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Viertes Kapitel. Der Mann im Eisenbahnzuge

Rahel bekämpfte mit geschlossenen Augen ihre Schwäche und war längst wieder Herrin ihrer selbst, als die Leute um sie her glaubten, das Bewußtsein fange erst an, bei ihr zurückzukehren. Sie erkannte die Zelle auf den ersten Blick. Es war diejenige, wo seit Generationen die Verbrecher der Großstadt und wenige unschuldige Personen wie sie selbst die Entscheidung über Leben und Tod erwartet hatten. Für sie hieß es, Leben, Leben, Leben! Und sie fragte sich, ob wohl je einer von den wenigen Unschuldigen mit so geringer Freude zum Leben zurückgekehrt sein möchte als sie.

Die Wärterinnen führten sie jetzt zu einem Stuhl, worauf sich der Gefängnisarzt mit einer Medizinflasche in der Hand über sie beugte.

»Bitte, trinken Sie dies,« sagte er freundlich.

»Ich bin aber die ganze Zeit über bei Bewußtsein gewesen.«

»Schadet nichts. Sie brauchen es trotzdem.«

Ohne weiteren Widerspruch nahm Rahel das Wiederbelebungsmittel.

Es tat seine Wirkung, die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, heiß rollte das Blut ihr durch die Adern, und schon im nächsten Augenblick erhob sie sich ohne Hilfe.

»Nun aber will ich Ihre Güte nicht länger mißbrauchen,« sagte Rahel. »Auch werden Sie mich gewiß nicht zurückhalten wollen.«

»Wir haben kein Recht dazu,« antwortete der Doktor, sich verbeugend, mit einem gutmütigen Lächeln. »Sie sind so frei wie der Vogel in der Luft und gestatten mir vielleicht, daß ich Ihnen als erster meine Glückwünsche ausspreche. Zugleich aber möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, meine liebe Dame – obwohl ich nur staunen kann, wie Sie all dem standgehalten haben, was über Sie hereingestürmt ist –, daß es immerhin besser wäre, noch – noch ein Weilchen hier zu warten.«

Der Doktor sah auf, und nun hörte Rahel plötzlich draußen in der Welt das rohe Geschrei eines gedankenlosen Pöbels.

»Das gilt wohl mir?« fragte sie, mit den Zähnen knirschend.

»Das will ich nicht sagen,« erwiderte der freundliche Doktor, »es kann ebensogut den Zeugen gelten; aber eine Volksmasse ist gar wankelmütig, und ich möchte Ihnen dringend raten, sich weder auf die eine noch auf die andre Weise einer Demonstration auszusetzen. Hier, innerhalb des Gerichtsgebäudes, sind Sie vorläufig am besten aufgehoben. Überdies wartet Ihr Anwalt draußen, um sich mit seinen Glückwünschen den meinigen anzuschließen.«

»Wirklich!« rief Rahel in einem Tone, der ebenso hart war als ihr Blick.

»Nun ja, natürlich,« entgegnete der andre etwas bestürzt. »Es gibt doch gewiß eine Menge Dinge, die Sie noch miteinander zu besprechen haben; jedenfalls scheint ihm sehr viel an einer Aussprache mit Ihnen zu liegen. Er wartet nur, bis ich ihm die Erlaubnis zu einer Unterredung mit Ihnen gebe.«

»So sagen Sie ihm, daß er auf meine Erlaubnis lange warten könne!« rief Rahel voll rachsüchtigen Zornes; allein schon im nächsten Augenblick tat ihr ihre Heftigkeit leid. »Ich bin Ihnen viel Dank schuldig,« fügte sie hinzu, »und wäre es nur für die mir während der letzten Minuten erwiesene Güte und Teilnahme. Ihm aber verdanke ich nichts, gar nichts, was ich ihm nicht mit barem Gelde bezahlen könnte. Er hatte versucht, mich von meiner Verteidigungsrede abzuhalten. Alle taten dies zwar, aber er am meisten. Ihm verdanke ich also sicherlich mein Leben nicht. Er mag vielleicht jetzt vergessen haben, was er während der letzten Tage alles zu mir gesagt hat; ich aber werde es niemals vergessen.«

