gesehen hat.«

»Ich sage Euch, ich, daß sie von Le Sec, dem Polizeiofficianten, im Palaste Klein-Bourbon bedient worden sind und daß Ihr Euch in diesem Punkte täuscht.«

»Auf dem Rathhause, sage ich Euch.«

»Im Klein-Bourbon, meine Liebe! So gewiß, als man das Wort ›Hoffnung‹, welches über dem großen Haupteingange geschrieben steht, mit bezaubernden Versen illuminirt hatte.«

»Auf dem Rathhause! Auf dem Rathhause! Blies doch Husson-le-Voir die Flöte dabei!«

»Nein, nein! behaupte ich.«

»Gewiß! Gewiß!«

»Nein! sage ich.«

Die gute dicke Oudarde wollte erwidern, und im Streite darüber wären sie sich vielleicht an die Hauben gerathen, wenn Mahiette nicht plötzlich gerufen hätte: »Sehet doch jene Leute, welche sich da unten am Ende der Brücke zusammengerottet haben! In ihrer Mitte haben sie etwas, das sie betrachten.«

»In der That,« sagte Gervaise, »ich höre das Tamburin schlagen. Ich glaube, es ist die kleine Esmeralda, welche ihre Kunststücke mit der Ziege macht. Wohlan, schnell! Mahiette, verdoppelt Eure Schritte und zieht Euren Knaben mit. Ihr seid hierher gekommen, um die Merkwürdigkeiten von Paris in Augenschein zu nehmen. Gestern habt Ihr die Flamländer gesehen, heute müßt Ihr die Zigeunerin kennen lernen.«

»Die Zigeunerin!« sagte Mahiette, indem sie plötzlich umkehrte und den Arm ihres Sohnes fest umfaßte. »Gott soll mich davor bewahren; sie könnte mir mein Kind stehlen. Komm, Eustache!«

Und sie begann eilig über den Flußdamm, nach dem Grèveplatze hin, zu laufen, bis daß sie die Brücke weit genug hinter sich hatte. Das Kind aber, welches sie mit sich zog, fiel dabei auf die Knien; sie blieb athemlos stehen. Oudarde und Gervaise holten sie wieder ein.

»Diese Zigeunerin Euer Kind stehlen!?« sagte Gervaise. »Ihr habt da eine sonderbare Idee.«

Mahiette schüttelte den Kopf mit nachdenklicher Miene.

»Merkwürdig ist doch,« bemerkte Oudarde, »daß die Nonne denselben Gedanken von den Zigeunerinnen hegt.«

»Wer ist das, die Nonne?« fragte Mahiette.

»Ei!« sagte Oudarde, »Schwester Gudule.«

»Wer ist das aber,« entgegnete Mahiette, »Schwester Gudule?«

»Das sieht Euch ähnlich in Eurem Reims, das nicht zu wissen!« antwortete Oudarde. »Es ist die Büßerin im Rattenloche.«

»Wie!« fragte Mahiette, »jenes arme Weib, der wir diesen Kuchen bringen?«

Oudarde machte eine zustimmende Kopfbewegung.

»Die nämliche. Ihr sollt sie sogleich an ihrer Luke auf dem Grèveplatze sehen. Sie hat dasselbe Urtheil, wie Ihr von diesen ägyptischen Vagabunden, welche die Handtrommel schlagen und den Leuten die Zukunft vorhersagen. Man weiß nicht, woher sie diesen Abscheu vor Zigeunern und Aegyptern hat. Aber Ihr, Mahiette, warum lauft Ihr denn vor ihnen so davon? Wollt Ihr sie wenigstens nicht sehen?«

»Oh!« sagte Mahiette und schloß den Rundkopf ihres Knaben dabei in ihre Hände, »ich mag nicht, daß mir begegnet, was Paquette-la-Chantefleurie begegnet ist.«

»Aha! Ihr wißt eine Geschichte, die Ihr uns erzählen wollt, meine gute Mahiette,« sagte Gervaise und legte ihren Arm in denjenigen Mahiette's.

»Recht gern,« antwortete Mahiette; »aber Ihr müßt aus Eurem Paris nicht herausgekommen sein, daß Ihr das nicht wißt! Ich will Euch also sagen (aber wir brauchen, um den Sachverhalt zu erzählen, nicht stehen zu bleiben), daß Paquette-la-Chantefleurie ein hübsches Mädchen von achtzehn Jahren war, als ich auch ein solches war: das heißt vor achtzehn Jahren, und daß es ihre Schuld ist, wenn sie, wie ich heute bin, nicht eine gute, stattliche, kräftige Mutter von sechsunddreißig Jahren mit einem Manne und einem Knaben ist. Uebrigens war von ihrem vierzehnten Jahre an keine Zeit mehr dazu! . . . Sie war also die Töchter Guybertauts, eines Spielmannes auf den Schiffen in Reims, – desselben, der vor Karl dem Siebenten bei dessen Krönung gespielt hatte, als er unsern Fluß Vesle von Sillery an bis Muison hinabfuhr, und als sogar Jeanne d'Arc, die Jungfrau, mit auf dem Schiffe war. Der alte Vater starb, als Paquette noch ganz jung war; sie hatte damals niemanden weiter, als ihre Mutter, die Schwester des Herrn Pradon, eines Gelbgießers und Kupferschmiedemeisters zu Paris, in der Straße Parin-Garlin, welcher voriges Jahr verstorben ist. Ihr seht, daß sie guter Leute Kind war. Die Mutter war eine gute Frau, leider! und lehrte Paquetten nichts weiter, als ein wenig Handel mit Krimskrams und Kinderspielzeug, der die Kleine nicht verhinderte, sehr stattlich zu werden und sehr arm zu bleiben. Sie wohnten alle beide in Reims, auf der Flußseite, in der Rue Folle-Peine. Merkt darauf; ich glaube, daß das die Ursache war, die Paquetten Unglück brachte. Im Jahre 61, im Jahre der Krönung unseres Königs Ludwig des Elften, den Gott erhalte, war Paquette so lebenslustig und so reizend, daß man sie überall nur die Chantefleurie nannte . . . Das arme Mädchen! . . . Sie hatte schöne Zähne, und sie lachte gern, um sie zu zeigen. Nun, ein Mädchen, das gern lacht, kommt bald dahin, Thränen zu vergießen; die schönen Zähne verderben die schönen Augen. So war es auch mit der Chantefleurie. Sie und ihre Mutter verdienten kümmerlich ihr Brot; seit dem Tode des Spielmannes waren sie sehr heruntergekommen; ihr Kramhandel brachte ihnen wöchentlich kaum mehr als sechs Heller ein, was im Ganzen noch nicht zwei Adlerheller beträgt. Wo war die Zeit hin, wo der Vater Guybertaut zwölf Sols Pariser Münze mit einem einzigen Liede bei einer Krönung gewann? Eines Winters (es war im nämlichen Jahre 61), als die Frauen weder Scheitholz noch Reisig besaßen, und es sehr kalt war, gab das der Chantefleurie ein so schönes, frisches Aussehen, daß die Männer sie »Paquette« hießen, und daß einige sie »Paquerette«Das im Deutschen nicht wiederzugebende Wortspiel liegt in: Paquette (Maßliebchen) und Pâquerette (Tausendschön). Anm. d. Uebers. nannten, und – daß sie zu Falle kam . . . Eustache! daß ich dich nicht etwa in den Kuchen beißen sehe! . . . Als sie eines Sonntags mit einem goldenen Kreuze am Halse in die Kirche kam, sahen wir sofort, daß sie verloren war. Mit vierzehn Jahren! Ueberlegt Euch einmal! Anfangs war es der junge Vicomte von Cormontreuil, welcher sein Schloß dreiviertel Meilen von Reims hat; dann der gnädige Herr Heinrich von Triancourt, ein königlicher Reiter; dann ein Geringerer, Chiart von Beaulion, ein Unteroffizier; nun, da sie immer tiefer sank, Guery Aubergeon, ein königlicher Tafeldiener; hierauf Macé von Frépus, der Bartscherer des Herrn Dauphin; später Thévenin Le Moine, ein Koch des Königs. Dann fiel sie, weil sie stets aus den Händen eines Bejahrteren in die eines Gemeineren gerieth, Wilhelm Racine, dem Bänkelsänger und Leiermanne, hernach dem Thiérry de Mer, dem Lampenputzer, zu. Schließlich war sie, die arme Chantefleurie, die Gemeinsame für alle; sie war bis zum letzten Heller ihres einst besessenen Goldstückes angekommen. Was soll ich Euch, werthe Frauen, noch sagen? Bei der Krönung, noch in dem nämlichen Jahre 61, war sie es, die dem Bordellaufseher das Bett machte! . . . In dem nämlichen Jahre!«

