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Elftes Kapitel. Ein weiterer neuer Freund

Die Familien aus der Nachbarschaft machten sämtlich ihren Besuch bei Steels, wie es ja auch in der Tat wohl nicht anders möglich gewesen wäre, da sie Steel schon im vorigen Jahre, als er noch Junggeselle gewesen war, besucht hatten. Dies geschah sogar, ohne daß die Uniackes und Invernesses die Leithämmel dieser Herde zu bilden brauchten, denn diese vornehmsten Familien der Umgegend waren bereits zur Saison nach London zurückgekehrt. Der Bannstrahl, den Mrs. Venables anfänglich so gern auf das neuvermählte Paar geschleudert hätte, wurde also nicht losgelassen, da diese mächtige und diplomatische Dame, die im Umkreis von vier Meilen unbezweifelt die erste Violine spielte, sofort ihren Irrtum eingesehen hatte und nun tat, als habe sie ihn überhaupt nicht begangen. Anfangs Juni wurden die Steels dann schon zu einem ihnen zu Ehren gegebenen Diner nach Upthorpe Hall, der Venablesschen Besitzung, eingeladen.

»Mrs. Venables!« rief Rahel erschrocken. »Ist das nicht jene zudringliche Frau mit den schweigsamen Töchtern, die letzten Donnerstag hier Besuch machte?«

»Doch, die ist es,« antwortete Steel mit einem heiteren Aufblitzen in den dunklen Augen. Er selbst sprach seiner Frau gegenüber niemals eine Ansicht über einen ihrer Nachbarn aus; ließ diese aber eine Bemerkung über jemand fallen, so pflegte er sie dann in seiner Weise anzusehen, als habe er sich dieselbe Ansicht schon im vorigen Jahre gebildet.

»Aber, müssen wir die Einladung denn wirklich annehmen?« fragte Rahel mit unverhohlener Besorgnis.

»Ich denke wohl,« antwortete er. »Warum auch nicht?«

»Ein Diner, das ist das Allerschlimmste! Nirgends ist man den Blicken so ausgesetzt als an einem solchen Tisch, und nicht einmal einen Hut kann man tragen. Stunden um Stunden muß man in dem grellen Lichterglanz aushalten!« Schaudernd schüttelte sich Rahel. »Ach bitte, laß uns lieber absagen,« drang sie mit einem Ton in ihn, der weder demütig bittend, noch verzweifelt klang, aus dem aber, wenn auch keine Spur von Zuneigung, so doch die Zuversicht einer Frau herauszuhören war, deren Bitten nicht immer abgeschlagen worden sind.

»Ich fürchte, es bleibt uns nichts andres übrig, als hinzugehen,« sagte er bestimmt, wenn auch nicht unfreundlich. »Die Gesellschaft wird nämlich uns zu Ehren gegeben, wie ich zufällig weiß. Venables machte eine Bemerkung darüber, als ich ihn neulich in der Stadt traf. Jedenfalls wird er selbst dich zu Tisch führen.«

»Was für eine Art Mann ist er eigentlich?«

»Einer, dem gutes Essen über alles geht. Er wird dich jedenfalls nicht belästigen,« sagte Steel beruhigend. »Überhaupt brauchst du dich wirklich jetzt nicht mehr über das Vergangene zu quälen. Niemand hat dich bis jetzt erkannt und unter diesen guten Provinzlern ist auch in Zukunft keine Gefahr, daß es geschehen könnte. Die haben eigentlich nur dafür Interesse, was sich in ihrem Distrikt ereignet. Reist einer nach London, so weiß er nach seiner Rückkehr nicht viel mehr zu erzählen, als was er dort ausgegeben und gegessen hat. Soviel ich weiß, hat zum Beispiel der berühmte Tichborne-Prozeß seinerzeit hier weniger Aufsehen erregt, als der eines Delvertoner Pfarrers, der zu gleicher Zeit ins Gefängnis kam.«

»Die Berichte über meinen Fall müssen die Leute aber doch gelesen haben,« sagte Rahel mit leiser Stimme.

