Ricarda Huch
Das Leben des Grafen Federigo Confalonieri
Ricarda Huch

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Einige Tage, nachdem Federigo und Teresa wieder ihre Stadtwohnung bezogen hatten, sagte der Polizeiminister Strassoldo zu einem seiner Beamten: »Dieser Confalonieri hat ein gutes Gewissen oder gar keines, und da der erste Fall ausgeschlossen ist, muß wohl der zweite zutreffen. Vielleicht auch glaubt er es uns gegenüber halten zu sollen wie ein Tierbändiger mit seinen Löwen, die ihm nichts antun, solange er sie fest im Auge behält. Aber es ist umgekehrt: er ist das gefährliche Tier, das wieder in den Käfig gegangen ist, den wir offen gelassen hatten.«

»Ich glaube vielmehr,« sagte der andere, »er urteilt richtig, daß wir ihm nichts antun können, weil ihm nichts nachzuweisen ist; und in dieser Hinsicht mag er sogar ein gutes Gewissen haben.«

Es müßte merkwürdig zugehen, meinte Strassoldo, wenn 61 einer, der so tief im Gestrüpp gesteckt habe, nicht ein Stückchen Haut oder Haar darin gelassen hätte.

»Wir sind«, sagte er, »in unserem lieben Italien, wo die Leute umsonst ausplaudern, was ihnen anvertraut ist, gegen Geld aber noch mehr als das. Ich bekomme noch fortwährend Fäden in die Hand, und es kann täglich das Endchen kommen, mit dem wir den Fuchs fangen können.«

Der andere wiegte bedenklich den Kopf; man liebe an hoher Stelle die Prozesse nicht, die mit einer Freisprechung endigten; Confalonieri sei in den Kreisen der österreichischen Aristokratie gern gesehen, mit dem Feldmarschall Bubna verkehre er auf freundschaftlichem Fuße, der Kaiser habe Rücksicht auf seinen Vater zu nehmen: niemandem würde mit seiner Verhaftung ein Dienst geleistet. »Der Gerechtigkeit!« rief Strassoldo gereizt, »der Gerechtigkeit, die dieser hochmütige Verräter herausfordert. Ich will ihnen die Augen öffnen, denn meine kann er nicht verblenden. Entgehen lasse ich ihn mir nicht; alle seine Schritte sind überwacht; er kann sein Haus nicht verlassen, ohne daß ich es erfahre.«

Eines der Mittel, dessen Strassoldo sich bediente, um einen Anklagepunkt gegen Federigo zu gewinnen, war, daß er alle Briefe eröffnete, die von ihm ausgingen und an ihn eingeliefert wurden, was aber ein anderes Ergebnis hatte als das erwünschte; denn Federigo richtete seine Briefe auf diesen Polizeikniff ein, so daß sie im ganzen unverfänglich waren, aber witzige Anspielungen auf das Spioniersystem enthielten, die den Minister in ohnmächtige Wut versetzten. Bis zu welchem Grade er beobachtet wurde, wußte Confalonieri indessen doch nicht. Er gab seinen Aufpassern viel zu tun; denn er legte es darauf ab, sich so viel wie möglich öffentlich zu zeigen: im Theater, in der Brera, wo die jährlichen Gemäldeausstellungen stattfanden, im Kasino und bei Spazierfahrten. In der 62 Gesellschaft, die meist österreichisch gesinnt war oder für gut fand, so zu scheinen, fand man sein Betragen keck und schamlos und nur durch schwindelnde Anmaßung zu erklären. Ihm gegenüber blieb das freilich unausgesprochen, und man begrüßte ihn mit Beglückwünschungen über sein Aussehen, das keine Spur der Krankheit mehr zeigte: in seinen Augen war das saphirische Leuchten, um seine Lippen schwebte das süße und zugleich überlegen spielende Lächeln, das ihn kennzeichnete, und seine Haltung war die eines rechtmäßigen Herrschers.

Eines Nachmittags im November fuhren Federigo und Teresa nach der Porta Orientale, wo bei der milden Witterung die vornehme Welt noch den Korso abhielt. Von den Pappeln und Platanen fielen braune und rote Blätter in den langsam fahrenden Wagen und hafteten wie ermüdete Schmetterlinge an den Kleidern und Decken der Insassen. »Ich glaube, der Winter bleibt in diesem Jahre aus,« sagte Teresa behaglich; »jeden Abend wünsche ich mir, daß ich die Sonne wie ein schönes Schiff aus dem Morgenlande bei uns festankern könnte.« In diesem Augenblick wurden sie Giorgio Pallavicinos ansichtig, der zu Pferde war und begrüßend an ihren Wagen heranritt. Teresa blickte nach ihrem Manne, besorgt, daß ihm das Wiedererscheinen des jungen Marchese ärgerlich sein würde; aber sie hatte nicht erwartet, einen solchen Ausdruck kaum bemeisterten Zornes auf seinem Gesichte zu sehen. »Wie kommt es, daß du wieder in Mailand bist?« fragte er in einem harten Tone, der Giorgio verblüffte, kränkte und reizte. Seine Mutter habe Sehnsucht nach ihm gehabt, sagte er halb trotzig, halb entschuldigend, und er nach ihr; dazu habe er gehört, daß über die Frühlingsgeschichten das Sommergras gewachsen sei, und seine eigene Anschauung habe ihm das bestätigt. »Gewachsen und wieder gemäht,« sagte Federigo heftig und wollte noch mehreres hinzusetzen; 63 indessen hatte Teresa dem jungen Manne einen Wink gegeben, er möchte sie für jetzt verlassen, was durch die Dazwischenkunft anderer Bekannter noch erleichtert wurde.

Einige Tage später begegnete Teresa auf dem Wege zur Kirche dem Feldmarschall Bubna, der aus einem Hause kam und im Begriff war, in den vor der Tür haltenden Wagen zu steigen. Als er sie sah, stutzte er und begrüßte sie dann, indem er ihre Hand küßte. »Ist Ihr Herr Gemahl auch in der Stadt?« fragte er; »ich dachte, Sie wären in der Schweiz.« Sie hätten den Sommer auf ihrem Landgut zugebracht, antwortete Teresa; die Ärzte hätten zwar ihrem Manne geraten, die berühmten Bäder von Baden bei Zürich zu benützen, aber er habe nichts davon wissen wollen, weil er glaube, wieder im vollen Besitz seiner Gesundheit zu sein. »So, so,« sagte der Feldmarschall, »die gute Luft in der Schweiz würde ihm doch nützlich sein. Ich glaubte fest, Sie wären dort.« Sein Benehmen kam Teresa zerstreut und wunderlich vor, doch verlor sie es aus dem Sinn, weil sie gleich darauf die Kirche erreicht hatte und sich in ihre Andacht vertiefte.