Mahiette seufzte und wischte sich eine Thräne ab, die ihr in die Augen trat.

»Das ist eine Geschichte, die gerade nichts so Außergewöhnliches an sich hat,« sagte Gervaise, »und ich sehe bei alledem weder Zigeuner noch Kinder.«

»Geduld!« fuhr Mahiette fort, »ein Kind – Ihr sollt eins zu sehen bekommen . . . Im Jahre 66, in diesem Monate auf den Tag der heiligen Paula werden es sechzehn Jahre, kam Paquette mit einem kleinen Mädchen nieder. Die Unglückliche! sie hatte große Freude darüber; sie wünschte sich seit langem ein Kind. Ihre Mutter, eine gute Frau, die nur immer die Augen zuzudrücken verstanden hatte, ihre Mutter war gestorben. Paquette hatte nichts mehr in der Welt, das sie lieben konnte; niemanden, der sie liebte. Seit den fünf Jahren, daß sie den Fehltritt gethan hatte, gab es kein elenderes Geschöpf, als die Chantefleurie. Sie stand allein in diesem Leben, verlassen; man zeigte mit Fingern auf sie, verfolgte sie mit Schimpfwörtern durch die Straßen; die Gerichtsdiener schlugen sie, kleine Gassenbuben in Lumpen verhöhnten sie. Und dann waren die zwanziger Jahre herangekommen; und zwanzig Jahre bedeuten das Alter für verliebte Frauenzimmer. Ihre Liederlichkeit brachte ihr jetzt nicht mehr ein, als ihr Kramhandel vordem. Für jede Gesichtsfalte, die da kam, ging ein Thaler fort; der Winter wurde wieder hart für sie; das Holz machte sich wieder selten in ihrem Feuerloche, und das Brot rar in ihrem Backtroge. Sie konnte nicht mehr arbeiten, weil sie, währenddem, daß sie ausschweifend wurde, träge geworden war, und sie litt viel mehr, als wenn sie bei der Trägheit liederlich geworden wäre. So wenigstens erklärt es uns der Herr Pfarrer von Saint-Remy, warum jene Frauenzimmer mehr Frost und mehr Hunger leiden, als andere Arme, wenn sie alt sind.«

»Ganz recht,« bemerkte Gervaise; »aber die Zigeuner?«

»Einen Augenblick nur, Gervaise!« sagte Oudarde, deren Aufmerksamkeit nicht so ungeduldig war. »Was würden wir am Schlusse haben, wenn alles im Anfange erzählt würde? Fahret fort, Mahiette, ich bitte Euch. Diese arme Chantefleurie!«

Mahiette fuhr fort:

»Sie war also sehr traurig, sehr elend und bleichte ihre Wangen mit ihren Thränen. Aber in ihrer Schande, in ihrer Thorheit und ihrer Hilflosigkeit dünkte es ihr, daß sie nicht so ehrlos, nicht so liederlich und verlassen sein würde, wenn es irgend etwas oder irgend jemand in der Welt gäbe, das sie lieben, und von dem sie geliebt werden könnte. Das mußte ein Kind sein, weil ein Kind allein unschuldig genug dazu sein konnte . . . Sie hatte das eingesehen, nachdem sie versucht hatte, einen Dieb zu lieben, – der einzige Mensch, welcher nach ihr Verlangen tragen konnte; aber nach Verlauf einer kurzen Zeit hatte sie bemerkt, daß der Dieb sie verachtete . . . Solche der Liebe ergebene Frauenzimmer müssen einen Liebhaber oder ein Kind haben, um ihr Herz auszufüllen. Andernfalls sind sie sehr unglücklich. Da sie keinen Liebhaber bekommen konnte, so richtete sich ihr ganzes Verlangen nach einem Kinde; und weil sie stets fromm geblieben war, bat sie den lieben Gott fortwährend darum in ihrem Gebete. Der liebe Gott hatte also Mitleiden mit ihr und schenkte ihr eine kleine Tochter. Von ihrer Freude will ich nicht sprechen: es war eine Raserei mit Thränen, Liebkosungen und Küssen. Sie stillte selbst ihr Kind, verfertigte ihm Windeln, aus ihrer Bettdecke, der einzigen, welche sie auf ihrem Bette hatte, und empfand weder Kälte noch Hunger mehr. Sie wurde darüber wieder schön. Aus einem alternden Mädchen wurde eine junge Mutter. Die galante Lebensweise begann von neuem; man besuchte die Chantefleurie wieder; sie fand wieder Kunden für ihre Waare, und aus dem ganzen Sündengelde schaffte sie Wickelzeug, Kindermützchen, Brustlätzchen, Spitzenjäckchen und kleine Seidenmützchen an, ohne je daran zu denken, sich wieder eine Bettdecke zu kaufen . . . Mein Eustache, ich habe dir schon gesagt, daß du mir den Kuchen nicht ißt! . . . Sicher ist, daß die kleine Agnes . . . das war der Name des Kindes, sein Taufname; denn einen Familiennamen hatte die Chantefleurie längst nicht mehr . . . Sicher ist, daß die Kleine mehr als eine Prinzessin der Dauphiné in Bänder und Stickereien eingewindelt war. Unter andern hatte sie ein Paar kleine Schuhe, wie König Ludwig der Elfte sicher nicht ihresgleichen gehabt hat! Der Kleinen Mutter hatte diese ihr selbst genäht und gestickt, und an ihnen alle ihre Kunstfertigkeiten als Stickerin und allen Aufputz angebracht, den nur ein Gewand der heiligen Jungfrau verdient. Sie waren sicher das niedlichste, rosafarbene Schuhepaar, das man sehen konnte. Sie waren höchstens so lang wie mein Daumen, und man mußte sie von den kleinen Füßen des Kindes abziehen sehen, um zu glauben, daß sie darin hatten Platz finden können. Wahr ist, daß diese Füßchen so klein, so reizend, so rosenfarbig waren! noch rosiger, als der Seidenstoff der Schuhe! . . . Wenn Ihr einmal Kinder bekommen werdet, Oudarde, werdet Ihr finden, daß nichts so reizend ist, als solche kleine Füße und solche kleine Hände.«