Die beiden hatten ihr Frühstück inzwischen beendet und wanderten nun weitab vom Hause im Parke hin. Trotzdem hatte Rahel sich scheu umgeschaut, bevor sie zu reden begann.

»Überflogen mögen sie sie vielleicht haben,« antwortete Steel mit verächtlichem Achselzucken; »höchstens hat hin und wieder ein Schuljunge sie durchgelesen. Aber selbst, wenn du als schuldig gesprochen hier ums Geld zu sehen wärest, würdest du weniger Interesse erregen als ein hiesiger Übeltäter, der weit weniger verbrochen hätte. Verzeih, daß ich mich so derb ausdrücke,« fügte Steel hinzu, als er sah, wie Rahel verletzt zusammenzuckte. »Allein ich bin eben fest von meiner Ansicht überzeugt und möchte sie dir gern ebenfalls beibringen.«

Mehr oder weniger gelang Steel dies auch. Trotzdem aber nahm Rahels Angst vor einer Entdeckung mit der Zeit mehr zu als ab. Diese Angst hatte sich noch verstärkt, seitdem ihre Bekanntschaft mit Morna rasch in die intimen freundschaftlichen Beziehungen übergegangen war, die jetzt zwischen den beiden Frauen bestanden. Rahel hatte ihrem Gatten gesagt, daß sie Morna um keinen Preis in ihr Geheimnis einweihen möchte, und er war mit dieser Vorsicht einverstanden gewesen, die er wohl begreiflich, wenn auch nicht notwendig fand. Diese Ansicht mochte ihren Grund in einer persönlichen Hochachtung für Mrs. Woodgate haben, einer Hochachtung, die so groß war und so unverhohlen zur Schau getragen wurde, daß er stets darauf ausging, Mornas Gesellschaft mit seiner Frau zu teilen.

»Du sollst Mrs. Woodgate nicht für dich allein in Anspruch nehmen,« pflegte er mit aller Höflichkeit zu sagen, wenn er plötzlich unerwartet vor den beiden Frauen auftauchte. »Ich war bekanntlich schon vor dir auf dem Platz!«

Und seinen Platz behauptete er. Nicht daß Mr. Steel in dieser Hinsicht besondere Wünsche oder Befehle ausgesprochen, noch den beiden Frauen in ihrem Verkehr irgend eine Beschränkung auferlegt hätte. Durchaus nicht. Dennoch aber erschien er jedesmal, so oft sie beisammen waren, auf der Bildfläche. Der Pfarrer schrieb diese Eigentümlichkeit Steels einer törichten Eifersucht des ältlichen Mannes auf seine junge, schöne Gattin zu. Morna aber wußte es von Anfang an besser.

»Gehen Sie hin?« fragte Rahel eifrigst bei ihrem nächsten Zusammentreffen mit Morna. Sie war sogar einzig und allein wegen dieser Frage ins Pfarrhaus gekommen, und selbst Steel vermochte seine Frau nicht zur Annahme der Einladung zu bewegen, ehe sie nicht wußte, ob sie auch gewiß Woodgates treffen würde.

Ja, Woodgates gingen hin. Morna befand sich sogar schon mitten in ernstlichen Toilettensorgen.

»Wenn ich Ihnen doch eine von meinen Toiletten geben könnte!« rief Rahel, die Morna bereits nahe genug stand, um das sagen zu können. »Ich habe ganze Schränke voll, und trotzdem besteht mein Mann darauf, mit mir nach London zu fahren, damit ich mir dort etwas für diese Gelegenheit besonders Passendes aussuche.«

»Wenn auch nicht notwendigerweise ein Kleid!« rief Steel, der in diesem Augenblick wie gewohnt etwas erhitzt und atemlos erschienen war und nun mit scherzhaftem Tadel fortfuhr: »Meine liebe Mrs. Woodgate, ich muß entschieden einen besonderen Telegraphendraht zwischen Ihrem und unserm Haus anbringen lassen. Ein Gutes aber ist wenigstens bei der Sache, ich brauche nie im Zweifel zu sein, wo ich meine Frau zu suchen habe. Hat sie Ihnen gesagt, daß wir mit dem zwölf Uhr fünfunddreißig-Zug von Northborough abfahren werden?«