Zu Hause erzählte sie ihrem Manne von der Begegnung mit Bubna und was er gesagt hatte. Indem sie seine Worte wiederholte: »Die gute Luft in der Schweiz würde ihm doch nützlich sein,« kam ihr plötzlich ein neuer Gedanke, nämlich, daß der Feldmarschall mit tiefer Absicht gesprochen hätte, um Federigo zu warnen und den Weg zur Rettung zu zeigen. Ihre Knie zitterten, und sie mußte sich anstrengen, um ihrem Manne auseinanderzusetzen, was sie meinte. »Er wäre nicht der erste, der mich warnt,« sagte Federigo ruhig. »Daß ich in der Schweiz sicherer wäre, als ich hier bin, ist selbstverständlich. Aber du weißt ja, daß ich überzeugt bin, es wagen zu können.«

»Wenn Bubna dich warnt,« sagte Teresa, »das ist etwas 64 anderes, als wenn andere es tun. Er steht dem Kaiser nahe und kennt seine Absichten.« Federigo entgegnete, wenn Bubna ihn ernstlich warnen wollte, würde er eine wirksamere Art wählen als diese; und um ihn nicht ungehalten zu machen, schwieg Teresa, obwohl ihre Angst fortwährend zunahm. Etwas zu essen war ihr unmöglich; ihr Kopf schmerzte so, daß sie sich hinlegen mußte. In ihren Plänen und Überlegungen kam ihr der Gedanke, daß sie vielleicht durch die Frau des Feldmarschalls erfahren könnte, ob etwas gegen Federigo im Werke sei. Diese Frau, eine stattliche Blondine, hatte merken lassen, daß sie den Grafen Confalonieri liebenswürdig fand, und er, keineswegs unempfänglich für die Aufmerksamkeit gebildeter Damen, war auf ihre augenscheinliche Zuneigung eingegangen. Eine Zeitlang war die Vertraulichkeit, die zwischen ihnen bestand, der Gesellschaft aufgefallen, im Laufe des vorletzten Winters jedoch hatte Federigo sich von ihr zurückgezogen, hauptsächlich aus Rücksicht auf den Feldmarschall, den er hochachtete. Fiebernd erwog Teresa, ob sie ihr Widerstreben überwinden und diese Frau aufsuchen und sie anflehen sollte, ihr zu sagen, ob Federigo Gefahr drohe. Möglich war es freilich, daß sie, durch sein Benehmen verletzt, ihn jetzt mehr haßte als liebte und ihn kaltblütig ins Verderben gehen lassen würde; aber eher neigte sie zu der Annahme, daß sie dazu zu gutherzig sei. Sie hätte sich entschlossen, den Versuch auszuführen, wenn ihr nicht plötzlich eingefallen wäre, daß die Äußerung ihrer Befürchtungen, wenn sie unbegründet wären, Verdacht erregen müßte. Um Federigo selbst entscheiden zu lassen, ging sie in sein Zimmer, fand aber, daß er ausgegangen war. Obgleich das nicht auffällig war, ja sie es eigentlich hätte erwarten können, fiel ihr die Leere des Raumes beklemmend aufs Herz. Nachdem sie durch das ganze Haus gegangen war, kehrte sie in die 65 Wohnzimmer zurück und stellte sich, unschlüssig was sie tun sollte, ans Fenster. Das Wetter hatte sich in den letzten Tagen gewendet: seit einigen Stunden fiel starker Regen, den der Wind gegen die Mauern schlug; um fünf Uhr war es schon Nacht. Sie versuchte sich auszudenken, was sie tun sollte, wenn Federigo nicht wiederkäme, und da ihr nichts einfiel, wollte sie den Wagen anspannen lassen und zu ihrem Bruder fahren; aber sie unterließ es, um den Ort nicht zu verlassen, zu dem ihr Mann jeden Augenblick zurückkehren konnte. Sie fühlte sich so ratlos den trübsten Gedanken hingegeben, daß sie sich selbst zürnte und sich zu ermannen suchte. Beschämend fiel ihr ein, daß sie sogleich zu Gott hätte Zuflucht nehmen sollen, und sie ging etwas gefaßter in ihr Schlafzimmer, um vor ihrem Kruzifix zu beten. Allmählich war es ihr, als löse sich eine Klammer von ihrem Herzen, die es zusammengepreßt hätte, und sie gelobte sich, künftig, was Gott schicke, standhaft tragen zu wollen, im Vertrauen, daß es aus seiner Weisheit fließe, daß es ihren Kräften zugemessen sei und ihr und ihrem Manne zum Guten dienen müsse. Als sie beruhigt aufstand, meldete ein Diener den Grafen. Mit einem Freudenaufschrei lief sie ihm entgegen und lehnte den Kopf an seine Schulter, in Tränen ausbrechend, um ihn gleich darauf lächelnd anzusehen. Er schob sie sanft zurück und sagte nicht unfreundlich: »Was ist dir, Kind? Hast du dir Gedanken gemacht? Glaubst du, die Spione hätten den Mut, Hand an Federigo Confalonieri zu legen?« Sie lachten jetzt beide. »Ich glaube auch nicht mehr, daß sie es tun werden,« sagte Teresa; »aber noch sicherer macht es mich, daß sie es nicht ohne Gottes Willen tun können.«

Daß ihr Mann gerade in diesem Augenblick gekommen war, erschien ihr wie eine Antwort Gottes auf ihr Gebet 66 und ihre Ergebung: Sieh, da ist er! Sie glaubte zuversichtlichen Herzens zu sein; in der Nacht aber hatte sie einen beängstigenden Traum von ihrem Kinde, das im Alter von drei Jahren verstorben war. Es trat im Hemdchen vor ihr Bett, faßte sie bei der Hand und zog sie mit sich, die selig bange, klopfenden Herzens folgte. Sie gingen durch das Haus und durch viele dunkle Straßen auf nackten Füßen, ohne daß ihnen ein Mensch begegnete, bis zum Friedhof, wo das Erbbegräbnis der Confalonieri war. Dort hob das Kind mit seiner kleinen Hand die Marmorplatte vom Grabe, so wie man ein Blatt in einem Buche blättert, und ging eine Treppe hinunter in die Erde. Sie sah in dem dunklen Gange, wo es kühl und schaurig war, den zarten Engelsleib vor sich glänzen und wußte, daß das Kind sie zu Federigo, seinem Vater, führen wollte. Obwohl sie sich glücklich geborgen bei der verklärten Seele fühlte, graute ihr doch, daß es immer tiefer hinunterging, und sie fragte: Ist er noch nicht hier? Da wendete sich das Kind nach ihr um, schüttelte den Kopf und lächelte todestraurig, indem es mit der Hand in die bodenlose Tiefe deutete. Als sie erwachte, mußte sie weinen; dennoch fühlte sie sich begnadet wie immer, wenn sie von ihrem Kinde geträumt hatte; denn sie glaubte fest, daß der Himmelsabgesandte, der ein Stück ihres Leibes und ihres Herzens war, in Wirklichkeit bei ihr gewesen sei, diesmal, um sie vor der Gefahr, die Federigo drohte, zu warnen. Es wurde von diesem Kinde, an das sie beständig dachte, niemals zwischen ihr und ihrem Mann gesprochen; es war nämlich an den Folgen eines Sturzes gestorben, den es durch seine Schuld getan hatte, da er es liebte, unbändig mit der Kleinen zu spielen, um ihr die Ängstlichkeit, die er albern fand, abzugewöhnen. Der Schmerz verschloß anfänglich ihr Herz so sehr gegen ihn, daß sie kaum seinen Anblick ertragen konnte, was er mit dem 67 Vorwurf der Kälte und Ungerechtigkeit erwiderte, anstatt die Unglückliche durch den Hinweis auf die Gemeinsamkeit des Verlustes und der Trauer zu gewinnen. Mit der Zeit glich sich die Entfremdung aus, doch blieb die Erinnerung daran so bitter, daß sie es vermieden, das zu berühren, wodurch sie herbeigeführt war.

Jetzt glaubte sie indessen, ihm die Warnung des Himmels mitteilen zu müssen, und erzählte ihm den Traum, während sie beim Frühstück zusammensaßen. Er betrachtete sie gerührt: ihr Gesicht sah jung und schimmernd aus, und er glaubte darin lesen zu können, wie ihr zumute war, als fühle sie noch die Hand des verklärten Lieblings, der durch die unendliche Nacht in unvergänglicher Liebe zu ihr gekommen war. Die Tränen, die in seine Augen stiegen, verbergend, beugte er sich über ihre Hand und küßte sie; dann sagte er, der Traum sei ohne Zweifel durch die Beängstigungen des vergangenen Tages entstanden, immerhin wolle er tun, was möglich sei, um sie zu beruhigen. Zur Flucht sei noch kein Anlaß; hingegen erinnerte er sie daran, daß von einem Zimmer des zweiten Stockes ein Gang zu einer Falltür führe, durch welche man auf das Dach gelangen könne. Hier, sagte er, stehe ihm im letzten Augenblick noch ein Weg zur Rettung offen, indem er vom Dache in ein Nebenhaus eindringen und sich dort etwaigen Verfolgern entziehen könne. Teresa begnügte sich damit, ohne überzeugt zu sein.