»Gewiß wäre er der erste, der seinen Irrtum eingesteht.«

»Vielleicht. Jedenfalls hielt er mich bis zuletzt für schuldig, und ich weigere mich entschieden, ihn zu empfangen.«

»Dann will ich gehen und es ihm sagen.«

Damit verschwand der gute Doktor, doch kehrte er schon nach wenigen Minuten ganz erfüllt von des Anwalts eifrigen Einwendungen zurück. Was Mrs. Minchin zu tun beabsichtige? Wohin sie zu gehen vorhabe? Hunderte von Dingen wären zu besprechen und zu ordnen gewesen.

Der Anwalt habe behauptet, daß sie ganz ohne Freunde sei, und auf ihn, den Doktor, habe es den Eindruck gemacht, als ob der Anwalt selbst nur zu gern ihr als ein solcher zur Seite stehen möchte. Rahels Lippen verzogen sich verächtlich bei diesem Gedanken.

»Immerhin bleibt mir wenigstens ein Freund, der sich zur Bezahlung der Advokatenrechnung verpflichtet hat,« sagte sie, »wenn dieser Umstand etwa im Zusammenhang mit seiner Besorgnis für mich stehen sollte. Aber was ich zu tun oder wohin ich zu gehen beabsichtige, das ist ganz allein meine Sache, und was die verschiedenen zu besprechenden Punkte anlangt, so hätte er diese ja während der vergangenen Woche mit mir erörtern können. Vielleicht hielt er es damals für eine Zeitvergeudung, ich aber hätte wenigstens den Versuch zu schätzen gewußt.«

So wurde der Anwalt denn von Rahel mit der Lebhaftigkeit, die eine ihrer Charaktereigenschaften bildete, abgewiesen, aber auch mit der Übereilung, die eine Schattenseite dieser Eigenschaft ist. Der Mann war ja allerdings keine Zierde seines Berufes, sondern ein untergeordneter Advokat und niedriger Streber, der den Fall Minchin einzig und allein angenommen hatte, um dadurch seinen Namen bekannt zu machen. Rahel grauste, wenn sie an ihre Unterredungen und besonders an die der letzten Tage dachte, die sie mit diesem Manne, den sie niemals wiederzusehen hoffte, gehabt hatte. Sie machte sich nicht klar, daß jetzt die Zeit gekommen war, wo der Jurist wirklich von Nutzen für sie hätte sein können. Immerhin aber wurde sie durch seine Botschaft erst so recht auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die sich vor ihr, der in Freiheit gesetzten, schutzlosen Frau auftürmten, und auf die Notwendigkeit selbständigen Handelns.

Im Grunde hatte unter der schwarzen Wolke, die sie zu erdrücken drohte, bis jetzt immer noch ein schwacher Lichtstreifen durchgeblickt, denn andre hatten für sie gehandelt. Im beruhigenden Bewußtsein ihrer Unschuld hatte sie sich eher auf ein jenseitiges Leben als auf eine weitere Frist ihres irdischen Daseins vorbereitet, und während sie sich bemühte, ihre Seele für die entsetzlichen Folgen einer Verurteilung zu stählen, hatte sie ihre Gedanken nur selten auf die Möglichkeit einer Freisprechung und darüber hinaus gerichtet. Solange der Tod uns ins Antlitz starrt, liegt das Leben wie eine herrliche Straße vor uns. Kein Wunder aber, daß Rahel schon jetzt die Berge und Abgründe, die es auf dieser Straße zu überwinden gibt, entdeckte – begannen sie doch dicht vor ihren Augen.

Sie hatte weder Pläne, noch irgend einen Menschen auf der Welt, der solche für sie hätte machen können, auch nicht einen zuverlässigen Freund auf der weiten Welt. Und doch wollte sie sich bei ihrem stark ausgeprägten Selbständigkeitsdrange, der mit eine Folge ihrer vereinsamten Lage war, keinen Freund aufdrängen lassen, selbst nicht zu einer Stunde, wo irgend ein beliebiger Freund besser gewesen wäre als gar keiner.

