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Siebentes Kapitel. Ein gefährlicher Besucher

An einem nebeligen Novemberabend war ich in Piccadilly eingebogen, als beim plötzlichen Griff einer Hand an meinem Arm mein schuldbewußtes Herz stillstand. Ich glaubte – was ich immer fürchtete – meine unvermeidliche Stunde habe endlich geschlagen, allein es war nur Raffles, der mich durch den Nebel anlächelte.

»Ein glückliches Zusammentreffen,« sagte er. »Ich habe dich im Klub gesucht.«

»Ich bin gerade auf dem Wege dahin,« entgegnete ich, mit einem Versuche, meinen Schreck zu verbergen. Dieser Versuch fiel indes ziemlich kläglich aus, wie ich an seinem heiteren Lächeln und einem nachsichtigen Kopfschütteln sah.

»Komm statt dessen mit mir in meine Wohnung,« sagte er, »ich habe dir etwas Amüsantes zu erzählen.«

Zwar versuchte ich einige Ausreden, denn sein Ton verriet mir, welcher Art die amüsanten Mitteilungen sein würden, vermutlich einer von den Vorschlägen, denen ich während der letzten Monate mit Erfolg ein taubes Ohr geliehen hatte, allein, wie ich schon früher ausgeführt habe und hier nur wiederholen kann, war kein Mensch in der Welt, für mich wenigstens, so unwiderstehlich, als Raffles, wenn er zu irgend etwas fest entschlossen war. Daß wir uns beide seit unsrer kleinen Gefälligkeit gegen Sir Bernard Debenham von Verbrechen frei gehalten hatten, daß dieser herrische Geist seit längerer Zeit keine Gelegenheit gefunden hatte, einen Entschluß in der bewußten Richtung zu fassen, war für mich die unleugbare Veranlassung zu einem länger dauernden Zeitraum der Ehrlichkeit geworden, als ich ihn bis jetzt seit dem Beginn unsrer geheimen Beziehungen genossen hatte. Wenn ich könnte, würde ich es entschieden leugnen, aber das, was zu erzählen ich im Begriffe bin, würde diese Ruhmredigkeit Lügen strafen. Wie gesagt, brauchte ich Ausreden, allein sein Arm glitt mit dem leisen Lachen leichtherzigen Machtbewußtseins durch den meinen, und wir waren schon auf seiner Treppe, während ich mich noch immer zu wehren versuchte.

In seinem Zimmer angelangt, zündete er das Gas an und schürte das Feuer, während ich verdrießlich in meinem Überrock dabeistand, bis er ihn mir vom Rücken zog.

»Was für ein Kind du bist!« sagte Raffles scherzend. »Man sollte wahrhaftig meinen, ich wolle für diese Nacht einen Einbruch vorschlagen! Nein, Bunny, darum handelt es sich nicht, also setze dich dahin, nimm dir eine von diesen Sullivans und verhalte dich still.«

Nach diesen Worten hielt er ein Streichholz an meine Zigarette und stellte Whisky und Sodawasser vor mich hin. Darauf ging er ins Vorzimmer, und gerade als ich anfing, mich zu beruhigen, hörte ich, wie er den Riegel vorschob, so daß es mich einige Überwindung kostete, sitzen zu bleiben. Im nächsten Augenblick setzte er sich rittlings auf einen Stuhl und beobachtete über seine auf der Lehne liegenden Arme hinweg mit boshafter Freude mein Unbehagen.

»Du hast doch Milchester noch nicht vergessen, Bunny, mein guter Junge.«

War Raffles' Ton milde, so war der meine verdrießlich, als ich antwortete, daß ich mich dessen sehr wohl erinnerte.

»Wir hatten dort einen kleinen Wettkampf, der nicht im Programm stand. Herren- und Berufsspieler, wie du dich entsinnen wirst?«

»Den werde ich so bald nicht vergessen.«

»Da du, sozusagen, nichts damit zu tun hattest, fürchtete ich, du könntest es vergessen. Also die Herrenspieler steckten den Gewinn in die Tasche, und die Berufsspieler wurden alle abgefaßt.«

»Die armen Teufel!«

»Sei dessen nicht zu sicher! Entsinnst du dich noch des Kerls, den wir damals im Wirtshaus sahen? Des geschmacklos gekleideten Menschen, mit dem roten Gesicht, von dem ich dir sagte, er sei einer der abgefeimtesten Diebe in London?«

»Ja, auch dessen entsinne ich mich. Sein Name war Crawshay, wie sich herausstellte.«

»Das war jedenfalls der Name, worunter er verurteilt wurde, also mag er Crawshay heißen. An den brauchst du kein Mitleid zu verschwenden, alter Junge; er ist gestern nachmittag aus Dartmoor ausgebrochen.«

»Gut gemacht!«

Raffles lächelte, allein er hatte die Augenbrauen in die Höhe gezogen, und die Schultern folgten.

»Du hast ganz recht; er hat's wirklich gut gemacht, und es wundert mich nur, daß du es nicht in der Zeitung gelesen hast. Gestern ist der gute alte Crawshay bei einem dichten Nebel auf dem Moor ausgekniffen und trotz zahlreicher hinter ihm her gefeuerter Schüsse unversehrt entkommen. Das macht ihm Ehre, wie ich zugebe; ein Kerl mit so viel Schneid verdient seine Freiheit. Aber Crawshay hat noch mehr Schneid. Sie haben ihn die ganze Nacht verfolgt, ohne ihn zu finden, und das hast du alles in den Morgenzeitungen übersehen.«

Bei diesen Worten schlug er eine Nummer der Pall Mall auf, die er mitgebracht hatte.