Um ihr einen Wunsch zu erfüllen, hatte Federigo sich bereit erklärt, dem Bildhauer Comolli einige Stunden zu einem Reliefbilde zu sitzen. Er war auf dem Wege dorthin, als ihn ein junger Mann grüßte, der ihm bekannt vorkam und dessen Anblick ihm eine widrige Empfindung erregte, die durch seine Erscheinung durchaus nicht zu erklären war. Er hatte ein angenehmes Gesicht mit klugen, ein wenig schelmischen Augen, 68 und sein Gruß war untertänig, allerdings mit einer Beimischung von Vertraulichkeit, als ob eine besondere Beziehung zwischen ihm und dem Grafen bestehe. Im Weitergehen besann er sich darauf, daß es einer der Beamten war, die im Frühling die Haussuchung bei ihm vorgenommen hatten, nämlich der, welcher ihm angeboten hatte, etwaige verdächtige Papiere zu verwahren. Es fiel ihm ein, daß er möglicherweise beauftragt sein könnte, ihn zu überwachen, und er dachte daran, aus Comollis Fenster zu sehen, ob er sich in der Nähe aufhielte; aber er warf den Gedanken wieder weg und wurde dort auch sogleich davon abgelenkt. Es war eine Engländerin in dem Atelier des Bildhauers, die Federigo von einem früheren Aufenthalt in Mailand kannte, und bei seiner lebhaften Sympathie für England und alles Englische war er bald in einem anregenden Gespräch mit ihr. Comolli, den der störende Besuch in üble Laune versetzt hatte, heiterte sich etwas auf bei der Aussicht, daß Federigo ihm um so länger und ruhiger sitzen würde, wenn die Dame ihn unterhielte, am besten ihm etwas vorläse. Sie erklärte sich dazu bereit, stellte aber zunächst die Frage, ob Confalonieri wisse, daß Silvio Pellico zum Tode verurteilt sei; ihr sei es von einer in Venedig lebenden englischen Familie als Tatsache mitgeteilt worden. Er antwortete, daß er noch nichts davon gehört habe, daß das Urteil wohl gefällt sein könne, daß es aber nach seinem Dafürhalten nicht werde vollzogen werden. Wenn es sich bewahrheiten sollte, müßte man eine Petition an den Kaiser gelangen lassen, der freilich als hartnäckig und schwer zu beeinflussen gelte. Die Dame äußerte ihre Entrüstung, daß so rücksichtslos gegen einen Dichter vorgegangen werde; wohingegen Federigo lachend meinte, man könne vom Staate nicht mehr Rücksicht gegen den Künstler verlangen, als der Künstler auf ihn nehme. »Was?« brummte Comolli, »der 69 Künstler sei nicht mehr als der Staat? Die Kunst ist der Gipfel der Schöpfung, der Staat ein notwendiges Übel, und notwendig auch nur dann, wenn er den Menschen und besonders den Künstlern angenehme Daseinsbedingungen verschafft.« Nachdem das Gespräch eine halbe Stunde lang lebhaft hin und her gegangen war, rief Comolli, der während dieser Zeit vergeblich versucht hatte, etwas von des Grafen Profil zu erhaschen, in hervorbrechendem Zorne: »Soll die Vorlesung nun endlich beginnen? Sonst kann ich einen Kutscher von der Straße heraufrufen, um mir zu Confalonieris Bilde zu sitzen.« Federigo stand auf und sagte lachend, die Zeit, die er für die Sitzung erübrigt habe, sei nun abgelaufen; er verabschiedete sich eilig und lachte noch auf der Treppe, während Comolli hinter ihm her schimpfte.

In diesen Tagen wurde bekannt, daß Graf Porro in seiner Abwesenheit zum Tode durch den Strang verurteilt worden war, was den Grafen Vitaliano veranlaßte, seinen Sohn zu einer Unterredung zu sich zu bescheiden. Dahin wäre es nun gekommen, sagte er mit erbittertem Vorwurf zu Federigo, er habe den Umgang mit Porro niemals gern gesehen, der würde nun in effigie gehängt; Federigo solle das beherzigen, er schaudere bei dem Gedanken, daß ihm sein Sohn eine solche Schande bereiten könne. In effigie sei doch immerhin besser als in Wirklichkeit, sagte Federigo kalt. »Für dich vielleicht,« sagte Vitaliano böse; »für mich wäre der Unterschied nicht so groß. Von dem Augenblick an, wo du verurteilt würdest, wärest du mein Sohn nicht mehr. Ich warne dich zum letzten Male; ich weiß, daß die Regierung mit dir unzufrieden ist, noch kannst du von deinen Irrwegen umkehren. Warum befassest du dich damit, Zeitungen zu schreiben und Schulen zu gründen, was deines Amtes nicht ist? Ich erwarte, daß es mit diesen Umtrieben nun für immer ein Ende hat.« Die Schulen, 70 mischte sich Tante Pompea ein, möchten noch ihr Gutes gehabt haben, wenn auch Übertreibung dabei gewesen wäre, denn den Mädchen namentlich würde durch Gelehrsamkeit nur der Kopf verrückt; aber man wisse nicht, was man von einem Menschen denken solle, der die Straßen und Häuser mit einem Gase beleuchten wolle, welches giftig wäre. So etwas lasse vermuten, daß er von sich reden machen und der Regierung Verlegenheiten bereiten wolle. Federigo versuchte wie sonst mit einem Scherze zu antworten, aber er fiel frostig aus und beschwichtigte die anspruchsvolle Tante nicht. Der Anblick seines Vaters, dessen Gesicht glühend rot geworden war, und der einem gereizten Tiere glich, das durch Käfigstäbe von dem Gegenstande seiner Wut getrennt ist, war ihm unerträglich; er hatte das Gefühl, daß boshafte Hände an allen seinen Nerven zerrten. Weit fort von hier zu sein, in Ägypten oder Indien, wo die Menschen kaum den Namen von Mailand kannten, erschien ihm über alles begehrenswert; aber er unterdrückte den Wunsch, bis er fortgehen könnte, ohne den Schein der Flucht zu erwecken.

In der ersten Dezemberwoche wurde das Erscheinen mehrerer Damen der Aristokratie in der Scala erwartet, denen die Kaiserin von Österreich einen hohen Orden verliehen hatte, und die sich im Schmucke dieser Auszeichnungen zeigen wollten. Teresa und ihre Freundinnen hatten sich verabredet, gleichfalls zu kommen, um jenen Damen ihre unverzierte Erscheinung entgegenzusetzen; sie trugen bis an den Hals geschlossene Kleider, die man à l'italienne nannte. Die kleine Gesellschaft war in besonders heiterer Stimmung, sogar Teresa strahlte in einem unschuldigen Triumphe. In der ersten Pause bemerkte Federigo den jungen Pallavicino, der im Gespräch mit einer Dame tapfer gestikulierte, um dann wieder zerstreut vor sich hinzustarren. »Er schildert ihr wahrscheinlich, 71 was er heute zu Mittag gegessen hat,« sagte die Milesi. Giorgio seinerseits bemerkte nun die Confalonieri und machte Miene aufzustehen und sie zu besuchen, als der Vorhang aufging und ihn daran verhinderte. Nach dem Akte war sein Platz leer, was nicht auffiel, da man häufig nur auf eine Stunde ins Theater ging, wenn andere gesellige Verabredungen vorlagen.