Während der ersten zehn Minuten ihres nach der Freisprechung neu beginnenden Lebens hatte sie nicht nur ihren eigenen Verteidiger abgewiesen, sondern sich auch geweigert, einen ihr unbekannten Herrn zu empfangen, dessen Karte ihr von dem Oberaufseher des Gefängnisses persönlich überbracht worden war. Eine Botschaft hatte diese Karte begleitet, die wohl Vertrauen hätte erwecken können, Rahel aber genügte als Grund zur Abweisung, daß sie niemand dieses Namens kannte. Sogar der Oberaufseher, einer der denkbar gutherzigsten Menschen, konnte bei ihrer wiederholten Weigerung einen leichten Ärger nicht unterdrücken. Allein nicht der Bote, sondern derjenige, von dem die Botschaft ausging, war der Lästige; auch brauchte diese Botschaft ja nicht wiederholt zu werden, sobald es gelang, den Bittsteller mit Mrs. Minchins Antwort zufriedenzustellen. Der Oberaufseher kehrte denn auch tatsächlich zurück, aber ohne eine weitere Anspielung auf den geheimnisvollen Mr. Steel zu machen, der so sehnlichst eine Unterredung mit Mrs. Minchin angestrebt hatte. Und nun lachte der gute Bursche über das ganze Gesicht.

»Fühlen Sie sich jetzt wieder frisch und munter?« fragte er, und als Rahel bejaht hatte, fuhr er diensteifrig fort: »Die Luft ist nämlich jetzt rein, und jede Gefahr vorüber. Ein geschlossener Wagen mit einem Polizisten auf dem Bock hat seine Wirkung getan. Sobald Sie es wünschen, werde ich auch Ihnen einen Wagen holen.«

Sofort erhob sich Rahel.

»Es war sehr freundlich, mich so lange hier zu behalten,« sagte sie. »Doch möchte ich lieber keinen Wagen nehmen, falls eine unterirdische Eisenbahn in erreichbarer Nähe ist und Sie so freundlich sein wollen, mir den Weg dorthin zu beschreiben.«

»Die Station Blackfriars Bridge ist kaum fünf Minuten von hier entfernt. Aber wie steht es mit Ihrem Gepäck? Sie haben doch gewiß mehr bei sich, als Sie tragen können?«

»Nein, nichts, das des Mitnehmens wert wäre,« antwortete Rahel, »doch können Sie die Sachen, die ich zurücklasse, irgend einer armen Frau geben. Diese Kleinigkeit aber bitte ich als Zeichen meiner innigen Dankbarkeit für all Ihre Güte von mir anzunehmen.«

Der Mann war wirklich freundlich gewesen und wäre auch sicherlich so geblieben, wenn das Urteil anders gelautet hätte. Nichtsdestoweniger bestand Rahels »Kleinigkeit« in einem Goldstück, und zwar in einem ihrer letzten. Die Triebfeder zu dieser Freigebigkeit war jedoch nicht reine Großmut, sondern die unbeschreibliche Freude, überhaupt wieder schenken zu können. Es war der erste wirkliche Vorgeschmack der Freiheit.

O, was für ein wunderbares Gefühl, als sie ihre Fußtritte auf der nun menschenleeren Straße hörte und die Lichter von Ludgate Hill schimmern sah! Rahel schlug den Schleier zurück, um sie besser sehen zu können. Wer würde sie wohl zu Fuß und in nächster Nähe des Schauplatzes ihrer schweren Prüfung vermuten? Und was schadete es übrigens, wenn sie jetzt jemand sähe und erkennte? Sie war ja unschuldig; stolz konnte sie der ganzen Welt jetzt wieder ins Angesicht sehen. Ach, welch eine Wonne, sich wieder mit dieser Welt herumschlagen zu dürfen!

