Hans Hopfen
Verdorben zu Paris
Hans Hopfen

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III.

Die Mädchen sind am schönsten im Frühling. Das gilt wol unbestritten allenthalben. Aber es fällt nirgends so auf, wie in recht großen Städten.

Wer in Paris, Berlin, Wien um die Osterzeit sich aufs Flaniren legt, dem will scheinen, als quöllen aus jeder Straße neue Schönheiten hervor. Und magst Du auch ein patentirter Bummler sein und meinen, Du kenntest, was in der riesigen Umzirkung Sehenswürdiges ging und führe lange schon auswendig – Du bleibst doch eins übers anderemal freudig verwundert stehen, siehst den wallend sich hintan schlängelnden Gewändern nach und sagst zu Dir selbst oder Deinem Begleiter:

– Ich hätte meiner Tag nicht geglaubt, daß es hier so viele hübsche Mädels gibt!

Die lieben Frauenzimmer wissen sich aber auch zu keiner Zeit so anmuthig zu kleiden wie im Frühling.

Im Winter ist ihr Putz nicht selten überladen, im Sommer manchmal etwas verzweifelt, im Herbste meist bedeutsam, oft zu gesucht; aber im Frühling ist Alles so sinnig, so einfach, so geschmackvoll. Das schöne Geschlecht 115 tragt sein blumenartig Wesen niemals erfreulicher zur Schau: es blühet selber und schmückt sich mit Blüthen und in Blüthenfarben. Frische, hellere Gewänder mit leichteren Falten, kleinere Hütchen, glänzende Schuhe und die verjüngte Anmuth der Bewegung.

Ich habe auch gefunden, daß unsere Herrinnen niemals gerechter und duldsamer gegen Ihresgleichen sind als just um diese Zeit. Selbst in Toilette-Angelegenheiten. Eine Frühlingsgarderobe wird eher als irgend ein später geborenes Product derselben Industrie vor schwesterlichen Augen Gnade finden.

Mein Gott, 's ist ja auch leichtere Waare, flüchtiges Zeug, das nicht so schwer ins Geld fällt. Ist jedoch nicht deßhalb, wie sie sagen, der Grund liegt anderswo.

Im Lenze 63 war zu Paris keine auf Zier und Gehaben ihrer Schwestern so aufmerksam wie die schlanke Marguerite. Keine Putzmacherin, keine Schauspielerin konnte wachsamer, wiederholter, ernsthafter nach Kleidern, Bewegungen und Redensarten lauschen denn sie.

Was sie aber mehr als Frauen und Töchter von Banquiers und Fürsten ihres Studiums würdigte, das waren die Leute, »die man vor Kindern nicht nennt«.

Das Wort des leichtfertigen Alten, das Recept Onkel Tam-Tam's wollt' ihr, so abscheulich sie's zuerst gedünkt, nicht mehr ans dem Sinn. Es war gemach ein Theil ihres Denkens geworden und regierte nunmehr die Augen, die da forschten, und den übrigen Menschen, der da nachahmte, was die Augen gesehen.

Es war ja noch nichts Uebles dabei an diesen Aeußerlichkeiten. I was nicht gar!

Die ganze fashionable Gesellschaft von Paris dachte just so über diesen Punkt, wie Onkel Tam-Tam gesprochen, und es war geradezu allgemeine Mode unter den Damen der ganzen Welt, Tracht und Gebahren jener Unnennbaren der halben zu studiren, zu copiren.

Sah sie doch, wie im Theater die besten Augen ihren Operngucker nach »diesen Damen« richteten und ohne Scheu und Abscheu prüfend, billigend, vergleichend bei ihrem Anblick verweilten; hörte sie doch, wie manchem Lieferanten die lange fruchtlose Erklärung einer gewollten Robe oder anderen Putzes endlich mit dem Einen Zauberworte klar gemacht wurde:

– So wie das Fräulein X und Y sich da oder dort getragen.

Marguerite that des Guten etwas viel, in ihrer Lebensstellung zu viel. Sie übertrieb.

Sie war eben verliebt und wollte recht gefallen, und meinte, mit dem »chic« käme sie am weitesten.

Und auf Fortunato schien es wirklich den gewünschten Eindruck zu machen.

116 Es schien aber nur so.

Der Corse, welcher für Gretchen ein lebhaftes Interesse bewahrt hatte, bemerkte das auffällige Wesen und freiere Gebahren allerdings. Da er sie aber nicht seit lange kannte, so durfte er wol meinen, daß die Elsässerin allzeit so gewesen, und so hielt er sie nicht nur für gefällig und klug und artig, was sie in der That war, sondern auch für gefallsüchtig, leichtsinnig und lüstern, was sie nicht oder doch noch nicht war.

In dieser Meinung ward er rascher mit ihr gut Freund, als es sonst der Fall gewesen wäre, und erlaubte sich gern, ja bald aus Gewohnheit, Vertraulichkeiten, mit denen ein ernstlich Verliebter lange, sehr lange gezögert hätte.

Und dennoch galt er im ganzen Hause Klopffechter für verliebt in Margarethen, denn er machte sich auffallend viel mit dem Mädchen zu schaffen.

Das hatte noch einen anderen Grund.

Nichts ist listiger als die Liebe, nichts auch argloser hinwiederum. So kams, daß Fortunato und Marie sozusagen aufs Dach ihrer Heimlichkeiten einen Blitzableiter setzten und zu diesem Schutzposten Margarethe auserlasen. Wenn der Capitän vor allen Leuten sich um die Gunst der Gouvernante bewarb und ihr bei jeder Gelegenheit den Hof machte, so konnte Niemand denken, daß er nur auf die Gelegenheit paßte, ihrem Zögling zu nahen; wenn solches alsdann bescheidentlich und wie zufällig geschah, so hatte es nichts Auffälliges, geschweige denn gar Anstößiges.

Daß in diesem Verfahren gegen Marguerite eine Grausamkeit stak, kam den verliebten Leutchen nicht zu Sinne.

Und wie auch?

Gretchen machte so gute Miene zum bösen Spiel!

So täuschten sie denn auch glücklich alle Welt, nur leider nicht den Einen, auf den es vor allen Anderen wenigstens von Fortunato's Seite gemünzt war.

Papa Klopffechter sah und hörte gar fein. Vielleicht auch daß sein Töchterchen sich Besseres von ihm versehen zu dürfen wußte als sein Schwiegersohn in Hoffnung. Thatsache ist, daß, als die Beiden nach langem Berathen, Prüfen und Erwägen endlich beschlossen hatten, die landesübliche Fragestellung an den Mann der Entscheidung zu richten und Fortunato in kriegerischem Schmucke bei dem Mann der Börse Audienz erbeten, er auf das Geständniß seiner Liebe vom Vater dieselben Worte erhielt, wie damals im Walde von der Tochter:

– Das weiß ich längst.

Es klang freilich anders, aber es klang doch freundlich, und als nun der Corse mit redlicher Ausführlichkeit alle seine Verhältnisse darlegte, machte der Hörer ein Gesicht so voll Aufmerksamkeit und Wohlwollen, daß Jener in der Stille seines hoffenden Herzens schon halbgezückt für ganz gefochten hielt.

117 Klopffechter antwortete in der verbindlichsten Weise, ließ sich dies und das, was ihm in Fortunato's Auseinandersetzungen nicht ganz klar geworden, wiederholen und erläutern, declamirte nachdrücklich von der freien Wahl seiner Tochter im Allgemeinen und wie die getroffene Wahl insbesondere seinem weisen Herzen wohlgefällig wäre; er versprach sich das Beste von der Zukunft der beiden Liebenden, und erst nachdem das Glück und die Freude aus des Officiers Augen leuchteten und dieser in seiner Verzückung bereits mehrmals ohne Aufforderung Schwiegerpapas Hände geschüttelt hatte, rückte dieser lächelnd mit einem winzigen Aber heraus.

Der also Aufgeregte, das wußte der schlaue Alte, werde Wahrheit antworten.

– Sie haben mir, sagte Samuel, mit kindlicher Offenheit all ihre Glücksumstände dargelegt; ich kenne Ihre dermaligen Renten, sowie die Hoffnungen Ihrer Zukunft; Sie sind gerade kein reicher Mann nach Pariser Begriffen, aber Sie können für einen wohlhabenden gelten; Sie sind der einzige Sohn Ihrer Eltern und Ihre Eltern lieben Sie. Das Alles ist gut und schön. Ich wünsche mirs nicht besser. Sie sagen außerdem – und ich glaube es – daß Ihr Leben ein geregeltes, Ihre Bedürfnisse keine sehr kostspieligen sind. Mir reimt nur Eins nicht zum Anderen –

Samuel stockte ein Weilchen und betrachtete bald die Nägel an seinen Fingern, bald die Züge Fortunato's.

– Sie haben – ein Pferd, ein schönes, ein außerordentlich schönes Pferd. Ich bin ein Kenner und weit entfernt, die seltenen Qualitäten Ihres I-Mu zu unterschätzen. Im Gegentheil! Aber selbst ohne sie zu überschätzen – Sie müssen mir beipflichten, lieber Capitän – das Pferd muß sie – ich möchte mir zu behaupten erlauben, schon der Kaufpreis muß sich höher belaufen, als die Rente, welche Sie in Einem Jahr zu verzehren haben. Sie hatten vielleicht Ersparnisse?

– Ersparnisse? sagte Fortunato und sah mit dem Blicke eines verendenden Wildes in Samuel's bohrende Augen. Ersparnisse – Nein!

– Ich meine nicht gerade Ersparnisse von Ihrer Rente, beschwichtigte Klopffechter mit zutraulichstem Ton und Gesicht. Ich meine, Sie waren ja mit in China und bei gewissen Sommerpalast-Affairen, die ich im Allgemeinen zwar nicht lobe, aber ich könnte den Einzelnen ebensowenig loben, der sich mit zugeknöpften Taschen auf seine Hände setzte, wenns ringsum goldene Schüsseln schneit.

Der Corse stockte ein wenig, aber mehr, wie es schien, um seiner Sprache habhaft zu werden, als um einen bösen Entschluß zu bekämpfen.. Dann sagte er übellaunig lächelnd:

– Nein, auch das nicht; mein Antheil an der Beute war unbedeutender als man glauben mag, und dann heißt's beim Soldaten: Wie 118 gewonnen, so zerronnen! Ich habe das Geringste davon übers Meer herübergebracht.

Klopffechter nickte freundlichst ihm zu, als gäbe er ein Zeichen vollster Uebereinstimmung.

Es entstand eine kleine peinliche Pause.

Er nahm Fortunato bei der Hand und sagte leise, aber entschieden:

– Sie – spielen.

– Nie wieder! rief der Soldat, und fügte das Haupt senkend hinzu: Ich habe gespielt.

– Dann werden Sie es wieder thun. Niemand ist unverbesserlicher als der Spieler.

– Ich war nie, was man einen Spieler nennen darf. Ich spielte –

– Nur so hie und da? fiel Samuel ein. Dann müssen Sie erstaunlich Glück gehabt haben.

– Ich habe Glück gehabt, antwortete Fortunato und erröthete, ohne klar zu wissen warum.

– Glück verführt, sagte Klopffechter.

– Mich nicht! Ich schwöre es Ihnen und Sie müssen mir glauben.

– Müssen? Es handelt sich um das Glück meines Kindes und – nebenbei um ein immerhin bedeutendes Vermögen. Ich wollte nichts lieber, als Ihnen glauben müssen.

Fortunato betheuerte in heftigen, das Gepräge der Wahrheit tragenden Worten, wie er schon vor längerer Frist, zu einer Zelt, da der Entschluß, um Marien zu werben, noch nicht entschieden vor seiner Seele gestanden, einem anderen Manne sein Ehrenwort verpfändet, nie wiederum zu spielen.

– Wie lang ist das her? fragte Samuel, und Fortunato bekannte nicht ohne Zaudern, daß allerdings nur wenig über ein Monat seitdem verstrichen.

Klopffechter schwieg.

Da rief der Corse bitter gekränkt:

– Glauben Sie nicht, daß ich ein Lebenlang halten kann, was ich sechs Wochen lang ertragen?

– Glaubs schon, sagte der Alte, allein ich brauche Sicherheit.

– Wer kann Ihnen solche geben?

– Sie selbst, mein Herr.

– Ich? O reden Sie, reden Sie!

– Glauben Sie, daß ich Ihnen vom Herzen wohl will?

– Ich glaub es, antwortete der Corse mit einiger Ueberwindung.

– Nun, so versprechen Sie in meine Hand, daß Sie den Ausspruch, den ich jetzt thun werde, der keinen anderen Zweck hat, als Sie zu meinem 119 Eidam zu machen, daß Sie diesen Ausspruch achten und beobachten wollen genau und unverbrüchlich und ehrenfest?

– Sie wünschen wirklich, mich zum Eidam zu haben? sagte Fortunato etwas mißtrauisch zögernd.

– Ich weiß, daß mein Kind Sie liebt, ernstlich, innig und leidenschaftlich liebt.

– Das wissen Sie? rief der Liebende, den dies Geständniß aus des vorsichtigen Vaters Mund so glücklich machte, daß er alle weiteren Gedanken vergaß und zum gewollten Gelöbniß treuherzig einschlug.

– So hören Sie und beherzigen Sie, was ich Ihnen sage, nahm Klopffechter das Wort und sah dabei drein, als dictirte er einen Contract. Die Sicherheit, welche Sie mir geben können, besteht für mich in der Dauer Ihrer Enthaltsamkeit. An dem Tage, an welchem Sie mir auf Ehrenwort zusagen können, daß Sie seit zwölf Monaten keinerlei Glücksspiel gespielt haben, und daß Sie während dieser Periode auch in Ihrem Gemüthe keine Anfechtung verspürt, Ihr Gelübde sofort oder in Zukunft zu brechen – an demselben Tage können Sie von mir aus meine Tochter heimführen.

