Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V. Kapitel.
Der Schaffende

Der bewußte Mensch ist der eigentlich weibliche Mensch, in dem sich die positive Natur und der negative Geist neutralisieren. Der bewußte Geist ist der Spiegel der Welt und darum im Besitze von Ideen, d. h. adäquaten Weltbildern. Er denkt nicht blind kausal wie die unbewußte Natur, sondern bildlich, gegenständlich, vorstellend. An die Frau, die diesen Geist repräsentiert, dachte Goethe, als er sagte: Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan. Es ist das Innere, der Geist, oder die innere Seite der Natur, die Natur von innen gesehen, nicht der bewegte, wollende Geist. In der religiösen Dreieinigkeit ist es Gott-Vater, der Geist schlechthin, der unbewegt bleibt und der Erde nur als Heiliger Geist oder im Sohne vermenschlicht erscheinen kann. Im Besitz der Weltbilder ist dieser ruhende Geist das Maß der Dinge und wirkt hemmend auf den zeugenden selbstbewußten Geist und die schaffende Natur. Dieser weibliche Geist ist nicht tätig, nicht schaffend, nur ein anschauendes, allwissendes Auge. Die Negativität, das Bewußtsein muß den Strom der natürlichen Produktivität hemmen, damit überhaupt etwas entstehe, und damit etwas Wesentliches entstehe. Ist die Negativität, der Geist, zu schwach, so kommt viel, aber Unwesentliches, Unbedeutendes zustande, die zahllosen, unbedeutenden Produkte, die wie Gras auftauchen, verschwinden und vergessen werden.

Das Genie ist der universale Mensch, die Dreieinheit, in der alle drei Wesen gleich stark vertreten sind: der unbewußte, natürliche, der bewußte, weibliche, der selbstbewußte, männliche Mensch. Als bewußter Mensch hat er Ideen, als unbewußter kann er sie gestalten, als persönlicher faßt er das Gestaltete zur Einheit zusammen und prägt ihm sein Antlitz auf.

Ganz gleich können die drei Wesen in der Wirklichkeit niemals sein, immer muß eins zurücktreten, eins überragen. In Goethe war die persönliche Seite, obwohl auch stark, doch nicht so stark wie die unbewußte und bewußte. Schiller war vorwiegend männlich, das natürlich Unbewußte und bewußt Weibliche trat bei ihm zurück. Schiller hatte wenig Ideen, Weltbilder; er bestritt seine Dichtung fast ganz aus seiner hervorragenden Persönlichkeit. Von allen großen Dichtern der objektivste war Shakespeare, reiner Spiegel der Welt, der vornehmlich durch die Fülle seiner Bilder entzückt. Er war bei weitem nicht so männlich-rhythmisch wie Schiller und nicht so natürlich-kindlich wie Goethe.

Was das Bewußtsein schaut, gestaltet die Natur; ihr Schaffen ist vollkommen unbewußt, d. h. mechanisch. Ihr räumliches Schaffen verwirklicht geometrische Figuren, die, da die sich entwickelnde Natur, auch die anorganische, stets elementar bewegt ist, nie ganz rein zum Ausdruck kommen. Ihr zeitliches Schaffen ist rhythmisch, ihr geistiges, innerliches kausal. Man muß unterscheiden zwischen dem absoluten, elementaren, männlichen Denken und dem gegenständlichen, vorstellenden, weiblichen Denken. Das erstere ist das des wissenschaftlichen, das zweite das des künstlerischen Menschen. Das künstlerische, weibliche Denken geht intuitiv, als Einfall, vor sich, das männliche entwickelt sich kausal. Der künstlerisch Denkende ist der Geistvolle, er ist voll, reich an Geist, an Ideen, die ihm vermittels Assoziationen, oft nicht ins Bewußtsein tretenden, einfallen. Der wissenschaftliche Denker gräbt mühsam einen Schacht, um schließlich ein gesichertes Gut ans Licht zu bringen, der Geistvolle verschwendet unbekümmert aus unerschöpflichem Schatze. Das erste Denken der bewußtwerdenden Geschöpfe ist absolutes, kausales Denken, also Mathematik; es ist daher kein Wunder, daß Tiere rechnen können. Das absolute, mechanische Denken geht dem vorstellenden, assoziierenden weit vor, aus welchem Grunde die mathematischen Wissenschaften sich zuerst entfalten und die mathematischen Philosophen die älteren sind. Das elementare Denken ist dem Weben der Spinne oder der Seidenraupe zu vergleichen; mit unfehlbarer Sicherheit wird Faden um Faden geschlungen, Masche an Masche gereiht. Diese natürliche Denkweise tritt desto mehr zurück, je mehr das vorstellende, gegenständliche Denken sich entwickelt; Menschen, die in das letztere sehr vertieft sind, haben oft Mühe, es gleichsam zurückzuschieben und die alte Weise wieder zu erwecken. So erklärt es sich, daß einfache, einfältige, ja schwachsinnige Menschen oft ausgezeichnete Mathematiker sind. Die wunderbare Schnelligkeit, mit der gewisse Menschen höchst schwierige mathematische Aufgaben lösen, beruht darauf, daß das absolute Denken zeitlos ist, sowie es nur wirklich rein von allem Gegenständlichen ist. Ebenso sind auch die Träume des tiefen Schlafes zeitlos.