Ein Wagen kam hinter ihr her gerasselt, und Rahel überlegte sich einen Augenblick, ob sie ihn heranrufen solle, allein das Gefährt war besetzt. Sie ließ nun den Schleier wieder herunter und bog in eine belebte Straße ein, ohne mißtrauischen Blicken zu begegnen. Warum auch sollte man sie mißtrauisch ansehen? Und wenn man es täte, was konnte ihr das jetzt noch schaden?

»Gerichtsverhandlung und Urteilsspruch! Mrs. Minchins Freisprechung! Gerichtsverhandlung und Urteilsspruch!«

Jedermann kaufte die noch feuchten rosa Blätter. Auch Rahel erstand sich eines und hörte dabei ohne Schmerzgefühl die Meinungsäußerung eines Mannes aus dem Volke mit an. »Die darf sich glücklich preisen!« hatte er gesagt. Ja, ja, das tat sie auch. In der mit dem ersten frischen Windhauch bei ihr eingetretenen Reaktion, im berauschenden Gefühl der Befreiung hielt sie sich für die glücklichste Frau in London. Derselbe Gedanke, der sie noch vor kurzem innerhalb der Mauern des Gerichtsgebäudes erschreckt hatte, entzückte sie jetzt förmlich. Wie schön war es, nicht nur frei, sondern auch unabhängig zu sein! Wie köstlich, wieder mit dem Strom schuldloser Frauen dahinzutreiben, unbeachtet von Schutzleuten und Polizeibeamten, und nicht mehr die Zielscheibe krankhafter Neugierde zu sein! Selbst die Ungewißheit der nächsten Zukunft, selbst der Mangel bestimmter Pläne hatte einen besonderen Reiz für diejenige, deren Augen sich vorläufig noch am Anblick der Straßenlaternen, Schaufenster, Omnibusse und Droschken sattsahen.

Ein unter der Brücke stehender Schutzmann war an sich schon eine Freude für Rahel, denn von ihr nach dem Wege befragt, gab er ihr einen äußerst verbindlichen Bescheid, ohne sie dabei mehr als notwendig anzusehen. Freilich hatten auch nicht alle Schutzleute Londons während der letzten Woche in Old Bailey Dienst getan, und unter den vielen Einwohnern der Riesenstadt kam auf mehrere tausend nicht einer, der Zutritt zu den Verhandlungen erlangt hatte.

Und doch, wenn Rahel während der langen Gerichtsverhandlungen etwas mehr umgeschaut, wenn sie sich zum Beispiel herabgelassen hätte, nur einmal einen Blick nach den wenigen unter den Reportern sitzenden Personen zu werfen, so würde sie jetzt auch ohne Zweifel den eleganten älteren Herrn wiedererkannt haben, der dicht hinter ihr stand, als sie an der Station Blackfriars Bridge ihre Fahrkarte löste. Wohl war sein weißes Haar jetzt vom Hute bedeckt, aber das Gesicht mit seiner frischen Farbe, dem schmalen, energischen Munde und den tiefliegenden, blitzenden Augen unter den buschigen Brauen gehörte nicht zu denen, die man leicht vergißt. Rahel erkannte ihn jedoch nicht wieder und beachtete ihn auch nicht weiter.

Kurz darauf bot sich ihr freilich eine bessere Gelegenheit zu näherer Betrachtung, denn unmittelbar ehe der Zug sich in Bewegung setzte, folgte ihr dieser Herr in das Coupé erster Klasse, das sie bestiegen hatte.