Es handelte sich bei dieser Fahrt in der Tat nicht in erster Linie um ein Kleid, sondern um den Ankauf eines Brillanthalsbandes, das denn auch mit großem Geschmack ausgewählt wurde. Es war ein Collier von wundervollen Steinen, die, nach der Mitte zu größer werdend, ihren Glanzpunkt in einem Solitär vom reinsten Wasser fanden. Rahel trug es auch pflichtschuldigst zu einer prächtigen Toilette in bräutlichem Weiß, deren blendende Reinheit vielleicht die Wirkung hatte, die Blässe der jungen Frau weniger auffallend erscheinen zu lassen. Und sehr blaß sah sie allerdings aus: es war aber auch ihr erstes Erscheinen in einem solch großen Kreise, und zwar nicht nur in Delverton, sondern überhaupt seit ihrer Wiederverheiratung. Da eine so formelle Einladung wie diese auch gebührend lange Zeit vorher ergangen war, so hatte sich Rahel überdies unwillkürlich in eine nervöse Erregung hineingesteigert.

Mr. Venables, der Rahel in der Tat zu Tisch führte, strafte die Beschreibung, die ihr Gatte von ihm gemacht hatte, in keiner Weise Lügen. Er war ein rundlicher Mann mit rotem Gesicht, dessen vorstehende Augen auf dem Menü hafteten, noch ehe sein schwabbeliger Körper auf den Stuhl niedersank. Seine Unterhaltung beschränkte sich darauf, Rahel auf die besonders empfehlenswerten Speisen aufmerksam zu machen, dem einen Gericht – trotz seiner Eigenschaft als Hausherr – ein verschwenderisches Lob zu spenden, oder ein andres unparteiisch zu tadeln. Eigentlich aber sprach er überhaupt nur während der Pausen zwischen den einzelnen Gängen. Es war eine große Gesellschaft: aus zweiundzwanzig Personen bestand die Tafelrunde, und endlich wagte es Rahel, sich auch die übrigen zwanzig anzusehen.

Der Herr zu ihrer Rechten war ihr nicht vorgestellt worden, doch hatte er bereits einige höfliche Bemerkungen an sie gerichtet, während Mr. Venables mit Essen beschäftigt war. Nach seiner zweiten Bemerkung hatte Rahel dann einen Blick auf die Tischkarte geworfen, die seinen Namen trug. Mr. Langholm stand darauf. Sofort lehnte Rahel sich zurück und schaute ihn von der Seite an.

Er war ein etwas schlotteriger Mann mit schlechter, vorgebeugter Haltung, aber hübschen, offenen Gesichtszügen und einem großen, etwas verwilderten Schnurrbart. Auch hätten seine Haare kürzer sein können, und sein Frack glänzte etwas verdächtig an den Stellen, wo das Licht gerade besonders hinfiel. Rahel raffte nun all ihren Mut zusammen und sagte mit einem Anflug ihres früheren kolonialen Auftretens: »Diese Tischkarten sind sehr bequem, wenn man einander nicht vorgestellt ist. Ihr Name ist wohl nicht sehr verbreitet, nicht wahr?«

»Nein, nicht sehr,« antwortete er, »wenigstens nicht in dieser Schreibart.«

»Und doch wird er ebenso geschrieben, wie der des Schriftstellers Langholm.«

»Allerdings.«

»Dann sind Sie wohl ein Verwandter?«

»Ich bin er selbst,« antwortete Langholm mit einem herzlichen Lachen, indem er geschmeichelt errötete. Da er kein besonders populärer Schriftsteller war, passierte ihm so etwas nicht alle Tage.

»Ich hoffte im geheimen, Sie möchten es sein,« bemerkte Rahel, während sie sich von der ersten Zwischenspeise herausnahm.