Am folgenden Morgen, als Federigo und Teresa beim Frühstück saßen, ließ sich Baron Trecchi bei ihnen melden. Sein Gesicht war voll und rosig wie immer, aber es war ein bekümmerter Blick in seinen Augen, der andeutete, daß ihn etwas Wichtiges und Unerwünschtes herführte. Die Einladung, am Frühstück teilzunehmen, lehnte er ab: er hatte eben erfahren, daß Giorgio Pallavicino am vergangenen Abend im Theater verhaftet worden sei, und konnte es nicht erwarten, sich mit Federigo darüber auszusprechen. Teresa war totenblaß geworden, und auch Federigo war betroffen. »Warum mußte er wiederkommen!« sagte er nach einer Pause; »ich hatte ihn dringend gewarnt. Es gibt Menschen, die sich selbst den Strick drehen, mit dem sie erwürgt werden.« »Glaubst du, daß ich etwas zu befürchten habe?« fragte Trecchi. »Sie werden Verhöre mit dem kleinen Giorgio anstellen, und wer weiß, was für Sprünge seine Zunge macht.« »Dich«, sagte Federigo lächelnd, »wird sie weder zum Olymp noch zum Tartarus tragen. Sie werden sich übrigens nicht die Mühe geben, halb Mailand einzusperren und auszufragen. Täten sie es aber, so würden sie in bezug auf dich bald einsehen, daß du ein ungefährlicher Feind bist.« Trecchi lachte, schon ein wenig beruhigt. »In diesem Augenblick wenigstens«, sagte er, »habe ich mehr Angst vor ihnen, als sie vor mir zu haben brauchen.«

Teresa wartete ungeduldig, bis er fortgegangen war, dann 72 legte sie ihre beiden Hände gefaltet auf Federigos Brust und bat: »Laß uns fliehen! Ach, laß uns fliehen! Wenn du es nicht willst, werde ich schweigen; aber einmal muß ich es noch sagen: Laß uns fliehen!« Er runzelte die Stirn und sagte unwillig: »Gerade jetzt! Daß einer meiner Anhänger verhaftet wurde, soll mir das Zeichen zur Flucht sein!« »Ach,« sagte Teresa, »sie werden alle die Verantwortung auf dich werfen, vielleicht im Vertrauen, daß du die Zeit benützt habest, um dich zu retten.« Er besann sich einen Augenblick, dann sagte er kurz, indem er ihre Hände von sich ablöste: »Nein, es kann davon nicht die Rede sein. Sprich nicht mehr davon, du weißt, daß ich solche Auftritte nicht liebe.«

In der Meinung, daß die Freundinnen mehr über ihren Mann vermöchten als sie selbst, fuhr sie zur Milesi, deren noch verstörte Dienerin sie mit der Nachricht empfing, daß ihre Dame vor einigen Stunden von Polizisten verhaftet und fortgeführt worden sei. Doppelt beängstigt fuhr sie zu Mathilde Dembowsky, die sie allein zu Hause traf; aber diese weigerte sich, Federigo zuzureden, er möchte fliehen, da sie vielmehr stolz und froh sei, ihn groß handeln zu sehen. »Wenn die Milesi verhaftet ist,« sagte sie, »wird die Reihe auch an mich kommen; aber ich denke nicht daran, zu fliehen, sondern ich freue mich darauf, den Elenden ins Gesicht zu sagen, was ich denke.«

»Ja, du!« sagte Teresa schmerzlich. »Was können sie dir tun? Sie wollen dich erschrecken und etwas von dir erfahren. Glaubst du, daß sie uns Frauen hoch genug achten, um uns zu fürchten? Nur der ist in Gefahr, den sie fürchten, und du weißt, daß das Federigo ist. Aber er ist nicht dein Mann.« Die Dembowsky schloß die Augen, so daß ihre langen Wimpern wie ein schwarzes Band auf ihren weißen Wangen lagen, rückte dann dichter zu Teresa und schlang ihre Arme um sie. 73 »Er ist doch deiner, den ich liebe,« sagte sie. »Euch beide liebe ich und möchte euch glücklich sehen. Aber es wäre mir ein unheilbarer Schmerz, wenn ich Federigo geringer achten müßte, als er bisher vor meiner Seele stand. In ihm sah ich Italiens Größe und Italiens Zukunft. Vertraue ihm doch, er wird ohne uns das Rechte wählen.« Teresas große Augen standen voll Tränen. »Du liebst nicht,« flüsterte sie mit zuckenden Lippen. Die Dembowsky sah sie mit traurigem Vorwurf an. »Ich liebe seine Größe,« entgegnete sie, »anders kann ich nicht.«

Inzwischen hatten Teresas Worte Federigo quälend im Sinn gelegen; er fing an, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, daß er bisher unrichtig geurteilt hätte und daß er Pflicht und Klugheit außer acht setzte, während er glaubte, über allem Tadel zu handeln. Eine unerträgliche Unruhe trieb ihn aus dem Hause auf die Straße und wieder zurück und im Hause durch alle Räume. Wie er so plötzlich vor Teresa stand, die eben heimgekehrt war, sah er so anders aus, als wie sie gewohnt war, daß sie sich nicht sofort in ihn finden konnte. »Kann ich denn fliehen?« sagte er. »Ich? Weißt du denn nicht, daß der Kapitän seine Ehre verliert, der das sinkende Schiff verläßt, bevor alle gerettet sind?« »Das ist nicht das rechte Bild,« antwortete sie; »dieser Sturm gilt nur dir, und vielleicht hilfst du allen mehr, wenn du dich rettest, als wenn du dich auslieferst.« Während sie dies sagte und ihn ansah, mußte sie an einen Löwen denken, der sich im Netze des Jägers gefangen hat und nach langem, vergeblichem Umwälzen, um es zu zerreißen, fühlt, daß er sich ergeben muß. Dies war der Mann, den ein mächtiger Kaiser fürchtete; er stand vor ihr wie ein Kind, das alle verlassen haben, mit bittenden, zufluchtsuchenden Augen. Ein warmer Strom von Zärtlichkeit durchflutete sie; sie ergriff seine beiden Hände, drückte sie an ihr Herz, 74 küßte sie und sagte: »Glaube mir, niemand wird dich schmähen, alle werden dich loben. Du tust es ja für mich, für mich, die dich anbetet und ohne dich nicht leben kann.« Er zog sie an sich und hielt sie in seinen Armen, augenscheinlich erschüttert. »Teresa,« sagte er, »ich hätte eher an dich denken sollen!« Sie glaubte, daß es nun abgemacht sei, und wollte sich unverzüglich zur Abreise fertig machen, allein er sagte, sich so zu überstürzen sei nicht notwendig. Er müsse durchaus einige Vorbereitungen und Anordnungen wegen seines Vermögens treffen, was aber hoffentlich bis zum nächstfolgenden Tage erledigt sein würde. Damit mußte sie sich begnügen, und es wurde ihr leichter, weil sie selbst im Hause mancherlei zu ordnen hatte, womit ihr die Zeit schnell verging.

Am nächsten Vormittag überraschte sie der Besuch der Milesi, die, in ein Spitzentuch und in einen langen Mantel gehüllt, aus der Untersuchungshaft kam, um ihrer Freundin zu sagen, daß Federigo Mailand verlassen müsse. Aus den Fragen, die man an sie gerichtet habe, sei ihr deutlich geworden, daß es auf ihn abgesehen sei. Sie habe sich kein Zeugnis gegen ihn ablisten lassen, aber andere könnten weniger geschickt oder glücklich sein. Teresa sagte ihr, daß ihr Mann zur Flucht entschlossen sei, aber nicht vor dem nächstfolgenden Tage, dem dreizehnten Dezember, fort könne; vielleicht indessen würde ihre Warnung die Abreise beschleunigen. Plötzlich fing die Milesi hell zu lachen an, schlug in die Hände und sagte: »O, ich könnte euch erzählen! Was sie mich gefragt haben, und was ich geantwortet habe! Aber ich werde euch alles erzählen, wenn wir wieder sorglos zusammen sind.« Sie eilte fort, denn sie glaubte, die Polizei beobachte sie noch, und wollte womöglich vermeiden, daß ihr Besuch im Hause Confalonieri bekannt werde.