Rahel verbarg sich hinter der Zeitung, die sie gekauft hatte, nicht um ihn nicht ansehen zu müssen, sondern weil sie plötzlich eine wahre Angst gepackt hatte, er könne in dem engen Raume und bei der verhältnismäßig glänzenden Beleuchtung eines Coupés erster Klasse zu viel nach ihr hinsehen. Aber diese Furcht ging bald in dem glühenden Interesse unter, mit dem sie wieder und wieder die gesperrte Überschrift des Zeitungsartikels las: »Fall Minchin! Urteilsspruch: nicht schuldig

Nicht schuldig! Nicht schuldig! Welche Wonne, es nun auch gedruckt zu sehen! Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie trocknete sie nur, um von neuem auf diese Worte niederzuschauen. Spalten um Spalten handelten von dem Fall, der durch geschickt entworfene Auszüge aus den Plaidoyers des Staatsanwaltes und Verteidigers, sowie dem Resumé des Präsidenten ausgeschmückt war. Rahel aber, die jedes Wort von allen drei Reden gehört hatte, fand, daß der amtliche Bericht lange nicht so vollständig und genau war als derjenige, der in ihrem Hirn eingegraben stand und den sie mit zu Grabe nehmen würde. Gerettet hatten diese Reden sie freilich nicht, sondern einzig und allein die Darstellung der Vorgänge, wie sie von ihren eigenen Lippen, die ihr Anwalt und noch verschiedene andre Rechtsgelehrte ihr hatten verschließen wollen, geflossen waren. Rahel vergab ihnen jetzt, ja, sie war ihnen sogar fast dankbar dafür, daß sie es ihr selbst überlassen hatten, sich, entgegen der Ansicht dieser gelehrten Herren, zu retten. Denn nun würde sicherlich das ganze Land gleich den zwölf unparteiischen Geschworenen die Überzeugung von ihrer vollständigen Unschuld gewonnen haben. Immer wieder heftete sich ihr Blick auf die hastig zusammengestutzten, schlecht gedruckten Zeilen, die, während der Zug von Station zu Station weiterrollte, den Urteilsspruch der Welt verkündigen sollten.

»Was halten Sie davon, gnädige Frau?«

Die Stimme kam aus der entgegengesetzten Ecke des Coupés, und Rahel erkannte sie als diejenige des Herrn, der auf der Station Blackfriars Bridge im letzten Augenblick eingestiegen war. In diesem Augenblick verließ der Zug die Station Charing Cross, wo die Tür ebensowenig geöffnet worden war als auf der vorherigen. Mit angehaltenem Atem saß Rahel hinter ihrer Zeitung. Antwortete sie nicht, so konnte das einen Verdacht, den ihr Witwenkleid vielleicht schon erregt hatte, bestärken, und trotzdem sie alles Recht hatte, jedem Menschen offen ins Gesicht zu sehen, so scheute sie doch vor einer unmittelbaren Erkennung zurück. Dann aber kam wie mit einem Schlage die Versuchung über sie, ihren eigenen Fall mit dem Eigentümer einer Stimme zu diskutieren, die höflich und vertrauenerweckend geklungen hatte.

Noch einige Augenblicke des Zögerns verstrichen, dann lag die Zeitung auf ihrem Schoß.

»Wovon?« fragte sie mit einer gewissen Geistesgegenwart, denn sie war keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß die Frage sich auf das augenblickliche Tagesgespräch beziehe.

»Wir lesen dieselbe Zeitung,« antwortete der Fragesteller mit vollendeter Artigkeit, »und da dachte ich, daß wir beim Lesen desselben Gegenstandes gewiß auch die gleiche Verwunderung über den Urteilsspruch empfinden würden.«

»Sie meinen über den Fall Minchin,« sagte Rahel ruhig ohne die geringste Aufregung im Ton. »Ich las allerdings darüber wie augenblicklich wohl jedermann. Allein ich teile Ihre Ansicht über den Urteilsspruch nicht.«

Das Benehmen der Witwe war ebenso einfach natürlich als ihre Worte. Der in der entgegengesetzten Ecke sitzende Herr aber zog plötzlich die buschigen Brauen in die Höhe, während die darunterliegenden schwarzen Augen einen Moment lang lebhaft aufblitzten.

»Verzeihen Sie,« sagte er dann, wieder lächelnd, »ich wußte nicht, daß ich eine Ansicht über diesen Punkt ausgesprochen hätte.«

»Ich verstand, Sie seien darüber erstaunt,« sagte Rahel trocken.