»Hör mal zu. Hier ist ein Bericht über die Flucht mit einem Zusatz, der die Geschichte auf ein höheres Niveau hebt. ›Die Spuren des Flüchtlings sind bis nach Totnes verfolgt worden, wo er in den frühen Morgenstunden eine ganz besonders freche Untat begangen zu haben scheint. Er soll in die Wohnung des Rev. A. H. Ellingworth, des Pfarrers der Gemeinde, eingedrungen sein, denn dieser vermißte beim Aufstehen zur gewöhnlichen Zeit seine Kleider. Etwas später am Tage wurde in einer Schublade ein sauber zusammengefalteter Sträflingsanzug gefunden. Inzwischen war es Crawshay gelungen, zum zweiten Male zu entkommen, allein man hofft, daß eine so auffallende Verkleidung im Laufe des Tages zu seiner Wiederergreifung führen werde.‹ Was sagst du dazu, Bunny?«

»Er ist jedenfalls ein Sportsman,« entgegnete ich, die Hand nach dem Blatte ausstreckend.

»Er ist mehr,« antwortete Raffles, »er ist ein Künstler, und ich beneide ihn. Beim Pfarrer! Ich habe soeben im Klub einen Anschlag gelesen, daß in der Nähe von Dawlish ein Verbrechen auf der Eisenbahn begangen worden ist. Man hat einen Pfarrer zwischen den beiden Gleisen gefunden. Das hat wieder unser Freund getan. Das Telegramm spricht das zwar nicht aus, aber es liegt auf der Hand. Er hat einfach einen andern niedergeschlagen, den Anzug abermals gewechselt und ist vergnügt nach der Stadt gewandert. Ist das nicht großartig? Das ist meiner Ansicht nach das Beste in seiner Art, was jemals vorgekommen ist.«

»Aber warum sollte er nach der Stadt kommen?«

In Raffles' Gesicht schwand der Ausdruck der Begeisterung sofort; offenbar hatte ich ihn an etwas erinnert, das ihm schon lange Sorge machte, das er aber in seiner selbstlosen Freude über die Taten des Mitverbrechers vergessen hatte. Ehe er antwortete, schaute er über die Schulter nach dem Vorzimmer.

»Ich glaube, der Kerl ist mir auf der Spur!« sagte er hierauf.

Während er dies sprach, wurde er ganz wieder er selbst – stillvergnügt – cynisch sorglos – seine Lage und meine Überraschung in der für ihn charakteristischen Weise genießend.

»Aber hör mal, was willst du damit sagen?« fragte ich. »Was weiß denn dieser Crawshay über dich?«

»Nicht viel, aber er vermutet mancherlei.«

»Wie kommt er denn dazu?«

»Weil er in seiner Art fast ebenso gerieben ist, als ich, weil er, mein lieber Bunny, mit Augen im Kopfe und einem Hirn dahinter gar nicht umhin kann, allerlei zu argwöhnen. Einmal bin ich in der Stadt beim alten Baird mit ihm zusammengetroffen, und auch damals auf dem Wege nach Milchester muß er mich im Wirtshaus gesehen haben, ebenso später auf dem Cricketplatz. Ich weiß tatsächlich, daß es der Fall ist, denn er hat vor seiner Verurteilung an mich geschrieben und es mir gesagt.«

»Was? An dich geschrieben hat er, und das hast du mir nicht erzählt?«

Sein altes Achselzucken war die Antwort auf die oft wiederholte Klage.

»Was konnte das nützen, mein lieber alter Freund? Es würde dich nur beunruhigt haben.«

»Nun, was hat er denn geschrieben?«

»Es tue ihm leid, daß er vor seiner Rückkehr nach der Stadt verhaftet worden sei, denn er habe sich die Ehre nehmen wollen, mir einen Besuch zu machen, allein er hoffe, daß dieses Vergnügen nur aufgeschoben sei, und er bitte mich, mich nicht selbst abfassen zu lassen, ehe er wieder frei sei. Natürlich wisse er, daß Lady Melroses Halsband verschwunden sei, obgleich er es nicht erwischt habe. Ein Mann, der das nehmen und alles andre unberührt lassen könne, sei einer nach seinem Herzen. Und so weiter mit gewissen kleinen Vorschlägen für die ferne Zukunft, die, wie ich fürchte, eine sehr nahe Zukunft sein kann! Ich bin nur überrascht, daß er noch nicht auf der Bildfläche erschienen ist.«

Wieder schaute er nach dem Vorzimmer, das er dunkel gelassen hatte und dessen innere Tür ebenso sorgfältig verschlossen war, als die äußere. Ich fragte ihn, was er zu tun gedenke.

»Laß ihn anklopfen – wenn er so weit kommt. Der Portier ist angewiesen, zu sagen, ich sei verreist; und das wird in einer oder zwei Stunden auch die Wahrheit sein.«

»Du willst heute abend abreisen?«

»Um sieben Uhr fünfzehn Minuten vom Liverpool Street-Bahnhof. Ich spreche im allgemeinen nicht viel von meinen Angehörigen, Bunny, aber ich habe eine sehr liebe Schwester, die an einen Pfarrer in einer der östlichen Grafschaften verheiratet ist. Bei ihnen bin ich stets willkommen, und mein Schwager läßt mich immer die Epistel lesen, um mich auf diese Weise zu veranlassen, in die Kirche zu gehen. Es tut mir leid, Bunny, daß du nächsten Sonntag nicht dort sein wirst, um mich lesen zu hören. Einige meiner besten Pläne habe ich in jener Gemeinde entworfen, und ich kenne keinen besseren Hafen in einem Sturm. Aber jetzt muß ich packen. Ich wollte dich nur wissen lassen, daß und warum ich abreise, im Falle du Lust haben solltest, mein Beispiel zu befolgen.«

Bei diesen Worten warf er den Rest seiner Zigarette ins Feuer, streckte sich, indem er sich erhob, und verweilte so lange in dieser unschönen Stellung, daß sich meine Augen zu seinem Gesicht erhoben, um sofort der Richtung seiner eigenen Blicke zu folgen, worauf ich ebenfalls aufsprang. Auf der Schwelle der Flügeltür, die die Schlafstube mit dem Wohnzimmer verband, stand ein gut gewachsener Mann in einem schlecht sitzenden Tuchanzug, der sich so tief vor uns verbeugte, daß sein dicker Kopf eine Scheibe von kurzem rotem Haar darstellte.

