Ricarda Huch
Das Leben des Grafen Federigo Confalonieri
Ricarda Huch

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Mit dem Oktober kam sommerliche Wärme wieder; es war ein Schimmer über allen Gegenständen, wie wenn man durch farbiges Glas sähe, und die Weide schien in allen Poren von Licht durchdrungen und in Licht erstarrt zu sein. Um die Mitte des Monats kam Salvotti und teilte dem Grafen mit, die Entscheidung des Obergerichts in Verona sei nun eingetroffen; es habe, wie zu erwarten gewesen, das über ihn ausgesprochene Todesurteil bestätigt, das nun nur noch dem Kaiser zur Unterschrift vorzulegen sei. Bis zum Beginn des folgenden Jahres werde alles erledigt sein. Er habe angenommen, daß es dem Grafen lieb sei, dies zu wissen, und er halte es für seine Pflicht, ihn nochmals zu erinnern, daß nur eine besondere Fügsamkeit seinerseits den gerechten Zorn des Kaisers mildern könne. Federigo dankte für die 124 Mitteilung und die Erinnerung; zwei Bitten, sagte er, habe er an den Kaiser zu richten: einmal wolle er ihn darauf aufmerksam machen, daß er, als mütterlicherseits von ungarischem Adel abstammend, das Recht habe, keine andere Todesart als durch das Schwert anzunehmen; ferner wolle er jetzt, bevor noch das Urteil bestätigt sei, sein Testament machen und seine Frau zur Erbin seines Vermögens einsetzen.

Salvotti entgegnete, er werde gut tun, von beidem abzusehen; die erste Bitte werde keinesfalls Berücksichtigung finden, ein Testament sei er allerdings jetzt noch berechtigt zu machen, werde aber dadurch nur die Verstimmung Seiner Majestät gegen sich vermehren. »Sie mögen Seine Majestät kennen,« sagte Federigo, »aber es scheint nicht, daß Sie die Mailänder Aristokratie kennen. Viele mögen damit einverstanden sein, daß ich sterbe; aber nicht einer wird es leiden wollen, daß einer der Ihrigen am Galgen endet. Es könnte für den Kaiser schwere Folgen haben, wenn er darauf bestände, den ersten Stand des Reiches in meiner Person zu erniedrigen.« Salvotti entgegnete: »Seine Majestät läßt in allen Fällen das Gesetz entscheiden. Wenn er sich fügt, werden es seine Untertanen auch tun müssen.« Ohne darauf einzugehen, sagte Federigo, daß er die Bittschrift aufsetzen werde; was die andere Sache betreffe, so wisse Salvotti als erfahrener Jurist am besten, daß er des Rechtes, sein Vermögen, wem er wolle, zu vermachen, nicht beraubt werden könne. Er bitte deshalb, daß ihm ein Notar geschickt werde, mit dem er die Angelegenheit erledigen könne; und da Salvotti noch einmal Einwendungen machte und vor einer Handlung warnte, die als eigenmächtiger Trotz ausgelegt werden würde, sagte er kalt abfertigend, er habe Salvotti nicht um Rat fragen wollen, was er tun solle, sondern ihn in Kenntnis setzen von dem, was er zu tun beschlossen habe. 125

Salvotti verbeugte sich schweigend und ging in so mißmutiger Stimmung, wie sie ihn jetzt oft bedrückte; er wünschte, daß es Abend werden möchte, damit er ausruhen könnte. Es war jetzt fast immer so, daß ihn tagsüber der Gedanke an den Abend beherrschte, und er schrieb es dem Übermaß von Arbeit zu, mit der er die letzten Jahre belastet war, daß er zu der geringsten Tätigkeit, die sonst fast ohne sein Zutun vor sich gegangen war, einer Willensanstrengung bedurfte. War er dann zu Hause, kam das ersehnte Wohlgefühl auch nicht über ihn, oft, im Gegenteil, wünschte er sich wieder fort, um den Augen seiner Frau nicht zu begegnen, die, so empfand er es, gespannt und zweifelnd an ihm hingen, als verlangten sie etwas von ihm, was er nicht geben könne; aber abgesehen davon, daß nicht durch den Beruf veranlaßtes Ausbleiben seinen häuslichen Gewohnheiten und Grundsätzen widersprach, wohin hätte er gehen sollen? Er war mehr als fremd in Mailand, gefürchtet, gehaßt, vielleicht auch verachtet. Durch die Höflichkeit und Unterwürfigkeit seiner Kollegen hindurch fühlte er ihre Abneigung und war überzeugt, daß sie hinter seinem Rücken boshaft und in herabsetzender Weise von ihm sprächen. Alle Menschen, mit denen er in Berührung kam, begegneten ihm mit Hochachtung, gleichwohl schienen sie seinem Umgang auszuweichen, so daß er daran denken mußte, wie in früherer Zeit auch der Niedrigste sich durch eine Berührung des Henkers entehrt gefühlt hätte. Dies erbitterte ihn nicht; denn er sagte sich, daß die Menschen ungerecht und kurzsichtig wären und sich oft vor einem Ergebnis in Ehrfurcht beugten oder es begehrten, das herbeizuführen sie sich zu gut hielten. Wenn er die Mailänder Gesellschaft von Dieben befreit hätte, die ihr Silber entwendeten, so hätten sie ihn als brauchbaren Beamten geschätzt; nun er den Kaiser vor Hochverrätern schützte, die aus ihrem Kreise hervorgingen, galt 126 ihnen seine Pflichttreue als die Anmaßung eines Gewinnsüchtigen oder Ehrgeizigen.