»Dann haben Sie meine Bücher nicht gelesen,« kicherte er, »und ich rate Ihnen auch, es niemals zu tun.«

»Aber ich habe es bereits getan,« wandte Rahel ein, nun ebenfalls lebhaft errötend. »Eine ganze Menge habe ich davon gelesen, und zwar in der Tauchnitz-Ausgabe, als wir auf dem Kontinent waren. Dabei ließ ich mir freilich nicht träumen, daß ich Sie einmal von Angesicht zu Angesicht sehen würde.«

»Wirklich?« erwiderte er. »Nein, das ist zu komisch! Aber wahrscheinlich wollte Ihr Herr Gemahl Ihnen nicht Angst machen. Wir beide haben nämlich im vorigen Jahr recht viel miteinander verkehrt, auch schrieb er mir von Florenz aus, ehe Sie die Heimreise antraten, und ich hätte Ihnen längst meine Aufwartung gemacht, wenn ich nicht in London gewesen und eben erst von dort zurückgekommen wäre.«

Die warme Färbung war aus Rahels Gesicht gewichen. In nichts, in gar nichts weihte ihr Mann sie ein! Es fehlte nicht viel, daß sie diesem Fremden von ihrer Empörung hierüber gesprochen hätte, und sie mußte einige Augenblicke nachdenken, was sie ihm statt dessen antworten sollte. Zu irgend einer Unwahrheit zu greifen, fiel Rahels gerader, wahrheitsliebender Natur immer äußerst schwer, und so kostete es sie auch jetzt eine förmliche Anstrengung, zu bemerken, daß es sehr albern von ihr gewesen sei, es ganz vergessen zu haben, nun aber erinnere sie sich wieder – natürlich. Hierauf wandte sie sich dem Gastgeber zu, der vor seinem leeren Teller irgend einen Vortrag zu halten begann.

»Sonderbar, Mrs. Steel, daß man auf dem Lande nicht dasselbe Fleisch bekommen kann wie in der Stadt. Solche Filetbraten zum Beispiel! Ich wollte nur, Sie könnten mal einen in unserm Londoner Klub kosten. Wir bezahlen unserm Küchenchef dort aber auch tausend Pfund jährlich, und jeden Tag können Sie ihn in seiner eigenen Equipage spazierenfahren sehen.« – –

Die Romane Charles Langholms zeichneten sich hauptsächlich durch ihre sensationelle, spannende Handlung aus, doch erweckten die besten seiner Sachen die Hoffnung, er werde sich noch einmal zu Höherem aufschwingen. Aber diese Hoffnung war von einem Jahr zum andern vertagt worden. Die Art, wie er seine Stoffe behandelte, war übrigens stets besser als der Stoff selbst, und dieser mit dem Inhalt nicht übereinstimmende Firnis trug wohl hauptsächlich die Schuld, daß Langholm weder ein Liebling des großen Publikums noch der untergeordneteren Kritiker wurde. Im Schürzen interessanter Knoten aber war er häufig wahrhaft bewunderungswürdig, und Rahel versicherte ihm, daß sie ihr Licht nicht selten tief habe herunterbrennen lassen, um noch die Lösung eines seiner sinnreichen Rätsel zu erfahren.

»Wie,« rief er, »Sie – eine Dame – schauen nicht, wenn es spannend wird, nach dem Schluß?«

»Nicht, wenn es ein gutes Buch ist.«

»Nun, dann haben Sie unter einer Menge schlechter vielleicht gerade das beste erwischt, und es ist mir eine Befriedigung, zu erfahren, daß Sie einen Knoten nicht ungestüm zerschnitten haben, dessen Schürzung Monate gekostet hat.«