So rasch ich auch diese ungewohnte Erscheinung musterte, genügte die Zeit für Raffles, seine Fassung wieder zu gewinnen, und als meine Blicke zu ihm zurückkehrten, hatte er die Hände in die Taschen gesteckt und seine Lippen lächelten.

»Gestatte mir, Bunny, dich unserm ausgezeichneten Kollegen, Mr. Reginald Crawshay, vorzustellen,« sagte er.

Der Dickkopf schnellte in die Höhe, und über einen gemeinen, glattrasierten und, wie ich mich erinnere, durch die Umklammerung eines um mehrere Nummern zu engen Kragens geröteten Gesicht erschien eine gerunzelte Stirn. Damals aber kam mir alles das nicht zum Bewußtsein. Ich hatte meine eigenen Schlußfolgerungen gezogen und wandte mich mit einem Fluche Raffles zu.

»Das ist abgekartet!« rief ich. »Wieder einer von deinen verfluchten Streichen! Zuerst hast du ihn hierhergebracht und dann mich. Ihr wollt, daß ich etwas mit euch zusammen ausführen soll! Doch eher mögt ihr zur Hölle fahren!«

Diesen Ausbruch erwiderte Raffles mit einem so kalten, harten Blick, daß ich mich meiner Worte schämte, noch während sie mir über die Lippen sprudelten.

»Aber Bunny!« sagte Raffles, indem er mir achselzuckend den Rücken kehrte.

»Gott steh' mir bei!« rief Crawshay, » er wußte nichts, er erwartete mich nicht, er ist nicht falsch. Und Sie sind ein frecher Spatz,« fuhr er zu Raffles gewandt fort, »das wußte ich wohl, aber es macht mich stolz, denn Sie sind einer von meiner Sorte!« schloß er, indem er eine haarige Hand ausstreckte.

»Was soll ich danach sagen?« erwiderte Raffles, die Hand ergreifend. »Sie müssen gehört haben, wie ich über Sie denke, und ich bin stolz, Ihre Bekanntschaft zu machen. Aber wie, zum Kuckuck, sind Sie denn hereingekommen?«

»Das braucht Sie nicht zu kümmern,« antwortete Crawshay, seinen Kragen lockernd. »Lassen Sie uns lieber darüber sprechen, wie ich wieder hinausgelange. Gott steh' mir bei! So ist's besser!« Ein blauer Ring umgab seinen Stierhals, den er zärtlich streichelte. »Ich wußte nicht, wie lange ich den feinen Herrn noch zu spielen haben würde und wen Sie mitbringen würden.«

»Trinken Sie einen Whisky mit Sodawasser?« fragte Raffles, als sich der Sträfling auf den Stuhl gesetzt hatte, von dem ich aufgesprungen war.

»Nein, ich trinke ihn rein,« entgegnete Crawshay, »aber erst kommen die Geschäfte an die Reihe. So billig kommen Sie nicht davon.«

»Na, denn heraus mit der Sprache! Was kann ich für Sie tun?«

»Das wissen Sie, auch ohne daß ich es Ihnen sage.«

»Sprechen Sie nur.«

»Fersengeld möchte ich geben, und wie ich das machen soll, überlasse ich Ihnen. Wir sind doch Waffenbrüder, obgleich ich diesmal nicht bewaffnet bin. Das ist auch nicht nötig, dazu sind Sie viel zu verständig. Aber Brüder sind wir, und Sie werden einem Bruder durchhelfen. So wollen wir's einmal ausdrücken. Sie werden mir auf Ihre Art durchhelfen, und ich überlasse alles Ihnen.«

Sein Ton war sehr versöhnlich und entgegenkommend. Er beugte sich vor und zog ein Paar Knopfstiefel von den nackten Füßen, die er nach dem Feuer ausstreckte, wobei er seine schmerzenden Zehen bewegte.

»Ich hoffe, Ihre sind größer als die da,« sagte er dabei. »Wenn Sie mir Zeit gelassen hätten, würde ich mich danach umgesehen haben, aber ich war noch nicht lange da, als Sie kamen.«

»Und Sie wollen mir nicht verraten, wie Sie hereingelangt sind?«

»Wozu das? Sie kann ich doch nichts lehren, und außerdem möchte ich fort. Ich will London, England und Europa verlassen. Weiter verlange ich nichts von Ihnen, Mister. Wie Sie eine Sache anfassen, frage ich ja auch nicht. Wo ich herkomme, wissen Sie, denn ich hörte, wie Sie davon sprachen; wo ich hin will, wissen Sie auch, denn ich habe es Ihnen eben gesagt; und die Einzelheiten überlasse ich ganz Ihnen.«

»Nun, dann müssen wir eben sehen, was zu machen ist,« sagte Raffles.

»Ja, das müssen wir,« entgegnete Mr. Crawshay, indem er sich behaglich zurücklehnte und begann, seine dicken Daumen umeinander zu drehen.