»Ich wünsche nichts inniger, als das,« sagte Oudarde seufzend, »aber ich warte, bis es im Belieben des Herrn Andry Musnier liegt.«

»Uebrigens,« nahm Mahiette wieder das Wort, »hatte das Kind Paquettens nicht nur reizende Füßchen. Ich habe es gesehen, als es erst vier Monate alt war; da war es ein allerliebstes Kind! Es hatte Augen, die größer waren, als der Mund, und die hübschesten, feinen, schwarzen Haare, die sich schon lockten. Das würde eine stolze Brünette geworden sein mit sechzehn Jahren! Ihre Mutter wurde darüber von Tag zu Tag närrischer. Sie liebkoste es, küßte es, kitzelte es, wusch es, putzte es, aß es vor Liebe auf! Einmal verlor sie den Verstand darüber, andermals dankte sie Gott dafür! Vor allem seine rosigen Füßchen waren der Gegenstand endloser Bewunderung, rasender Freude! Sie drückte beständig die Lippen darauf, konnte sich an ihrer Kleinheit nicht satt sehen! Sie steckte sie in die kleinen Schuhe, zog sie wieder heraus, bewunderte sie, gerieth in Staunen darüber, betrachtete sie den Tag lang; es that ihr leid, dieselben einen Gang über ihr Bett versuchen zu lassen, und sie hätte gern ihr Leben auf den Knien damit hingebracht, diese Füßchen, wie die eines Christuskindes, anzuschuhen und auszuschuhen.«

»Die Erzählung ist hübsch und gut,« sagte Gervaise mit heller Stimme, »aber wo ist die Zigeunerin bei alledem zu finden?«