Er wäre am liebsten nur des Abends ausgegangen, wenn ihn die Dunkelheit vor den Blicken der Menschen beschützte. Manchmal befürchtete er nicht nur mißmutig und überarbeitet zu sein, sondern an Schwermut als wie an einer Krankheit zu leiden. Es kam vor, daß er nachrechnete, wie alt er war, und daß es ihn ängstigte, noch so viele Jahre vor sich zu haben. Er sehnte den Zeitpunkt herbei, wo der Prozeß zu Ende wäre und er Mailand verlassen könnte. Die Angeklagten, mit denen er jetzt zu tun hatte, waren fast alle gutartige, beschränkte Leute, die auf die Einladung irgendeines Freundes an einer politischen Versammlung teilgenommen und mitgeschrien hatten, ohne sich der Folgen bewußt zu sein; die der Anblick des Gefängnisses und der Aufenthalt darin so entnervt hatte, daß man auch ohne Bürgschaft sicher sein konnte, sie würden sich in Zukunft von allen politischen Anzettelungen fernhalten. Er war der Ansicht, daß der Kaiser gut daran täte, diese, die nicht gefährlich waren, laufen zu lassen und die Kommission aufzulösen. Was für Gewinn hatte der Kaiser von allen den Geständnissen, die Bände mit Dingen füllten, über die man bereits besser als die Verhörten selbst unterrichtet war? Aber er fing an einzusehen, daß Franz keiner andern Richtschnur folgte als seiner persönlichen Neigung, die dahin ging, diejenigen auszuspüren und zu demütigen, die sich seiner Autorität widersetzten, und daß er damit das Interesse des Staates wahrgenommen zu haben glaubte.