Mit einem eigentümlichen Aufleuchten der Augen wandte sich Raffles mir zu, aber seine Stirn war nachdenklich gefurcht, und in den Linien seines Mundes lag Entschlossenheit und zugleich Ergebung in sein Schicksal. Er sprach genau so, als ob er und ich allein im Zimmer wären.

»Ist dir die Sachlage klar, Bunny? Wenn unser Freund hier gefaßt wird, will er über dich und mich ›pfeifen‹, um mich seiner Sprache zu bedienen. Er ist so rücksichtsvoll, das nicht unumwunden auszusprechen, aber es ist deutlich genug und unter den obwaltenden Umständen auch ganz natürlich. Ich täte an seiner Stelle dasselbe. Früher hatten wir die Oberhand über ihn, jetzt hat er sie über uns; das ist ehrlich Spiel. Da wir nicht in der Lage sind, das Geschäft abzulehnen, müssen wir es übernehmen, aber selbst wenn wir uns weigern könnten, würde ich es nicht tun. Unser Freund ist ein großer Sportsman; er ist von Dartmoor entkommen, und es wäre zu schade, ihn dahin zurückzuschicken. Das tue ich unter keinen Umständen, wenn ich Mittel und Wege finde, ihn ins Ausland zu befördern.«

»Ich bin mit jedem Wege einverstanden, der Ihnen beliebt,« murmelte Crawshay mit geschlossenen Augen, »ich überlasse die ganze Geschichte Ihnen.«

»Aber Sie müssen aufwachen, Mann, und uns allerlei berichten.«

»Gut, Mister, aber ich bin todmüde,« antwortete er, indem er sich blinzelnd erhob.

»Glauben Sie, daß die Leute Ihre Spur bis nach der Stadt verfolgt haben?«

»Das wird wohl so sein.«

»Und hier?«

»In diesem Nebel nicht – wenn ich ein bißchen Glück gehabt habe.«

Raffles ging in die Schlafstube, zündete das Gas an und kehrte sofort zurück.

»Also zum Fenster sind Sie hereingekommen?«

»Ja, so wird's wohl sein.«

»Daß Sie mein Fenster entdeckt haben, war verflucht geschickt, und wie Sie die Kletterei bei hellem Tageslichte ausgeführt haben, ist mir unbegreiflich. Aber damit wollen wir uns jetzt nicht aufhalten. Glauben Sie gesehen worden zu sein?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Nun, wir wollen hoffen, daß Sie recht haben, aber ich will einmal rekognoszieren und mich zu vergewissern suchen. Komm, Bunny, geh lieber mit und iß etwas; dabei können wir die Sache besprechen.«

Ich richtete meine Blicke auf Crawshay, denn ich erwartete Widerspruch, und Widerspruch las ich auch wirklich in seinem verständnislosen, wütenden Gesicht, dem Funkeln seiner erschrockenen Augen und dem plötzlichen Ballen seiner Fäuste.

»Und was soll aus mir werden?« rief er mit einem Fluche aus.

»Sie warten hier.«

»Nein, das tue ich nicht,« brüllte er und war mit einem Satze an der Tür, gegen die er sich mit dem Rücken lehnte. »So leicht will ich es euch doch nicht machen.«

Mit einem ärgerlichen Achselzucken wandte sich Raffles mir zu.

»Das ist das Schlimmste bei diesen Gewerbsmäßigen,« sagte er dabei. »Sie verstehen ihr Hirn nicht zu gebrauchen. Sie sehen nicht weiter als ihre Nasenspitze und meinen, wir seien ebenso. Kein Wunder, daß wir sie das letzte Mal geschlagen haben.«

»Sprechen Sie so, daß man versteht, was Sie meinen, oder hol' Sie der Teufel,« schnarrte der Sträfling.

»Gut,« entgegnete Raffles, »ich will so deutlich sprechen, als Sie es nur verlangen können. Sie sagten vorhin, Sie wollten sich ganz in meine Hände geben – alles mir überlassen – und dabei trauen Sie mir nicht über den Weg? Ich weiß sehr wohl, was auf dem Spiele steht, wenn's fehlschlägt, aber ich übernehme die Aufgabe mit aller Gefahr. Und doch glauben Sie, ich wolle geradeswegs hingehen und Sie verraten, um dann selbst von Ihnen verraten zu werden. Sie sind ein Dummkopf, Mr. Crawshay, obgleich Sie aus Dartmoor ausgebrochen sind. Jetzt müssen Sie auf einen Klügeren hören und ihm gehorchen. Ich rette Sie auf meine Art oder gar nicht. Dazu gehört, daß ich nach Belieben komme und gehe, mit wem ich will, ohne daß Sie sich einmischen. Sie bleiben hier und verhalten sich so still als irgend möglich, handeln so weise, als Sie vorhin redeten, und überlassen alles mir. Wenn Sie das nicht tun, wenn Sie dumm genug sind, mir nicht zu trauen – dann hat dort der Zimmermann das Loch gelassen. Gehen Sie hinaus und sagen Sie, was Sie wollen.«

Crawshay schlug sich auf die Lende, daß es schallte.

»Das nenne ich sprechen,« sagte er. »Wenn Sie so reden, weiß ich woran ich bin und traue Ihnen. Sie sind der Richtige, aber wie ich mit dem andern Herrn daran bin, weiß ich nicht. Ich habe ihn damals bei dem Geschäftchen in der Provinz in Ihrer Gesellschaft gesehen, und wenn er ein Kumpan von Ihnen ist, Mr. Raffles, werde ich ihm wohl auch trauen können. Ich hoffe nur, ihr Herren seid nicht zu knickerig –«

Bei diesen Worten klopfte er sich mit einem kläglichen Gesicht auf die Tasche.