Der staunende Corse wollte ihn unterbrechen, Samuel winkte ihm mit der Hand ab und fuhr fort:

– Lassen Sie mich ausreden. Zu dem Vorschlage gehört noch eine Bedingung, deren Nichterfüllung oder Umgehung mich meinerseits meiner Zusage völlig entbinden würde. Als gescheiter Mensch und gewissenhafter Vater muß ich mir nämlich entschieden ausbitten, daß Sie während der elf Monate, welche Sie sich noch in Geduld zu fassen haben, nicht als Bräutigam Mariens sich geriren, dem armen Kind das Herz schwer machen und etwa gar eine sanfte Bleichsucht anschmachten – aus purer Leidenschaft und Hochachtung. Da aber, wie ich aus meinen eigenen jungen Jahren mich noch sehr lebhaft erinnere, junge Mädchen außerordentlich schwer zu hüten sind, so ist in meiner Clausel der Wunsch oder besser gesagt der Rath enthalten, daß Sie Paris verlassen. Glauben Sie mir, theurer Freund, dies Alles ist auch in Ihrem Interesse.

Fortunato fuhr kopfschüttelnd mit einem abwehrenden »Oh!« dazwischen.

Klopffechter ließ sich dadurch nicht stören und sprach nach einer sorgfältig gefaßten Prise ruhig weiter:

– Sie sagen mir, daß Niemand von unserer heutigen Unterredung weiß – ich stelle es in Ihr Belieben, Marien von Frage und Bescheid selbst zu unterrichten. Sie können sich bei ihr persönlich verabschieden, ich gebe Ihnen dazu drei Tage Zeit, während welcher Sie in meinem Hause zu jeder Stunde willkommen sein werden. Nach Ablauf dieser drei Tage wird Marie für Sie unsichtbar.

120 Daß ich während des Restes Ihrer unerläßlichen Prüfungsmonate nichts unternehmen werde, um Ihnen das Herz meiner Tochter abwendig zu machen oder gar einen Anderen zu begünstigen, werden Sie mir nach Allem, was Sie heute hören, wol ohne Betheuerung glauben. Bedürfte es eines Beweises hiefür, so wird der genügen, daß ich Ihnen gestatte, ab und zu meiner Tochter von Ihrem Befinden und Reise-Abenteuern – versteht sich unter meiner Adresse – brieflich Nachricht zu geben. Ich sehe, daß Sie mein Vorschlag betrübt. Erheitern Sie sich. Marie ist noch so jung und Sie sind noch nicht alt. Ich werde schon sorgen, daß ihr euch nicht zu spät zusammenfindet. Einstweilen werden Ihnen so ein paar hundert goldene Junggesellentage noch gar wohl anschlagen. Könnt euch noch lange genug haben, wenns Gottes Wille ist.

Klopffechter, welcher sah, wie schwer Fortunato sich seinen Bescheid zu Herzen nahm, gab sich alle Mühe, freundlich, ja zärtlich und gerührt zu erscheinen.

Aber er hätte der größte Redner und Schauspieler in einer Person sein dürfen, an dem jungen Manne glitt aller Aufwand von Worten und Betonung ab, er sah und hörte nichts als die Gewißheit, zehn Monate und darüber sein Liebstes auf der Welt meiden zu müssen. Kein Gott vom Himmel herabschwörend, hätte es dem heißblütigen Menschenkinde glaublich machen können, daß es dem alten Geldsack mit der Absicht, ihn zum Eidam zu nehmen, Ernst sei.

Er ließ die ganze Procedur für nichts gelten als eine schlau ausgeklügelte List, ihm unvermerkt das Gelöbniß abzuschmeicheln, sich nimmer in der Angebeteten Dunstkreis zu verlieren, ihm sozusagen unter falschen Vorspiegelungen und höhnischen Zusagen das Haus zu verbieten. Er überlegte, von Schmerz und Entrüstung, Scham und Wuth berathen, allen Ernstes, was klüger sei, dem sänftiglich Plaudernden gröblichst an die lügnerische Gurgel zu fahren oder sich in seine Tugend und seinen Stolz zu hüllen und die Schwelle der Klopffechter nie wieder zu betreten.

Und als nun Samuel treuherzig die breite Hand vor ihn hinhielt und mit den Aeuglein zwinkernd rief: »Na, schlagen Sie ein!« stand Jener vom Stuhle auf und sagte mit erzwungener Höflichkeit:

– Sie haben mir ja mein Wort schon vorher abgenommen. Ich pflege mein Wort niemals zu widerrufen. Seien Sie unbesorgt, mein Herr.

Darauf empfahl er sich schweigend und ging gekränkt und kränkend eilig davon.

Samuel sah ihm zur Seite gewendeten Hauptes nach, strich sich dann unterm Kinn und sagte mit halbunterdrücktem Seufzer:

– Ach, die liebe Jugend! Wirst auch wiederkommen und anders als Du gegangen bist, Du verliebte Spielratte.

121 Er war sehr zufrieden mit sich selber und ging hin, wo er seine Tochter fand, um mit ihr ein Gespräch über gleichgiltige Dinge zu führen.

Fortunato war keiner von jenen Aufbrausenden, welche sich leicht beruhigen lassen. In ihm kochte und gährte es Tage, Wochen lang, und die Wuth konnte sich in diesem impetuosen Charakter so sehr steigern, daß er sich selbst und Andere,. die er liebte, schädigte, um erst, wenn er Schmerz verursacht, zum peinigenden Bewußtsein zu kommen, daß er zu weit sich habe hinreißen lassen.

Das Erste, was er that, war, daß er zu einem Dandy ging, der ihm vor etlichen Tagen den Vorschlag gemacht hatte, I-Mu zu verkaufen. Fortunato's damalige Antwort war nur durch die Hilfe von interpretirenden Vermittlern nicht als Beleidigung angesehen worden. Heute bot er das Thier selbst an, und verkaufte es unter der Bedingung, daß es noch am nämlichen Tage aus dem Stalle geholt werde.

Als dies geschah und der Zornige plötzlich fühlte, daß ihm das brave Thier aus manch einem Grunde lieb geworden war, daß ihm der Scheideblick des abgeführten I-Mu im Herzen wehe that, da brachte ihn der Verlust nicht zur Besinnung, sondern er galt ihm nur ein Grund mehr, sich gegen Samuel, ja was Samuel, gegen Alles, was Klopffechter hieß, zu erbittern.

Wer konnte es wissen, wie viel Schuld an ihres Vaters »schnöder Abfertigung« Marie selber trug?

Fortunato hätte es allerdings wissen können und sollen.

Zur Ehre seines Herzens und Hauptes sei es auch gesagt daß er dem Verdachte nicht lange nachhing. Aber er versuchte sie doch auf unkluge Weise.

Am Morgen des anderen Tages fand Marie unter der Wolle ihres Strickkörbchens folgendes Billet in italienischer Sprache:

»Geliebte Seele!

Dein Vater hat mein Werben um Dich mit grausamem Hohn gestraft, und mir das Versprechen abgenommen, von Dir zu scheiden, wenn nicht für immer, so doch auf lange Zeit. Ich scheide. Willst Du mich noch einmal sehen, willst Du, daß ich eine Hoffnung mit auf den langen Weg nehme, so sei heute Nacht um zwölf Uhr, wenn Alles bei Euch schläft, im Bibliothekzimmer. Fürchte nichts, Geliebte, es wird ohne die geringste Störung geschehen. Einer Eurer Bedienten steht in meinem Solde. Er denkt nicht, daß ich mich um Deinetwillen im Hause verberge, sondern meint, ich wollte Margueriten stören.

Ich weiß, daß ich viel verlange, aber wahre Liebe ist großmüthig. Und am Ende, was ist ein heimliches Wort, ein flüchtiger Kuß denn Großes? Für die Gewährende ein Nichts, für den, der in die Verbannung zieht, Alles, 122 ein Blick ins gelobte Land, die Bürgschaft für schönere – weh mir – noch so ferne Zeit!

Willst Du mir diese Bürgschaft versagen, Marie?

Lebe wohl, ich meine, ich müßte sagen: für immer – lebe wohl!

Bin ich noch

Fortunato?«

Als Maria das versiegelte Blättchen fand, zerknickte sie es eiligst und barg es ungelesen in ihrer Hand, sprachlos erglühend den Blick auf Margarethen richtend, welche nicht wußte, was ihr war.

Die beiden Mädchen hatten sich so innig lieb gehabt; sie hatten oft weinend von einer Zeit gesprochen, da sie getrennt oder doch nicht neben einander leben müßten und sich nur damit getröstet, daß diese Zeit noch ferne war. Sie liebten sich noch, und doch, seit jener Mann in ihre Kreise getreten, waren ihre Herzen plötzlich wie in Drachenblut gebadet. Sie, die sich sonst jeden Gedanken beichteten, welcher jähen Flügelschlags ihre Seele berührte, sie fanden nun des Vertrauens weiche Lispelworte nicht mehr. Sie drückten sich noch die Hände, sie küßten sich auf Stirn und Arme, Mund und Augen, aber zu den Ohren schienen ihre Lippen keine Sehnsucht mehr zu empfinden.

Keine wußte, was der Geliebte in der Freundin Herzen galt, ja – sie schöpfte nicht einmal leisen Verdacht; aber jener wunderbare Instinct des weiblichen Herzens rief einer Jeden gebieterisch:

– Die Thore zu und trau, schau, wem! Der Feind ist da!

Dieweil nun eine Jede hinterm Berge hielt und froh war, wenn ihr die Andere keine Gelegenheit entgegenbrachte, ihr Herz zu öffnen, so merkte vorderhand Keine, daß es die Andere war, die sich vor ihr in Acht nahm. Und fiel es der Einen denn doch zuweilen auf, daß die Andere nie oder nur bei officiellen Veranlassungen den Namen des heimlich Geliebten auf die Zunge brachte, so dachte sie:

– Je nun, habe mir wol etwas merken lassen, daß er mir werth ist, und nun schmollt sie, weil ich plaudere. Du nimmst Dich nicht genug in Acht!

Und sie war dann hinterhältiger und schien argloser als zuvor.

So frug auch jetzt die Eine nicht: »Was hast Du?« sondern quästionirte sich im Stillen, ob sie wol selber Anlaß zum Aergerniß gegeben und sich zu viel habe merken lassen.

Marie aber, die ihrer Ueberraschung nicht länger Meisterin zu bleiben fürchtete, ging ins Nebenzimmer, faßte sich mühsam und entfaltete das Papier.

Er hatte noch nie geschrieben; daß ers gewagt, es war doch arg – dachte das Mädchen.

123 Aber was er darin gewagt, war noch ärger, und sie wußte doch nicht, ob sie gewähren durfte – ob sie nicht gewähren müßte.

Das liebende Herz hatte längst entschieden; der heftige Kampf, den es tagsüber sich selber lieferte, galt nur dem Geständniß vor sich selber. Sie wollte kommen.

Das war ein langer peinlicher Tag für die arme Marie. Und die Sonne sank doch frühe. Aber wie lange war noch auf Mitternacht!

Ihr Herzchen pochte so rasch, aber die Uhr pochte darum nicht rascher als jeden anderen Tag; ach, sie schiens vielmehr noch langsamer zu treiben als sonst.

Viel Zeit verbrachte sie beim Vater. Er war immer gut und treuherzig gegen sie gewesen, so lange sie nur zurückdenken konnte. Alles und Jedes, was ihr Wohl und Wehe betroffen, hatte er gütig und weise mit ihr durchgeredet. Warum nur sprach er heute nicht – warum hatte er nicht gestern schon zu ihr gesprochen? Galt es doch ihr Lebensglück, ihr Leben selber. Und nun gerade ließ er kein Wörtchen fallen.

War ihm Fortunato verhaßt? Oder liebte er sein Kind weniger, als es meinte, und galt dessen Stimme im Rathe seines Herzens nur, wenn kein Rath mehr nöthig?

Hier verwirrte sich ihr Denken und sie begann zu weinen.

Der Vater hatte heute wider Gewohnheit so viel von der verstorbenen Mutter gesprochen. Wars Zufall, wars Absicht? Er fing ein zweites- und drittesmal davon zu reden an. Warum das? Es konnte kaum Absicht sein. Sie dachte darüber hin und her.

War nicht die eigene Mutter dem Manne ihrer Wahl gefolgt in die weite Welt ohne umzusehen? Und sollts nun Unrecht sein, dem Geliebten heimlich nur Lebewohl zu sagen, Lebewohl auf lange Zeit, vielleicht auf immer?

Und doch wars Unrecht, und sie sagte sichs auch und wollte doch seinen Willen thun – sie hatte ihn gar zu lieb.

Manchmal ging sie hinüber ins Bibliothekzimmer. Es litt sie nie lange darin. Ein Schaudern kam sie an, daß sie die Augen schloß und das düstere Gemach wieder schleunig verließ. Sie zählte die Schritte bis hinüber in ihr Gemach; sie horchte auf: ihre Tritte waren kaum hörbar, die Thüren gingen ohne Laut in ihren Angeln.

Zu Tische waren Gäste gekommen, langweilige Leute. Onkel Tam-Tam hatte sich dafür an Gretchen schadlos gehalten – mehr als Marie gerathen schien.

– Er ist zuweilen fast ungezogen und Papa machte ein langes Gesicht darüber. Es wäre an der Zeit, die Grete sollts ihm selber verweisen, höflich, gelegentlich, unter vier Augen – »unter vier Augen«!

124 Sie ward ein übers anderemal roth heute über unausgesprochene Worte.

Endlich empfahlen sich die Gäste; es war sehr spät.