Die Abreise beschleunigen wollte Federigo nicht. Auf einen 75 Tag mehr komme es nicht an, auch wolle er nicht als ein Bettler ins Ausland flüchten. Er müsse sehen, so viel wie möglich von seinem Vermögen flüssig zu machen, und das erfordere Zeit; auf seinen Vater dürfe er nicht rechnen, das wisse Teresa wohl. Auch müsse er den Weg festsetzen, den sie nehmen wollten, und die Leute finden, die ihnen behilflich wären.

Der zwölfte Dezember war ein dunkler Tag; in der Nacht war Tauwetter eingetreten, Südwind wehte, und der Schnee, der auf den Dächern und der Straße gelegen hatte, löste sich in breiigen Schmutz auf. Am Abend saßen Federigo und Teresa im Wohnzimmer, dessen Fenster mit gelber Seide verhängt waren und dem die Möbel aus goldbraunem Nußbaum mit Einlagen aus Elfenbein und farbigen Hölzern einen warmen Ton gaben. Das Feuer im Kamin war erloschen, aber sie dachten nicht daran, neues anzünden zu lassen. Nachdem nun alle Vorbereitungen getroffen waren, konnte Teresa die Angst, es könne noch etwas dazwischenkommen, kaum noch ertragen. Halb bewußtlos zählte sie die Tropfen, die in regelmäßigen Abständen von der Dachrinne fielen; sie sprach nicht, im Gefühl, daß das Lautwerden ihrer eigenen Stimme ihr Grauen erregen würde. Federigo, der ihre Stimmung mitempfand, suchte sie zu beruhigen, indem er sagte, daß sie ihn nicht bei Nacht verhaften würden, daß also heute keine Ursache zur Besorgnis mehr sei und daß sie morgen in früher Stunde das Haus verlassen würden; es war verabredet, daß der Wagen sie vom Hause des Barons Trecchi aus abholen sollte. Er schlug vor, sich schlafen zu legen, womit Teresa einverstanden war; sie waren im Begriff aufzustehen und das Zimmer zu verlassen, als sie das Rollen eines Wagens auf der Straße hörten. Sie hörten, wie er vor dem Hause hielt, das Öffnen und Zuwerfen des Wagenschlages, das Anläuten der Glocke, das Öffnen und Schließen des Tores, Stimmen und Schritte 76 auf der Treppe. Beide standen regungslos, die Augen auf die Tür geheftet, in der einen Augenblick später eine verschleierte Dame erschien, die Gräfin Bubna, die atemlos und augenscheinlich in großer Erregung war. Den Schleier zurückschlagend, ging sie ohne Gruß auf Federigo zu und sagte: »Ich bin gekommen, um Sie im Wagen über die Grenze zu bringen. Wenn Sie nicht mit mir kommen, sind Sie verloren.« Federigo trat einen Schritt zurück und runzelte unwillig die Brauen. »Ich bin kein Verbrecher,« sagte er ablehnend, »wie sollte ich in einem Staate, wo das Recht herrscht, verloren sein?« »Ach, streiten wir nicht um Worte,« entgegnete sie ungeduldig; »ich weiß, daß Ihr Leben in Gefahr ist.« Da sie das innerste Widerstreben Federigos fühlte, wandte sie sich zu Teresa und sagte kurz: »Helfen Sie mir. Ihres Mannes Leben ist in Gefahr.« Teresa war dem Vorgange mit großen Augen gefolgt; so erschöpft wie sie war, spielte sich alles, was geschah, in klaren, scharfen, grell beleuchteten Bildern vor ihr ab, von denen sie kaum die Empfindung hatte, daß sie wirklich mit ihr zusammenhingen. Sie vermochte nichts, als die Hand auf Federigos Arm zu legen und seinen Namen auszusprechen; ohnehin wußte sie, daß es keinen Einfluß auf ihn haben würde. Indessen ballten sich die Hände der Gräfin Bubna vor zorniger Ungeduld; sie hätte Federigo packen und mit Gewalt in ihren Wagen schleppen mögen. »Sie glauben nicht, daß ich gut unterrichtet bin?« sagte sie. »Ich wäre nicht gekommen, wenn es noch ein anderes Mittel, Sie zu retten, gäbe. Es ist das einzige, das letzte!« Wie sie sah, daß jedes ihrer Worte ihn in seinem widerstrebenden Willen nur noch mehr erstarren ließe, drehte sie sich um und wollte gehen; in der geöffneten Tür jedoch blieb sie stehen und rief: »O Gott!« indem sie das Gesicht mit ausbrechenden Tränen in die Hände drückte. Federigo machte Miene, sie zu begleiten, aber sie warf die Tür 77 hinter sich zu und eilte so schnell die Treppe hinunter an den Wagen, daß er sie nicht mehr erreichte. Als er wieder in das Wohnzimmer kam, stand Teresa noch an derselben Stelle; er küßte ihre Hand und sagte, daß sie morgen bei Tagesanbruch das Haus verlassen und zu Fuß dahin gehen wollten, wo der Wagen sie erwarte.

So früh sie indessen auch aufstanden, kamen die Polizeibeamten, die den Grafen verhaften sollten, doch noch eher. Es waren nicht dieselben Männer, die das erstemal gekommen waren, noch hatten sie dieselben Instruktionen; als Teresa ihnen entgegenging, um Federigo Zeit zur Flucht zu lassen, und ihnen sagte, er sei noch nicht angekleidet, erwiderte der Polizeikommissar Bolza, der an ihrer Spitze stand, spöttisch lachend, ihretwegen brauche er keine Umstände zu machen, und auf seinen Wink suchte einer sie gewaltsam von der Tür fortzuschieben, vor welcher sie stand. Federigo trat im selben Augenblick ein und verwies dem Manne sein rücksichtsloses Benehmen gegen die Gräfin, worauf Bolza entgegnete, der Mann habe seine Pflicht getan, der Graf müsse ihnen sofort auf die Polizei folgen, wo man ihm einige Fragen vorzulegen habe. »Die Polizei wird warten, bis ich mich angekleidet habe,« sagte Federigo, konnte aber nicht verhindern, daß auf einen Wink Bolzas ihn einer der Häscher begleitete. Bei seinem Ankleidezimmer angelangt, rief Federigo diesem zu: »Warten Sie hier!« Da ihm der Mann aber doch folgte, packte er ihn am Fuße der Treppe, die zu der Dachtür führte, an der Brust und stieß ihn mit solcher Wucht zurück, daß er umfiel und die Besinnung verlor. Als er nach einigen Minuten wieder zu sich kam und dem Grafen nacheilte, fand er ihn mit Aufbietung aller Kräfte an der Tür rütteln, die verschlossen war. Er überhäufte ihn mit Vorwürfen und wollte ihm Handschellen anlegen, damit er ihm nicht zum zweiten Male einen solchen 78 Streich spielen könne. »Du wirst mich nicht anrühren!« sagte Federigo drohend, und der Mensch, dem es plötzlich erschien, als sei der Graf doch ein mächtiger Mann, den man klüger tue sich nicht zum Feinde zu machen, lenkte ein und entschuldigte seine Grobheit. »Helfen Sie mir,« sagte Federigo, »mir die Hand zu verbinden, damit die Gräfin nicht erschrickt«; denn er hatte sich bei dem Versuch, die schwere Tür mit Gewalt zu öffnen, so verletzt, daß er blutete. »Der Herr Graf hat Muskeln wie ein geübter Fechter,« sagte der Mann anerkennend, während er dem Befehl Folge leistete; »man würde es nicht glauben, wenn man diese vornehme Hand sieht.« Federigo lächelte und sagte: »Es geht an mit den Muskeln; aber ich habe Kraft, wenn ich zornig bin. Jetzt, wo es vorüber ist, würde ich gegen Euch zurückstehen.« Teresa war, von den andern Männern beobachtet, stehengeblieben, ohne durch eine Miene zu verraten, mit welcher Angst sie wartete; auch als sie Federigos Schritte zurückkommen hörte und einsah, daß nichts mehr zu hoffen war, verriet sie durch kein Zeichen, was in ihr vorging. Er umarmte und küßte sie, indem er sagte: »Lebewohl, Liebe, wir werden uns bald wiedersehen«; in seinem Blick lag die Zufriedenheit mit ihrer würdigen Haltung.