»Ich hatte es nur auf die Kleider abgesehen,« fuhr er fort, »und ein paar Lumpen mit so leeren Geldbeuteln sind mir noch nie in die Finger geraten.«

»Unbesorgt,« entgegnete Raffles. »Wir werden Ihnen schon anständig forthelfen – überlassen Sie nur alles mir und verhalten Sie sich still.«

»Abgemacht,« sagte Crawshay, »und während Sie fort sind, will ich schlafen. Aber keinen Schnaps – nein, noch nicht – danke. Wenn ich einmal anfange, höre ich nicht mehr auf, bis ich voll bin.«

Raffles holte sich einen langen leichten Mantel, wie man ihn beim Fahren zu tragen pflegt. Noch während er ihn umnahm, sank unser Flüchtling auf seinem Stuhl in Schlaf. Seine bloßen Füße waren nach dem Feuer ausgestreckt, und er murmelte unzusammenhängende Worte, als wir ihn verließen.

»Gar kein übler Bursch, dieser Gewerbsmäßige,« sagte Raffles auf der Treppe, »auch in seiner Art ein Genie, obgleich sein Verfahren für meinen Geschmack etwas zu unkünstlerisch ist. Aber Technik ist nicht alles. Innerhalb derselben vierundzwanzig Stunden aus Dartmoor zu entkommen und in den Albany zu gelangen, das ist ein Ganzes, das seine Einzelheiten rechtfertigt. – Großer Gott!«

In dem nebligen Hofe waren wir an einem Manne vorbeigegangen, und Raffles hatte mich in den Arm gekniffen.

»Wer war denn das?«

»Der Mann, den ich in diesem Augenblick am wenigsten zu sehen wünschte. Hoffentlich hat er mich nicht verstanden!«

»Aber wer war es denn, Raffles?«

»Unser alter Freund Mackenzie von Scotland Yard!«

Erschrocken blieb ich stehen.

»Glaubst du, daß er Crawshay auf der Spur ist?«

»Das weiß ich nicht, aber ich will sehen.«

Ehe ich Einwendungen erheben konnte, hatte er mich herumgeschwenkt, und als ich meine Stimme wiederfand, lachte er nur und flüsterte mir zu, kühnes Vorgehen sei immer das sicherste.

»Aber das ist geradezu Wahnsinn!«

»Keineswegs. Schweig! Sind Sie das, Mr. Mackenzie?«

Der Detektiv wandte sich um und musterte uns mit scharfen Blicken, so daß ich in dem vom Nebel gedämpften Gaslicht sehen konnte, daß sein Haar an den Schläfen leicht ergraut war und daß sein Gesicht noch die Spuren des Leidens trug, das ihm seine Verwundung verursacht hatte, die ihn nahe an den Rand des Grabes gebracht.

»Sie sind mir gegenüber im Vorteil, meine Herren,« sagte er.

»Hoffentlich sind Sie wieder ganz wohl,« antwortete mein Gefährte. »Mein Name ist Raffles und wir haben uns voriges Jahr in Milchester getroffen.«

»Wirklich?« rief der Schotte sichtlich überrascht. »Ja, jetzt entsinne ich mich Ihres Gesichts, und auch des Ihrigen. Ja, ja, das war eine böse Geschichte, aber Ende gut, alles gut.«

Seine angeborene Vorsicht war wieder erwacht, worauf mich Raffles durch Kneifen meines Armes aufmerksam machte.

»Ja, für Sie hat sie ein glänzendes Ende genommen,« sagte er, »aber was höre ich denn da von der Flucht des Rädelsführers jener Bande, dieses Crawshay? Was halten Sie denn davon, he?«

»Die Einzelheiten sind mir unbekannt,« erwiderte der Schotte.

»Sehr gut,« rief Raffles. »Ich fürchtete schon, Sie seien wieder aus seiner Spur.«

Mit einem trockenen Lächeln schüttelte Mackenzie den Kopf und wünschte uns guten Abend, als ein Fenster geöffnet wurde und ein leiser Pfiff durch den Nebel drang.

»Wir müssen die Sache weiter verfolgen,« flüsterte mir Raffles zu. »Ein bißchen Neugier unsrerseits ist ganz natürlich, also hinter ihm her, rasch!«

Hierauf folgten wir dem Detektiv nach einem andern Ausgang, als dem, woraus wir hervorgekommen waren, aber auf derselben Seite gelegen, der linken, wenn man nach Piccadilly geht. Wir schritten ganz offen hinter ihm her und stießen am Fuße der Treppe auf einen der Portiers des Hauses, den Raffles fragte, was es gebe.

»Nichts,« antwortete der Mann, ohne zu zögern.

»Unsinn!« sagte Raffles. »Das war der Detektiv Mackenzie. Ich habe eben mit ihm gesprochen. Was hat er hier zu tun? Heraus mit der Sprache, Freundchen. Wir werden Sie nicht verraten, wenn Sie angewiesen sind, zu schweigen.«

Der Mann schnitt ein eigentümliches Gesicht. Die Versuchung, sich wichtig zu machen, war offenbar groß, und als oben eine Tür geschlossen wurde, erlag er ihr.

»Die Sache hängt so zusammen,« flüsterte er. »Heute nachmittag erkundigte sich ein Herr nach Zimmern, und ich schickte ihn nach dem Bureau. Darauf ging einer von den Schreibern mit ihm und zeigte ihm die leerstehenden, und dem Herrn gefielen die ganz besonders, wo jetzt die ›Blauen‹ sind, deshalb schickte er den Schreiber zum Geschäftsführer, weil er mit diesem über einige Einzelheiten sprechen wollte, und als sie wieder kamen, war der Herr, hol' mich der Henker, verschwunden! Reinweg verschwunden ist er!« Dabei sah uns der Portier mit leuchtenden Augen an.

