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IX. Kapitel.
Die Entwicklung des menschlichen Geistes

Gemäß der Entwicklung des menschlichen Geistes entwickeln sich die Betätigungen des menschlichen Geistes. Einer gewissen Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes entsprechen gewisse Hervorbringungen desselben und alle seine Hervorbringungen und Wirkungen müssen seiner Entwicklungsstufe entsprechen, wenn auch, wie sich von selbst versteht, verschiedene äußere und persönliche Einflüsse Abänderungen, Hemmungen, Beschleunigungen Hervorrufen. Es ist also nicht richtig, zu sagen, daß z. B. der Jesuitismus diesen oder jenen Einfluß auf die Architektur gehabt habe, oder daß der Protestantismus diesen oder jenen Einfluß auf die Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse gehabt habe; sondern alles geht zurück auf die eine Quelle des menschlichen Geistes und die Entwicklungsstufe, auf der er sich befindet. Diese Entwicklung geht vom Einfachen zum Verwickelten, von der Einheit durch die Spaltung zur Wiedervereinigung.

Der Stufe des Kindes ist charakteristisch die unbewußte, ungegliederte Einheit; man kann sie insofern die chaotische nennen. Der kindliche Geist ist noch ungespalten, nimmt alles, was er wahrnimmt, als Ganzes wahr. Er entwickelt sich nicht, stellt nur vor und ist ein klarer Spiegel der Welt, wie seine Weltbilder noch nicht durch die Person gebrochen, unfehlbar richtig sind, so wird es durch unfehlbaren Instinkt, unbewußtes Wissen, richtig geleitet. Sein Instinkt reicht aber nur bis an die Grenzen seiner einheitlichen Welt, dessen unbewußter Mittelpunkt es ist.

Für die Jünglingsstufe ist der Beginn der Spaltung charakteristisch. Indem der Jüngling sich von der Welt entfernt, verliert er das Ganze aus dem Auge und nimmt nur noch einzelnes wahr, und zwar in bezug auf sich selbst. Wie er sich als ein von der Welt losgelöstes Selbständiges zu fühlen beginnt, ergreift ihn der Drang, sich zu äußern. Er ist wesentlich subjektiv und kein Spiegel der Welt mehr, vielmehr will er sich in der Welt spiegeln.

Auf der Mannesstufe ist die äußerste Spaltung erreicht. Der Mann steht der Welt kämpfend und verneinend gegenüber, sie ist ihm nur noch Spiegel seines Ichs, wie er sich selbst als Spiegel der Gottheit fühlt. Die Welt ist ihm vollständig in Einzelheiten aufgelöst. Sein Denken hat die höchste Stufe der Analyse erreicht, die Synthese fehlt. In ihm feiert die Negation, die Bewegung, die Persönlichkeit, das Selbstbewußtsein den höchsten Triumph.

Auf der väterlichen oder Reifestufe taucht infolge der Umbiegung das Ganze wieder auf, das einzelne tritt zurück. Die Synthese beantwortet die von der Analyse gestellten Fragen. Der Geist nähert sich wieder der kindlichen Objektivität und wird ein Spiegel der Welt, aber ein wissender.

Auf der Greisenstufe schließt sich der Kreis. Der Greis handelt, schafft nicht mehr, er wendet den Spiegel, in dem er die Welt auffängt, nach innen und nimmt sie dort wahr. Diese Stufe kann man die kosmische oder die Stufe der Vollendung nennen.

Wendet man die Entwicklungsgrundzüge auf die Entwicklung der Kunst an, so ist es am besten, mit der Architektur zu beginnen, weil die Baukunst, als die vorwiegend unbewußte, den Lauf der Entwicklung am ungestörtesten einhält. Auf der kindlichen Stufe erscheinen einheitliche Massen, die wesentlich kindliche Form ist die Pyramide. Sie versinnbildlicht das natürliche Aufsteigen von der festen Basis des Unbewußten über das Bewußtsein zur Spitze des Selbstbewußtseins. In der griechischen Kunst tritt eine gewisse Gliederung ein, und zwar durch die Horizontale, die positive, ruhende, weibliche Linie. Der Charakter der ruhenden, einheitlichen Masse bleibt auch in der griechischen Architektur vorherrschend. Auf der Jünglingsstufe beginnt der Kampf der Vertikale gegen die Masse, der in der vollendeten Gotik, auf der Mannesstufe, den Sieg erringt. Die Vertikale drückt Kampf und Bewegung aus, sie ist ein männlicher Protest gegen das Typische; die Gotik, eine grandiose Abweichung vom Natürlichen, weist auf sich gottähnlich fühlende Persönlichkeit. Die Bewegung und Gliederung ergreift die Masse und ruht nicht, bis sie vollständig aufgelöst ist; es ist ein Kampf der Geschlechter – des Negativen und positiven –, der mit vollständiger Hingebung des Weibes endet.