Rahels Interesse war in hohem Grade gefesselt. Sie hatte noch nie einen Schriftsteller persönlich kennen gelernt und ahnte nichts von den Kunstgriffen, die ein solcher anwendet. So stellte sie denn eine Menge jener harmlosen Fragen an ihn, über die sich die Mehrzahl dieser Art Herren nicht zu ärgern pflegt. Wenn Langholm als Schriftsteller es aber auch recht gut verstand, sich in seinen Büchern über den Charakter seiner Heldinnen zu verbreiten und gelegentlich auch ihre Freiheitsbedürfnisse zu verfechten, so war der Mensch Langholm doch ein erklärter Weiberfeind. Das hätte freilich niemand weder aus den Antworten auf Rahels Fragen geschlossen, noch überhaupt aus der belebten Unterhaltung der beiden. Der Dame mit der Adlernase aber, die Langholm zu Tisch geführt hatte, und der er nur stoßweise in wiederholten Reueanfällen, gleichsam als Buße, einige Aufmerksamkeit schenkte, wurde das Vergnügen eines angenehmen Tischgesprächs nicht zu teil, um so weniger, als ihr Nachbar zur Rechten vollends gar nichts mit ihr sprach. So kam es, daß sie eine eifrige und kritische Zuhörerin bildete für eine Unterhaltung, die plötzlich jene Wendung nahm, vor der Rahel sich sonst so sehr hütete. Aber gerade diesmal vergaß sie, hingerissen von der unerwarteten geistigen Anregung, ihre gewohnte Vorsicht.

»Woher ich meine Ideen bekomme?« sagte Langholm. »Manchmal aus meinem Kopf, wie man in der Kinderstube sagt, gelegentlich aber auch aus dem wirklichen Leben, und öfter noch ist es eine Mischung aus beidem. Selten nur kommt es vor, daß wir aus einer Zeitung ein Geschenk erhalten, das wert wäre, mit mehr oder weniger großen Veränderungen zu einem Roman erhoben zu werden. Wirkliche Tatsachen sind nämlich meist widerspenstige, unbiegsame Stoffe, die sich nur schwer miteinander verschmelzen lassen. Hin und wieder kommt aber doch auch ein solcher Fall vor, so zum Beispiel einer, der erst kürzlich passiert ist. Ja, der gäbe allerdings eine herrliche Vorlage für einen Roman, wenn man nur den Mann dafür fände, der den Stoff künstlerisch zu verarbeiten wüßte.«

»Und was war das für ein Fall?«

»Der Fall Minchin.«

Dabei sah er ihr gerade ins Gesicht, so wie man seinen Tischnachbar nur dann ansieht, wenn man etwas Besonderes sagt oder zu hören bekommt. Er hatte sich halb umgewandt und schaute Rahel mit dem Lächeln eines Künstlers an, der ein Meisterwerk vor seinem geistigen Auge erblickt. Nun war der unvermeidliche Augenblick gekommen, und gerade zu einer Stunde, wo Rahel ihn am wenigsten erwartet hätte. Und doch war sie durch ein instinktives Gefühl unmittelbar vorher darauf vorbereitet worden, so daß sie kühlen Blickes und ohne durch ein Zusammenzucken oder Zittern ihre Gefühle zu verraten, seiner Begeisterung standhalten konnte.

»Ah so!« sagte sie, die feinen Augenbrauen ein wenig in die Höhe ziehend. »Finden Sie wirklich, daß sich darüber ein Roman schreiben ließe?«

Es war bezeichnend für Rahel, daß es ihr selbst in diesem unvorhergesehenen Augenblick nicht in den Sinn kam, sich so zu stellen, als wisse sie nichts Näheres über diesen Fall.

»Glauben Sie das nicht auch?« fragte er.

»Ich habe nicht darüber nachgedacht,« antwortete Rahel, auf die Blumen niederschauend. »Jedenfalls war es ein ganz abscheulicher Fall.«

»Der Fall?« rief er. »Nun ja, meinetwegen, aber ich meine den Fall gar nicht.«

»Was meinen Sie denn sonst, Mr. Langholm?«

»Ihr Leben nachher,« flüsterte er. »Die Psychologie dieser Frau und ihre ferneren Abenteuer! Sie ging ja unmittelbar nach ihrer Freisprechung sozusagen in Rauch auf. Das wußten Sie doch wohl?«

»Ja, ich hörte davon.«

Rahel befeuchtete ihre Lippen mit Champagner.