»Nun, und weiter?« fragte Raffles.

»Ja, was weiter. Sie haben sich umgeguckt und umgeguckt, bis sie's müde waren. Sie meinten, er habe sich anders besonnen, aber dem Schreiber kein Trinkgeld geben wollen, und da haben sie wieder abgeschlossen und sind weggegangen. Das war alles bis vor einer halben Stunde, wo sich der Geschäftsführer ein Extrablatt vom Star kaufte. Gleich darauf kam er herausgelaufen und schickte mich mit einem Briefchen in einer Droschke nach Scotland Yard. Das ist alles, was ich weiß – auf mein Wort. Jetzt sind die ›Blauen‹ und der Detektiv oben, und sie meinen, der Herr sei noch irgendwo im Hause. Das heißt, ich glaube, daß das ihre Ansicht ist, aber wo er steckt und was sie von ihm wollen, weiß ich nicht.«

»Das ist ja höchst interessant!« sagte Raffles. »Ich will doch einmal hinaufgehen und mich erkundigen. Komm, Bunny, das kann ganz lustig werden.«

»Entschuldigen Sie, Mr. Raffles, aber Sie werden mich doch nicht verraten!«

»Unbesorgt, Sie sind ein guter Kerl, und ich werde Sie nicht vergessen, wenn dies zu einem Jux führt. – Jux!« flüsterte er mir in die Ohren, als wir auf dem Treppenabsatz waren, »es sieht wie ein ziemlich schlechter Jux für dich und mich aus, Bunny.«

»Was hast du denn vor?«

»Das weiß ich selbst noch nicht, und wir haben keine Zeit zum Überlegen. Zunächst dies.« Dabei donnerte er an die geschlossene Tür, die von einem Schutzmann geöffnet wurde. Mit der Miene eines hohen Vorgesetzten ging Raffles an ihm vorbei, und ich folgte, ehe sich der Mann von seiner Überraschung erholt hatte. Die kahlen Dielen hallten unter unsern Füßen, und im Schlafzimmer fanden wir einen Trupp von Beamten, die sich mit einer Blendlaterne über die Fensterbank beugten. Mackenzie war der erste, der sich aufrichtete, und er begrüßte uns mit weit aufgerissenen Augen.

»Darf ich fragen, was die Herren wünschen?« sagte er.

»Wir wollen Ihnen helfen,« entgegnete Raffles lebhaft. »Das haben wir früher schon einmal getan, und mein Freund war es, der den Menschen, der nachher die andern verriet, von Ihnen übernahm und festhielt. Ich sollte denken, daß das wenigstens ihn berechtigte, zuzusehen, wenn es einen Spaß gibt. Was mich anlangt, so habe ich freilich nur geholfen, Sie ins Haus zu tragen, aber um unsrer alten Bekanntschaft willen, darf ich hoffen, Mr. Mackenzie, daß Sie auch mir erlauben werden, mit dabei zu sein. Jedenfalls kann ich nur ein paar Augenblicke bleiben.«

»Dann werden Sie nicht viel zu sehen kriegen,« erwiderte der Detektiv mürrisch, »denn hier oben ist er nicht. Schutzmann, Sie gehen hinunter, bleiben am Fuße der Treppe stehen und lassen unter keinen Umständen jemand anders hinauf. Vielleicht können uns die Herren schließlich doch von Nutzen sein.«

»Das ist nett von Ihnen, Mackenzie!« rief Raffles warm. »Aber was ist denn eigentlich los? Ich habe den Portier gefragt, dem ich unten begegnet bin, konnte aber weiter nichts aus ihm herausbringen, als es sei jemand gekommen, um sich diese Zimmer anzusehen, und seitdem sei der Betreffende verschwunden.«

»Das ist der Mann, den wir suchen,« antwortete Mackenzie. »Ich müßte mich sehr irren, wenn er sich nicht irgendwo im Hause versteckt hat. Wohnen Sie im Albanyklub, Mr. Raffles?«

»Ja.«

»Sind Ihre Zimmer hier in der Nähe?«

»Im zweitnächsten Stock.«

»Und Sie haben sie eben verlassen?«

»Ja, eben.«

»Waren Sie den ganzen Nachmittag zu Hause?«

»Nein, nicht den ganzen Nachmittag.«

»Dann werde ich wohl Ihre Zimmer durchsuchen müssen. Ich habe mir vorgenommen, das mit sämtlichen Zimmern des Klubs zu tun. Unser Mann scheint sich aufs Dach geflüchtet zu haben, aber wenn er draußen nicht mehr Spuren zurückgelassen hat, als im Inneren, oder wenn wir ihn nicht da oben finden, muß ich das ganze Gebäude durchforschen.«

»Ich will Ihnen meinen Schlüssel dalassen,« sagte Raffles sofort, »denn ich bin zum Diner ausgebeten. Am besten gebe ich ihn wohl unten beim Portier ab.«

Vor stummer Verwunderung blieb mir der Atem stehen. Was hatte dieses wahnsinnige Versprechen zu bedeuten? Das hieß ja geradezu das Schicksal herausfordern und war der reine Selbstmord, so daß ich ihn in unverhohlenem Schreck und Ärger am Ärmel zupfte, allein Mackenzie war mit einem Worte des Dankes ans Fenster zurückgekehrt, und wir gingen ruhig und unbeachtet durch die offenstehende Flügeltür in die Nebenstube. Das Fenster dieses Zimmers, das nach dem Hofe ging, stand noch offen, und als wir anscheinend in müßiger Neugier hinausschauten, beruhigte mich Raffles.