Papa ging heute wider Gewohnheit noch bei so vorgerückter Stunde in seinen Cercle. Wenn er heimkommend auf Fortunato träfe, sie stürbe; doch der wird gewarnt.

Welcher war nur der verrätherische Bediente? Sie wagte keinem mehr ins Gesicht zu sehen.

Marguerite las. Sie hatte sich so festgelesen, daß sie keinen Thee nehmen wollte, sie sprach nicht, sie sah kaum auf, und das Blatt. welches sie schon früh vor dem Wenden faßte, zitterte in ihren ungeduldigen Fingern. Das hatte sie früher nie so getrieben. Ja, man hätte eher von ihr sagen mögen, daß ihr die Bücher keine sonderliche Freude machten. Und nun benützte sie alle freie Zeit darauf und löschte – Marie hatte es oft bemerkt – meist spät in der Nacht ihr Licht. Sie las mit einer Gier und Hast, daß sie kaum bemerkte, was um sie vorging.

– Das ist noch gut, meinte Marie, denn dann horcht sie auch nicht auf, selbst wenn sie noch wach ist und der Zögling sich sachte vor ihrer Thüre vorbeischleicht.

Marguerite pflegte sich nun schon früh und fest einzuschließen; das war auch gut, denn am Tage ging sie oft zwei-, dreimal nach dem Bibliothekzimmer hinüber und suchte und stöberte und rumorte, bis sie endlich etwas gefunden, was ihr nach flüchtigem Durchblättern oder schon nach dem bloßen Titellesen für tauglich schien.

Die Bücher nahm sie dann rasch zu sich hinüber, aber auf ihrer Stube lagen sie niemals frei herum, sondern sie sperrte sie, so oft sie dieselben aus der Hand legte, vorsorglich in ihren Kasten.

Und saßen die zwei Mädchen auch bei einander, so sah die Jüngere doch nie mehr, als den Einband der Bücher, und daran war nichts zu erkennen, denn der war grün mit Gold, wie der anderen tausend Bände, die etwa noch drüben in den Schränken standen.

Marien plagte hie und da in Mußestunden die Neugierde; als sie aber einmal ihre Gouvernante fragte, ob sie ihr nicht auch von dem Futter mittheilen möchte, was ihr so sehr behagte, hatte diese, ohne aufzuschauen, die hochmüthige Redensart fallen lassen, das seien keine Lesefrüchte für Kinder; dann war sie nachträglich über die eigene Antwort feuerroth geworden, als ob ihrs auf das Gewissen fiele, etwas Ungeschicktes, Unvorsichtiges gesagt zu haben.

Marie, welche, wie wir uns erinnern, bereits vor Monaten sich selber so feierlich als entschieden decretirt hatte, daß sie kein kleines Kind mehr wäre, fühlte diese Antwort so sehr als Kränkung, daß sie es tief unter ihrer Würde fand, weiter mit That und Wort nach Grete's literarischem Umgang zu forschen.

125 Vor ihrem Stolze mußte selbst die Neugierde schweigen, und nur zuweilen, wenn sie, wie heute Abends, wieder Margueriten bis zur Geistesabwesenheit sich in ihre Buchstabenwelt verlieren sah, dachte sie:

– Das müssen doch sonderbare Schriften sein, die Dich gar so anziehen.

Und damit hatte sie schon recht gerathen. Marguerite wollte nämlich dem »chic« auch theoretisch beikommen und ihn, so weit dies möglich, auch aus seinen literarischen Quellen schöpfen, wobei sie auf allerhand sonderbare Abwege kam.

Ein Wort Onkel Tam-Tam's, welches derselbe in enthusiastischem Eifer über irgend eine neuere Publication verloren, hatte auch hier wieder den Anstoß gegeben.

Marguerite getraute sich nicht das in Rede gestandene Buch zu verlangen, und verfiel eines Tages auf die Idee, dasselbe in Klopffechter's Bibliothek zu suchen. Fand sies nun auch nicht, so fand sie anderes, was vielleicht noch einschmeichelnder war, und kam von einem Buch aufs hundertste. Sie standen ohnehin zumeist in einem stillen Winkel beisammen, die ihr einleuchten wollten. Samuel's Sammlung war – was weiß ich aus welchem Grunde – in einzelnen Specialitäten recht reich bedacht, und es gehörte der plötzliche Feuereifer der jungen Gouvernante dazu, um in verhältnißmäßig so kurzer Zeit nahezu mit dem ganzen Kehricht aufzuräumen.

Sie triebs auch danach. Wie heute: Kaum war Herr Klopffechter seinen Gästen nachgegangen und die beiden Mädchen fanden sich allein, so zog sie auch schon ein Büchelchen aus der Tasche und las da weiter, wo sie kurz vordem zu lesen aufgehört hatte. Diesmal wars ein gar kleines, zierliches, appetitlich ausschauendes Bändchen, was sie so gierig unter das Stumpfnäschen gebracht und nun so fest zwischen sich und die übrige lebendige Welt hielt.

Es war zuweilen, als ob sie aus den weißen Blättern ein rosenrother Widerschein anhauchte; zuweilen machte sie die Lider weit auf, wie wenn sie noch mehr sehen wollte, als in den Zeilen stand; dann und wann schürzte sie auch das Mäulchen, wie unbefriedigt und als hätte sie ganz was anderes erwartet.

Marie, die, je tiefer der Tag zur Neige ging, umso heftiger mit ihren Wünschen und ihren Grundsätzen kämpfte, sah nun mit gespannter Aufmerksamkeit ihrer Pflegerin zu und beobachtete die ganze Gestalt und all ihr Wesen mit einer Gründlichkeit, als hätte sie sie nachher aus dem Gedächtniß malen sollen.

Es hats gewiß schon Mancher an sich selbst erfahren, daß wir Menschen gerade in Momenten, wo alle unsere Seelenkräfte unter einem gewaltigen Eindruck dulden oder mit einer hochwichtigen Lebensfrage sich befassen, plötzlich eine minutiöse genaue Betrachtung an einem Gegenstande exerciren, 126 der mit jener Frage augenscheinlich in gar keinem Zusammenhang steht, und erst nach dieser Erholungstour unseres Geistes mit verstärkter Gewalt aufs frühere Thema fallen.

So widerfuhrs Marien. Ihr gings mit einemmale auf, wie fremd ihr die Freundin ihrer Kindheit seit Kurzem geworden; zwischen heut und den Tagen hingebenden Vertrauens schienen Jahre zu liegen.

Ja, war denn das das Gesicht Margarethens? Sah sie wirklich gerade so aus?

Marie schüttelte unwillkürlich das Haupt.

Wie lange hatte sie sie denn nicht gesehen?

Ein Gefühl der Unmuth, ja von Abscheu überkam sie, daß sie fühlte, sie müßte diesem peinlichen tête-à-tête ein Ende machen. Sie sah empor. Von der Dunkelheit hob sich eine frühgeborene Motte ab, die kreiselnd, wie trunken, ihre Flüge um die schimmernde Milchkugel der Lampe verwirrte.

Marie hob die beiden Hände und klatsch!

Mit einem Blick irrer Hast sammelte die erschreckte Leserin ihre jäh auseinander gescheuchten Gedanken. Sie schien ihren Zögling nicht allsogleich zu erkennen.

Dann schlug sie unwillig das Büchlein zu und fragte streng und barsch:

– Was fällt Ihnen denn ein, mein Fräulein?

Die Angeredete warf die erlöste Motte aus der flachen Hand auf den Deckel des Buchs und sagte dann:

– Ich dächte, es ist spät; wenn wir schlafen gingen.

– Jeder für sich! antwortete Marguerite unfreundlich und als rede sie nicht zu Marien, die laut und in anderem Sinn den Spruch ergänzte:

– Jeder für sich und Gott für Alle!

Sie standen auf und Jede schritt nach ihrer Kammer, und Jede mußte sich überwinden, der Anderen eine Gute Nacht zu wünschen. Sie haßten sich wahrlich und wußten es erst seit heute Nacht.

In der Enge ihres Stübchens fand Marie die Welt ihrer Sorgen wieder. Wie vom plötzlichen Anprall überwältigt, fiel sie auf die Knie nieder, drückte die Hände vors Gesicht und betete.

– Was soll ich thun, was soll ich lassen? riefs ab und auf in ihrer Seele.

Dann dachte sie wieder nichts als an ihn und ward ruhiger und klammerte sich an einen Entschluß, der ihr denn doch verbrecherisch erschien. Sie erhob sich endlich und zündete Licht an.

Das Erste, was unter dem Strahl der Kerze ihr ins Auge fiel, war ein kleines Bildniß ihrer Mutter. Sie erschrak, sie nahms von der Wand und bedeckte es mit Küssen. Wenn sie nur hätte weinen können! Aber 127 es schauderte sie blos und die sonst allezeit so nahen Thränen wollten nicht kommen.

– Fassung! sagte sie zu sich selbst und ihre Finger griffen stark ineinander. Nur Fassung und andere Gedanken!

Andere Gedanken! Wo die herkriegen?

Es schlug Elf.

Die Uhr im Salon war bis herüber vernehmlich.

Marie setzte sich auf das Bett. Wie die Stunde verbringen? Nur nicht einschlafen! Lesen?

Sie hatte heute bei einem Besuche in der Bibliothek ein Buch auf der Erde liegen gefunden. Das war sicherlich eines von der Auswahl Margarethens; die Vorsichtige hatte denn doch einmal eine Spur verloren, und Marie, welcher lange nicht mehr drum zu thun, war zufälligerweise auf die Spur gekommen. Sie hatte noch nicht einmal den Titel gelesen, das Buch eben aufgehoben, weils ihr im Wege gelegen und, in anderen Gedanken verloren, es unter dem Arm behalten, ohne just nach seinem Inhalte Verlangen zu tragen.

Nun fiels ihr wieder zu Sinn und sie griff danach. Andere Gedanken wollte sie haben, und auf andere Gedanken wird sie das Buch wol bringen.

Schon das Titelblatt sah drollig aus. Am Papier und Druck mochte man leicht erkennen, daß es noch nicht viel Jahre zählen konnte. Aber war es Abdruck eines alten Buches oder wollte es nur so dergleichen thun, als wäre dem so, Namen und Ziffern waren breit und verschnörkelt, schwarz und roth und blau und angeführt von langschwänzigen Initialen.

Sie lächelte und las:

»Sonderbare Geschichten.

Neugierigen Jungherren und gewitzigten Ehemännern
zu Warnung, Trost und Auferbauung aus eigener Erfahrung mitgetheilt

von

Jobst Seelenangst,
Icto, Magistro der freien Künste &c. &c.«

Marie sah unwillkürlich hinter sich, dann nach der Uhr, dann ins Licht; ließ die Seiten über den Daumen springen und fing nach langem Bedenken mitten in dem Buch zu halten an.

»Sehend blind«

war die Geschichte überschrieben und wer da mag, kann auch mitlesen. Also!

128 »Bist Du, großherziger Freund Leser, schon einmal mitten in der Nacht allein über Feld gegangen? Gewiß! Warst etwa zu einem lieben Jugendcumpan geladen, der da drüben, eine halbe Meile weit von dem Deinen, sein Gehöfte stehen hat. 's ist nicht die Mühe werth, den Gaul drum einzuspannen auf die Heimfahrt. Hast vielleicht auch keinen oder ist die liebe Frau mit auf Besuche gefahren.

»Nach gutem Wort und besserem Trunk machst Du Dich eben auf den Schustersrappen fort und trollst guter Dinge so dahin, rechter Hand dichte Weingärten, den Hügel abwärts fallend, linker Hand ein weites, weites Feld, dahinter Gebirg und Wald und oben drüber die Mondsichel, fahl und schief.

»Auf einmal hörst Du was. Möchtest drauf schwören, daß es feste Mannstritte sind, dahinter die Schollen ein Stück weit über Wegs kollern. Du siehst ins Feld hinein und siehst nichts. Aber Du hörsts doch. Du bist ein hartgesottener Geselle, der mit Furcht nichts zu handeln hat, aber Du gretschest Dich doch in den Beinen fest, wirfst die rechte Schulter zurück und fassest fest an Deinen Stecken, um sofort dreinzuschlagen, wenns noththun soll. Aber Du siehst nichts, Du hörst auch nichts mehr und gehst Deines Weges weiter.

»Mit solch einer fliegenden Empfindung auf dem Feldweg ist die seltsame Empfindung zu vergleichen, die mich inmitten auf dem Wege meines Lebens anflog. Dauerte freilich länger und ging tiefer.

»Dich aber, Freund Leser, brauchts dabei nicht zu gruseln. Horch nur fein auf.

»Ich war noch ein gar hurtiger Gesell, als ich, wie im vorigen Capitel vermeldet worden, in den heiligen Ehestand trat; groß Leiden hatte mich nimmer noch angefochten und meine Mitmenschen, bildete ich mir ein, würdens auch wol unterlassen, denn ich verstands, mich zu wehren mit Fäusten und in Zungen; Unrecht that ich nirgend und Andere leben lassend, lebt' ich selber lustig, aber ehrbar.

»Lämmchen, mein Weib, war wunderschön und lachte den ganzen Tag,. der Himmel war voll Geigen und die Welt, wie man zu sagen pflegt, voll Wirthshäuser.

»Letzteres aber übersah ich damals geflissentlich, denn ich lebte musterhaft auf Herrentrost, was mir, wie Du, mein fähiger Freund Leser nicht vergessen haben wirst, Cumpan Sebaldus mit allem seinem sonstigen Hab und Gut unerwarteter Weise verschrieben, ehe er sich anschickte, den Sprung kopfüber in die andere Welt zu machen.

»Kann Dir nur wünschen, daß Dir auch einmal so unbändig selig zu Muth werde, wie mir damals, nicht aber so, wie nun folgt.