»Und sind Sie das etwa nicht?« rief der andre geradeheraus. »Wollen Sie sagen, daß Sie auf eine Freisprechung gefaßt waren?«

»Ich war auf alles gefaßt,« erwiderte Rahel, indem sie seinen eigentümlich forschenden Blick mit anscheinend unveränderter Ruhe aushielt, dabei aber doch so lange in der zitternden Angst schwebte, der Fremde könne erraten, wer sie sei, bis seine nächsten Worte diese Besorgnis verscheuchten.

»Haben Sie den Fall Minchin verfolgt, gnädige Frau?«

»Das habe ich allerdings,« gestand die ehrliche Rahel mit einem Seufzer.

»Und als Frau halten Sie jene Frau für unschuldig?«

»Ja, das tue ich.«

Es wurde Rahel schwer, nicht mehr zu sagen, allein noch stand sie zu frisch unter dem Eindruck der empfangenen Lehre der Selbstbeherrschung.

»Es ist leicht zu sehen, daß Sie anders denken,« erlaubte sie sich hinzuzufügen.

»Im Gegenteil,« antwortete er mit großer Entschiedenheit, »im Gegenteil, gnädige Frau, ich halte jene arme Dame für ebenso unschuldig als Sie selbst.«

Wieder trafen sich ihre Blicke, wieder zog Rahel die einzig mögliche Schlußfolgerung aus diesem bestimmten Ausspruch, aber auch diesmal wurde der Eindruck durch die nächsten Worte ihres Gefährten erschüttert.

»Übrigens habe ich gar kein Recht zu irgend einer Ansicht,« sagte er, »da ich den Fall nicht wie Sie verfolgt habe. Auch ist das Schuldig oder Nichtschuldig nicht mehr das Interessanteste an der Sache.« Der Zug hatte inzwischen verschiedene Haltestellen passiert und hielt nun an der Viktoriastation. Der Sprecher schaute zum Fenster hinaus, bis sich die Wagen wieder in Bewegung setzten und kein Eindringling mehr zu befürchten war. »Das Interessanteste für mich ist jetzt nicht, was jene arme Dame getan oder nicht getan hat, sondern was um des Himmels Willen sie jetzt zu tun vorhat.«

Von neuem traf sie sein Blick, und nun war sie auch nicht mehr im Zweifel, daß er wußte, wer sie war.

»Es heißt, daß sie tatsächlich weder Verwandte noch Bekannte in England habe,« fuhr er mit unverhohlener Teilnahme fort. »Das ist zwar kaum glaublich, und doch, wenn es wirklich so wäre, was für eine entsetzliche Lage! Ich fürchte, nicht jedermann wird Ihre und – gestatten Sie, daß ich hinzufüge – meine Überzeugung teilen. Im Gegenteil, soviel man nach allem, was man gehört und gesehen hat, beurteilen kann, ist dieser Urteilsspruch geradezu eine Enttäuschung für den stets blutdürstigen Mann aus dem Volke gewesen. Wehe der armen Frau, wenn er ihr einmal auf der Spur ist! Ich will nur hoffen, daß sie ihm keine Gelegenheit dazu gibt.«

Und nun wußte Rahel nicht nur, daß er sie kannte, sondern daß er ihr dies auch gern zu verstehen geben möchte, ohne es ihr in dürren Worten zu sagen. Dieser ihr gänzlich fremde Mann wünschte ihr also diese Verlegenheit zu ersparen und ihr seine Hilfe zuteil werden zu lassen! Sie las diesen Wunsch aus seinem Gesicht, aus dem Ton seiner Stimme und fühlte sich mehr und mehr geneigt, den Beistand eines Mannes anzunehmen, dessen anscheinend gute Absichten und feines Taktgefühl ihr immer mehr klar wurden. Geheimnisvoll war allerdings ihr Zusammentreffen mit diesem Manne, und eine innere Stimme sagte ihr, daß es von seiner Seite aus nicht zufällig sei. Sie fing an, sich zu fragen, ob sie ihn nicht doch am Ende schon einmal gesehen habe, und während sie noch mit diesem Gedanken beschäftigt war, stand er auf, setzte sich ihr gegenüber und fuhr, die dunklen Augen prüfend auf die ihrigen gerichtet, mit leiser Stimme fort: »Wenn Mrs. Minchin eines Freundes bedarf – und ich meine, am heutigen Abend müsse sie unbedingt eines solchen bedürfen – wenn dem also so ist, dann möchte ich wohl dieser Freund sein – falls sie mir ihr Zutrauen schenken könnte.«