»Alles in Ordnung, Bunny, tue, was ich dir sage, und überlaß den Rest mir. Wir stecken in einer gefährlichen Klemme, aber ich verzweifle noch lange nicht. Du hast weiter nichts zu tun, als diesen Leuten hier nicht von der Tatze zu gehen, besonders wenn sie meine Zimmer durchsuchen. Sie dürfen sich nicht weiter umsehen, als durchaus notwendig ist, und das werden Sie auch nicht tun, wenn du dabei bist.«

»Aber wo willst du denn hin? Du wirst mich doch nicht allein einsperren lassen?«

»Wenn ich das tue, so geschieht es nur, um im rechten Augenblick das Spiel für dich zu gewinnen. Außerdem gibt es auch noch Fenster in der Welt, und Crawshay ist der Mann danach, seinen Hals zu wagen. Du kannst mir trauen, Bunny, dazu kennst du mich doch lange genug.«

»Und du willst jetzt gehen?«

»Ja, denn ich darf keine Zeit mehr verlieren. Laß die Spitzel nicht aus den Augen, mein Lieber, doch was du auch tun magst, lenke ihren Verdacht nicht auf dich.« Bei diesen Worten legte er mir die Hand einen Augenblick auf die Schulter, dann ließ er mich am Fenster stehen und kehrte ins andre Zimmer zurück.

»Jetzt muß ich gehen,« hörte ich ihn sagen, »aber mein Freund wird bei Ihnen bleiben und Sie begleiten. Ich werde das Gas in meinem Zimmer brennen lassen und den Schlüssel dem untenstehenden Schutzmann geben. Viel Glück, Mackenzie! Könnte ich doch bleiben.«

»Adieu,« antwortete eine Stimme zerstreut, »und besten Dank.«

Mackenzie machte sich immer noch an seinem Fenster zu schaffen, und ich blieb an meinem, trotz aller meiner Bekanntschaft mit Raffles und seinen unerschöpflichen Hilfsquellen eine Beute der Angst und des Ärgers. Ich wußte ziemlich genau, was er in irgend einem gegebenen Falle tun würde, oder ich konnte mir wenigstens ein für ihn charakteristisches, ebenso schlaues als kühnes Verfahren zusammenreimen. Wahrscheinlich kehrte er in seine Zimmer zurück, warnte Crawshay und – versteckte ihn? Nein – es gab auch noch Fenster in der Welt. Aber warum hatte Raffles uns alle verlassen? Ich dachte an vielerlei – zuletzt an eine Droschke. Die Fenster seines Schlafzimmers gingen nach einer kleinen Seitengasse und lagen nicht sehr hoch. Man konnte von ihnen wohl aufs Verdeck einer Droschke springen – selbst während sie vorbeifuhr – und so entkommen – der Polizei vor der Nase weg! Ich stellte mir Raffles als Kutscher dieser Droschke vor, und sagte mir, daß er in der nebeligen Nacht wohl unerkannt bleiben würde. Dieses Bild stand mir vor Augen, als er, den Kragen seines großen Mantels hochaufgeschlagen, auf dem Wege nach seinem Zimmer unter meinem Fenster vorüberging, und es war noch nicht verschwunden, als er zurückkehrte und stehen blieb, um dem Schutzmann seinen Schlüssel zu geben.

»Wir sind ihm auf der Spur!« sagte eine Stimme hinter mir. »Er ist wirklich auf dem Dache, obgleich ich nicht begreife, wie er von jenem Fenster aus dahin gelangt ist. Jetzt wollen wir hier abschließen und sehen, was wir vom Boden aus machen können. Wenn Sie wollen, können Sie mitgehen.«

Das Dachgeschoß des Albanyklubs war, wie das andrer Häuser, für die Dienstboten eingerichtet und bestand aus einer Reihe kleiner Küchen und Kammern, die von vielen auch als Rumpelkammern benutzt wurden, so zum Beispiel von Raffles. Diejenigen, welche zu den Zimmern gehörten, die wir eben verlassen hatten, waren natürlich leer, und das war ein Glück, denn wir füllten sie vollständig aus, um so mehr, als sich jetzt auch der Geschäftsführer zu uns gesellte, der zu Mackenzies unverhohlenem Verdruß noch einen andern Mieter mitbrachte.

»Warum laden Sie nicht lieber gleich ganz Piccadilly gegen zwei Schilling Eintrittsgeld ein?« sagte er. »Sie da, klettern Sie einmal aufs Dach; dann sind wir einer weniger, und halten Sie Ihren Knüppel in Bereitschaft.«

Wir drängten nach dem kleinen Fenster, das Mackenzie zu versperren Sorge trug. Zunächst war nichts hörbar, als das Knirschen der Stiefel des Schutzmanns auf den rußigen Ziegeln: dann folgte ein Ausruf.

»Was ist los?« fragte Mackenzie.

»Ein Strick!« hörten wir, »hängt mit einem Haken an der Dachrinne.«

»Seht ihr!« sagte Mackenzie, »nun wissen wir, wie er von unten heraufgelangt ist. Wahrscheinlich hat er das mit einem von den Ausziehstöcken fertig gebracht. Daß ich daran auch nicht gedacht habe! Wie lang ist das Tau?«

»Ganz kurz. Ich hab's.«

»Hing es über einem Fenster? Fragen Sie ihn das,« rief der Geschäftsführer. »Er kann das leicht sehen, wenn er sich über die Brüstung beugt.«

Mackenzie wiederholte die Frage, worauf nach einer kurzen Pause die Antwort erfolgte: »Ja, es hing über einem Fenster!«

»Fragen Sie ihn, über welchem von hier aus gezählt,« rief der Geschäftsführer in großer Aufregung.

