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V. Zerstreuungen.

Ueber der Thür des Refectoriums stand mit großen schwarzen Buchstaben das so genannte »weiße Vater Unser«, ein Gebet, welches die Kraft besitzen soll, die Leute, diejenigen welche es beten, jedenfalls ins Paradies zu bringen.

Im Jahre 1827 war es unter dem Anstrich verschwunden, jetzt ist es auch in der Erinnerung der meisten jungen Mädchen von damals, welche heute alte Frauen sind, erloschen.

Ein großes, an die Wand genageltes Crucifix vervollständigte die Ausschmückung des Refectoriums, dessen einzige Thür sich nach dem Garten zu öffnete. Zwei schmale Tafeln bildeten zwei lange, parallele Linien von einem Ende des Refectoriums, bis zum andern. Längs der Tische standen zwei Bänke von Holz. Die Wände waren weiß, die Tische schwarz. Diese beiden Trauerfarben sind die einzigen Abwechselungen in den Klöstern. Die Mahlzeiten waren unfreundlich und selbst das Essen der Kinder war spartanisch. Eine einzige Schüssel Fleisch und Gemüse oder gesalzener Fisch; das war der Luxus. Dieses allein für die Pensionärinnen vorbehaltene Essen war indeß eine Ausnahme. Die Kinder aßen schweigend unter der Aufsicht der Wochen-Mutter, welche von Zeit zu Zeit, wenn eine Fliege gegen die Regel zu fliegen und zu summen anfing, geräuschvoll ein hölzernes Buch auf- und zuschlug. Dieses Schweigen würzten Lebensbeschreibungen von Heiligen, welche auf einer kleinen Kanzel mit einem am Fuße des Crucifixes angebrachten Pult mit lauter Stimme vorgelesen wurden. Die Vorleserin war eine große Pensionärin, welche die Woche hatte. In gewissen Entfernungen standen auf dem ungedeckten Tische Schüsseln, in denen die Pensionärinnen selbst ihr Couvert abwuschen und in die sie zuweilen auch einige Stücke von Ueberbleibseln warfen, zähes Fleisch oder verdorbenen Fisch. Das wurde bestraft.

Dasjenige Kind, welches das Schweigen brach, machte »mit der Zunge ein Kreuz.« Wo? Am Fußboden. Der Staub, dieses Ende aller Freuden, mußte diese armen kleinen Rosenblätter züchtigen, die sich des Rauschens schuldig gemacht.

In dem Kloster befand sich ein Buch, das nur in einem einzigen Exemplar gedruckt worden und in dem zu lesen verboten ist. Es enthält die Regel des heiligen Benedikt, ein Geheimniß, in das kein profanes Auge dringen darf.

Eines Tages gelang es den Pensionärinnen das Buch zu entwenden und sie fingen gierig an darin zu lesen, machten aber das Buch schnell wieder zu, da sie in ihrer Lectüre durch die Angst, überrascht zu werden, zu häufig unterbrochen wurden. Einige unverständliche Seiten über die Sünden kleiner Knaben, war noch das »Interessanteste« darin gewesen.

Trotz der ungeheueren Aufsicht und Strenge der Strafen gelang es ihnen doch bisweilen, wenn der Wind die Bäume geschüttelt hatte, verstohlen einen grünen Apfel, eine verdorbene Aprikose oder eine wurmstichige Birne aufzuheben. Ich lasse jetzt einen Brief sprechen, der vor mir liegt und den vor fünfundzwanzig Jahren eine der ehemaligen Pensionärinnen, die jetzt Herzogin M... und eine der elegantesten Frauen von Paris ist, geschrieben hatte. Er lautet wörtlich wie folgt:

»Man versteckt seine Birne oder seinen Apfel wie man kann. Wenn man hinauf geht, um vor dem Abendessen den Schleier auf das Bett zu legen, so steckt man das Obst unter das Kopfkissen und ißt es Abends im Bett oder, wenn das nicht geht, im geheimen Orte.« Das war das größte Vergnügen.

Einmal, auch um die Zeit eines Besuches des Erzbischof's in dem Kloster, wettete ein junges Mädchen, ein Fräulein Bouchard, gewissermaßen eine Verwandte der Montmorency, daß sie den Erzbischof um einen freien Tag bitten würde, etwas Unerhörtes! Die Wette wurde angenommen, aber keine von denen, die sie annahmen, auch Fräulein Bouchard nicht, glaubte daran. Als der Augenblick gekommen war, als nämlich der Erzbischof an den Pensionärinnen vorbei ging, trat Fräulein Bouchard, zum unbeschreiblichen Entsetzen ihrer Kameradinnen, aus der Reihe heraus und sagte: »Gnädiger Herr, einen freien Tag!« Fräulein Bouchard war groß und frisch, mit dem niedlichsten Rosengesicht von der Welt. Herr von Quelen lächelte und sagte: »Wie, mein liebes Kind, einen freien Tag? Drei Tage, wenn Du willst. Ich bewillige drei Tage.« Die Priorin konnte nichts dagegen thun, der Erzbischof, hatte gesprochen. Es war ein Aergerniß für das Kloster, aber eine Freude für das Pensionat. Die Wirkung kann man sich denken.