Nachdem Federigo tagelang auf einen Notar hatte warten müssen, kam endlich einer, der ihm entgegenarbeitete, anstatt seinen Auftrag auszuführen. Er hielt ihm vor, daß ein großes Vermögen der Familie erhalten bleiben müsse, und daß er deshalb, da er kinderlos sei, seinen Vater zum Erben einsetzen 127 müsse. Er könne durch ein Vermächtnis der Pflicht gegen seine Frau genügen, müsse aber bedenken, daß sie sich wieder verheiraten könne, und daß dann sein Vermögen in unbekannte, vielleicht nicht würdige Hände geriete; daß, selbst wenn das nicht geschähe, die Beeinflußbarkeit der Frauen so groß sei, daß eine unerwünschte Verwendung des Geldes immerhin zu befürchten sei. Federigo zweifelte nicht daran, daß der Notar unter dem Einflusse seines Vaters auf ihn einzuwirken suchte, der den Besitz seines Sohnes nicht in den Händen Teresas und ihrer Familie, die er nicht liebte, wissen wollte; aber wenn er auch auf seinem Willen beharrte, konnte er doch nicht hindern, daß alles, was er am Tage gehört hatte, sich in den langen Nächten in ihm sammelte, ihn beunruhigte und verwirrte. Wenn jedermann damit rechnete, daß Teresa sich wieder verheiratete, so war es vielleicht Eitelkeit oder Verblendung, wenn er allein nicht daran glauben mochte. Er erinnerte sich einer alten Dame in Mailand, von der man erzählte, ihr Gatte habe ihre Liebhaber immer von ihrer unwandelbaren Tugend unterhalten, und einer andern, die auf dem Totenbette gesagt hatte, es sei ihr höchster Stolz und sollte auf ihrem Grabstein zu lesen sein, daß sie eine Nacht am Herzen Napoleons geruht habe. Er erinnerte sich an solche, die er mit keinem begehrlichen Blick anzutasten gewagt hatte, bis sie selbst ihn einluden, sie weniger hoch zu achten. Zwar verglich er Teresa nicht mit diesen; aber auch in ihrer Seele konnten Möglichkeiten verborgen sein, die er nicht ahnte. Er dachte an die Zeit, als der Vizekönig Eugen Beauharnais ihr den Hof machte: wie heiter strahlend ihre schönen Augen auf ihn gerichtet waren, und wie die kindliche Freude an den Huldigungen, mit denen er sie umschmeichelte, sich auf ihrem reinen Antlitz malte. Er fühlte die Eifersucht heranschleichen, die ihn damals so wütend befallen hatte, daß er sich kaum hatte 128 zurückhalten können, sein Eigentum mit Gewalt von der Seite des Verführers wegzureißen. Ein Schauder überlief ihn, indem er daran dachte, daß er bald kein Recht mehr, auch das ärmste des Bettlers nicht, an etwas Lebendes hätte. Ein Wirbelsturm von Empfindungen riß ihn fort und schleuderte ihn in eine Hölle voll Qual und Finsternis; aber es gelang ihm in wenigen Augenblicken, dieser entsetzlichen Anwandlung Herr zu werden und sein Schicksal, und was es von ihm forderte, mit festen Händen abzuwägen. Es war seine Pflicht, zu wünschen, daß Teresa, die als seine Frau nur gelitten hatte, nach seinem Tode an der Seite eines liebevolleren Mannes noch ein spätes Glück finden möchte. Wie sie auch in Zukunft handeln würde, er mußte sie segnen und ihr danken und ihr, die er immer ohne Falsch und voll Treue gefunden hatte, sein Vertrauen beweisen. Mochten immerhin Fremde oder ihre Brüder den Besitz seines Geschlechtes genießen: Darum gerade wollte er es ihr geben, damit sie nach ihrem Belieben darüber verfügte.

Die erste Hälfte des Novembers ging über diesem Geschäft hin, das die Widerwilligkeit des Notars ihm erschwerte, und er fühlte sich erleichtert, als das Testament nach seiner Absicht ausgefertigt war. Eines Nachmittags kam Menghini so mager und gebeugt, daß Federigo ihm rasch einen Stuhl hinschob und sich nach seinem Befinden erkundigte. Es gehe nicht gut, sagte Menghini, die Leber mache ihm zu schaffen. Er habe auf Verordnung des Arztes für einige Zeit Urlaub nehmen müssen und komme, sich zu verabschieden. Künftig werde ein anderer an seiner Stelle die Besuche bei den Gefangenen machen; ihm werde der Graf zugestehen, daß er es sich stets habe angelegen sein lassen, seine schwere Lage zu erleichtern. Federigo erwiderte etwas Höfliches und fragte nach dem jüngsten Kinde; wie er Menghini gegenübersaß, 129 sah er in dem halbdunklen Zimmer die Veränderung in seinen Zügen, die auf den Tod deuten. Das sei gesund, gab Menghini zur Antwort, und so üppig wie ein Honigbrötchen, von dem rund herum die goldgelben Tropfen herabhingen, voll Schelmerei und Ausbündigkeit. Um dieses Kindes willen hoffe er, daß Gott ihn noch ein paar Jahre am Leben lasse; denn er könne nicht im Grabe und nicht im Paradiese Ruhe finden, wenn das Kind auf Erden Mangel und Trübsal litte. Federigo sagte, er hoffe, Gott werde ihn seiner Familie noch lange erhalten; trotzdem wolle er nicht unterlassen, das Kind seiner Frau zu empfehlen, die, selbst kinderlos, ihr Glück darin finde, für fremde Kinder, die es bedürften, zu sorgen. Menghini dankte verlegen und sagte nach einer Pause, wenn es nach ihm gegangen wäre, würde der Graf Teresa häufiger gesehen haben. Das Herz habe sich einem gewendet, wenn man die edle Frau bitten und unerhört sich langsam wieder entfernen gesehen hätte. Was hätte er aber gegen Salvotti ausrichten können? Der fortwährende Unmut, der an ihm fresse, seit Salvotti da sei, der habe ihm eigentlich so zugesetzt; wenn er ihn eine Weile nicht sehe, würde ihm wohler werden. Daran anknüpfend berichtete er nach einigem Zögern, der Kaiser habe die Bittschrift des Grafen, seine Todesart betreffend, abschlägig beschieden: Confalonieri gehöre zu seinen italienischen Untertanen, die Herkunft seiner Mutter gehe ihn nichts an, übrigens habe ein Rebell keine Rechte. Vielleicht, meinte Menghini, wäre die Antwort anders ausgefallen, wenn Salvotti das Gesuch befürwortet hätte; immerhin müsse der Graf noch auf die Milde des Kaisers hoffen. Federigo war aufgestanden und sagte einige Worte des Dankes und gute Wünsche, worauf Menghini sich empfahl. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um und sah den Grafen mit trüben Augen an; er wollte etwas sagen, aber das 130 Mitleid mit dem stolzen Manne, dem es augenscheinlich Mühe kostete, sich aufrechtzuerhalten, schnürte ihm die Kehle zusammen. »Ich fürchte, wir sehen uns nicht wieder,« brachte er endlich hervor. »Auf Erden nicht,« entgegnete Confalonieri, indem er Menghini die Hand reichte. Gleichzeitig hörte er in seinem Kopfe eine dünne Glocke läuten, schrill und kläglich und so durchdringend, daß er meinte, es müsse jenseits der Mauern des Hauses vernehmbar sein, und er wußte, daß dies das Zeichen zu seiner Hinrichtung war. Bald fielen tiefere Glocken von den Türmen Mailands ein, die von San Fedele und die von San Ambrogio, dann aber noch viele, die er nicht kannte, bis ein Donnergewoge entstand, das die Himmelswölbung erzittern machte. Plötzlich aber ging das Geläute in ein starkes, weiches Rauschen über, in dem er die Stimme seiner Weide erkannte, die vor seinem Fenster sang: Addio! Addio! Unglückseligster, Addio! Dann verlor er das Bewußtsein.