»Hier ist sie schon,« entgegnete Mahiette. »Eines Tages erschienen in Reims eine Sorte ganz eigenthümlicher Reiter. Es waren Bettler und Landstreicher, die unter Führung ihres Herzogs und ihrer Grafen im Lande herumzogen. Sie waren von dunkelbrauner Hautfarbe, hatten ganz krauses Haar und trugen silberne Ringe in den Ohren. Die Weiber waren noch häßlicher, als die Männer. Sie hatten die schwärzesten Gesichter, die sie immer unverhüllt zeigten, trugen einen häßlichen Laken auf dem Leibe, ein grob gewebtes Tuch um die Schulter gebunden und das Haupthaar nach Art eines Pferdeschwanzes. Die Kinder, welche sich zwischen ihren Beinen herumwälzten, würden Affen Furcht haben einflößen können. Es war eine Bande mit dem Kirchenbanne Belegter. Der ganze Haufe kam geradenweges aus Unterägypten über Polen nach Reims. Der Papst hatte ihnen die Beichte abgenommen, wie man sagte, und ihnen als Buße auferlegt, sieben Jahre lang ohne Unterbrechung in der Welt herumzuziehen, ohne sich in Betten zu legen; deshalb nannten sie sich Büßer und verbreiteten einen Gestank um sich. Anscheinend waren sie vordem Sarazenen gewesen, was die Ursache war, daß sie an Jupiter glaubten, und daß sie von allen Erzbischöfen, Bischöfen und Aebten, die mit Krummstab und Inful belehnt waren, zehn Livres Tourssche MünzeIn Frankreich wurde in älterer Zeit nach zweierlei Münzfuße gerechnet: demjenigen von Paris und dem von Tours. Nach dem Pariser galt der Livre (alte Frank) 25 Sols (Sous), nach der Toursschen 20 Sols. Anm. d. Uebers. forderten. Eine Bulle des Papstes hatte ihnen dazu verholfen. Sie kamen nach Reims, um im Namen des Königs von Algier und des deutschen Kaisers den Leuten die Zukunft zu prophezeien. Ihr könnt Euch wohl denken, daß es eines mehreren nicht bedurfte, um ihnen den Eintritt in die Stadt zu verwehren. Hierauf lagerte die ganze Bande bereitwillig an der Pforte Braine, auf jenem Hügel, wo eine Mühle steht, neben den Löchern der alten Kreidegruben. Und in Reims wetteiferten die Leute, zu ihnen hinauszuziehen. Sie sahen einem in die Hand und sagten wunderbare Prophezeiungen; sie waren im Stande, einem Judas zu weissagen, daß er Papst werden würde. Unterdessen verbreiteten sich über sie schreckliche Gerüchte von gestohlenen Kindern, abgeschnittenen Geldbörsen und Menschenfleisch, das sie gegessen hätten. Die Klügern sagten zu den Thörichten: ›Gehet nicht hin‹, und gingen verstohlenerweise selbst hinaus. Es herrschte also eine allgemeine Aufregung. Thatsächlich ist, daß sie einem Cardinale erstaunliche Dinge vorhersagten. Die Mütter erlebten großen Triumph an ihren Mädchen, seitdem die Zigeunerinnen ihnen aus der Hand allerlei Wunderdinge vorgelesen hatten, die in heidnischer und türkischer Sprache darin geschrieben standen. Die eine bekam einen Kaiser, die nächste einen Papst, die dritte einen Hauptmann. Die arme Chantefleurie wurde von der Neugierde gepackt; sie wollte auch wissen, was sie bekäme, und ob ihre reizende kleine Agnes nicht eines Tages Kaiserin von Armenien oder etwas ähnliches werden würde. Sie trug sie also zu den Zigeunerinnen, und die Zigeunerinnen unterließen nicht, das Mädchen zu bewundern, sie zu liebkosen, mit ihren schwarzen Mäulern zu küssen, sich über ihre kleine Hand zu verwundern, ach! zur großen Freude der Mutter. Vor allem hatten sie ihre Freude an den reizenden Füßen und niedlichen Schuhen. Das Kind war noch nicht ein Jahr alt. Es lallte schon, lachte wie eine kleine Närrin die Mutter an, war feist und kugelrund, und hatte tausend reizende, kleine Züge wie die Engel des Paradieses. Es war ganz entsetzt über die Zigeunerinnen und weinte. Aber die Mutter küßte die Kleine heftiger und ging erfreut über die glückverheißende Zukunft, welche die Wahrsagerinnen ihrer Agnes prophezeit hatten, davon. Sie sollte eine Schönheit, die leibhafte Tugend, eine Königin werden. Sie kehrte also nach ihrer elenden Behausung in der Rue Folle-Peine zurück, ganz stolz, eine Königin dahin zurückzubringen. Am andern Morgen benutzte sie einen Augenblick, wo das Kind auf ihrem Bette schlief (denn sie schlief immer mit ihm zusammen), ließ die Thüre leise angelehnt und eilte zu einer Nachbarin in der Rue de-la-Séchesserie, um ihr zu erzählen, daß ein Tag kommen würde, wo ihre Tochter Agnes bei Tische vom Könige von England und vom Erzherzoge von Aethiopien bedient werden würde, und hundert andere erstaunliche Dinge mehr. Als sie bei ihrer Rückkehr auf der Treppe kein Geschrei vernahm, sagte sie bei sich: ›Gut! das Kind schläft noch immer.‹ Sie fand die Thür weiter offen, als sie sie gelassen hatte; sie trat also ein, die arme Mutter, und eilte zum Bette . . . Das Kind war nicht mehr da; der Platz war leer; von dem Kinde war weiter nichts mehr vorhanden, als einer von seinen reizenden, kleinen Schuhen. Sie stürzte aus dem Zimmer heraus, warf sich die Treppe hinab, fing an den Kopf an die Mauern zu stoßen und schrie: ›Mein Kind! Wer hat mein Kind? Wer hat mir mein Kind genommen?‹ Die Straße war öde, das Haus stand allein; niemand vermochte ihr etwas zu sagen. Sie eilte durch die Stadt, sie suchte auf allen Straßen, lief den ganzen Tag wahnsinnig, verstört und entsetzt hin und her, forschte an allen Thüren und Fenstern, wie ein wildes Thier, welches seine Jungen verloren hat. Sie keuchte, lief mit verwildertem Haar umher, war entsetzlich anzusehen, und in ihren Augen glühte ein Feuer, welches ihre Thränen trocknete. Sie hielt die Leute auf der Straße an und schrie: ›Meine Tochter! mein Kind! meine reizende, kleine Tochter! Wer mir meine Tochter wiedergiebt, dessen Magd will ich sein, die Magd seines Hundes, und er mag mein Herzblut trinken, wenn er will.‹ Sie begegnete dem Herrn Pfarrer von Saint-Remy und rief ihm zu: ›Herr Pfarrer, ich will die Erde mit meinen Nägeln umgraben, aber gebt mir mein Kind wieder!‹ Es war herzzerreißend, Oudarde; und ich habe einen sehr hartherzigen Mann gesehen, den Sachwalter Meister Ponce Lacabre, der Thränen vergoß.

Ach! die arme Mutter! . . . Am Abend kehrte sie nach Hause zurück. Während ihrer Abwesenheit hatte eine Nachbarin gesehen, wie zwei Zigeunerinnen heimlich mit einem Packete in ihren Armen zur Wohnung hinaufstiegen, dann wieder herauskamen und eilig entflohen, nachdem sie die Thüre verschlossen hatten. Seit deren Weggange hörte man in Paquettens Hause Schreie, wie die eines Kindes. Die Mutter lachte laut auf, stieg wie mit Flügeln die Treppe hinauf, stieß die Thüre wie mit einem Artilleriegeschütz auf und trat hinein . . . Entsetzliche Erscheinung, Oudarde! An Stelle ihrer niedlichen, kleinen Agnes, die, so rothbäckig und frisch, ein Geschenk des lieben Gottes war, kroch eine Art kleinen, abscheulichen, hinkenden, einäugigen und verkrüppelten Ungeheuers kreischend über die Diele. Entsetzt verhüllte sie ihre Augen. ›Oh!‹ sagte sie, ›in dieses entsetzliche Thier hätten die Hexen meine Tochter verwandeln können?‹ Man eilte den kleinen Klumpfuß hinauszuschaffen; er würde sie rasend gemacht haben. Es war der gräßliche Balg irgend einer Zigeunerin, die sich dem Teufel hingegeben hatte. Er mochte ungefähr vier Jahre alt sein und redete in einer Sprache, die gar keine menschliche Sprache war; es waren Worte, die nicht denkbar sind . . . Die Chantefleurie hatte sich auf den kleinen Schuh geworfen – alles, was ihr noch blieb von dem, das sie so sehr geliebt. Da lag sie so lange regungslos, stumm und ohne Athem, daß alle vermeinten, sie wäre todt. Plötzlich zitterte sie am ganzen Körper, bedeckte ihre Reliquie mit wüthenden Küssen und brach in ein Schluchzen aus, als ob das Herz gebrochen wäre. Ich versichere Euch, wir weinten alle mit ihr. Sie begann: ›O, mein Töchterchen! mein reizendes Töchterchen, wo bist du?‹ Und das zerriß einem das Herz im tiefsten Grunde. Ich weine noch, wenn ich daran denke. Unsere Kinder, wißt ihr, sind ja das Mark unserer Knochen . . . Mein armer Eustache! du bist so schön, du Theurer! Wenn ihr wüßtet, wie nett er ist! Gestern sagte er zu mir: ›Ich will Soldat werden, ich.‹ – ›O, mein Eustache, wenn ich dich verlieren sollte!‹ Die Chantefleurie erhob sich plötzlich und begann in Reims umherzulaufen, wobei sie fortwährend schrie: ›Hinaus! Zum Lager der Zigeuner! Zum Lager der Zigeuner! Gerichtsdiener herbei, um die Hexen zu verbrennen!‹ – Die Zigeuner waren verschwunden. Es war finstere Nacht. Man konnte sie nicht verfolgen. Am nächsten Tage fand man, zwei Meilen von Reims, auf einer Haide zwischen Gueux und Tilloy, die Ueberreste eines großen Feuers, ein paar Bänder, welche dem Kinde Paquettens gehört hatten, Blutstropfen und Bocksmist. Die eben vergangene Nacht war gerade die eines Sonnabends. Man zweifelte nicht mehr daran, daß die Zigeuner auf dieser Haide den Sabbath gefeiert, und daß sie das Kind in Gesellschaft Beelzebubs verzehrt hatten, wie das bei den Muhamedanern zu geschehen pflegt. Als die Chantefleurie diese schrecklichen Dinge vernahm, weinte sie nicht; sie bewegte die Lippen, wie um zu sprechen, vermochte es aber nicht. Am Tage danach waren ihre Haare grau. Am nächstnächsten Tage war sie verschwunden.«