Die letzten Worte wurden noch leiser gesprochen als die übrigen, und ein Etwas lag in ihrem Klang, das Rahel erbeben machte, während seine dunklen Augen die ihrigen wie durch Verzauberung festbannten. Ein seltsamer Widerwille vor diesem Manne fing plötzlich an, sich in ihr zu regen, während sie sich unbegreiflicherweise doch auch wieder von ihm angezogen fühlte. Gegen diese letztere Empfindung aber bäumte sich sofort ihr Drang nach Selbständigkeit auf, der um so leichter den Sieg erringen konnte, als schon die nächste Station Rahels Endziel war.

»Glauben Sie, daß sie mir Zutrauen schenken könnte?« flüsterte er kaum hörbar, indem er sich zu ihr hinüberbeugte. »Sie als Frau, glauben Sie, daß sie es könnte?«

Während Rahel noch mit ihrer Antwort zögerte, begannen die Wagen unter den Bremsen zu knarren, ein Geräusch, das ihrem Zögern sofort ein Ende machte. Hoch aufgerichtet saß sie in ihrer Ecke, und unter ihrem Schleier, den sie zum Zeitunglesen hinaufgeschlagen hatte, ging sie in dem Frag- und Antwortspiel zur Offensive über.

»Mir ist, als hätte ich Sie früher schon einmal gesehen,« sagte Rahel mit kaltem Ton, aber heiß klopfendem Herzen.

»Das ist sehr wohl möglich.«

»Haben Sie den Verhandlungen angewohnt?«

»Ja, von der ersten bis zur letzten.«

Die nun folgende Pause wurde, wenn man so sagen darf, von den Lichtern der Station Sloane Square unterbrochen.

»Sie kennen mich,« sagte Rahel hastig. »Schon seit einiger Zeit habe ich es gemerkt. Darf ich fragen, ob Sie Mr. Steel sind?«

»Der bin ich.«

»Jener Mr. Steel, der mir nach Schluß der Verhandlung seine Karte schickte?«

Zustimmend verbeugte sich Steel.

»Als ein mir gänzlich Fremder?«

»Als ein Ihnen gänzlich Fremder, der Sie jedoch eine ganze lange Woche im Gerichtssaal beobachtet hat.«

Rahel ignorierte den Relativsatz.

»Und weil ich Sie nicht empfangen wollte, Mr. Steel, so sind Sie mir gefolgt – haben sich mir aufgedrängt!«

Nun stand der Zug still und Rahel erhob sich.

»Sie werden meine Gründe verstehen, wenn Sie sich unsre Unterhaltung ins Gedächtnis zurückführen,« bemerkte Mr. Steel, worauf er ihr die Tür öffnete. Rahel aber wendete sich vor dem Aussteigen noch einmal nach ihm um.

»Mr. Steel,« sagte sie, »ich bin fest überzeugt, daß Sie es gut und redlich meinen, und daß ich Ihnen für Ihre Teilnahme von ganzem Herzen dankbar sein sollte. Allein ich bin doch auch überzeugt, daß Sie dem ›Mann aus dem Volke‹ unrecht tun.«

»So lassen Sie es eben auf einen Versuch ankommen,« antwortete Steel ziemlich kurz.

»Ja, das werde ich,« erwiderte Rahel in ziemlich gekränktem Ton. Mr. Steel aber schaute ihr, lächelnd und zuversichtlich mit dem Kopfe nickend, nach.


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