129 »Waren etwa in der dritten Honigwoche, spät in der Nacht und lachten noch und küßten uns, da fielen meiner Frau die Augen zu und sie sagte:

»– Laß gut sein, Jadoce – sie nannte mich niemalen Jobst, wie Du weißt – und machs Licht aus.

»– Ja, sagte ich und setzte mich aufrecht, behielt sie aber noch bei der Hand, da ich die Backen auftrieb, um über den Docht zu blasen.

»Stockfinster wirds im Gelaß, ich sehe nichts als Schwarz in Schwarz keine Spur von einer Form mehr zu unterscheiden, auch das Nächste nicht. Ich lege mich zurück und strecke die Hand aus, finde aber nichts und fühle nichts.

»– Das ist doch seltsam! dachte ich, brachts aber mit dem Denken nicht weiter, denn ich war todtmüde und schlief ein.

»Hätt' wol auch gänzlich auf die Geschichte vergessen, wäre nicht etliche Wochen später ein Ereigniß eingetroffen, was mir aufs Unliebsamste jene Nacht ins Gedächtniß zurückrief.

»Es war Anfang des Sommers, da redete mir meine Frau eines Nachmittags zu, ich sollte sie über Land fahren. That ihr gerne den Willen. In der Bergmühle – wie's die Leute heißen – nahmen wir einen kleinen Imbiß; daselbst ließ ich die Pferde ausspannen und wandelte, mit Lämmchen plaudernd und schäkernd, dem Gebirge zu. Ich war, obschon ein Vierteljahr verheiratet, in meine Frau verliebt wie ein ganzer Narr, und Lämmchen ihrerseits wußte auch so schön zu schwatzen und zu scherzen, daß die Viertelstunden verliefen, ich weiß nicht wie, und wir immer tiefer waldeinwärts geriethen.

»Wir schenkten uns die Blumen, die am Wege blühten; wir warfen uns mit den kleinen borstigen Tannenzapfen, die ab und zu von den hohen Bäumen fielen; wir flohen und haschten uns wie Kinder und trieben so weiter allerhand verliebte Possen.

»Es war eine Gegend, von der man so recht sagen durfte, daß man den Wald vor lauter Bäumen nicht sähe. Hochstämmiges, langstieliges Nadelholz, ein Baum am anderen, nur ganz oben dicke, grüne Büschel gen Himmel reckend, der riesige Stamm kahl und theilweise rindenbar, unten so weit von der Erde, als Menschenhände reichen mögen, mit querlaufenden Einschnitten versehen, die als kleine Canäle in eine zu Fuß des Baumes ausgehöhlte halbkreisförmige Vertiefung das Harz abtropfen ließen, welches in der Sonne blinkte wie flüssiges Silber und selbst die Mücken, welche drin festgefangen lagen, glänzend erscheinen ließ.

»Das Unterholz war sehr dicht und Gestrüpp und Gesträuch griff oft über den Weg herein.

»Insbesondere war es eine Staude, die oft wiederkehrend mir auffiel; ihre Blätter waren meist zu zweien oder dreien mit einander verknotet und 130 trugen dazwischen runde Auswüchse, purpurfarbene, wie Beeren oder besser wie Blutstropfen anzusehen.

»Der Weg unter unseren Füßen war weicher als ein persischer Teppich, denn das Laub vom vergangenen Jahre lag da so dicht, daß man mit der Schuhspitze kaum auf den Grund zu wühlen vermochte. Ueber dies welke Braun und Grau schlängelten sich glitzernde gelbliche Eidechsen, die unser Wandel aufgescheucht; wir wichen einem gravitätischen Hirschkäfer aus und unterhielten uns lange Zeit mit einer großen Schnecke, die, ohne sich in ihr Haus zurückzuziehen, die schwarzen Pünktchen in ihren Fühlhörnern gegen uns aufreckte, als könnte sie uns damit schauen oder hören. Am meisten freuten uns die absonderlichen winzigen Schmetterlinge, die vor uns hin- und hergaukelten; sie waren grüner als das Gras, so daß sie aussahen wie kleine Blätter, welche im Winde flatterten.

»Ich sage Dir das Alles, Freund Leser, auf daß Du merkest, daß ich an dem Tage nichts im Auge hatte, was mir die Sehkraft verdorben –«
 

Marie wollte nach dem Uehrchen schauen; ihre Blicke fielen aber zuerst auf das kleine Bild ihrer Mutter und kehrten sofort wieder ins Buch zurück.
 

»Auf einmal fängt Dir Lämmchen an, unbändig zu lachen. und da ich mich nach dem Grund umsehe, weist sie mit dem Finger gen Himmel, wo unverhofft und dräuend eine finstere Wetterwolke über die fern über unseren Häuptern ragenden Nadelbüschel heraufkriecht.

»Mir ist schon damals der Gedanke durch den Kopf gefahren, ob denn meine Frau auch das Wetter verhexen konnte, aber so ein Gedanke hatte in meinem verdrehten Gehirn damalen noch keine Haft.

»Stundenweit schon von der Mühle entfernt, meinten wir, daß wir vorwärts gehend wol eher unter Dach kommen möchten, als rückwärts. Und so wars auch.

»Noch ehe das eiligst fahrende Gewölk den letzten blauen Himmelswinkel hinter die Berge gedrängt, kamen wir zu einem Hause.

»Das Dach desselben reichte auf der einen Seite bis an die Straße herab, in die es sich gleichsam einbohrte. Aus diesem schrägabfallenden Dache stieg seitwärts ein langmächtiger Rauchfang empor, der an der Spitze vier grinsende Köpfe trug, aus deren geschwärzten Mäulern in Ermanglung einer anderen Oeffnung ein dünner Rauch hervorquoll wie lebendiger, in Kälte sichtbarer Athem.

»Die Larven ließen die vom rauhen Künstler beabsichtigten Charaktere auf den ersten Blick erkennen: sie zeigten ein Weib, einen Zigeuner, einen Hausirer und einen Pfaffen. Das Gesicht des Letzteren war durch Gewalt 131 verunziert und zerschlagen, doch war, was er vorstellen sollte, an den beiden Lappen kenntlich, welche unter dem doppelten Kinn hervorstachen.

»Auf der anderen Seite war in den Felsen ein runder geräumiger Hof gehauen, darinnen Mühl- und Brunnensteine, etliche einfache Grabkreuze und Meilenzeiger auf die Beschäftigung des Bewohners zu schließen gestatteten.

»Dennoch fanden wir das Häuschen leer, und trotz des Rufens kam Niemand. Es bestand aus einer Kammer und der Küche. Die Küche erhielt ihr Licht nur durch die offene Thüre, Fenster hatte sie keins und das Zimmer nur eines.

»Nun fing es an, schwere Tropfen zu regnen, und der Sturm blies in das Felsloch so jach und gewaltsam herein, daß wir Mühe hatten, die Thüre zu schließen.

»Diese zu, ging aber das Feuer auf dem Herd aus und keine Mühe half, aus dem dicken Rauch ein Flämmchen zu blasen. Meine Frau lachte bei alledem ärger als vorher und ich war froh, daß sie heiterer Laune geblieben, that auch das Meinige, sie dabei zu erhalten.

»So machten wir selbander gute Miene zum bösen Spiel und setzten uns schließlich ans Fenster und sahen hinauf, ob über Fels und Wald noch etwas vom Himmel zu erblicken wäre. Die Wolken rauchten, qualmten und quollen übereinander, eine düsterer als die andere, und in der Stube ward es so rabendunkel, wie wenn Mitternacht vorbei. Nur das weiße Kleid und die weißen Arme Lämmchen's stachen aus der Finsterniß. Und auf einmal auch diese nicht mehr.

»Da kam mir plötzlich zu Sinne, was ich damals vor dem Einschlafen gedacht, und ich streckte wieder die Hand aus, um mein Lämmchen an mich zu ziehen.

»Ich kann nichts greifen und taste immer ins Leere.

»– Lämmchen, sage ich, komm hieher! Lämmchen, wo steckst Du?

»Keine Antwort.

»Ich fange an zu rufen, ich schreie, und zu wiederholtenmalen, daß mir der Hals brennt, aber ich höre nichts und Lämmchen kommt nicht, und mir ist, als würde die Finsterniß immer dichter und drohte, mich zu ersticken.

»Da mit einemmale blitzt es so heftig, so andauernd, daß man hätte während der Helle auf dreizehn zählen können. Die Stub' und Alles, was darinnen, der Hof mit seinen Steinen und Geräthen ist wie mit bläulichem Licht übergossen und dicht vor mir auf meinem Schoße sitzt mein Weib in bläulich weißem Gewand und sie schüttelt das Haar in den Nacken, wie sie gern thut, und dazu lacht sie laut, sagt:

– Jobst, Jobst! ei der tausend! gibt mir einen Schmatz und, wie 132 Du die Hand umdrehst, wirds wieder schwarz ringsum, ich höre noch, wie der Donner im Gebirge verläuft, und Alles verschwindet. –«

 

Die Uhr in Klopffechter's Salon pflegte nur die Stunden zu schlagen, aber etwa fünf Minuten früher schon sprang der Hammer so vernehmlich ein, daß man es in der Stille des ruhenden Hauses bis herüber in Mariens Gemach hören konnte.

Es war also gleich Zwölf.

Das Mädchen trat auf die Füße, löschte das Licht und huschte zur Thür hinaus.

Sie mußte ein paarmal unterwegs stille halten; ihr Herz klopfte so sehr und in ihrem Haupte drehten sich die Gedanken und riefen wirr zusammen:

– Geh' nicht! Kehr' um!

Das Kleid schien ihr so schwer am Leib zu hängen, daß sie nur mühsam die Falten weiterschleppen konnte. Das Bild der Mutter, welches sie im Strahl der Kerze nicht zu betrachten getraut hatte, nun in der Dunkelheit sah sie's klar vor sich. Was würde die Mutter dazu sagen, wenn sie noch lebte und darum wüßte?

Ach, wenn sie nur lebte, dann!

Aber gerade dort den Geliebten finden, wo dicht daneben sie die Mutter lebend zum letztenmal gesehen. Sie schien im goldenen Armstuhl zu schlafen gegenüber dem Bilde der römischen Campagna. Es war der ewige Schlaf und ihre Augen sahen nimmer Irdisches mehr, auch nicht was sie gern gesehen und am liebsten.

Marie legte die rechte Hand auf die Thürklinke, die linke auf die pochende Stirn, noch immer rathlos und in unsagbarer Qual. War ihr doch, als hörte sie ihn rufen, verlangend, wie ins Lebensgefahr nach ihr schreien; es zog sie von beiden Seiten, ach, so gewaltsam, so heftig!

Die Uhr im Salon schlug Mitternacht. Deutlich, wenn auch nicht so laut wie auf ihrer Kammer, vernahm mans hier. Marie zählte die zwölf sanften Silberschläge.

Nun wars zu spät!

Rasch öffnete sie die Thüre des Galeriezimmers, welches man durchschreiten mußte, um zur Bibliothek zu gelangen. Sie stieß sich selbst gewaltsam über die Schwelle. Zwei Schritte ins Zimmer. Dann hielt sie inne. Ein erstickter Schrei rang sich von ihren Lippen:

– Mama!

Sie streckte die zitternden Hände wie abwehrend nach dem weißen Gewande, welches in langen Falten über den goldenen Dogenstuhl herabfloß, von dessen hoher Lehne sich nun das schlummernde Haupt erhob.

133 Marie schwankte.

– Ich geh', ich geh! lispelte sie flehentlich, abwehrend, und lief den langen Gang hinab nach ihrem Zimmer.

Halbwegs kam etwas gegen sie heran. Es drückte sich schmiegsam zur Seite, aber es sprach und flüsterte:

– Kommst Du?

– Nie! hauchte Marie und war vorüber und das Schloß sprang zweimal vor den Schlüssel.

– Nie? sagte Fortunato zu sich selber. Wer weiß? Vielleicht doch. Ich habe sie wol gar warten lassen. Daran ist der verdammte Tölpel von Justin schuld, der in der entscheidenden Minute Gewissensbisse bekam, welche noch rasch mit Geld und Maulschellen zu beschwichtigen waren. Na, jedenfalls vorwärts! Sie war da, sie wollte mich finden, sie wird wiederkommen. Zweite Thüre links, dann rechts quer durch den Saal, die einzige Thüre, wiederholte der Schleichende und tastete sich weiter. Die Thüre offen! Sollte sie durch Anderes verscheucht worden sein? Halt, Fortunato, das könnte schlimm gerathen. Doch der Hausherr findet Dich auf dem Gange. Hinein also!

 

Als Margarethe, zürnend über das unfreundliche Stören ihrer Lectüre, vom Theetisch aufgestanden war, hatte sie bei sich geschworen, erst recht noch heute das Buch bis zum Ende zu lesen.

Als sie dann diesen Schwur erfüllt, wars spät in der Nacht; ihr Lämpchen brannte schon trübe, aber sie war so aufgeregt, daß an Schlaf nicht zu denken. Sie ging mit langsamen Schritten in ihrer Stube auf und nieder und fühlte zuweilen mit den Fingern nach den Wangen, die wie von jungem Weine glühten. Sie hätte am liebsten noch weiter gelesen, aber das Buch war nun einmal zu Ende. Sollte sie jetzt noch ein neues beginnen? Aber zum wenigsten sehen, was sie sich sonst noch aus der Bibliothek herübergeschmuggelt.

Sie blätterte die Bücher durch; ihr fehlte eines. Und sie wußte doch sicher, daß sie die »Sonderbaren Geschichten des alten Magister Jobst Seelenangst« aus dem Fache genommen. Sollte sie dieselben vergessen haben? Das wäre schade, denn leicht käme ein Anderer drüber, der langsamer liest und kein Buch zu Ende bringt.