»Das ist in der That eine entsetzliche Geschichte,« sagte Oudarde, »die sogar einen Burgunder bis zu Thränen rühren könnte!«

»Ich wundere mich nicht mehr,« warf Gervaise ein, »daß die Furcht vor den Zigeunern Euch so sehr im Nacken sitzt!«

»Und Ihr habt um so besser daran gethan,« begann Oudarde wieder, »Euch mit Eurem Eustache sogleich aus dem Staube zu machen, da diese ja auch Zigeuner aus Polen sind.«

»O, nein,« sagte Gervaise, »man behauptet, daß sie aus Spanien und Catalonien kommen.«

»Catalonien? Es ist möglich,« entgegnete Oudarde. »Polonien, Catalonien, Wallonien – ich verwechsele immer jene drei Provinzen mit einander. Ausgemacht aber ist, daß sie bestimmt Zigeuner sind.«

»Und daß sie bestimmt Zähne haben,« fügte Gervaise hinzu, »die lang genug sind, um kleine Kinder zu fressen. Und es würde mich gar nicht Wunder nehmen, wenn die Esmeralda auch einmal welche äße, wiewohl sie einen so kleinen Mund macht. Ihre weiße Ziege treibt zu boshafte Streiche, als daß nicht etwas Freigeisterei dabei mit im Spiele wäre.«

Mahiette ging stillschweigend weiter. Sie war in jene Träumerei versunken, die gewissermaßen die Fortspinnung einer leidenvollen Begebenheit bildet, und die erst dann aufhört, nachdem sich die aus ihr hervorgehende Erschütterung von Schwingung zu Schwingung bis zu den letzten Fibern des Herzens fortgepflanzt hat. Unterdessen richtete Gervaise die Frage an sie:

»Und hat man nicht erfahren können, was aus der Chantefleurie geworden ist?«

Mahiette antwortete nicht. Gervaise wiederholte ihre Frage, schüttelte sie am Arme und rief sie beim Namen. Mahiette schien aus ihren Gedanken zu erwachen.

»Was aus der Chantefleurie geworden ist?« sagte sie, indem sie mechanisch die Worte wiederholte, deren Einwirkung ganz neu für ihr Ohr war; dann bemühte sie sich, ihre Aufmerksamkeit auf den Sinn der Worte zu lenken: »Ach! man hat es niemals erfahren,« antwortete sie lebhaft. Nach einer Pause fuhr sie fort:

»Einige haben behauptet, sie hätten sie in der Dämmerung durch das Thor Fléchembault, andere wieder, sie hätten sie bei Tagesanbruch durch die alte Pforte Basée die Stadt Reims verlassen sehen. Ein armer Mann hat ihr goldenes Kreuz gefunden, das an dem steinernen Kreuze, in der Anlage, wo der Markt abgehalten wird, aufgehängt war. Es ist das jenes Kleinod, welches sie im Jahre 61 zu Falle gebracht hatte. Es war ein Geschenk des schönen Vicomte von Cormontreuil, ihres ersten Geliebten. Paquette hatte sich niemals davon trennen wollen, so elend sie auch gewesen war! Sie hielt fest daran, wie an ihrem Leben. Als wir daher die Preisgabe dieses Kreuzes sahen, glaubten wir alle, daß sie todt sei. Jedoch traten Personen aus Cabaret-Les-Vantes auf, welche behaupteten, sie hätten sie, barfuß über die Kieselsteine hinschreitend, auf dem Wege nach Paris wegwandern sehen. Aber dann hätte sie durch das Vesle-Thor davonziehen müssen; und alle diese Behauptungen stimmen nicht überein. Oder, um es deutlicher zu sagen, ich freilich glaube, daß sie zum Vesle-Thore hinausgezogen, aber auch aus dieser Welt gegangen ist.«

»Ich verstehe Euch nicht,« sagte Gervaise.

»Die Vesle,« antwortete Mahiette mit einem schwermüthigen Lächeln, »das ist der Fluß.«

»Arme Chantefleurie!« sagte Oudarde schaudernd, »ertränkt!«

»Ertränkt!« wiederholte Mahiette, »und wer hätte es dem guten Vater Guybertaut wohl voraussagen können, als er unter der Tinqueux-Brücke, mit der Strömung, singend in seiner Barke dahinfuhr, daß eines Tages seine liebe kleine Paquette auch unter dieser Brücke da vorbeikommen würde, aber ohne Gesang und ohne Fahrzeug.«

»Und der kleine Schuh?« fragte Gervaise.

»Verschwunden mit der Mutter,« antwortete Mahiette.

»Armer, kleiner Schuh!« sagte Oudarde.

Oudarde, eine wohlbeleibte, empfindsame Frau, würde es sehr wohl zufrieden gewesen sein, in Gesellschaft mit Mahietten zu jammern. Aber Gervaise, viel neugieriger als sie, war mit ihren Fragen nicht zu Ende. »Und das Ungethüm?« sagte sie plötzlich zu Mahiette.

»Welches Ungethüm?« fragte diese.

»Das kleine Zigeunerungethüm, das von den Zauberinnen als Ersatz für ihre Tochter bei der Chantefleurie zurückgelassen worden war. Was habt Ihr damit angefangen? Ich hoffe doch, daß Ihr es gleichfalls ertränkt habt.«

»O, nein!« antwortete Mahiette.