Dieses abstoßende Kloster war indeß nicht so fest ummauert, daß das Leben der Leidenschaften, der Außenwelt, das Drama, sogar der Roman nicht hineingedrungen wären. Zum Beweise beschränken wir uns hier kurz eine wirkliche und unbestreitbare Thatsache anzudeuten, welche indeß an und für sich mit der Geschichte, die wir erzählen, in gar keiner Verbindung steht. Wir erwähnen die Thatsache um das Bild des Klosters im Geiste des Lesers zu vervollständigen

Um diese Zeit also befand sich, in dem Kloster eine geheimnißvolle Person, die nicht Nonne war, die man mit großer Achtung behandelte und »Madame Albertine« nannte. Man wußte weiter nichts von ihr, als daß sie irr war und daß sie in der Welt für todt galt.

Es steckten, wie man sagte, Vermögensbeziehungen dahinter, welche wegen einer großen Heirath nöthig gewesen waren.

Diese kaum dreißig Jahre alte, brünette ziemlich schöne Frau sah mit großen schwarzen Augen unsicher um sich her. Sah sie wirklich? Man zweifelte daran. Sie glitt mehr als sie ging; sie sprach niemals, es war nicht einmal gewiß, ob sie athmete. Ihre Nase war spitz und bleich wie nach dem letzten Seufzer. Ihre Hand berühren hieß Schnee anfühlen. Sie hatte eine seltsame gespenstische Anmuth. Man fror, wo sie erschien.

Man erzählte hunderterlei Geschichten über Madame Albertine. Sie war der Gegenstand der ewigen Neugierde der Pensionärinnen. In der Kapelle befand sich eine Tribüne, welche man das »Ochsenauge« nannte. Auf dieser Tribüne, die nur ein rundes Fenster hatte, ein »Ochsenauge«, wohnte Madame Albertine dem Gottesdienste bei. Sie war gewöhnlich hier allein, weil man von der im ersten Stockwerke befindlichen Tribüne den Geistlichen oder den Administranten sehen konnte, was den Nonnen verboten war. Eines Tages stand ein junger Priester von hohem Range auf der Kanzel, der Herzog von Rohan, Pair von Frankreich, gestorben 1830 als Cardinal und Erzbischof von Besançon. Er predigte zum ersten Mal in dem Kloster von Klein-Picpus. Madame Albertine wohnte gewöhnlich der Predigt und der Messe in vollkommener und vollständiger Unbeweglichkeit bei. An diesem Tage aber richtete sie sich, als sie kaum Herrn von Rohan bemerkt, halb in die Höhe und rief laut in die Stille der Kapelle hinein: »Sieh doch, August!«

Die ganze Klostergemeinde sah sich entsetzt um, der Prediger blickte empor, Madame Albertine aber war wieder in ihre Unbeweglichkeit versunken. Ein Hauch von der äußeren Welt, ein Schein des Lebens war einen Augenblick auf diese verschlossene, eisige Gestalt gefallen, dann war alles wieder verschwunden und die Irre war wieder Leichnam geworden.

Jene drei Worte aber machten Alles, was im Kloster reden durfte, reden. Was lag Alles in dem: »siehe da! August!« Welche Enthüllungen! Herr von Rohan hieß in der That August. Offenbar hatte Albertine den höchsten Kreisen angehört, da sie Herrn von Rohan kannte; offenbar hatte sie selbst eine hohe Stellung eingenommen, da sie von einem so hohen Herrn so familiär sprach; offenbar stand sie in Verbindung mit ihm, vielleicht gar in verwandtschaftlicher, und am Ende war sie gar ganz nahe mit ihm verwandt, da sie seinen Taufnamen kannte.

Von außen drang kein Geräusch in das Kloster. Nur in einem gewissen Jahre drang der Ton einer Flöte bis hier hinein. Das war ein Ereigniß, dessen sich die Pensionärinnen von damals noch erinnern.

Jemand in der Nachbarschaft blies die Flöte und zwar immer ein und dieselbe Melodie; zwei bis dreimal hörte man sie den Tag über. Stunden lang hörten die jungen Mädchen zu. Die Stimmmütter waren außer sich, alle Köpfe waren verkehrt, es regnete von Strafen. Das dauerte mehrere Monate. Die Pensionärinnen waren alle mehr oder weniger in den unbekannten Flötenbläser verliebt. Sie hätten alles versucht, um, und wenn auch nur eine Secunde, den »Jüngling« zu sehen, zu bemerken, der so köstlich die Flöte blies. Es war aber ein alter, emigrirt gewesener, blinder und zuletzt in Vermögensverfall gerathener Edelmann, welcher in seinem Dachstübchen die Flöte blies, um sich die Langeweile zu vertreiben.


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