Sie dachte schon daran, hinüberzugehen und nachzusehen, ließ aber den Gedanken rasch fallen. Sie fürchtete sich..

Wieder wandelte sie im Zimmer auf und ab.

Was hatte denn der dumme Justin, der sie sonst doch nie mit seiner kammerdienerlichen Herablassung belästigte, heute an sie hinzuflüstern gehabt? 134

– Fein nicht vergessen, Fräulein, hatte er süßlich schmunzelnd gelispelt, als sie nach Tisch ihm die Kaffeetassen auf das silberne Brett gestellt, Sie wissen doch, die Thüre rechts im Galeriezimmer.

Diese Thüre rechter Hand – das war ja die Thüre, welche zur Bibliothek führte. Sollte Justin das Buch gefunden haben und sich unterstehen, unziemlich darauf anzuspielen? Und wenn nicht, was sonst, was sollte sie nicht vergessen? Hatte Justin nicht, als sie ihm stolz den Rücken gekehrt, noch leiser hinzugefügt: »Er wird in jedem Falle kommen.«

Wer? Er?

– Er! wiederholte Marguerite und seufzte, setzte sich in einen Stuhl und hing ihren liebsten Träumereien nach, stützte das heiße Haupt in die kühle Hand und schlief ein.

Aber das währte nur einen Moment.

– Ich will noch nicht schlafen, sagte sie zornig, sprang auf und ging raschen Schrittes zur Thüre hinaus, als wollte sie der Schlafsucht, die im Zimmer blieb, entlaufen, oder als wäre ihr der Entschluß eben im kurzen Schlummer geworden.

Wie still das Haus lag und doch wie heimlich! Sie hatte gute Tage verlebt bei den Klopffechters, und nun kams über sie wie ein aristokratisches Gefühl der Zusammengehörigkeit. Sie verglich das Leben in der Heimat und schüttelte das Haupt; nur in Paris kann man leben! Aber so wie ihrs Curt vorschlug in einem kleinen Geschäft in der jenseitigen Stadt? Sie war dazu nicht erzogen.

Lächelnd grüßte sie Wände und Tapeten und die zierlichen Metallknöpfe an den Klinken, die aus der Düsterheit des Ganges schimmerten, als gehörte das Alles ihr oder wäre nur das Muster einer zu wählenden Häuslichkeit. Ein oft gehegtes Bild schmeichelte sich wieder in ihre Seele.

In der Galerie waren die Fensterladen offen geblieben und von der Straße her fielen fahle Lichtstreifen über einzelne Bilder. In der Bibliothek aber war es stockfinster. Sie war noch nie des Nachts hier herüber gewesen – ja doch einmal! Hatte ja sogar im Bibliothekzimmer schon einmal geschlafen, damals als Monsieur Klopffechter den ersten Ball in dieser Saison gegeben. Das waren zu liebe vertraute Wände und sanfte Erinnerungen jener Zeit bliesen jeden Schatten von Furcht aus ihrem erheiterten Herzen.

Sie betastete das Brett hin und her, darauf sie sich heute die Bücher zusammengestellt. Es war nichts darauf zu finden, aber mit dem Fuße stieß sie auf einen flachen Gegenstand. Es war ein Buch; aber hatten die »Sonderbaren Geschichten« nicht zwei Bände? Wo war der Andere? Na, jetzt ist doch eigentlich nicht Suchens Zeit. Auch waren ihre Gedanken anderswo als bei den Büchern hier im Finstern. Sie waren draußen vor der Schwelle im Galeriezimmer, wo sie ihn zum erstenmal gesehen. Im Lehnstuhl war er 135 gesessen vor dem Bilde der Campagna, er selbst ein Bild männlichen Behagens und sonniger Kraft.

Sie ging hinaus und kniete sich nieder vor dem Stuhl und dachte, wie's wäre, wenn sie hier so zu seinen Füßen säße und ihm zuhorchte, wie er erzählte von fernen Fahrten und glücklich bestandenen Abenteuern; wie er ihr schwüre und plauderte und scherzte.

– Er muß gar lieblich plaudern können! dachte Margarethe.

Und dann dachte sie, wie's aber wäre, wenn er gar zu ihren Füßen läge und sie säße auf dem Stuhl und ließe sich die Hände küssen. So setzte nun sie sich auf den Stuhl und ließ die Hände hängen und küßte die leere Luft. Sie meinte, das Herz müßte ihr springen und sie hätte sich ihr Lebtag nimmer so nach einem Menschen gesehnt wie jetzt. Sie seufzte tief auf und legte das Haupt zurück auf die alte goldene Lehne des Dogenstuhls und sah empor an die Decke, wo der zitternde schmale Schein, den eine Gaslaterne von der Straße heraufsendete, zwischen zwei breiten Goldrahmen Versteckens spielte.

Auf und ab wie der wechselnde Schein gingen die Lider ihrer Augen; ein fahrender Schlummer, der durchs Schlüsselloch geflogen in der Luft kreiste, machte auf den unstäten Wimpern Rast. Er drückte sie zu, aber er drückte sie nicht schwer, ganz leise nur und flüchtig.

Es war Margueriten, als hätte sie Jemand beim Namen gerufen; sie schüttelte den Schlummer ab und horchte. Die Ohren klangen ihr wol, aber sie hörte noch nichts – oder ja doch? Nein. Es war die Zugluft, die durch die offen gelassene Thüre blies. Hatte sie doch gemeint, sie hätte sie beim Eintreten gleich wieder zugemacht.

Nun wars Schlafenszeit. Aber hier saß und träumte sichs so gut! Ach ja! –

 

Als Fortunato in die Thüre trat, sah er noch einmal zurück in die Finsterniß des langen Ganges, aus welcher in gestaltloser Tiefe ein glühend Pünktchen wie ein Leuchtwurm das Schlüsselloch von Mariens Thüre bezeichnete.

– Sie kommt, sie muß kommen, dachte Fortunato und ballte die Fäuste vor Ungeduld.

Er rief tonlos, aber aus heftig verlangendem Herzen nach ihr.

Das kleine Pünktchen verschwand.

Noch starrte Fortunato ins Finstere, das licht- und hoffnungslos ihn jetzt angähnte.

– Ach, das ist kindisch – kommen und verschwinden! Warum das? Also nicht die heilige Scheu der Jungfrau, blos die läppische Angst des Kindes . . . dachte der Enttäuschte, biß sich in die Unterlippe und wendete sich endlich um. –

136 Sprachloser Schreck, Mißtrauen gegen die eigenen Augen, Erkennen, Fassen, Furcht und Freude verdrängten einander aus Margarethens Seele; die Freude blieb und auch die Furcht, und von beiden gebannt saß sie reglos, athemlos auf dem goldenen Stuhle und heftete die Augen auf den geliebten Mann, der so vorsichtig hinter sich schaute, ob kein Unberufener seine behutsamen Schritte verfolge und sie Beide störe. Sie Beide – das also wars, warum Justin geflüstert!

Nun trafen sich ihre Blicke.

Fortunato eilte hastig auf das Mädchen zu und faßte sie fest bei der Hand.

– Sprechen Sie, Marguerite, ich bitte Sie, sagte er leise.

Sie sah ihn an, sie konnte nicht sprechen; ihre Lippen öffneten sich nicht.

Er drang bittenden, fast unwilligen Tones weiter:

– Sie haben einen Auftrag, ich weiß; Sie sollen mir sagen, daß . . . o was weiß ich! Sprechen Sie nur, wenns auch trostlos klingt, ich bin auf Alles gefaßt.

Gretchen antwortete nicht; sie drückte nur die Hand fester, welche in der ihren lag, und schaute mit großen Augen auf das in höchster Erregung zitternde Angesicht des Liebsten.

– Ist es denn möglich, mußte sie denken, das zage Mädchen entschließt sich zum Ungeheuren, aber einmal entschlossen, bringt sie lügelos und bewußt das Opfer; der starke, sichere, rücksichtledige Mann, er kommt mir mit verlegenen Redensarten entgegen, statt mich ans Herz zu pressen und zu sagen: So habe ich Dich endlich!

– Fortunato! sprach sie leise.

Aber es war ein Ruf aus tiefster Seele und es überschauerte den zürnenden Mann, der ihn vernahm, wie Gruß und Mahnung einer andern, nie geahnten Welt. Seine Gedanken, die wie aufgescheuchte Vögel in alle Winde geflattert, sie kamen heim auf diesen Ruf. Schauen, Ahnen und Begreifen. Ein Zucken mit der Wimper und tausend Räthsel lösten sich und wie Schuppen fiels ihm von den Augen.

– Marguerite, sagte er, vergeben Sie mir!

Er sank vor der Zitternden auf die Knie und barg das Haupt, das jene nun in glückseligem Mißverständniß in ihren Händen hielt und mit eiligen Lippen Küsse drückte auf das krause dunkle Haar.

Er sprang auf, er sah sie an.

Noch glänzte es wie Staunen aus seinen Blicken und schon preßten sie Mund an Mund.

137 Aber als ob mit diesem Siegel der Liebe auch das Bewußtsein der Gefahr erbrochen wäre, entrang sich Marguerite aus seinen Armen und stieß ihn weit von sich und floh . . . um den Stuhl in die Ecke und dann in die Nische des Fensters und drückte die glühende Stirn an die feuchten Scheiben.

Sie schauderte vor dem Licht zurück, welches die Straßenlaterne durch die Scheiben heraufschickte, und sie wendete sich um nach Fortunato, der ihr nicht gefolgt, da sie vor ihm geflohen war.

Er stand noch vor dem Lehnstuhl. Er kreuzte die Arme über der Brust und verwendete den Blick nicht von ihr, als ob er sie festbannen wollte durch magische Gewalt und seine feinen Lippen lächelten. Während alle Pulse an ihm tobten, hielt er Zwiesprach mit seiner Ueberlegung, nahm sich zusammen und lauerte schweigend.

Da lächelte auch sie. Sie erkannte den erwachten Dämon wohl, der aus diesem Blick, aus diesem Lächeln sie dräuend begrüßte. Ein kurzes spöttisches und doch noch ängstliches Kichern antwortete ihm, und mit einem Griff und Satz war sie in der Thüre zur Bibliothek, welche sie mit allem Kraftaufwand, beide Hände an der Klinke, die Füße gegen die Schwelle gestemmt, gegen sich zuhielt.

Fortunato stützte den linken Arm mit der flachen Hand auf den festgeriegelten Thürflügel, preßte in die andere Faust die Klinke des Flügels zu seiner Rechten und versuchte sanft und allmälig diesen gegen sich zu ziehen. Also in zähem Schwanken zwischen ihrer Kraft und seiner, seinem Eigensinn und dem ihren, ging das Brett auf und zu, immer näher zu dem lächelnden Corsen neigend, der mit dem Widerpart nur zu spielen schien. Die Thüre war solche Behandlung nicht gewohnt; ein leises Aechzen tönte aus den Angeln, ein trockenes Krachen kaum aus den Fugen.

– Um Gottes Willen, machen Sie keinen solchen Lärm! wisperte Marguerite.

– Den Lärm machen ja Sie, mein Fräulein, antwortete flüsternd Fortunato.

– Wenn man uns hört!

– Drum lassen Sie uns dahinein flüchten, da ist es so stille!

– Und so finster! Nein, mein Herr.

– Wir lassen die Thüre offen, dann ist es licht genug.

– Nein, mein Herr, wir machen die Thüre fest zu. Gute Nacht!

Wieder ging die Thüre hin und her zwischen Beiden; nun aber stießen die geplagten Angeln lauter als zuvor ein grell durch die Stille jammerndes Aechzen aus, daß Margarethe erschreckt zusammenzuckte und Fortunato selber sich besorgt umsah, ob der Laut nicht Jemanden im Hause geweckt. Nun erst fiel es ihm ein, die Thüre, welche vom Galeriezimmer auf den Gang führte, zu schließen und zu verriegeln.

138 Als er zurückkam, fand er auch die Thüre zur Bibliothek geschlossen. Geschlossen wol, aber nicht verschlossen; der Riegel war auf seiner Seite.

Er trat ein und machte hinter sich zu und tastete langsam an den Schränken entlang, nach allen Seiten vorsichtig in die Finsterniß hinausgreifend.

Trotzdem stieß er mit dem Knie an eine vorspringende Kante, daß ihm kaum hörbar und mehr aus Ueberraschung denn aus Schmerz ein »Ah!« entfuhr.

Ein schadenfrohes Kichern antwortete. Grausam klang es zu ihm herüber, aber auch verrätherisch.

Die krausgeschnitzten Schränke bildeten ein paar Nischen, so rechte Schmoll- und Lesewinkel, an denen, mit der Oertlichkeit keineswegs vertraut, der Suchende bisher immer vorbeigetastet. Nun hatte das Kichern ihn den Schlupfwinkel finden lassen, und das Mädchen kicherte heftig weiter, als er es ergriff, und als er es an sich zog, jammerte es nur:

– Ach, meine armen Handgelenke, Sie haben mir an der vorlauten Thüre dort so bitterlich weh gethan!

– Lassen Sie michs büßen!

– Schöne Buße! sagte sie, sich vor seinen Küssen sträubend.

Da fiel von einem Schrank herab ein leichtes, trockenes, staubiges Ding in die Nische, erst auf Fortunato's Haupt, dann vor Gretchen's Brust und dann erst zwischen den Beiden, die überrascht auseinanderwichen, auf den Fußteppich.

– Was ist das? fragte der Mann und bückte sich, den Gegenstand aufzuheben.

– Sehen wir einmal zu, sagte das Mädchen, und entriegelte den einen Fensterladen hinter ihm, daß ein fahler schwacher Schimmer über Estrich und Schränke fiel und über Fortunato's Hände.