»Wie? dann verbrannt? In der That, das ist richtiger. Ein Hexenkind!«

»Weder das eine, noch das andere, Gervaise. Der Herr Erzbischof nahm Antheil an dem Zigeunerknaben, hat ihn beschworen, geweiht, ihm den Teufel ganz gründlich aus dem Leibe getrieben und nach Paris geschickt, damit er auf dem hölzernen Bette in Notre-Dame als Findelkind ausgesetzt würde.«

»Diese Bischöfe!« sagte Gervaise murrend, »weil sie erfahren sind, thun sie nichts so, wie andere Leute. Ich bitte Euch aber, Oudarde, den Teufel unter die Findelkinder zu legen! Denn ganz gewiß war dieses kleine Ungeheuer doch der Teufel. Nun aber, Mahiette, was in aller Welt hat man in Paris damit angefangen? Ich glaube doch, daß keine menschenfreundliche Person etwas davon hat wissen wollen.«

»Ich weiß es nicht,« antwortete die Reimserin; »gerade zu jener Zeit geschah es, daß mein Gatte die Gerichtsschreiberei in Bern kaufte, zwei Meilen von der Stadt, und wir haben uns nicht mehr um diese Geschichte gekümmert; außerdem liegen vor Bern die beiden Hügel von Cernay, die schuld sind, daß man die Kathedralthürme von Reims aus den Augen verliert.«

Unter diesen fesselnden Gesprächen waren die drei würdigen Bürgerfrauen auf dem Grèveplatze angekommen. Bei ihrem Interesse für Mahiettens Erzählung waren sie, ohne zu verweilen, vor dem öffentlichen Gebetbuche am Rolandsthurme vorbeigegangen und richteten ihre Schritte unwillkürlich nach dem Pranger hin, um welchen die Menschenmenge in jedem Augenblicke wuchs. Wahrscheinlich hätte das Schauspiel, welches hier soeben die Blicke aller auf sich zog, sie vollständig das Rattenloch und die Rast, die sie hier zu machen beschlossen hatten, vergessen lassen, wenn der große sechsjährige Eustache, den Mahiette an der Hand hinter sich herzog, ihnen nicht plötzlich das Ziel ihrer Wanderung ins Gedächtnis zurückgerufen hätte. »Mutter,« sagte er, als ob irgend ein Gefühl ihm sagte, daß das Rattenloch hinter ihm läge, »kann ich jetzt den Kuchen essen?«

Wenn Eustache pfiffiger, das heißt nicht so gefräßig gewesen wäre, so würde er noch gewartet haben, und erst nach der Heimkehr in das Universitätsviertel, in die Wohnung beim Meister Andry Musnier in der Straße Madame-la-Valence, wenn die zwei Seinearme und die fünf Brücken der Altstadt sich zwischen dem Rattenloche und dem Kuchen befunden hätten, die schüchterne Frage gewagt haben: »Mutter, darf ich jetzt den Kuchen essen?«

Diese Frage aber erregte im Augenblicke, wo Eustache sie unklugerweise that, die Aufmerksamkeit Mahiettens.

»Mein Gott!« rief sie, »wir vergessen ja die Büßerin! Zeigt mir doch Euer Rattenloch, damit ich ihr den Kuchen bringe.«

»Gleich,« sagte Oudarde, »das ist ein Werk der Barmherzigkeit.«

Das war aber ein Strich durch die Rechnung von Eustache.

»Halt, das ist mein Kuchen!« sagte er, während er abwechselnd bald rechts bald links die Ohren mit den Schultern in Berührung brachte, was in solchen Fällen als Zeichen höchster Unzufriedenheit gilt.

Die drei Frauen lenkten ihre Schritte zurück, und als sie am Gebäude des Rolandsthurmes angekommen waren, sagte Oudarde zu den beiden andern:

»Wir dürfen nicht alle drei auf einmal in das Loch blicken, wenn wir die Nonne nicht in Zorn versetzen wollen. Thut ihr zwei so, als ob ihr scheinbar das »Dominus«Lateinisch: »Herr« (Anfang eines Gebetes). Anm. d. Uebers. im Gebetbuche läset, währenddem ich die Nase in die Luke stecken will; die Nonne kennt mich ein wenig. Ich will euch dann benachrichtigen, wenn ihr kommen dürft.«

Sie trat allein an die Luke heran. In dem Augenblicke, wo ihr Blick hineinfiel, malte sich ein tiefes Mitleid auf allen ihren Zügen aus, und ihre fröhlichen und offenen Gesichtszüge änderten so plötzlich Ausdruck und Farbe, als ob sie aus dem Licht der Sonne in das des Mondes getreten wäre; ihr Auge wurde feucht, ihr Mund zog sich zusammen, wie wenn man weinen will. Gleich darauf legte sie einen Finger an die Lippen und gab Mahietten ein Zeichen zu kommen und zu sehen.

Mahiette kam gerührt, schweigend und auf den Fußzehen herbei, als ob sie sich dem Lager eines Sterbenden nähere.

Es war in der That ein trauriger Anblick, der sich hier den Augen der beiden Frauen bot, als sie starr und athemlos durch die vergitterte Luke des Rattenloches sahen.

Die Zelle war eng, mehr breit, als tief, gothisch gewölbt, und ihr inneres Aussehen glich so ziemlich der Höhlung einer großen Bischofsmütze. Auf der nackten Steinplatte, welche den Fußboden des Loches bildete, saß oder kauerte vielmehr in einem Winkel ein Weib. Ihr Kinn ruhte auf den Knieen, welche die kreuzweis verschlungenen Arme fest gegen die Brust preßten. So in sich versunken, mit einem braunen Sacke bekleidet, der sie ganz in seine weiten Falten hüllte, die langen, grauen Haare nach vorn übergeschlagen, so daß sie über ihr Antlitz weg an den Beinen entlang bis auf die Füße herabfielen, zeigte sie sich auf den ersten Blick nur als eine sonderbare, auf dem dunkeln Boden der Zelle hingesunkene Gestalt, als eine Art schwärzlichen Dreiecks, das der Strahl des durchs Fenster schimmernden Tages genau in zwei Abstufungen, eine dunkle und eine helle, theilte. Es war eine jener halb dunkeln, halb lichten Erscheinungen, wie man sie in Träumen und auf dem wunderlichen Werke Goyas sieht: bleich, starr, finster, auf ein Grab gekauert, oder an das Gitter eines Gefängnisses gelehnt. Es war weder ein Weib, noch ein Mann, weder ein lebendes Wesen, noch eine feste Gestalt: es war eine Figur, eine Art Traumbild, in dem sich Wirklichkeit und Einbildung wie Dunkel und Licht begegneten. Kaum erkannte man unter ihren bis zur Erde herabhängenden Haaren ein abgemagertes, strenges Antlitz; kaum ließ ihr Gewand die Spitze eines nackten Fußes hervortreten, der sich auf dem harten und eisigen Boden zusammenkrampfte. Das Wenige von Menschengestalt, das man unter dieser Trauerhülle erblickte, machte schaudern.