Ebenso wie das mathematische Denken dem vorstellenden, geht auch die kontrapunktische Musik der melodisch-harmonischen voran.

Alles unbewußte Schaffen der Natur ist ein Bauen und Bilden nach typischer Form; die Natur ist wesentlich architektonisch. Die Architektur ist deshalb die Urkunst, und in allen Künsten ist der architektonische, gestaltende Teil der elementare, unbewußte und grundlegende.

Es gibt eine Raumkunst und eine Zeitkunst, die Architektur und die Musik; Plastik und Malerei sind zuerst nur Dekoration der Architektur, die Poesie nur eine Dekoration der Musik. Bereits die Urtiere bauen aus dem in ihnen vorhandenen Kiesel äußere Skelette oder Schutzhüllen, d. h. Häuser. Das Bauen der Tiere entspringt dem Triebe, sich eine innere und äußere Stütze zu verschaffen: das Haus ist nichts anderes als ein äußeres Körpergerüst und ist den körperlichen Verhältnissen und Bedürfnissen der bauenden Geschöpfe angepaßt. Viel später kommt unter den Tieren die Musik zum Ausdruck, und zwar im Zusammenhang mit dem Erwachen des Bewußtseins und dem Erwachen der Liebe: der Vogel, das wesentlich bewegliche, liebende, geistige Tier singt während der Brunstzeit. Ist das Bauen der Trieb, das Skelett nach außen zu wenden, seine Körperlichkeit zu äußern, so ist die Musik der Trieb, die Innerlichkeit, den erwachenden Geist zu äußern. Die Musik entspringt der Natur im Augenblick erster Bewußtseinsregungen, während die Architektur von der unbewußten Natur ausgeht, um sich dem bewußten Geist allmählich zu nähern. Die Architektur und die Musik, die beiden Urkünste, sind beide gegenstandslos. Die Natur formt nur, den Inhalt gibt erst das Bewußtsein.

Poesie, Malerei und Plastik sind gegenständlich und dadurch aus dem Reich der reinen Form in das Reich des Bewußtseins hineingezogen; es ist also ihre vornehmste Aufgabe, den Gegenstand so durch die Form zu bezwingen, daß er nicht als solcher mehr wirkt, sondern ganz in die Form eingeht. Dadurch wird der Gegenstand typisch, die Form persönlich. Poesie, Malerei und Plastik sind die persönlichen Künste, und zwar die Poesie am meisten, die Plastik am wenigsten; von der Wurzel des Bewußtseins ausgehend, schlagen sie den Bogen nach dem Unbewußten, der Form. Umgekehrt gehen Architektur und Musik vom Unbewußten aus und schlagen den Bogen nach dem persönlichen.

Das göttliche Vorrecht des Dichters, Malers und Plastikers ist deshalb das Menschenschaffen. Hier sitz' ich und forme Menschen nach meinem Bilde, läßt Goethe den Prometheus sagen. Der Lyriker schafft nur sich selbst, und zwar von innen her; der Dichter die Menschheit, und zwar als Ganzes von außen. Indessen auf der höchsten Stufe der Entwicklung schaffen auch Dichter, Maler und Plastiker das, womit Musik und Architektur begannen: Raum und Zeit selbst.

Der Stil beginnt eine wesentliche Rolle erst in der nachchristlichen Zeit zu spielen. Der natürliche, typische Mensch wirkt schön, wenn er sich unmittelbar äußert; der persönliche, vom Typischen abweichende Mensch muß den Ausdruck seiner Persönlichkeit in der Kunst typisieren, damit sie Form werde. Weil nun der nachchristliche Mensch nicht mehr typisch, sondern persönlich war, begann mit diesem Zeitpunkt das Stilisieren und erreichte seinen Höhepunkt in der Zeit der höchsten Persönlichkeitsentwicklung, im 17. Jahrhundert. Je mehr persönliche Eigenart, desto mehr Stilisierung; ein vollkommen harmonischer Künstler wäre des Stilisierens überhoben.