Im Gefängnis wurde der Graf von dem Direktor desselben, Caldi, einem beweglichen kleinen Manne mit pfiffigem Gesicht, unter lebhaften Achtungs- und Freudenbezeugungen empfangen. Er rechne es sich zur Ehre an, sagte er, einen solchen Mann, wie der Graf Confalonieri sei, in seinem Hause zu empfangen. Er habe eigens für ihn das geräumigste und freundlichste Zimmer ausgewählt und hoffe, der Graf werde sich wohl darin fühlen. Auf den Wunsch des Grafen könne es geheizt werden, außerdem komme am Nachmittag die Sonne herein und bleibe bis zum Abend; es sei ein Zimmer für Naturfreunde. Federigo dankte und erklärte sich zufriedengestellt; als er allein 79 war, sah er sich mit Befremden um: das Zimmer war nicht gerade klein, aber kahl, schäbig und trübe; eine eiserne Bettstelle war darin, ein Tisch, einige Stühle, ein Schrank aus bemaltem Tannenholz und ein andrer, noch roherer Tisch, auf dem ein kleines, blechernes Waschgeschirr stand.

Er fühlte sich todmüde und ruhebedürftig; aber es ekelte ihm vor dem Bett, von dem er nicht wußte, wie viele vor ihm darin gelegen haben mochten. Das Bewußtsein, daß er tagelang, vielleicht wochenlang in diesem Raume würde bleiben müssen, überfiel ihn gewaltsam: die Vorstellungen drehten sich in seinem Kopfe, wie wenn er wahnsinnig würde. Mit einer äußersten Anstrengung suchte er den Taumel seines Inneren zu bemeistern. »Bin ich ein Sklave,« dachte er, »daß die Klarheit und die Ruhe meines Geistes von dem Zimmer abhängen, wo ich mich aufhalte?« Er ging einige Male auf und ab und legte sich dann auf das Bett, das nur einige Zoll länger war, als seine Größe betrug, und überdachte seine Lage.

Aus den wenigen Fragen, die ein Richter sogleich nach seiner Ankunft im Gefängnis an ihn gestellt hatte, ging hervor, daß von Untersuchungsgefangenen Belastendes gegen ihn ausgesagt worden war; allein er glaubte, daß er sich dagegen behaupten würde, wenn er nur erfahren könnte, wie weit Pallavicino, dessen Aussage zumeist in Betracht kam, mit seinen Zugeständnissen gegangen war. Dieser selbst mußte wünschen und alles Erdenkliche versuchen, sich mit ihm in Verbindung zu setzen; es war anzunehmen, daß er über die Möglichkeiten dazu schon unterrichtet war.

Seine Überlegungen wurden durch einen Aufwärter unterbrochen, der nach den Wünschen des Grafen in bezug auf das Mittagessen fragte. Er sagte, daß er Riboni heiße und künftig den Grafen bedienen würde; sein Gesicht trug den Ausdruck tiefer Besorgnis und Bedenklichkeit, der durch eine 80 angenehme Gemütlichkeit in seinem Wesen und seiner Art zu sprechen versüßt wurde. Auf die Antwort Federigos, daß er Suppe, Fleisch und Gemüse und ein Glas Wein wünsche, sagte er tadelnd, der Graf solle nicht in so wegwerfender Weise vom Essen sprechen; es gebe hier einen Koch, von dem der Direktor Caldi selbst sage, daß der König von Frankreich keinen besseren besitze. Sein Name sei Cisalpino, und es habe seine besondere Bewandtnis mit ihm; wenn er wisse, um welche Person es sich handle, werde er ohne Zweifel sein Talent mit besonderer Gefälligkeit in Ausübung setzen.

Das Essen war in der Tat gut, aber Federigo beachtete es nicht. Danach schlief er vor Müdigkeit ein und erwachte, als es im Zimmer schon dunkelte. Er ging an das Fenster, das wie alle andern vergittert war und die Aussicht auf den viereckigen Hof hatte; in der Mitte desselben befand sich ein steinerner Brunnen, hinter dem eine jetzt blätterlose Weide stand. Es fiel Schnee in großen Flocken, die wie losgerissene Fetzen aussahen und, sowie sie das Pflaster berührten, im flüssigen Schmutz vergingen. Eine Weile beschäftigte er sich damit, die einzelnen ins Auge zu fassen und in ihrem Schweben zu verfolgen, bis sie ihm entschlüpften und der kurze Lebenslauf zerronnen war. Dann dachte er wieder an Pallavicino und an die Notwendigkeit, sich mit ihm ins Vernehmen zu setzen. Nachbarn hatte er offenbar nicht; die Fenster auf dem gegenüberliegenden Flügel des Gebäudes schienen auf einen Gang zu führen. Der Hof lag totenstill; jetzt zum ersten Male sah er ein Mädchen, das zur Bedienung gehören mußte, mit einem Eimer zum Brunnen gehen. Sie ging offenbar der Kälte wegen mit eiligen Schritten und verrichtete ihr Geschäft, das sie gewohnt sein mochte, gleichgültig, ohne nach seinem oder einem andern Fenster hinaufzusehen. 81

Plötzlich fiel ihm ein, daß Teresa den Inhalt seines Schreibtisches ausräumen würde oder schon ausgeräumt hätte, damit bei einer erneuten Haussuchung der Polizei nichts Kompromittierendes in die Hände fiele, und daß sie dabei die Briefe jener Frau, die er liebte, gefunden haben müsse. Sie würde sie nicht lesen, aber auch ohne das rasch begreifen, da sie die Handschrift kannte, und so würde er ihr an einem Tage einen zwiefachen Todesschmerz bereitet haben. Es war ihm wie ein Fiebertraum, daß er, Federigo Confalonieri, nichts tun konnte, um einzuschreiten, vorzubeugen, irgendwie zu ordnen und zu helfen, daß er die Ruhe seiner Frau und die Ehre seiner Geliebten dem Zufall oder gehässigen Feinden preisgeben mußte. Während er, die Zähne aufeinander beißend, in die Dämmerung starrte, sah er an einem der gegenüberliegenden Fenster das blasse Gesicht Pallavicinos erscheinen, der vielleicht Erlaubnis hatte, in dem Gange spazierenzugehen. Unwillkürlich bewegte er die Lippen, um Giorgio aufmerksam zu machen; seine Augen drangen herrisch auf die weit offenen ein, die ihn erschreckt anstarrten, und mit der Hand machte er die Gebärde des Schreibens; unter den Wärtern war ohne Zweifel einer, der um Geld einen Zettel übermitteln würde. In dem ungewissen Licht glaubte er zu sehen, daß das blasse Gesicht am Fenster ein Lachen verzerrte, und gleich darauf verschwand es; er hätte sich einbilden können, daß es ein Blendwerk gewesen sei.