Diese Gestalt, von der man hätte glauben mögen, daß sie an den Boden gefesselt wäre, schien weder Bewegung, noch Denkvermögen, noch Athem zu haben. In ihrem dünnen Leinwandsacke, im Januar, fast nackt auf einem Granitpflaster liegend, ohne Feuer, in der Nacht eines Kerkers, dessen schräges Luftloch von draußen nur dem Nordwinde und niemals der Sonne Zugang gestattete, schien sie nicht zu leiden, überhaupt nichts zu empfinden. Man hätte meinen sollen, sie wäre zu Stein mit dem Kerker, zu Eise mit der Jahreszeit geworden. Ihre Hände waren verschlungen, ihre Augen starr. Im ersten Augenblicke hielt man sie für ein Gespenst, beim zweiten für eine Bildsäule. Zeitweilig jedoch öffneten sich ihre blauen Lippen zu einem Athemzuge und bebten, aber so todt und so maschinenmäßig wie Blätter, die im Winde sich bewegen.

Manchmal zuckte aus ihren finstern Augen ein Blick, ein unaussprechlicher Blick, ein tiefer, trauriger, unerschütterlicher Blick, der, was man von draußen nicht wahrnehmen konnte, beständig auf einen Winkel der Zelle geheftet war, – ein Blick, der alle düstern Gedanken dieser leidenden Seele an irgend einen geheimnisvollen Gegenstand zu fesseln schien. Das war also das Wesen, welches nach seiner Behausung den Namen »Klausnerin«, nach seinem Gewande den Namen »Büßernonne« erhalten hatte.

Die drei Frauen – denn Gervaise war gleichfalls zu Mahietten und Oudarden getreten – sahen durch die Luke. Ihre Köpfe hemmten die schwache Beleuchtung des Kerkers, ohne daß die Unglückliche, die sie darum brachten, ihnen – so schien es – Beachtung schenkte. »Wir wollen sie nicht stören,« sagte Oudarde mit leiser Stimme, »sie ist in ihrer Verzückung: sie betet.«

Währenddem betrachtete Mahiette mit immer zunehmender Aengstlichkeit diesen blassen, entstellten, zerzausten Kopf, und ihre Augen füllten sich mit Thränen. »Das würde doch sehr merkwürdig sein,« murmelte sie.

Sie steckte ihren Kopf durch die Gitterstäbe des Luftloches, und es gelang ihr, den Blick bis in den Winkel dringen zu lassen, wohin das Auge der Unglücklichen unveränderlich gerichtet war.

Als sie ihren Kopf aus der Luke herauszog, war ihr Gesicht von Thränen naß. »Wie nennt Ihr diese Frau?« fragte sie Oudarden.

Oudarde antwortete:

»Wir nennen sie Schwester Gudule.«

»Und ich,« entgegnete Mahiette, »ich nenne sie Paquette La-Chantefleurie.«

Dann legte sie den Finger auf den Mund und machte der erstaunten Oudarde ein Zeichen, auch ihren Kopf in das Fenster zu stecken und hineinzublicken.

Oudarde blickte hinein und sah in dem Winkel, in welchem der Blick der Klausnerin mit düsterer Verzückung haftete, einen kleinen Schuh von rosafarbenem Seidenstoffe und mit zahllosen Gold- und Silberlitzen gestickt. Nach Oudarden blickte Gervaise hinein; und dann, nachdem sie die unglückliche Mutter gesehen, begannen die drei Frauen bitterlich zu weinen.

Weder ihre Blicke, noch ihre Thränen hatten indessen die Klausnerin gestört. Ihre Hände blieben verschlungen, ihre Lippen stumm, ihre Augen starr; und wer ihre Geschichte kannte, dem zerriß der Blick, mit dem sie den kleinen Schuh betrachtete, das Herz in der Brust.

Die drei Frauen hatten noch kein Wort hervorgebracht; sie wagten nicht zu sprechen, nicht einmal mit leiser Stimme. Dieses tiefe Schweigen, dieser tiefe Schmerz, das völlige Vergessen, in welchem, einen einzigen Gegenstand ausgenommen, alles hingeschwunden war, machte auf sie den Eindruck wie ein Hochaltar am Oster- oder Weihnachtsfeste. Sie verstummten, sie sammelten sich in Andacht, sie waren bereit, auf die Knien niederzusinken. Es kam ihnen vor, als ob sie an einem Charwochentage in die Kirche eingetreten wären.

Zuletzt versuchte Gervaise, die neugierigste und folglich die am wenigsten gefühlvolle von den dreien, die Klausnerin zum Reden zu bewegen. »Schwester,« sagte sie, »Schwester Gudule!«

Sie wiederholte diesen Zuruf bis zu drei Malen und steigerte bei jedem Male ihre Stimme. Die Klausnerin rührte sich nicht: nicht ein Wort, kein Blick, kein Seufzer, kein Lebenszeichen.

Oudarde begann nun mit sanfterer, schmeichelnder Stimme: »Schwester!« rief sie, »heilige Schwester Gudule!«

Immer dasselbe Schweigen, dieselbe Regungslosigkeit.

»Eine sonderbare Frau!« rief Gervaise; »die würde von keiner Donnerbüchse beunruhigt werden!«

»Sie ist vielleicht taub,« sprach Oudarde.

»Möglicherweise blind,« fiel Gervaise ein.

»Vielleicht gar todt,« versetzte Mahiette.

Wenn die Seele wirklich diesen bewegungslosen, gefühllosen, starren Leib noch nicht verlassen, so hatte sie sich wenigstens in Tiefen zurückgezogen und verborgen, wohin die Wahrnehmungen der äußern Sinnesorgane nicht mehr zu dringen vermochten.

»Wir werden also,« sagte Oudarde, »den Kuchen an der Luke zurücklassen müssen; da wird ihn irgend ein Bursche wegnehmen. Was thun, um sie zu wecken?«

Eustache, der bis jetzt seine Aufmerksamkeit auf einen kleinen Wagen gerichtet hatte, den ein großer Hund zog, und der soeben vorübergefahren war, bemerkte auf einmal, daß seine drei Begleiterinnen etwas in der Luke betrachteten. Die Neugierde ergriff nun ihn; er stieg auf einen Eckstein, richtete sich auf den Fußzehen in die Höhe, steckte sein dickes, rothbackiges Gesicht in die Oeffnung und rief: »Mutter, sieh einmal, was ich sehe!«

Bei dieser hellen, frischen, lauten Kinderstimme schrak die Klausnerin zusammen. Sie wandte den Kopf mit der kurzen und raschen Bewegung einer stählernen Sprungfeder zur Seite, ihre beiden langen, knöchernen Hände begannen die Haare aus der Stirn zu streichen, und sie heftete Blicke voll Erstaunen, Bitterkeit und Verzweiflung auf den Knaben. Dieser Blick war nur ein Aufblitzen.