»Dem sechsten, sagt er,« antwortete Mackenzie gleich darauf, indem er Schultern und Kopf zurückzog. »Die Zimmer, wozu das sechste Fenster gehört, möchte ich mir einmal ansehen.«

»Das sind Mr. Raffles' Zimmer,« verkündigte der Geschäftsführer nach einer kurzen Kopfrechnung.

»Wirklich?« rief Mackenzie. »Dann wird uns eine Besichtigung ja gar keine Schwierigkeiten machen, da er seinen Schlüssel zurückgelassen hat.«

Die Worte hatten einen trockenen, nachdenklichen Klang, der mir bedenklich vorkam; es war, als ob der Schotte dieses Zusammentreffen auffallend finde und mehr dahinter suche.

»Wo ist Mr. Raffles?« fragte der Geschäftsführer, während wir die Treppe hinabstiegen.

»Er ist zu seinem Diner gegangen,« antwortete Mackenzie.

»Wissen Sie das bestimmt?«

»Ich habe ihn fortgehen sehen,« fiel ich ein. Mein Herz schlug entsetzlich, so daß ich mich nicht getraute, noch mehr zu sprechen, aber ich drängte mich allmählich an die Spitze des kleinen Zuges und war der zweite, der die Schwelle überschritt, die der Rubikon meines Lebens war. Dabei stieß ich einen Schmerzensschrei aus, denn Mackenzie war zurückgewichen und hatte mich heftig auf die Zehen getreten. Im nächsten Augenblick erkannte ich den Grund und stieß einen zweiten, noch lauteren Schrei aus.

Ein Mann lag ausgestreckt vor dem Feuer auf dem Rücken mit einer kleinen Wunde auf der weißen Stirn, aus der das Blut ihm in die Augen lief, und der Mann war kein andrer als Raffles!

»Selbstmord!« sagte Mackenzie ruhig. »Nein – hier liegt das Schüreisen – sieht mehr nach Mord aus!« Bei diesen Worten ließ er sich auf die Kniee nieder und schüttelte ganz vergnügt den Kopf. »Nicht einmal Mord ist es,« fuhr er mit einem Schatten von Ärger in seiner nüchternen Sprechweise fort. »Es ist nur eine leichte Fleischwunde, und ich bezweifle, daß die ihn ohnmächtig gemacht hat, aber, meine Herren, es stinkt hier geradezu nach Chloroform.«

Dabei erhob er sich und richtete seine scharfen grauen Augen auf mich; die meinen standen voll Tränen, aber sie begegneten seinem Blick ohne Scheu.

»Ich meine doch verstanden zu haben, Sie hätten ihn fortgehen sehen?« fragte er streng.

»Ich habe seinen langen Fahrmantel gesehen, und dachte natürlich, er stecke darin.«

»Und ich hätte darauf schwören mögen, daß es derselbe Herr war, als er mir den Schlüssel gab.«

Das sprach die trostlose Stimme des Schutzmanns im Hintergrund, und ihm wandte sich Mackenzie, weiß bis zu den Lippen, zu.

»Ihr verdammten Polizisten denkt auch immer etwas!« rief er wütend. »Lassen Sie mal Ihre Nummer sehen, Sie Dummkopf! P 34. Sie werden noch mehr von dieser Geschichte hören, mein Herr P 34! Wenn der Mann tot wäre – statt wieder zum Bewußtsein zu kommen, während ich hier rede – wissen Sie, was Sie sein würden? Des Totschlags schuldig, Sie Esel mit blanken Knöpfen! Und wissen Sie, wen Sie durch Ihre Butterfinger haben schlüpfen lassen? Crawshay – keinen Geringeren – der gestern aus Dartmoor ausgebrochen ist. Bei dem Gott, der Sie erschaffen hat, P 34, wenn er mir entwischt, lasse ich Sie aus dem Dienst jagen!«

Sein Gesicht zuckte – er schüttelte die Faust – das Bild eines ruhigen Mannes in furchtbarer Erregung. Das war eine neue Seite in Mackenzies Wesen, eine, deren man sich erinnern mußte, und die Stoff zum Nachdenken gab. Gleich darauf war er davongestürzt.

* * *

»Eine schwierige Aufgabe, sich selbst den Schädel einzuschlagen,« sagte Raffles später, »viel leichter ist es, sich den Hals abzuschneiden. Mit Chloroform liegt's anders, wenn man es schon häufig angewandt hat und die Dosis haarscharf kennt. Du glaubtest also wirklich, es sei alle mit mir? Armer alter Freund! Aber hoffentlich hat Mackenzie dein Gesicht gesehen.«

»Ja, das hat er gesehen,« antwortete ich, aber was Mackenzie sonst noch gesehen haben mußte, mochte ich nicht sagen.

»Das ist gut, und um keinen Preis der Welt wollte ich, daß er es nicht gesehen hätte. Du darfst mich nicht für gefühllos halten, lieber Freund, denn den Mann fürchte ich, und du weißt, wir sinken oder schwimmen zusammen.«

»Und jetzt sinken oder schwimmen wir auch zusammen mit Crawshay,« erwiderte ich trübselig.

»Keineswegs,« erwiderte Raffles im Tone der Überzeugung. »Der alte Crawshay ist ein echter Sportsman, und er wird gleiches mit gleichem vergelten. Außerdem macht uns diese Geschichte quitt, und ich glaube nicht, Bunny, daß wir uns jemals wieder mit Gewerbsmäßigen einlassen werden.«


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