Er blieb stehen und wartete, ob es etwa wiederkäme, bis die Dunkelheit sich dazwischenballte. Dann fing er wieder an, im Zimmer auf und ab zu gehen, die Aufmerksamkeit auf irgendein Zeichen spannend, das Pallavicino ihm etwa gäbe. Vielleicht, dachte er, brächte ihm Riboni mit dem Abendessen einen Brief; aber der war augenscheinlich unbefangen. Ob viele Untersuchungsgefangene da seien, fragte ihn Federigo. 82

»Wir haben das Haus voll,« sagte Riboni, sorgenvoll die Brauen hochziehend. »Wir haben außerordentlich zu tun, um alle zufriedenzustellen; denn es sind fast alle verwöhnte Herrschaften, wenn auch natürlich mit Unterschied. Jeder hat seine Eigenheiten: der eine weint, der andere betet, der dritte trinkt, und obwohl es unmoralisch klingen mag, dies letztere ist der Mangelhaftigkeit aller Verhältnisse am meisten angemessen.« Federigo antwortete, er sei bis jetzt noch mit anderen Mitteln dagegen aufgekommen, worauf Riboni ihn von der Seite ansah und in ein klägliches Gewinsel ausbrach, das sich bei schärferer Beobachtung als seine Art zu lachen erwies.

Das erste Verhör fand statt, ohne daß irgendeine Nachricht von Pallavicino an ihn gelangt war. Von den fünf Richtern, vor die er geführt wurde, waren die meisten Italiener, einige Tiroler. Sie verkehrten untereinander und mit ihm in einem gemütlichen, beinah nachlässigen Ton, der ihm nicht gefiel, der aber auch nichts Aufregendes hatte; nur der Untersuchungsrichter, ein Mailänder namens Menghini, ein magerer Mann mit gelblicher Gesichtsfarbe, war reizbar und konnte plötzlich bei einem unwesentlichen Punkte mit bösartiger Hartnäckigkeit auf seiner Meinung bestehen, während er im allgemeinen den ganzen Fall als etwas Beiläufiges behandelte, worüber man sich schon einigen würde. Hatte Federigo auch damit gerechnet, daß ungünstig über ihn ausgesagt war, so wurden seine schlimmsten Befürchtungen doch durch das, was er erfuhr, übertroffen: Pallavicino nämlich hatte gestanden, daß er die Reise nach Piemont im Auftrage Confalonieris gemacht habe, und hatte das Protokoll dieser Aussage mit seinem Namen unterzeichnet. Als ihm dies von Menghini mit einem triumphierenden Lächeln vorgelegt wurde, sagte Federigo, er zweifle, ob das Pallavicinos 83 Handschrift sei, woraus eine hitzige Auseinandersetzung entstand; denn Menghini, dem das Blut in den Kopf schoß, entgegnete feindselig, was der Graf damit sagen wolle. Ob er glaube, man fälsche hier Unterschriften. Ob er glaube, man bedürfe listiger Fallstricke, um ihm seine politischen Umtriebe nachzuweisen. Gerade ihm müsse Pallavicinos Handschrift wohlbekannt sein, und er könne seinen Zweifel nur in beleidigender Absicht ausgesprochen haben. Als Federigo zu Worte kommen konnte, sagte er, er habe nicht glauben können, daß Pallavicino seinen Namen unter eine Bezichtigung gegen ihn gesetzt habe, die noch dazu falsch sei; das sei alles. Die kühle Sicherheit, mit der er sprach, setzte die Richter, die ihn neugierig beobachteten, in Erstaunen; es war nichts davon zu bemerken, wie sehr sein Gemüt erschüttert war.

Als er in sein Zimmer zurückkam, fand er es überheizt, öffnete das Fenster und setzte sich davor. Er hatte eingesehen, daß seine Lage gefahrvoller war, als er geglaubt hatte; aber nicht das überwältigte ihn, sondern daß es durch die Schuld eines seiner ergebensten Anhänger so gekommen war. Er hatte nie daran gezweifelt, daß sie alle sich eher das Leben als ein verderbliches Wort gegen ihn würden entreißen lassen, so wenig, wie ein Kind gegen seinen Vater oder ein Knecht gegen seinen König zeugt. Verraten war er von einem, den er für unbesonnen, aber für unwandelbar treu gehalten hatte; er glaubte einen Ausdruck von Mitleid und Schadenfreude in den Augen der Richter gelesen zu haben. Es war ihm so zumute, als ob er hätte weinen können. Wie am Tage vorher fiel Schnee, nur daß die Flocken noch größer und dauerhafter waren; sie flogen bald abwärts, bald wieder nach oben wie beseelte Geschöpfe, und zuweilen standen sie still in der Luft und schienen ihn anzusehen.

Als Riboni mit dem Mittagessen kam und das offene 84 Fenster sah, schalt er, indem er es schloß, über die Verschwendung der kostbaren Wärme und Federigos Leichtsinn, mit dem er sich der kalten Luft ausgesetzt hätte. Dieser bemerkte erst jetzt, daß ihn fror, und daß das Zimmer völlig durchkältet war. Nun fiel es Riboni auf, daß er bleich und traurig aussah; er zuckte ein paarmal die Schultern und sagte: »Ja, ja!« und reichte dem Grafen ein Glas Wein mit der Aufforderung, zu trinken. »Wenn Ihr mit mir trinkt«, sagte Federigo, worauf Riboni bereitwillig ein Glas holte und ihm Bescheid gab. »Es geht nicht ohne Trinken,« sagte er mit Überzeugung; »die Welt ist zu mangelhaft. Allerdings ist es mein Grundsatz, öfters, aber mit Maß einen Tropfen zu mir zu nehmen, während bei Cisalpino, dem Koch, auf je zwei oder drei Monate völliger Nüchternheit ein Monat des Saufens kommt.« Cisalpino, erzählte er, habe eine Geliebte, ein Teufelsweib, mit der er nicht länger als ein paar Monate in Frieden leben könne, dann gäbe es Streit und Schlägerei, und sie verlasse ihn. Ohne sie könne er aber noch weniger leben; er fange aus Verzweiflung zu saufen an, werde nachlässig und gewissenlos im Kochen, lasse alles versalzen und verbrennen. Schließlich erfolge eine Versöhnung mit der Entlaufenen, dann gehe es wieder aufwärts, und die Küche floriere, bis neuer Hader ausbreche und die übliche Katastrophe herbeiführe.

Federigo anerbot sich, nach dem Wohlgeschmack des Essens auf die Stufe zu schließen, wo Cisalpinos Entwicklungsgang eben angekommen sei, und riet richtig, daß er seit etwa einer Woche mit der Geliebten wieder versöhnt sei. Über diesen Beweis von Seelenkunde und einer feinen Zunge war Riboni hoch erfreut. Wenn Cisalpino erführe, meinte er, wie fein der Graf seine Arbeit zu schätzen wisse, würde er zu noch höheren Einfällen angeregt werden und vielleicht sogar das nächste Mal den Verlust der Geliebten ohne Schaden des Berufes ertragen. 85

Nach dem Essen brachte Caldi einige Bücher aus seiner Bibliothek, die sein Vater, wie er erzählte, von seinem Oheim, der Apotheker gewesen sei, ererbt habe, und die von unschätzbarem Werte sei. Sie bestand aus Arznei- und Kräuterbüchern, die zum Teil astrologischen Inhalts waren, und Geschichten von Märtyrern und Ketzern, deren mannigfache Todesarten dem längst verstorbenen Apotheker seine Mußestunden verkürzt haben mochten. Sie waren sämtlich in lateinischer Sprache verfaßt und schienen Federigo brauchbar, seine Kenntnisse darin aufzufrischen. Nachdem er einige Stunden dabei zugebracht hatte, vermochte er ruhiger über die Erfahrungen des Nachmittags zu urteilen. Pallavicino hatte sich vielleicht durch geschickt gestellte Fragen umgarnen lassen; ja, es war anzunehmen, daß die Leiden der Gefangenschaft seinen unbefestigten Geist aus dem Gleichgewicht gebracht hatten. Er selbst mußte sich den Vorwurf machen, daß er ihn damals nicht aus dem Spiele gelassen hatte; denn er erinnerte sich, daß er geschwankt hatte, bevor er ihn die wichtige Reise nach Turin unternehmen ließ, und daß Teresa ihn davor gewarnt hatte. Er beschloß, darüber nicht mehr zu grübeln, sondern sich über sein eigenes künftiges Verhalten klar zu werden.