Durch die Krampfanfälle sehr geschwächt, stand er oft nur auf, um mit Andryane zu sprechen; stundenlang lag er fröstelnd auf dem Bette. In der Annahme, daß er nur noch kurze Zeit zu leben haben würde – denn er wußte, daß das Urteil zwei oder drei Tage nach Eintreffen der Bestätigung des Kaisers würde ausgeführt werden –, sehnte er sich danach, Teresa zu sehen, die seit Wochen nicht bei ihm gewesen war. Aus den Äußerungen Menghinis ging hervor, daß sie es versucht hatte und durch Salvotti verhindert war; dennoch wunderte es ihn, daß sie, die so vieles vermochte, in dieser Lage sich nicht den Weg zu ihm erzwingen konnte. Es konnte vieles geschehen sein, seit er von draußen abgeschlossen war, was sie bedrängte und sich ihr zu bemächtigen suchte: sein Vater, Verwandte, Freunde, die nicht seine waren und sie aus der Gemeinschaft mit dem Hochverräter lösen wollten. Er sehnte sich danach, 131 ihr vertrautes Gesicht zu sehen, ihre Augen, deren Unschuldsblick ihm die Ruhe wiedergeben würde; sie standen wie zwei Sonnen frei über allen Strömen, die sie aus ihrem Kreise reißen möchten. In dem Wiedersehen, das vor seinem Sterben stand, sammelten sich alle seine Gedanken; er wollte ihr sagen können, wie teuer sie ihm geworden sei, und daß der Augenblick, wo er dies ihr sagte, Vergangenheit und Zukunft verschlingend, ihm das ganze Leben vorausschenkte. Seine Angst, sterben zu müssen, bevor er sie gesehen hätte, wurde so groß, daß er sich entschloß, Salvotti um einen Besuch zu bitten, damit er ihm die letzte Zusammenkunft gewähre.