»Nun, ich würde sie erst von diesem Augenblick an auftreten und ihren Roman damit beginnen lassen,« sagte Langholm.

»Und würden Sie sie als schuldig oder unschuldig darstellen?«

»Ach!« rief Langholm in einem Ton, als bedürfe die Beantwortung dieser Frage einer vorherigen Überlegung. Und unglücklicherweise machte er auch wirklich eine Pause.

»Worüber sprechen Sie?« fragte Mr. Venables, der Rahels letzte Worte aufgefangen hatte.

»Von Mrs. Minchin,« antwortete sie ihm ruhig.

»Schuldig!« rief Mr. Venables mit großer Entschiedenheit. »Schuldig, natürlich! Ich wäre jedenfalls nach London gefahren, um sie baumeln zu sehen.«

Dabei schaute er Rahel strahlenden Blickes an, als sei er stolz auf diesen Ausspruch, während die Brillanten auf dem weißen Hals, an dem er so gern den Strick gesehen hätte, sich hoben und senkten.

»Ein größerer Skandal,« fuhr er halb zu Rahel, halb zu seiner andern Nachbarin gewendet fort, die Mr. Venables unterbrochen hatte, um ihm lebhaft zuzustimmen, »ein größerer Skandal und eine größere Verirrung des Gerichts ist mir wahrhaftig mein Lebtag nicht vorgekommen. Schuldig? Natürlich war sie schuldig! Ich wünschte nur, man könnte sie ein zweites Mal vor Gericht stellen und sie dann doch hängen! Ich bitte Sie um alles, Sie werden doch nicht die Partei einer solchen Frau ergreifen wollen,« sagte er, zu Rahel gewendet, mit einem mitleidig ermahnenden Blick. »In Ihrer Jugend kann man so etwas noch nicht beurteilen. – Was, dieses Geflügel wollen Sie verschmähen? Nein, das kann ich nicht zugeben; es ist das Beste, was in dieser Saison zu haben ist, obwohl das nicht gerade viel sagen will. Aber warten Sie nur, bis die Zeit der Haselhühner kommt. Ich besitze nämlich in dieser Gegend ein Stück Moorland, wo es eine Unmenge davon gibt. Ich lasse mir immer einen ganzen Keller voll aufbewahren und esse sie erst, wenn sie vom Strick fallen.«

»Nun,« sagte Rahel, sich von neuem zu Langholm wendend, als sie sah, daß ihr Wirt wieder ganz in seinen lukullischen Genüssen aufging.

»Ich würde sie schuldig sein lassen,« antwortete der Schriftsteller. »Sie müßte einen Mann heiraten, der an ihre Unschuld glaubt, der sich auch nicht ein Jota daraus machte, wenn sie ihm im letzten Kapitel die Wahrheit gestände, und der trotzdem bis an sein Ende in glücklichster Ehe mit ihr lebte. Fürs Feuilleton wäre der Stoff ganz unbrauchbar. Aber ein Buch würde es geben!«

»So halten Sie sie also wirklich für schuldig?«

Gespannt wartete Rahel, während er die Achseln zuckte und ihr Herz immer heftiger klopfte. Einen eigentlichen Grund dafür wußte sie nicht, höchstens den, daß Langholm ihr recht gut gefiel und sie diese Meinung nicht gern gleich wieder geändert hätte. Langholm aber, der nicht ahnen konnte, wie sehr die Beantwortung dieser Frage in sein persönliches Leben eingreifen sollte, tändelte leichthin damit, während sich nach Art der Federmenschen ein paradoxes Wort auf seinen Lippen formte.

»Was liegt daran, ob sie schuldig war oder nicht? Was liegt an den Tatsachen, Mrs. Steel, wenn man einen solchen Vorwurf für einen Roman im Kopfe hat? Dichtung ist wahrer als Wirklichkeit.«

»Sie haben mir meine Frage aber noch immer nicht beantwortet.«

Rahel war nun einmal auf die Antwort erpicht.