Es war das Bouquet, welches Curt an jenem ersten Ballabend im Hause Klopffechter Margarethen dargebracht. Sie hatte es vor dem Schlafengehen in jenen Winkel auf den Schrank gelegt und hatte es vergessen, und da lag es noch nach Monaten, verwelkt, verstaubt, vermorscht, ein verfärbtes Zeugniß von der Lässigkeit der Dienerschaft im Hause und von der Vergeßlichkeit eines Mädchenherzens.

– Ah, das gehört mir! sagte Marguerite, und nahm Fortunato das staubtragende Gebünde, welches einst ein Blumenstrauß gewesen, aus den Händen.

Sie dachte nicht an den, der ihrs gegeben, sie erinnerte sich in diesem Augenblicke vielleicht an nichts mehr, was vordem geschehen, sie dachte nur Fortunato zu necken.

– So, das gehört Ihnen? sagte dieser. Wenn es reden könnte, wer weiß, ob das Ding nicht widerspräche.

139 Ein Kärrner, der zu Markte fuhr, kam unter den Fenstern auf der Straße vorbei. Er pfiff sich ein Lied zum Zeitvertreib, das Lied, welches damals überall und allemal gehört wurde. Und sang er auch die Worte nicht, die bloße Melodie rief Jenen oben die Worte zu:

Ah dites-moi qui vous a donné
  Ce beau bouquet?
- Ah mais c'est mon amant!
  Quand je le vois, j'ai le coeur bien aise;
Ah mais c'est mon amant!
  Quand je le vois, j'ai le coeur content.
J'ai un pied qui remue etc.

Sie lachten alle Beide und Fortunato sagte spöttisch mit dem Haupte nickend, als hätte Marguerite mit den Worten des Liedes geantwortet:

– Ah, das ist etwas Anderes, wenn es Ihr Geliebter war, der Ihnen diesen Strauß gegeben.

– Nein, sagte das Mädchen unwillig, und warf das vertrocknete Zeug so heftig an die Erde, daß es in Stücke zerbröckelte und Kehricht war. Ich erinnere mich nicht, daß der, den ich liebe, mir jemals auch nur ein winzig Blümlein geschenkt.

Thränen traten ihr ins Auge; sie stand auf und so unwillig war sie, daß sie, was vor ihr auf dem Boden lag und ihr als Blumen dermaleinst geeignet hatte, mit zornigen Füßen trat und mit der Schuhspitze hierhin und dorthin streute und dann hinweg zum fernsten Schranke ging und grollend, schmollend in die finsteren Scheiben sah.

Fortunato, der ihr gefolgt, umarmte sie von rückwärts und küßte sie in den Nacken, wo zwischen Haupt und Hals ein winzig Löckchen als Grenze stand.

Sie aber griff nach dem Buche, das vor ihr auf dem breiteren Untertheil des Schrankes lag, und klopfte mit dem Rücken desselben so heftig auf des Mannes Finger, daß diese ihre Taille ließen und nach dem Lederband haschten.

Grete kehrte sich um und wendete und drehte sich und wich und parirte nach allen Seiten aus, sichs feierlich verbietend, daß er erfahren dürfte, was das für ein Buch wäre. Und als sie sich endlich des schneller Greifenden nicht mehr zu erwehren wußte mit den Armen, sprang sie einen Schritt zur Seite, warf das Buch rasch auf den Teppich herab und stellte sich mit beiden Füßen auf dasselbe.

Fortunato ließ sich langsam auf die Knie nieder.

– Unterstehen Sie sich nicht, weiter nach dem Buche zu trachten; ich will nicht, will nun eben einmal nicht, daß Sie es kennen.

– Ich rühre mich nicht, sagte der Corse kaltblütig und wie nachdenklich den Zeigefinger unter der Lippe krümmend und den Ellbogen auf die andere 140 Hand stützend, fuhr er, ohne die Augen zu erheben, fort: Sagen Sie mir doch gefälligst, mein Fräulein . . .

– Nichts werde ich Ihnen sagen, unterbrach ihn Marguerite mit heftiger Stimme, nichts, mein Herr, als: Stehen Sie schleunigst auf und machen Sie, daß Sie fortkommen. Ich bitte Sie um Gotteswillen!

Er aber ergänzte mit unerschütterlichem Gleichmuth seine vorige Rede.

– Ist das der Fuß, der sich bewegt (le pied qui remue)?

– Nein! rief die Zornige, aber sie mußte über die Anspielung an das unsinnige Lied doch lachen. Das ist der andere (l'autre qui ne va guère).

Dabei hatte sie den Fuß zurückgezogen, so rasch, daß sie, ohne es zu wollen, den Pantoffel verlor, der, ohne sich vom Fleck zu rühren, nach wie vor mit fürwitzigem Schnabel unter dem weißen Nachtkleide hervorguckte.

– Der andere, der nicht mehr gehen kann? sagte Fortunato mit äußerst ernsthafter Miene. So, so, das ist der andere, der unbewegliche – schau und er bewegt sich doch!

– Wollen Sie mir meinen Schuh wiedergeben?

– Eintauschen, ja, gegen einen ganz kleinen winzigen Kuß. Bitte!

– Nein, keinen Kuß! sagte Margarethe schmollend.

– Dann küsse ich den Schuh, sagte Fortunato.

Aber er konnte es nicht thun, denn Marguerite fiel ihm ungestüm um den Hals und bedeckte Stirn und Mund und Augen und Wange mit ihren Küssen.

– Warum den Schuh, Kind, das Du bist, Du mein Alles, meine Welt, mein Glück, mein Leben, mein Geliebter!

Von dem Buche war weiter nicht mehr die Rede. –

 

Du aber, großherziger Leser, ereifere Dich nicht zu rasch und laß die Steine liegen, nach denen Du greifen willst. Ich habe Dir ja nicht versprochen, Dich in »gute Gesellschaft« zu führen; ich singe nicht von Königen und Recken, ich schildere Dir nur Menschen, einfache, gewöhnliche, landläufige Menschen, Menschen, wie Du vielleicht selber einer bist – nein, nicht bist, verzeihe mir, Du bist besser; aber laß nur die Steine liegen, wirf nur Du nicht zuerst mir nach den Leuten, sondern lasse sie leben und Dir die seltsame Wahrheit sagen:

Das Werk der Verführung ist selten eines Mannes Werk, und selten bringt derselbe den Baum zu Falle, welcher zuerst die Axt an ihn gelegt. Die Meisten sündigen und wissens nicht, oder wollens doch nicht glauben, und versündigen sich dabei gegen Niemand empfindlicher, als gegen sich selbst und ihr eigen gewolltes Glück.

141 Du schüttelst das Haupt, großmüthiger Leser, und doch ist es so, wie ich Dir sage, denn glaube auf mein Wort: es gibt erstaunlich viel dumme Kerle in der Welt, besonders unter den gescheiten Leuten.

So ein vortrefflicher Mensch, der seinen trefflichen Verstand nur dazu zu haben scheint, um dumme Streiche zu machen, freut sich der Frucht am lieben Baume, und statt in Weisheit zu warten, bis sie gereift ihm in den Schoß fällt, schüttelt er das schwanke Stämmchen hin und her und zerrt und zappelt, bald sachte, bald gewaltig, bald zärtlich, bald ungestüm. Ein Nachbar oder Hausgenosse, der ihn so schütteln sieht, ist uneigennützig genug, der lieben Bewegung halber im Rütteln und Renken zu helfen. Und plautz, da fällt die goldene Frucht – aber sie fällt nicht in den Garten, sondern sie fällt hinter den Zaun auf die Straße.

Hinter dem Zaun auf der Straße ging ein lustiger Bursche daher; dem Arglosen fiel die goldene Frucht auf den Kopf, es wunderte ihn selbst. Aber er hat guten Appetit und hat gute Zähne und er läßt sich die süße Frucht wohl schmecken und geht des Weges weiter und hört es nicht einmal mehr, daß der vortreffliche Mensch, der sich so lange geplagt und so lange gefreut hat, nun auf die Hecke geklettert ist und ihm nachschreit und den Wandernden einen »Verführer« schilt.

Fortunato war nicht der Verführer, der Verführer war die große Welt und das herrliche Paris, Onkel Tam-Tam und die Lehre vom chic, Margarethe selber und mehr als Alle – Curt.

 


 

Curt saß des Nachmittags vor einem Kaffeehause nahe an dem Brunnen St. Michel und sah treuherzig zu, wie die liebe Sonne schien. Er hatte keine Ahnung, welch ein Tagelied heute dieselbe Sonne begrüßt, da sie des Morgens gekommen und da zwei Glückliche sich geschieden. Curt saß mit Huber an einem kleinen runden Tisch und plauderte mit diesem, beide Ellbogen auf die Zeitungen gestützt, gar eindringlich über das Heil der Welt und die Gebrechen der Sterblichen. Er wußte gar viel, aber lang nicht Alles, er meinte es trefflich, aber er konnte nicht überall sein – gute Seele!

Rings um die Beiden saßen bunt durcheinander Bürger, Soldaten, Officiere, Arbeiter. Die weitaus überwiegende Mehrzahl der Anwesenden waren Studenten mit »ihren Frauen«. Sie scherzten und lachten und gähnten, spielten Billard mit einander und tranken Schnäpse dazu, die Weibchen wie die Männchen, jene wol noch etwas mehr als diese.

Da geschahs, daß besonders ein Paar dieses lebenslustigen Gelichters die Aufmerksamkeit des Barons fesselte. Als es herankam quer über das 142 breite Boulevard Sebastopol, mehr tanzend als gehend, liefen ihm etliche Commilitonen bis an den Rand des Trottoirs entgegen, die Einen mit Armen und Beinen ihm entgegengesticulirend, die Anderen apathisch die Hände in den Hosentaschen haltend, das Thonpfeifchen von einem Mundwinkel in den anderen hinüberkauend.

Das Männchen, ein kleiner wanstiger Bursch von etlichen und zwanzig Jahren, hatte schon vom jenseitigen Ufer der Straße über Omnibusse und Karren weg allerlei Freudenrufe ertönen lassen. Seine dunklen Aeugelein glänzten, sein schwarzes, borstiges, kurz abgeschorenes Haar glänzte und drei röthliche Wärzchen auf und neben der knolligen Stumpfnase glänzten erst recht. Er sah sehr gutmüthig und sehr vergnügt um sich und lümmelte sich aufs allerbequemste über drei Stühle und zwei Tische mitten in die johlende Gesellschaft.

Das Weibchen that dafür umso schüchterner; es schien sich noch nicht lang in diesen Kreisen zu bewegen, und so ihm einer von den guten Leuten eine Schmeichelei zuflüsterte, so lachte es meist nach der entgegengesetzten Seite. Gewöhnlich hielt Madame die langen rothen Wimpern gesenkt; es war nicht leicht zu ermitteln, ob aus Schüchternheit oder aus Klugheit, denn die Augen, welche sie zuweilen denn doch erheben mußte, waren zwar groß und braun und sinnig, aber sie schielten – ein ganz klein wenig nur. Das Schönste war ihr Haar von goldrother Farbe, reich und kraus und wohlgepflegt. Ueber dem Haar oder vielmehr hinter demselben trug sie ein winziges blaues Hütchen, das lose saß und schief, als hätte ihrs der Wind in den Nacken geweht. Ein Seidenkleid von derselben Farbe, nur etwas dunkler, schloß knapp um Hals und Handknöchel und floß unter enger Taille in breiten Falten zu einer langen Schleppe herab.

Curt, in politische Gespräche vertieft, hatte des Willkommschreiens so wenig geachtet, als der Willkommenen. Ein Student am nächsten Tisch rief einem anderen zu:

– Da schau, Mamsell Euphrasie! Nun ists wol geendet mit der Rue de la Harpe und dem langweiligen Falten und Falzen langweiliger Journale. Nun practicirt sie das Quartier!

Da erst wendete sich der Baron um und sah und erkannte sofort das Mädchen aus dem großen Gewölbe neben der Postfiliale, seine ehemalige Nachbarin.

– Seh nur Einer den dicken Monsieur Sève an! sagte ein vorübergehender Bruder Studio.

Und ein Anderer erwiderte:

– Wie prächtig er sie ausstaffirt hat, seine Dame, nach neuester Mode wahrlich!

– Hoffentlich ruinirt sie ihn baldigst.

– Hast Du dann Aussichten etwa?

143 – Nicht mehr als alle Welt.

– Und nicht weniger.

Sie gesellten sich zu Jenen und Andere zu ihnen und es ging bald sehr vergnügt her und die Kellner hatten zu laufen.

Da kam mitten durch das geputzte schäkernde Volk ein langsamer Mann daher.

Er trug eine schmutzige Blouse, die ehemals weißer Farbe gewesen sein mochte. Die Butte auf seinem Rücken, der bunte Kehricht drin und noch deutlicher das lange spitze Spürstöckchen mit dem Haken vorne erwiesen, weß Zeichens der Mann war und daß seine Heimat das Quartier Mouffetard. Als er an Curt's Tischchen vorüberzog, meinte Huber, daß es derselbe Kerl wäre, welcher sie neulich im Théâtre du Châtelet angeplärrt hatte.

Er hielt die alte Mütze in der linken Faust zusammengepreßt; sein Haar war schon grau und grau waren die Bartstoppeln an seinem schroffen Kinn. Die Blousenärmel hatte er hinter die Ellbogen gekrämpelt; die Arme wie die Hände waren sehr mager und spielten in allen Farben seines staubigen Handwerks.

– Er ist es in der That, erwiderte der Baron, nüchtern hätte ich ihn kaum wiedererkannt.

– Wie wüthend er dreinsieht! Was hat der Lumpensammler hier zu suchen?

– Schauen Sie nur, wie er sein Stäbchen schwingt.

– Hier setzt es was ab.