Salvottis schönes Gesicht war bleich und ernst; er begrüßte den Grafen mit knappster Höflichkeit. Federigo setzte ihm seinen Wunsch auseinander, Salvotti möge veranlassen, daß er seine Frau sähe, und jener antwortete, er wolle Seine Majestät von dem Wunsche des Grafen in Kenntnis setzen und seine Entscheidung erwarten. Er wisse bestimmt, entgegnete Federigo, daß es in Salvottis Macht stehe, ihm seine Bitte zu gewähren oder abzuschlagen. Vielleicht habe er kein Recht, es zu verlangen; aber er wundere sich, daß eine Gunst, die jedem gewährt werde, ihm ohne Grund entzogen würde. Als Salvotti hierauf kurz erwiderte, er könne nur seine erste Antwort wiederholen, schoß Federigo das Blut ins Gesicht, und seine Brauen zogen sich zitternd zusammen. Er hätte diesen Menschen wie eine Schlange mit einem Peitschenschlage zerbrechen mögen. Indessen, während seine Hände sich zusammenballten, dachte er an Teresa, die viele Male bittend vor ihm hatte stehen und seine Entscheidung, wie sie auch ausfiel, schweigend hatte annehmen müssen, und daß er ihr schuldig war, sich zu überwinden, um den letzten Schlag seines Herzens an ihres schlagen lassen zu können. Er richtete seine Augen, die feucht geworden waren, fest auf Salvotti 132 und sagte: »Erfüllen Sie die letzte Bitte eines dem Tode Geweihten und lassen Sie mich, bevor ich sterbe, meine Frau um Vergebung bitten für alle Leiden, die ich ihr zugefügt habe.« Es war das erstemal, daß Salvotti den Schmelz seiner Stimme und seiner Augen empfand, und er wich unwillkürlich einen Schritt vor ihm zurück. Der Grund seines Verhaltens war, daß Teresa vor zwei Tagen Mailand verlassen hatte, um die Begnadigung ihres Mannes vom Kaiser zu erflehen, und daß er dies Confalonieri verheimlichen wollte, um in ihm nicht die nach seiner Ansicht vergebliche Hoffnung zu erregen, sein Schicksal könne sich noch wenden. Er überlegte schnell, was für ihn empfindlicher sein würde, und kam zu dem Schlusse, seiner anfänglichen Absicht zuwider, ihm die Wahrheit zu sagen. Nachdem er ihm mitgeteilt hatte, daß Teresa in Begleitung ihres Bruders und seines Vaters nach Wien abgereist sei, fügte er hinzu, er hätte versucht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, da er es bedauert habe, daß sie sich umsonst den Anstrengungen einer Reise um diese Jahreszeit und unter diesen Umständen aussetze. Wenn der Kaiser einmal einen Entschluß gefaßt habe, lasse er sich von niemandem davon abbringen; hätte er Gnade wollen walten lassen, so würde er dem Feldmarschall Bubna nachgegeben haben, der einige Tage vorher nach Wien gereist sei, um für den Grafen zu bitten.

Confalonieri sagte: »Ich würde sie zurückgehalten haben, wenn ich sie gesehen hätte;« und nach einer kleinen Pause fragte er: »Glauben Sie, daß sie zur rechten Zeit zurück sein wird?« Salvotti versuchte ein beklemmendes Gefühl, das in ihm aufstieg, zu unterdrücken; er bemerkte, daß Federigo weiß im Gesicht geworden war, und fürchtete, er möchte einen Anfall bekommen. Indessen faßte er sich und sagte: »Man rechnet vier bis fünf Tage für die Reise; aber der starke Schneefall im Gebirge wird sie erheblich verzögern. Zählen 133 Sie nicht darauf, Ihre Frau wiederzusehen; vielleicht wünschen Sie um ihretwillen, daß sie zu spät komme.« Federigo war es, als rücke alles von ihm fort und verschwinde in unermeßlicher Leere. Jetzt fühlte er, daß er in Wahrheit gerichtet war. Er sah Teresa auf vereistem Pfade, schaudernd in ihren Mantel gehüllt, gegen das Wetter kämpfend, seinen Namen in die Ferne rufend, den der Sturm ihr vom Munde riß. Wenn sie käme, würde er nicht mehr da sein; ihre Tränen würden auf sein totes Haupt fallen. Er würde sie nicht sehen, er würde sie nicht trösten; niemals, niemals würde er ihr sagen können, was er in diesem Augenblick mit Wonne und Entsetzen fühlte, daß er sie liebte. Bewußtlos ihren Namen rufend, deckte er die Hände vor das Gesicht, beugte sich und stürzte auf beide Knie, so daß seine Haare fast den Boden berührten. Salvotti stand mit peinlichen Gefühlen daneben; er hätte gern etwas gesagt oder getan, um dem Grafen, wenn nicht zu helfen, doch Teilnahme zu zeigen; anderseits glaubte er, ihm nur dadurch wohltun zu können, daß er das Zimmer verließe und sich nicht länger zum Zeugen seines Zusammenbruchs machte. Er wartete unschlüssig, ob der Graf etwa ein Zeichen gäbe, daß er sich seiner Gegenwart bewußt sei und menschlicher Hilfe bedürfe; aber da das nicht geschah, entfernte er sich langsam.