»Nun, ich habe die Sache allerdings ziemlich genau verfolgt und freute mich, daß die Geschworenen zu einer Freisprechung gelangt sind. Es gehörte allerdings etwas Phantasie dazu, aber das ist bei wahren Ereignissen ja immer nötig. Ich halte es für keine Kränkung unseres Wirtes, wenn ich behaupte, daß er keine Phantasie hat, auch erinnere ich mich, daß ich damals eine heftige Debatte über diesen Punkt mit ihm hatte. Ach du lieber Gott, nein, die Ärmste war ebensowenig schuldig als Sie und ich. Aber es wäre tausendmal künstlerischer gewesen, wenn sie es wäre, und ich würde sie jedenfalls dazu machen, ja, bei Gott, das würde ich!«

Rahel beendigte nach diesem Ausspruch ihre Mahlzeit in großer Ruhe. Auf ihrem Gesicht aber lag ein rosiger Schimmer, der vorher nicht dort gewesen war, und Langholm wurde ein ganz auffallend freundliches Lächeln zuteil, als die Damen sich erhoben. Er hatte sein Versäumnis gegen seine Nachbarin mit der Adlernase durch eine verspätete Buße wieder gutgemacht, Rahel aber war doch diejenige, die das letzte Wort an ihn richtete.

»Hoffentlich besuchen Sie uns bald einmal,« sagte sie. »Es würde mich interessieren, wie Sie diese Idee verarbeiten.«

»Ich fürchte, sie ist derart, daß ich sie doch nicht werde verwerten können, außer ich halte mich an die blödsinnige Wirklichkeit, und lasse die Dame schließlich doch unschuldig sein.« Dabei machte er eine schmerzliche Grimasse, während sie ihn, von neuem lebhaft errötend, verließ.

»Sie sahen einfach großartig aus, besonders gegen das Ende,« flüsterte Morna Woodgate ihrer Freundin im Salon zu; denn sie allein wußte, mit welcher Bangigkeit Rahel diesem ihrem ersten gesellschaftlichen Debüt in Delverton entgegengesehen hatte.

Aber auch die Dame mit der Adlernase verfehlte nicht, Rahel gegenüber eine Bemerkung zu machen. Dabei funkelten ihre Augen wie schwarze Glasperlen, während die lange Nase ihr entschieden das Aussehen eines Habichts gab, was bei einer Frau eigentlich etwas Seltenes ist. Ihre Ernsthaftigkeit aber glich eher der einer Eule.

»Sie unterhielten sich ja recht lebhaft mit Mr. Langholm,« sagte sie, indem sie sich damit begnügte, ihren Vorwurf in eine einfache Feststellung der Tatsachen zu kleiden. »Haben Sie seine Bücher gelesen, Mrs. Steel?«

»Einige davon,« antwortete Rahel. »Und Sie?«

»O nein, ich lese niemals Romane, außer die von George Elliot oder neuerdings auch die von Mrs. Humphrey Ward. Es ist ein solcher Zeitverlust, während man beim Lesen und Wiederlesen von Browning, Ruskin und Carlyle doch nur gewinnen kann. Übrigens weiß ich im voraus, daß Langholms Romane mir nicht gefallen würden. Die sind sicherlich recht roh und sensationell?«

»Ich habe sensationelle Geschichten ganz gern,« sagte Rahel, »und lasse mich gern auch einmal aufrütteln.«

»Sie haben ihm also die Idee beigebracht, einen Roman über Mrs. Minchin zu schreiben?«

»Ich? Nein, diese Idee stammt nicht von mir,« antwortete Rahel hastig, während die scharfen Augen auf ihr ruhten, und sie zu ihrem Entsetzen fühlte, wie dunkle Röte ihr ins Gesicht stieg.

»Sie schienen den Fall aber jedenfalls sehr genau zu kennen,« sagte die Dame mit der Adlernase. »Ich pflege Kriminalfälle zwar sonst nicht zu lesen, aber bei diesem muß ich nun doch einmal eine Ausnahme machen.«


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