Die beiden Freunde standen auf, um dem zornig Schreitenden besser nachsehen zu können.

Der bahnte sich gröblichst einen Weg durch das Gewühl und achtete auf die Verwünschungen der Gäste so wenig, als auf die Verweise der Kellnerjungen, daß er hier nichts zu schaffen hätte.

– Wol habe ich hier zu schaffen! brüllte er mit trunkheiserer Stimme, und die dünnen Haare auf seinem großen Schädel schienen sich dabei zu bewegen, wie er sich in allen Gliedern schüttelte.

– Nichts hat er hier zu schaffen, Väterchen! schrien etliche Studenten.

Und Andere dawider:

– Ein Schöppchen für den Herrn! Ein Gläschen! Ein Täßchen!

Er rief:

– Ich übe mein Handwerk und das von rechtswegen!

Und nun wards stille; die Studenten und ihre Weibchen gafften und die goldhaarige Euphrasie zuckte mit einem leichten Schrei zusammen, als der Lumpensammler vor ihr stand. In einem Nu hatte er mit seinem Stäbchen den zierlichen Hut geangelt und in hurtigem Wurf das krachende 144 Atlaswunder hinter sich ins Kehrichtfaß geschleudert, um es sofort darin festzubohren.

Euphrasie kauerte stumm da, hielt die beiden Hände über ihr zerrissenes Haar und schloß mit den Armen die Ohren zu, als wollte ihr ganzes Wesen ausdrücken:

– Könnte ich doch in die Erde versinken!

Die Studenten aber fielen über den friedebrecherischen Lumpensammler her, welcher nach vollbrachter That ruhig Kehrt gemacht und seines Weges zurückwollte, wie er gekommen.

Am lautesten schrie natürlich Monsieur Sève. Er brachte nur unzusammenhängende Worte hervor, so sehr in Wuth war er, und sah dabei so kläglich aus wie eine Kröte, die das schwellende Regenwasser den Berg hinabschwemmt.

Fäuste hoben sich, Tische fielen, Gläser zerklirrten und ein wüstes Geschrei erscholl:

– Den Hut, den Hut!

– Haut ihn!

– Er ist betrunken!

– Nein, er ist verrückt!

– Ein Narr, ein Narr, ein Narr!

Da waren die Allgegenwärtigen schon mitten drin im lärmenden Knäuel. Stadtsergeanten und ihre Helfer im Civil griffen mit obrigkeitlichen Fäusten nach Schauspielern und Zuschauern dieser Scene, und fragten vor Allem barsch und gebieterisch, was geschehen wäre.

Die Antworten hagelten nur so durcheinander.

Die Sergeanten wollten nun den auf der That ergriffenen Lumpensammler in Arrest führen, der aber reckelte sich hoch auf und seine heisere Stimme krächzte:

– Warum wollen Sie mich arretiren, meine Herren Stadtsergeanten? Ich übe mein Metier, ich lege Mist zu Mist, das ist Alles.

– Man wird Dich lehren, Hüte rauben.

– Ich bin kein Räuber, ich!

– Was denn sonst?

– Ich bin der Mann dieser Frau da! Ich denke, ich habe Niemand hier Rechenschaft zu geben, wo ich die Hüte meiner theuren Ehehälfte aufbewahren mag. Selbst wenn es mir einfiele, ihren ganzen Putz und Fetzenkram in diese meine schmierige Butte zu stopfen, wen von euch gehts was an?

Und nun sich gegen das Haus zurückwendend, rief er über die drängenden Haufen hin: 145

– He da unten! Du dort, die ich nicht nennen mag mehr bei ihrem ehrlichen Namen, und Deinen frischaufgeklebten Unnamen weiß ich Proletarier nicht, rothhaarige Sünderin, sag doch an, bin ich nach Recht und Brauch, bin ich vor dem alten Herrgott wie vor dem Herrn Maire des zwölften Arondissements Dein Mann und Du mein Weib? He da unten, thu doch das Mäulchen auf und schilt mich einen Lügner!

Es ward eine tiefe Stille und Aller Augen folgten dem herausfordernden Blicke des Lumpensammlers. Selbst die Stadtsergeanten ließen die Fäuste von seinem Kragen, und weniger behelligt, als da er gekommen, ging er mit der stoischen Miene eines alten Römers zurück durch die gaffenden Gruppen, welche mit einer Art Achtung vor dem Elend ihm Raum gaben.

Kaum aber, daß der verstummende Kläger den Rücken wendet, wie plötzlich eine Wetterwolke birst, so brach die dicht gesammelte, in ihrer Neugier, ihrem Gerechtigkeitsgefühl und ihrer Gemeinheit noch unbefriedigte Menge laut tobend aus. Höckerweiber und Studentinnen nahmen gegen einander und unter sich Partei; die Männer mischten sich drein, sie zerrten sich hin und her, sie wiesen sich Zungen und Fäuste, sie schrien, sie fluchten, sie riefen alle Heiligen an und ein Hagel von Schimpfworten flog über der armen Euphrasie zusammen.

– Hinweg mit der Ehebrecherin! Ins Gefängniß mit der Landstreicherin! zetterten die tugendgestrengen Straßenläuferinnen und Trödelweiber und drohten mit Fäusten und drückten sich Bahn durch die Menge.

Die Polizisten wieder, wie eilige Schwimmer in einem Strom, bogen mit weitausgreifenden Armen Köpfe und Schultern zu allen Seiten und arbeiteten sich ab, daß ihnen der helle Schweiß über die sonnegebräunten Backen lief.

Euphrasie saß noch immer auf ihrem Stuhl, das Haupt mit den Händen deckend und Kinn, Knie und Ellbogen so nah als möglich zusammenhaltend, wie wenn sie's entsetzte, so viel Platz im Raume einzunehmen, wie wenn sie mit eigenen Händen sich in die Erde drücken wollte.

Aber die Erde that sich nicht mitleidig auf und die schlanke, zitternde, rührende Gestalt blieb sichtbar allen Augen.

Die Sergeanten waren schon ganz nahe und Monsieur Sève, ein fettes Bildniß verfrühter Verzweiflung, gesticulirte beredtsam vor ihnen herum, während ihn Einer dem Anderen zuschob.

Derweil griff ein entschlossener Mann nach der Bedrohten. Es war Curt, der sie mit Einem Ruck aus ihrer gekrümmten Stellung erhob, und während er einen trunkenen Ouvrier, der sich ihm in den Weg stellte, gelassen über den Haufen warf, theilte er die gaffende Menge und fand längs der Häuser den kürzesten Ausweg.

146 Ein kluger Fiaker öffnete schon im Voraus verbindlichst schmunzelnd seinen Kutschenschlag, der Baron schob Euphrasie hinein, die Wagenthür flog zu und sie rasselten mit Windeseile über das Boulevard in eine Nebengasse, in eine zweite, in eine zweite und dritte, kreuz und quer über Straßen und über Brücken, bald langsamer, bald schneller, wie es dem Rosselenker räthlich däuchte, welcher, ein bewußter deus ex machina, in der Bedeutung des Augenblicks schwelgend, fürnehm auf seinem Bocke thronte, den Zuruf entgegenfahrender Collegen schweigend mit aristokratischem Nicken beantwortete, nur zuweilen ein räthselhaft, verständnißinnig Wort zu seinem Handgaul sprach, und noch seltener einen wohlwollenden Protectorsblick über die Achsel herab auf die niedergelassenen Vorhänge der Wagenfenster gleiten ließ. –

– Ach, mein Herr, ach, mein Herr! war Alles, was das Mädchen zu stottern vermochte.

Sie gab dem Schütteln des Gefährtes wie eine Ohnmächtige nach, und als Curt sie zu unterstützen versuchte, wich sie aus, erfaßte mit beiden Händen die feine, neigte sich, so guts im engen Wagen ging, auf den Boden, umklammerte des Retters Knie und küßte den Zipfel seines Rocks mit abgöttischer Dankbarkeit.

– Ach, mein Herr, mein guter Herr! stammelte sie dazwischen, und endlich kamen ihr die Thränen und sie weinte und schluchzte lang, heftig, herzzerreißend.

Curt sprach ihr Muth zu; er versuchte, sie auf den Sitzpolster zurückzuheben, und als sie das bittend abwehrte, ließ er ihr den Willen und verstummte bald selber und streifte nur ab und zu mit der flachen Hand über das dichte krause rothe Haar, wie man ein Kind zu beruhigen sucht, das nicht innehalten will mit Weinen.

So fuhren sie lange schweigend neben einander dahin.

Als der Wagen endlich langsamer rollte, dieweil die Straße, welche der Kutscher zu nehmen beliebte, gar steil anstieg, schob Curt für einen Augenblick den Vorhang beiseite und erkannte die Gegend wohl.

Es waren die Höhen des Montmartre.

– Mein Herr, ich bereite Ihnen Ungelegenheiten aller Art, stehle Ihre kostbare Zeit, ich weiß nicht, was ich thun, was ich sagen soll. Ich bitte Sie tausendmal um Vergebung!

– Trösten Sie sich, Madame, ich versäume nichts in Ihrer Gesellschaft, und die Gefälligkeit, welche ich Ihnen erwiesen, hat mich wenig Mühe gekostet.

– O mein Retter, mein Helfer in der Noth! entgegnete Jene, und bedeckte seine Hand aufs neue mit Küssen und mit Thränen.

– Möchten Sie mir sagen, wohin ich Sie bringen darf?

– Wohin Sie wollen, mein Herr.

Es entstand eine kleine Pause.

147 Dann versetzte der Baron:

– Ich wollte fragen, wo Sie vor den Nachstellungen Ihres Mannes am sichersten zu sein glauben.

– Ich bin überall vor ihm sicher, antwortete Euphrasie nicht ohne Bitterkeit, überall und nirgends. Es fällt ihm nicht ein, mich zu reclamiren, und fiels ihm ein, ich brauchte ihm nicht zu folgen. Die Aufmerksamkeit, welche dieser Mensch mir heute erwiesen, war eine ungewöhnliche Ausgeburt seiner Bosheit.

– Die sich wiederholen kann.

– Man wird ihn daran hindern.

– Wer denn?

– Die Polizei.

– Ah so, ich dachte schon, Ihr kleiner Beschützer . . . Monsieur Sève oder wie er heißt.

Ueber das Gesicht der jungen Frau flog ein plötzlicher Freudenschimmer. Die Vermuthung, daß ihr Retter schon vor dem heutigen Auftritt sich um sie gekümmert, daß er aus persönlichem Wohlgefallen an ihr den Namen ihres Begleiters erfragt, wirkte auf ihr herabgedrücktes Gemüth wie ein Blick in den Himmel.

– Woher wissen Sie seinen Namen? fragte sie mit glückseligem Lächeln.

– Meine Tischnachbarn von heute nannten ihn so überlaut und oft, daß ich den Namen wohl oder übel behalten mußte, war des Barons trocken vorgebrachte Antwort.

In Euphrasie's Augen erloschen alle Freudenfeuer und sie senkte das Haupt.

Curt betrachtete sie aufmerksamer, und da er sie nun recht hübsch und zierlich fand, sagte er nicht ohne Spott:

– Ist es ein guter Junge?

– Ich weiß es nicht, sprach sie achselzuckend und ohne aufzusehen.

– Nicht? Ich dachte doch, es wäre Ihr Liebhaber.

– Daß mich Gott bewahre! Seit einer Woche liegt er mir quälend in den Ohren, mir und einigen guten Freunden ein kleines Diner geben zu dürfen, und da ich gerade heute meinen freien Tag hatte und große Langweile dazu, so gab ich nach und ging mit ihm. Er wollte mit mir Staat machen, wie ich glaube – das heißt, fügte sie erröthend hinzu, mit meinen dummen Haaren, denn sonst ist nicht viel an mir: diese aber sind eben in der Mode.

– Warum aber, wenn Monsieur Sève nicht Ihr Geliebter ist, kleiden Sie sich in seine Geschenke vom Kopf bis zu den Füßen?

– Nicht daß ich wüßte! sagte die Schlanke, betroffen die Augen aufreißend. Man hat mich also bei Ihnen verleumdet? Monsieur Sève hat 148 mir nichts geschenkt, in seinem Leben nichts als diesen schmalen Armreif da. Nehmen Sie.

Curt mußte das Bracelet, welches Euphrasie rasch abgestreift und vor ihn hinhielt, in die Hand nehmen. Es war gerade nicht von besonderem Werth, aber für den Anfang eines studentischen Verhältnisses über Gewohnheit kostbar.

Nachdem er es betrachtet, gab ers zurück und sagte arglos:

– Na, wenn das Alles ist . . .

– Es ist Alles, unterbrach ihn die Kleine heftig, ich schwöre es Ihnen, mein Herr.

Curt wollte sich eben über den unnöthigen Eifer lustig machen, als er sah, daß Euphrasie den Vorhang aufgerollt hatte und den Kopf zum Fenster hinausstreckte.

– Da lauf! rief sie nun, und der goldene Armreif flog hinter dem rollenden Wagen in eine Pfütze des einsamen menschenleeren Gäßchens.

– Was treiben Sie? Sind Sie toll?

– Ich dachte, das Ding mißfiel Ihnen.

– Im Gegentheil, ich fand es allerliebst und es mißfiel mir durchaus nicht.

– Mir dann umsomehr, sagte sie ernsthaft und fuhr nach einer kleinen Pause fort: Dies Kleid ist kein Geschenk des genannten Herrn – und den armen Hut, welchen der gewaltthätige Lumpensammler in seinen Kehrichthaufen stopfte, den habe ich mir von meinen jüngsten Ersparnissen gekauft. O, der Bösewicht wußte das wohl und das war seine Rache.

– Von Ihren Ersparnissen? lächelte Curt. Konnten Sie von dem Verdienst im Gewölbe der Rue de la Harpe etwas zurücklegen? Das muß mich Wunder nehmen.