An diesem Abend fand ihn seine Frau so düster, ja so krank aussehend, daß sie ihn liebevoll fragte, was ihm fehle; und er gab dem Antrieb, die Last des seltsamen Erlebnisses loszuwerden, nach und erzählte ihr, was vorgefallen war. Sie erkundigte sich nach Confalonieris Frau, wie sie sich zu dem Schicksal ihres Mannes stelle, und er sprach mit Anerkennung von der sanften Würde, die sie im Verkehr mit ihm, Salvotti, gezeigt habe, und von der Tatkraft und Unerschrockenheit, mit der sie für ihren Gatten kämpfe. Ihn schilderte er als 134 nicht leicht zu durchschauen, stolz, leidenschaftlichen Geistes und hochsinnig; er sei es gewohnt und halte es für selbstverständlich, daß man ihn anbete und sich für ihn aufopfere, anderseits verrate er nicht gern seine Gefühle. Heute zum ersten Male bei der Nachricht, daß er seine Frau nicht wiedersehen würde, sei der Schmerz mächtiger gewesen als der Trieb, sich niemals unbeherrscht zu zeigen. Er schilderte, wie er vor seinen Augen zusammengebrochen sei; als Kind in seiner Heimat habe er oft gesehen, wie Tannen gefällt werden, wie, nachdem der Stamm oberhalb der Wurzel durchsägt war, die hohe Säule ein wenig, wie von innen, erschauderte, dann langsam das Haupt neigte, ohne sich zu biegen, und schnell, mit zischendem Sausen die Luft durchschneidend, stürzte und tot war. Daran habe er denken müssen.

Salvottis Frau sah ihn erschreckt an und fragte, ob es ausgeschlossen sei, daß der Kaiser ihn begnadigte. »Ich halte es dafür,« sagte Salvotti; »der Kaiser pflegt meine Urteile zu bestätigen, außer wenn ich eine Milderung derselben befürworte, was ich in diesem Falle nicht für angezeigt gehalten habe.« »Der Unglückliche«, sagte sie nach einer langen Pause, »und die unglückliche Frau. Du hättest sie retten können.« Salvotti sah sie verwundert an und fragte: »Wie hätte ich das können? Da sein Hochverrat mir erwiesen war und ich ihn für nicht ungefährlich halte, war es meine Pflicht, diese meine Überzeugung im Urteil zum Ausdruck zu bringen.« Er bemerkte ein eigentümliches Flackern in ihren Augen und in ihrem Blick etwas unruhig Tastendes, das ihm schon öfters aufgefallen war, ja, etwas Schneidendes, beinahe Feindseliges. Er sah ein, daß er sie durch seine Erzählung zu sehr erregt habe, und daß er, weit entfernt, Trost bei ihr zu finden, sie zu beschwichtigen suchen müsse. Indessen war das so leicht nicht; denn sie stand ihm plötzlich so fremd, so herb von ihm 135 abgeschlossen gegenüber, daß er hätte zweifeln können, ob sie dieselbe sei, die er oft und noch vor kurzem leidenschaftlich stammelnd an seiner Brust gehalten hatte. Es fiel ihm nichts anderes ein, als ihr zuzureden, sie möchte sich hinlegen, was sie auch tat; zuerst hörte er sie weinen, dann wurde sie still, und es schien ihm, daß sie eingeschlafen wäre. Er selbst konnte lange keinen Schlaf finden, so sehr bedrückte ihn die Sorge um die Reizbarkeit und Launenhaftigkeit seiner Frau. Weinte sie um das Schicksal des Grafen Confalonieri, warum tat sie es nicht an seiner Seite, ihr Mitgefühl mit dem seinigen vermischend? Er verstand nicht, warum sie sich ihm entzog, nicht, warum sie traurig war; mehr und mehr wurde ihm klar, daß es ihm überhaupt an Verständnis für sie fehle, obwohl er sie treu und herzlich wie am ersten Tage liebte. Mailand, die schöne Stadt, war verflucht für ihn; er wollte seine Pflichten so schnell wie möglich erledigen und es verlassen. Anderswo, dachte er, würde er seine Jugend und seine glücklichen Tage wiederfinden.

 


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