Jedes Kunstwerk ist wie der Mensch ein dreieiniger Organismus aus Geist, Natur und Seele, oder man kann sagen, aus Geist und Natur, gleichsam Vater und Mutter, entspringend, wird es durch die Seele, die neue Person, verbunden. Jedes Kunstwerk hat einen unbewußten, natürlichen, einen bewußten, geistigen, und einen selbstbewußten, persönlichen Teil; der bewußte ist die Idee des Ganzen, der unbewußte die Konstruktion, der persönliche die Dekoration. Die Konstruktion ist das Gerüst, die Anordnung, Verteilung, Gliederung der Masse; das Dekorative in der bildenden Kunst die Linienführung, in der Musik die Melodie, in der Poesie der Stil. Die Idee des Ganzen spricht sich aus im Umriß.

Wie die unbewußte Natur, das Positive, die Grundlage für den Menschen bildet, ebenso für die Kunst und wie bei zu großer Entfernung vom positiven ein abnormer Mensch entsteht, so im selben Falle eine abnorme Kunst. Seit dem letzten halben Jahrhundert etwa ist der Mensch sowie die Kunst abnorm geworden.

Nachdem das Unbewußte bis zu einem hohen Grade in Selbstbewußtsein verwandelt war, blieb dem Menschen nicht mehr Naturkraft genug, um innerlich zu bauen. Als nun die Menschen, die sich schaffend äußern wollten, bemerkten, daß ihnen nichts mehr wuchs, daß nichts Organisches mehr von innen her zusammenschoß, verfielen sie darauf, durch Zusammensetzung von außen einen künstlichen Organismus zu bilden. Die neue Kunst beruht auf der, der Großartigkeit nicht ermangelnden Absicht, künstlich Leben zu schaffen; mit Ausschaltung der Natur soll der Geist gestalten, anstatt aus der Wurzel soll der Baum aus der Krone entspringen. Immer mehr beruhen die künstlerischen Leistungen ganz auf der Persönlichkeit, die ursprünglich das Werk nur prägte. Beispielsweise bestand der Tanz früher wesentlich in gewissen Bewegungsleistungen, gleichviel ob diese schön oder nicht schön waren; jetzt hingegen wird er zu einer bloßen Schaustellung der Persönlichkeit, und zwar verlangt man dieselbe weit weniger schön und musterhaft als eigenartig. Die objektive Leistung tritt zurück gegenüber der persönlichen Prägung nicht nur in allen Künsten, sondern auf allen Lebensgebieten. Reiste man früher, um den Charakter einer Stadt oder eines Landes kennen zu lernen, so sucht man jetzt nur Stimmungen und persönliche Erlebnisse, d. h. die eigene Persönlichkeit soll durch die Persönlichkeit der Stadt oder des Landes gesteigert empfunden werden. Man will nicht mehr von den Elementen ausgehend die fremde Erscheinung aufbauen und sich aneignen, sondern man will von vornherein nur ihren Duft und Schmelz, als bestände darin der Wert des Ganzen. Vom Willen anstatt von der Kraft ausgehend, glaubt jeder, alles machen zu können, insofern mit Recht, als er doch nichts anderes machen will als sich selbst. Dies Selbst nun aber, obwohl eigensinnig abweichend, wirkt doch in der Regel nicht durchschlagend persönlich, weil das Leben, die Natur fehlt, die allein das Individuelle wirklich machen kann; die von der Natur losgelöste Eigenart wirkt zuletzt zwar nicht als Typus, aber als Schablone, entseelte, unendlich wiederholbare Persönlichkeit.

In der Musik bildete den Scheidepunkt Bach, der noch ganz im Besitze der reinen Form war, dessen Werke ein staunenswertes architektonisch-mathematisches Gerüst sind, die er nun aber zum ersten Male mit einem Inhalt, mit persönlicher Empfindung erfüllte. Dies steigerte Beethoven so, daß man ihn schon fast wesentlich Dichter nennen könnte. Richard Wagner schlug die neue Richtung ein, indem er nicht mehr baute, sang und dichtete, sondern schriftstellerte, d. h. zusammensetzte. Etwas Ähnliches kann man in allen Künsten beobachten. Je ausgesprochener der neue Weg gegangen wird, desto mehr kehrt man zum Primitiven zurück, aber dies Primitive mutet sonderbar greisenhaft an. Die Malerei greift zum gegenstandslosen Ornament, die Poesie erinnert sich ihrer ursprünglichen Verbindung mit der Musik und möchte gleichfalls gegenstandslos, d. h. rhythmisch wirken. Leidenschaftlich wird die Form analysiert, damit man sie nachher bewußt zusammensetzen kann, sowie die Chemie synthetische Edelsteine herstellt. Zunächst haben alle diese Kunstexperimente noch etwas durchaus Lebloses; der Geist schlummert nicht darin wie in der unbewußten Natur, sondern sie sind geist- und seelenlos, nicht einmal totgeboren, sondern niemals Keim gewesen.


 << zurück weiter >>