»O mein Gott!« schrie sie plötzlich, während sie ihr Haupt zwischen den Knien verbarg, und es schien, als ob die rauhe Stimme dabei ihre Brust zerriß, »zeiget mir wenigstens nicht diejenigen anderer Leute!«

»Guten Tag, Madame,« sagte der Knabe ernsthaft.

Diese Erschütterung aber hatte die Klausnerin gleichsam aufgerüttelt. Ein langer Schauder schüttelte den ganzen Körper vom Kopf bis zu den Füßen; ihre Zähne klapperten, sie richtete den Kopf halb auf und sagte, während sie die Ellbogen an die Hüften preßte und die Füße, als ob sie diese erwärmen wollte, in die Hände nahm:

»O! die entsetzliche Kälte!«

»Armes Weib!« sprach Oudarde voll tiefen Mitleids, »wünscht Ihr ein wenig Feuer?«

Sie schüttelte den Kopf zum Zeichen der Verneinung.

»Nun gut,« fuhr Oudarde fort und hielt ihr ein Fläschchen hin, »da ist Gewürzwein, der wird Euch erwärmen: trinket.«

Sie schüttelte von neuem den Kopf, sah Oudarden starr an und antwortete: »Wasser.«

Oudarde wurde dringend. »Nein, Schwester, das ist kein Getränk jetzt für den Januar. Ihr müßt ein wenig Würzwein trinken und diesen Maishefenkuchen essen, den wir für Euch gebacken haben.«

Sie stieß den Kuchen, den ihr Mahiette hinreichte, zurück und sagte: »Schwarzbrot.«

»Wohlan,« sprach Gervaise, die jetzt auch vom Mitleiden ergriffen wurde und ihren wollenen Rock auszog, »hier ist ein etwas wärmerer Ueberrock, als der Eure. Legt ihn um Eure Schultern.«

Sie wies den Ueberrock ebenso zurück, wie die Flasche und den Kuchen, und antwortete: »Einen Sack.«

»Aber Ihr müßt doch wenigstens wohl merken,« begann die gutmüthige Oudarde wieder, »daß heute ein Festtag war.«

»Ich merke es,« sagte die Klausnerin, »seit zwei Tagen habe ich kein Wasser in meinem Kruge.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Es ist Fest; man vergißt mich. Man thut wohl daran. Warum sollte die Welt an mich denken, da ich nicht an sie denke. Verlischt die Kohle, erkaltet die Asche.«

Und gleichsam wie ermüdet davon, so viel gesprochen zu haben, ließ sie ihr Haupt wieder auf die Knien sinken. Die schlichte und mitleidige Oudarde, welche aus ihren letzten Worten zu entnehmen glaubte, daß sie sich noch über die Kälte beklagte, antwortete ihr treuherzig: »Nun, wünscht Ihr ein wenig Feuer?«

»Feuer!« sagte die Nonne mit einem seltsamen Tone; »und wollt Ihr auch ein wenig für die arme Kleine bringen, die seit fünfzehn Jahren unter der Erde ist?«

Alle ihre Gliedmaßen zitterten, ihre Stimme bebte, ihre Augen funkelten, sie hatte sich auf den Knien emporgerichtet; plötzlich streckte sie ihre bleiche, magere Hand nach dem Knaben aus, der sie mit erstauntem Blicke maß. »Bringet dieses Kind fort!« schrie sie. »Die Zigeunerin wird gleich vorbeikommen.«

Dann fiel sie mit dem Gesichte zur Erde; und ihre Stirn schlug mit einem Geräusche auf die Steinplatte auf, wie wenn ein Stein gegen den andern trifft. Die drei Frauen hielten sie für todt. Einen Augenblick nachher jedoch bewegte sie sich, und sie sahen, wie sie sich auf ihren Knien und ihren Ellbogen bis zu dem Winkel schleppte, in dem der kleine Schuh sich befand. Da wagten sie nicht hinzublicken; sie sahen sie nicht mehr, aber sie hörten zahllose Küsse und zahllose Seufzer, von herzzerreißendem Geschrei und von dumpfen Schlägen unterbrochen, wie die sind, wenn ein Kopf gegen die Wand stößt; dann, nach einem dieser Schläge, der so heftig war, daß sie alle drei sich darüber entsetzten, hörten sie nichts mehr.

»Sollte sie sich getödtet haben?« sagte Gervaise und wagte sich, den Kopf in das Luftloch zu stecken. »Schwester! Schwester Gudule!«

»Schwester Gudule!« wiederholte Oudarde.

»O, mein Gott! sie rührt sich nicht mehr!« versetzte Gervaise; »ist sie denn todt? Gudule! Gudule!«

Mahiette, die so außer sich war, daß sie kein Wort hervorbringen konnte, bemühte sich gleichfalls. »Wartet,« sagte sie; dann beugte sie sich nach der Luke hin. »Paquette!« rief sie, »Paquette La-Chantefleurie!«

Ein Kind, das arglos den schlecht brennenden Zünder einer Petarde anbläst, und sich dieselbe ins Gesicht explodiren macht, kann nicht mehr entsetzt sein, als es Mahiette bei der Wirkung dieses Namens war, nachdem sie ihn plötzlich in die Zelle von Schwester Gudule hineingerufen hatte.

Die Klausnerin bebte am ganzen Körper, richtete sich auf ihren nackten Füßen in die Höhe und sprang mit so flammenden Augen an die Luke, daß Mahiette und Oudarde und die andere Frau mit dem Knaben bis an die Brustmauer des Flußdammes zurücksprangen.

Währenddem zeigte sich das schreckliche Gesicht der Klausnerin an das Gitter der Luke gepreßt. »Ach! ach!« schrie sie mit entsetzlichem Gelächter, »das ist die Zigeunerin, die mich ruft.«

In diesem Augenblicke fesselte eine Scene, welche sich am Pranger zutrug, den wilden Blick der Klausnerin. Ihre Stirn runzelte sich vor Abscheu; sie streckte die beiden skelettdürren Arme aus ihrer Zelle heraus und schrie mit einer Stimme, die derjenigen der Rohrdommel glich: »Du bist es also wieder, Tochter Aegyptens! Du bist es, die mich ruft, Kinderräuberin! Nun denn: Verflucht seist du! Verflucht! Verflucht! Verflucht!«


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