Daß er das Recht, ja die Pflicht habe, sich bis aufs äußerste zu verteidigen, war ihm nicht zweifelhaft. Die Rolle, die er als Staatsmann, als Verschwörer gespielt hatte, war durchaus von seinen menschlichen Beziehungen getrennt; sie niemals offenbar werden zu lassen, war er denen, die mit ihm gekämpft hatten, und der Idee selbst, für die er kämpfte, schuldig. Er hatte sich nicht menschlich gegen einen Menschen versündigt: er stand als Feind einem mächtigen Feinde gegenüber, dessen Rache sich auszuliefern schwachmütige Torheit gewesen wäre. Das Zeugnis Pallavicinos allein konnte ihn nicht 86 verderben; er wollte dabei bleiben, es zu bestreiten, wie überhaupt alles, was ihm selbst oder andern gefährlich werden konnte.

In dem zweiten Verhör erfuhr er, daß ein anderer Anklagepunkt darin bestand, er habe an einer Verschwörung gegen das Leben des Feldmarschalls Bubna teilgehabt. Federigo zog die Augenbrauen zusammen und sagte, es sei wohl bekannt, daß er mit dem Feldmarschall in freundschaftlichen Beziehungen gestanden habe. Allein Menghini antwortete: »Was beweist das?« Bubna hätte eben ausrufen können: Auch du, Confalonieri!, eine Wendung, die ihn selbst und die übrigen Richter sehr zu belustigen schien. Es war ersichtlich, daß sie zwar der Anklage keinen großen Wert beilegten, da sie nicht durch Beweise unterstützt und offenbar auf Geschwätz zurückzuführen war, daß sie aber anderseits die Tatsache nicht unglaubwürdig fanden. Federigo empfand Ekel und Grauen: er wußte nicht, wie er sich gegen eine Beschuldigung verteidigen sollte, die er, wenn er frei gewesen wäre, nur durch eine Forderung zum Zweikampf hätte erwidern können. Bubna selbst, dessen mächtiger Kopf mit den klugen und guten Augen vor seiner Seele stand, würde der Verleumdung keinen Glauben schenken, ja den Verleumder mit einem Fußtritt von sich stoßen; ob aber seine Landsleute in Mailand ebenso verfahren würden, dessen war er nicht sicher. Plötzlich erinnerte er sich jener Zeit, wo ein ungreifbares, schleichendes Geflüster ihn als den Mörder jenes napoleonischen Ministers Prina bezeichnet hatte, der der Revolution zum Opfer gefallen war, und er übersah auf einmal, wie wenig sich viele besinnen würden, ihm ein Verbrechen ähnlicher Art zuzutrauen, wenn es auch durch seine freundschaftliche Beziehung zu Bubna noch niederträchtiger geworden wäre.

Menghini, dem das Gefühl, den Grafen beleidigt zu haben, 87 unbehaglich war, besuchte ihn am folgenden Tage auf seinem Zimmer und suchte ihn zu begütigen. »Lieber Graf,« sagte er, »ich begreife nicht, warum Sie sich nicht offen über alles aussprechen. Damit wäre diese unglückliche Sache erledigt, unter der ich kaum weniger als Sie leide. Der Milde des Kaisers darf sich ein reuig Geständiger unbedenklich anvertrauen. Glauben Sie nicht, daß mein Beruf gegen menschliche Empfindung verhärte: Ich habe Verständnis für Ihre Ideen, wenn ich sie auch nicht gutheißen kann. Ich glaube Ihnen, daß Sie in der Sache mit dem Grafen Bubna unschuldig sind; aber verhielte es sich auch anders, so weiß ich doch, daß ein politischer Mord anders als ein gemeiner Mord einzuschätzen ist.« Federigo antwortete kühl, daß er, was er zu sagen habe, im Verhör gesagt habe und vertrauliche Eröffnungen nicht zu machen habe. Dieser Mann war ihm widerlich wie ein sich an der Erde windender Wurm, den man zertreten möchte, wenn eben das nicht noch mehr Ekel einflößte. »Sie besinnen sich vielleicht noch, lieber Graf,« sagte Menghini, in dessen Gesicht jetzt ein hämischer Zug getreten war; »ich will Ihr Bestes und rate Ihnen, wenigstens das zuzugestehen, was Sie doch nicht mehr leugnen können. Bücken Sie sich ein wenig, um leidlich durchschlüpfen zu können; das ist klüger, als sich aufrecht einfangen lassen.«

Nach vier Wochen etwa wurde ihm gemeldet, daß er Teresa sehen könne. Er hätte sich gefreut, wenn ihm nicht der Gedanke an die Briefe, deren Kenntnis er bei ihr voraussetzte, schwer aufs Herz gefallen wäre. Das peinliche Gefühl, ihr gegenüber schuldig zu sein, schwand jedoch, sobald er ihr gegenüberstand, deren strahlende Augen ihm nichts als eine Botschaft herzlicher Liebe bringen zu wollen schienen. Obwohl sie blaß und ein wenig leidend aussah, erschien sie ihm so schön und würdig wie je, ihre Miene süßer bewegt; 88 ein Hauch von hilfreichem Liebeswillen strömte von ihr aus und umhüllte ihn wohltätig. Anstatt ihr zu sagen, was er sich vorgenommen hatte, daß er sich bewußt sei, ihr unrecht getan zu haben, und ihre Verzeihung erbitte, gab er ihr nur beruhigende Auskunft über seine Gesundheit und empfahl ihr Ruhe und Zuversicht. Wie sie selbst sagte, verdankten sie die Zusammenkunft der Güte des Menghini, der ihr auch beiwohnte; denn sich ohne Gegenwart eines Dritten zu sehen, konnte ihnen nicht gestattet werden. Er hielt sich aber fern genug, daß sie eine Verabredung über zu wechselnde Briefe treffen konnten, die mit Federigos Wäsche abgeliefert und empfangen werden sollten.

Diese Briefe zu schreiben und zu lesen, war ihm eine Freude und ein Trost. Indem er auf ihr Zusammenleben zurückblickte, sah er ein, daß sie ohne Aufhören durch ihn gelitten hatte; durch seine Herrschsucht und Eifersucht wie durch seine Gleichgültigkeit. Er war die Ursache gewesen, daß sie das Kind, ihren Liebling, verloren hatte; durch seinen Stolz und seine Härte war sogar ihre Trauer verbittert worden. Für viele Frauen hatte er Neigung und Verständnis gezeigt, nur ihr hatte er sich entfremdet und die Großherzigkeit ihrer bescheidenen Treue mit frostiger Anerkennung erwidert. Es beruhigte ihn, ihr dies zu sagen und von ihr zu hören, daß sie wohl durch ihn gelitten habe, daß er ihr aber weit mehr Glück als Schmerz gegeben habe dadurch, daß er immer der Gegenstand ihrer Liebe gewesen sei. Er nahm sich vor, in der Zukunft, die ihnen gemeinsam noch gegönnt sein würde, von ganzem Herzen auf ihr Glück bedacht zu sein; so, dachte er, wäre wohl das Leben, daß man nicht immer auf geradem Wege ans Ziel komme, sonst wäre es nicht Leben, nämlich ein Spiel mancherlei Kräfte, ein Kaleidoskop unendlicher Farben und unendlicher Figuren. 89

 


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