Nach erfolgter Hingabe tritt auf der Stufe der Reife das Weibliche wieder hervor in der horizontal gegliederten Renaissance. Im Barock erscheint die Gotik wieder, aber wesentlich verändert durch die Idee des Ganzen, die durch die förmlich anerkannte, einbezogene Weiblichkeit gesichert ist. Die vorher überwundene, aufgelöste Masse breitet sich mit schwerer Mütterlichkeit auf der Erde aus, alle Gliederung ordnet sich der Einheit unter. Im Rokoko bewegt das männliche Prinzip die Masse wieder mehr, aber immer im Hinblick auf das Ganze; man kann sagen: als Väterlichkeit hat sich die Männlichkeit mit der Weiblichkeit harmonisch vereinigt und in den Dienst des Ganzen gestellt. Das höchste Ideal, das wir, innerhalb der Entwicklung, zu fassen vermögen, ist hier erreicht, das Paradoxon verwirklicht: positives und Negatives, Weib und Mann, Horizontale und Vertikale, Natur und Geist haben sich ganz durchdrungen und sind eins geworden.

Die Kuppel, die auch schon in der Antike als Symbol der Ganzheit erscheint, drückt in der Renaissance und im Barock gleichsam augenfällig und mechanisch die Vertikale herunter. Ähnlich drückt im Staatsleben die Krone des absoluten Fürsten die übermächtig gewordene ständische Macht herunter.

Nach dem Rokoko erscheinen nur noch verschiedene Abschwächungen der Vertikale in Form von Abwandlungen der Antike. Mit erreichter Greisenstufe hört die natürliche, vom Unbewußten ausgehende Kunst auf, und gibt es nur bewußte, persönliche, zusammengesetzte Kunst.

Die Malerei ist auf der kindlichen Stufe Dekoration der Architektur und hat den Charakter des Ornaments und der Flächenkunst.

Auf der Jünglingsstufe löst sich die Malerei von der Architektur ab, bleibt aber noch vorwiegend Flächenmalerei und Darstellung des Nebeneinander. Doch wird die Darstellung schon bewegter; durch die größere Betonung des Umrisses wird der Körper vereinzelt und fängt die Raumbildung an. Diese Entwicklung erreicht auf der männlichen Stufe ihren Höhepunkt. Durch das Hintereinandersehen, das perspektivische Sehen, tritt der Körper völlig aus dem Raum heraus; bewegte Gruppen idealer Menschen, die vor dem Raume erscheinen, bilden den Gegenstand der Malerei.

In der Zeit der Reife beginnt der Raum wieder den Menschen zu umfassen, der durch allmähliche Auflösung des Umrisses mit dem Raume verschmilzt. Schließlich wird der Raum selbst, das Licht, in dem die Körperwelt erscheint, Gegenstand der Malerei.

Die Poesie belangend ist sie auf der Kindheitsstufe mit der Musik vereinigt und wesentlich rhythmisch. Die Form der Jünglingsstufe ist die Lyrik, die Form des bewußt werdenden Menschen, der sich selbst äußern will. Die Lyrik ist vorzugsweise rhythmisch und subjektiv, weniger konstruktiv. Die Form der Mannesstufe ist das Drama, die Form des selbstentzweiten Menschen. Die Welt ist ganz in Einzelheiten aufgelöst, die sich hassend und liebend, kämpfend gegenüberstehen. Der selbstbewußte Geist des Mannes spiegelt sich in lauter untereinander streitenden Personen, alle Personen eines Dramas sind eigentlich nur Spiegelungen seiner eigenen. Vorwiegend rhythmisch und persönlich ist das Drama doch konstruktiver als die Lyrik. Das Drama kann nur in der Epoche der Männlichkeit blühen, bzw. nur ein vorwiegend männlicher Mensch kann Dramen schreiben. Allen modernen Dramen fehlt gerade das dem Drama Wesentliche: das Bewegte, Rhythmische, die männliche Vertikale, die Schillers Dramen so hinreißend macht. Das moderne Drama macht den Eindruck, wie wenn ein dicker, kahlköpfiger, im Grunde völlig harmloser alter Mann plötzlich den Don Juan spielen will: es ballen sich ein paar Wolken zusammen, aber die Blitze bleiben aus.

Die Form der Reife ist das Epos, die allumfassende Ganzheit. Hier ist die Konstruktion, das Unbewußte die Grundlage, das persönliche, Rhythmische ist nur krönend. Das einzelne tritt in die Zeit zurück durch Auflösung des vereinzelnden Umrisses, zuletzt wird die Zeit selbst, die Bewegung in der die Handelnden sich darstellen, Gegenstand der Poesie.

Wie mit ihrer ganzen Kultur, so geben die Griechen auch in der Literatur ein Vorspiel der nachchristlichen: Lyrik, Drama und Epos trat deutlich geschieden bei ihnen auf. Gemäß der Einheitlichkeit ihres Geistes lief die Entwicklung verhältnismäßig ungestört und schnell ab wie die Entwicklung vegetativer oder animalischer Lebewesen. Der die Welt nur von außen als Ganzes anschauende Standpunkt wurde nie verlassen.

Es erscheint überflüssig, die Entwicklung der Plastik und der Musik im einzelnen zu verfolgen, ebenso die übrigen Betätigungen des menschlichen Geistes. Ich werde nur in Form einer tabellarischen Übersicht einige Andeutungen geben, die Ausführung bezw. Berichtigung in allen Fächern Kundigeren überlassend.

 


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