– Haben Sie mich wirklich schon da unten gekannt? rief Euphrasie außer sich vor Freude.

Und flammende Röthe zog ihr über Wangen und Stirne.

– Ach, ich wußte es wol, daß Sie mich heute nicht zum erstenmale sahen! Ach, mein guter Herr!

Wieder drückte sie die geschmeidige Gestalt auf den Boden des Wagens nieder und ihre Küsse bedeckten seine Hände und seine Knie.

– Aber Madame, was treiben Sie denn?

– Ich bete Sie an! rief sie, und ihre ganze Seele schien in dem Geständniß aufzuathmen.

– Die Dankbarkeit berauscht Sie, sagte Curt in Verlegenheit.

– Ich weiß nicht und mir ist das einerlei, ich weiß nicht und will nichts wissen, als daß ich Sie anbete. 149

– Madame treiben zuweilen Vielgötterei, bemerkte Curt mit absichtlicher Bosheit.

– Niemals! antwortete Euphrasie und ließ die Arme hängen und sah stolz und schmollend vor sich hin.

– Wie alt sind Sie?

– Sechzehn Jahre.

Dem Freiherrn rieselten diese ernsthaft, fast traurig hingeworfenen Worte über die Seele wie reueheischend.

Er hätte gern manches herbere Wort wieder wett gemacht, wußte aber nicht gleich wie. So schwieg er denn. Dies Schweigen war peinlich für Beide.

Euphrasie brach es zuerst.

Sie setzte sich tief in den Wagen, machte sichs möglichst bequem und fuhr mit ordnenden Händen über Haar und Gewand, derweil sie also plauderte:

– Es schienen Sie ja meine Ersparnisse zu interessiren oder vielmehr die Geschichte meiner Ersparnisse. Soll ich Sie Ihnen erzählen? Ei, mein Herr, meine Ersparnisse sind sehr knapp und datiren seit Kurzem. Zu ihrer Geschichte jedoch muß ich weit ausholen und das dauert vielleicht länger als Ihnen lieb ist. Unterbrechen Sie mich gefälligst, wenn ich Sie langweile. Ich bitte darum.

– Werden Sie wahre Geschichten erzählen, Euphrasie?

– Ich lüge nie, wenn es nicht ein bestimmter Zweck erfordert. Mit meiner Erzählung verfolge ich keinen anderen Zweck, als den, Ihren Wunsch zu erfüllen. Und das kann ja nur mit Wahrheit geschehen. Oder nicht?

Sie sah den Baron muthwillig, aber herzlich mit dem rechten Auge fest an, während das linke ein wenig in der Sehlinie zu schwanken schien. Ohne aber Curt's biedermännische Antwort abzuwarten, sprach sie ernsthaft weiter:

– Es ist noch nicht lange her, daß ich das Gewölbe in der Rue de la Harpe verlassen habe.

– Ich weiß es, sagte Curt.

– Ah, Sie wissen es! rief sie und senkte die langen Wimpern und lächelte ein flüchtiges glückliches Lächeln. Darf ich fragen, woher Sie es wissen?

– Ich wohne in der Nachbarschaft.

– Sie – in der Rue de la Harpe? fragte sie erstaunt, als könne sie Person und Straße nicht zusammenreimen. Na, dann werden Sie wissen, daß mein Geschäft war, Journale und Broschüren zu falzen und zu falten. Eine sehr geistlose, nervenabspannende Beschäftigung, mein Herr, und anstrengend noch dazu. Von erster Frühe, lang ehe der Tag noch graut, bis spät 150 in die sinkende Nacht. Das ewige Sitzen und mit den Händen werken verdirbt Brust und Lungen und Laune – die meinen sind gesund geblieben, trösten Sie sich, mein Herr, lachte sie und zeigte lachend zwei Reihen glänzender Zähne, aber meine Augen haben daran glauben müssen. Sie wissen –

Hier bildete sie mit den beiden Zeigefingern einen ungleichen spitzen Winkel über ihrem Näschen, so aber, daß man ihr nicht in die Augen sehen konnte.

Dann lachte sie wieder und sprach:

– Aber es geschieht nicht alle Tage. Sie glaubens nicht? O, ich versichere Sie, mit etwas Geduld und – doch, was schwatze ich da! Sicher und unbestritten ist, daß, was ich mir binnen Jahresfrist zwischen Falzbein und Maculatur hätte zurücklegen können, nicht hinreichend gewesen wäre, um nur jährlich ein Paar Gassenschuhe zu kaufen.

– Wird solche Arbeit denn so schlecht bezahlt? fragte theilnehmend der Baron.

– Es gibt noch viel andere, die schlechter gelohnt werden, versetzte die Erzählerin heiter, aber was ich auf die Hand bekam, mußte ich meinem Mann geben, und hätte ichs auch für gut und keineswegs gewissenlos gehalten, ein paar Sous vor dem Trunkenbold zu verhehlen, er wußte, was ich auf die Hand bekam, und er war weder faul, noch zartfühlend, wenn er, wie er gern that, mit den Fäusten zu mir sprach.

– Also sind Sie wirklich die eheliche Frau jenes abscheulichen Alten gewesen? fiel ihr eben nicht sehr erfreut Curt in die Rede.

– Gewesen in der That, von rechtswegen bin ich es noch! sagte die Kleine achselzuckend.

Der Baron hielt es für gut, sein Gesicht abzuwenden.

Er that, als ob ihn zu wissen lüstete, wo sie im Augenblick sich befänden. Er guckte durch den Vorhang und erkannte an den kürzeren Häusern und Bäumen eines der äußeren Boulevards, welches der Wagen in gemächlichem Trabe verfolgte.

Die Frau des Lumpensammlers schwieg still; die Bewegung Curt's ließ ihr seine plötzliche Verstimmung nicht mißkennen, und sie sah aus, als überlegte sie bei sich, ob es nicht klüger wäre, ihren angebeteten Retter ein ganz klein wenig anzulügen.

Der aber zeigte, als er das Angesicht ihr wieder zuwendete, nur freundliche Heiterkeit, und als er sie aufforderte, doch weiter zu beichten, faßte sie sanft aber zutraulich seine linke Hand und sagte:

– Ich bin ein wenig aus dem Zusammenhang gefallen und weiß nun nicht gleich, wo ich wieder anknüpfen soll. Lassen Sie mir Ihre Hand, ich bitte schön, ich brauche einen äußeren Anhaltspunkt, um meine irrenden 151 Gedanken zu sammeln. Und Einer Sache sind Sie dabei sicher: so lang ich Sie bei der Hand halte, werde ich die lautere Wahrheit reden.

– Und wenn ich nun wollte, daß Sie lügen, brauchte ich blos meine Hand zurückzuziehen?

– Sie wollen das nicht, mein Herr. Und wenn Sie die Hand zurückziehen, so soll es mir blos ein Zeichen sein, daß Ihnen etwas in meiner Erzählung recht sehr mißfallen hat.

– Ei, wenn mir aber etwas in Ihrer Erzählung gefällt, recht sehr gefällt, was dann?

– Was dann? Dann nennen Sie mich wieder wie vorhin – Euphrasie, so kurzweg Euphrasie; das klingt, wie wenn wir uns schon lange kennten, das thut mir so wohl.

Der Baron nickte ihr zu und sie plauderte weiter:

– Ich bin das Kind eines Lumpensammlers, mitten im Quartier Mouffetard geboren. Meinen Vater habe ich nie gekannt. So lang ich mich erinnere, hauste meine Mutter mit ihrem Geliebten, demselben Mann, welchen Sie heute gesehen haben. Als sie starb – es mögen nun sechs Monate über fünf Jahre sein – war ich noch ein kleiner unnützer Balg, und der Gewissenlose, dem ich, wie er sagte, zur Last fiel, erklärte mir sofort unter Schlägen und Schimpfworten, daß das Schlaraffenleben, wie ich es bisher geführt, am letzten Ende sei.

Die ganze Herrlichkeit dieses Lebens war darin bestanden, daß ich am Tage halb nackt und ganz verwahrlost mit etlichen anderen Rangen »meines Standes« mich balgen durfte, wenn man mich nicht im Hause haben wollte, daß ich des Morgens mit nagendem Hunger aufwachte und des Abends von dem allezeit betrunkenen Liebhaber meiner Mutter mit Schlägen ins Bett gejagt wurde. Das heißt, was man so »Bett« nennt. Na, beim Abprügeln blieb es auch nachher, den Tag aber verbrachte ich einer Hutfabrik, wo ich um elenden Lohn arbeiten mußte. Meine kindlichen Kräfte waren noch nicht viel zu verwerthen. Drum gab sich mein Pflegevater alle mögliche Mühe, während seiner nüchternen Augenblicke eine andere, leichtere und vor allem einträglichere Beschäftigung für mich ausfindig zu machen. Da er aber der nüchternen Augenblicke nur wenige hatte, so blieb ich zwei Jahre in besagter Fabrik, aus welcher er mich alsdann in demselben Magazin unterbrachte, wo Sie mich zum erstenmal gesehen haben und wo ich geblieben bin drei Jahre und darüber.

Mittlerweile jedoch, da ich rasch heranwuchs und in Folge meiner glänzenden Erziehung einen eigensinnigen und hinterhältigen Kopf aufsetzte, kam er auf allerhand mißtrauische Gedanken, wie daß ich meinen Lohn mir selbst zunutze machen, in ein anderes, ihm fremdes Geschäft treten oder gar durch die Polizei mich vor ihm und seinen Anforderungen sicherstellen möchte und dergleichen mehr.

152 Als er nun gar einmal bemerkt haben wollte, daß mir nach Schluß des Gewölbes ein junger Mensch nachgegangen wäre, theilte er mir einen Entschluß mit, dessen Wichtigkeit und Folgen ich damals nicht begriff. Ich sollte ihn heiraten.

Wenn ich mir heute auch alle Haare ausrisse, ich könnte Ihnen so wenig wie mir selber verständlich machen, warum ich mich damals von ihm überreden ließ, wie ich dazu kam, ihm wie in allen Stücken auch in diesem unbedingt Folge zu leisten.

Mein Gott, ich wars so gewohnt von Kindesbeinen an! Ich habe nie im Leben Jemanden gehaßt als diesen Schändlichen und diesen so lange ich lebe, aber ich hatte Niemanden gekannt, der ihm nicht gefolgt wäre; die Mutter selber hatte nur einmal ihm heftig und entschieden widersagt, das war vier Wochen vor ihrem Tode. Und ich glaube fest, daß das an diesem Tode schuldig ist, denn er hat sie damals so furchtbar mißhandelt, eben weil sie ihm widersagt und auch während der Schläge nicht gleich unterducken gewollt, daß ihr das Blut aus Mund und Nase geschossen und sie keinen Tag mehr darauf erlebt hat, da sie nicht Blut gespuckt. Gott hat sie selig, die Arme!

Aber ich mußte immer an sie denken und an ihr Schreien und Heulen und hilfloses Winden unter seinen ruchlosen Händen, so oft er nur vor mich trat und die Augen rollte und die Finger in die Hände zu Fäusten krümmte, obwol ich später wußte, daß er die Kraft von damals nicht mehr besaß.

Ich war ein schwächliches grünes Dingelchen vor fünfzehn Jahren, und wenn er in der Wuth des Rausches Hand an mich legte, knackten alle Gelenke an mir; an Widerstand hatte ich noch nie gedacht.

Auch die Gewohnheit hat ihre Ehrfurcht und – glauben Sie mir – ich habe das erst heute empfunden mitten in Gottes freier Luft unter allem Volk, ja nur die Erinnerung an den Klang seiner Stimme macht mich schon zittern.

Ich habe mirs später manchmal einreden wollen, ich hätte in diese Heirat gewilligt, weil ich gehofft, mich an meinem Hochzeitstag zum erstenmal im Leben nach Herzenslust satt essen zu können. Das geschah denn auch wirklich; am Abende jedoch war er so furchtbar trunken, wie ich selbst ihn nie gesehen. Er wüthete über das Unglück, das er sich angethan, indem er ein blutarmes Weib genommen, und noch dazu ein Weib, das so scheußlich wäre, daß alle Gassenjungen darauf mit Fingern wiesen, denn sie gehörte zu denen, welche Gott gezeichnet, auf daß man sich vor ihnen hütete.

Die rothen Haare waren damals noch lange nicht in der Mode und gar das gemeine Volk hielt solche für sehr häßlich und für ein böses Zeichen.

153 Die Zeiten änderten sich.

Damals aber schlug mich der Bräutigam meiner Wahl ob eben dieser rothen Haare so ingrimmig, daß ich drei Tage arbeitsunfähig liegen blieb. Also begannen meine Flitterwochen.

Doch auch das hatte sein Gutes.

Man wollte mich nämlich, als ich am vierten Tage in mein Gewölbe kam, gar nicht wieder aufnehmen, und nur auf mein dringendes Bitten und Weinen gab man nach, aber unter der unwiderruflichen Bedingung, daß ich im Wiederholungsfalle keinen Verdienst mehr in diesem Geschäft erhalten könnte. Das nahm sich der Unhold zu Herzen, denn mein Verdienst schien ihm die nothwendige Zubuße zu seinem Einkommen. So hütete er sich denn selbst, wenn er stark angetrunken war, vor dem Zuschlagen, und wenn er es ja einmal nicht hatte lassen können, so wars am anderen Tage leicht zu merken, daß ihn Vorwürfe und Sorgen plagten, er möchte in seinem »Verdienste« Schaden leiden.

Nach und nach hielt er es für das Gerathenste, mir so wenig als möglich in den Weg zu treten. Am Tage war ohnehin dafür gesorgt, und des Nachts kam er später heim als ich, so daß ich meist schon schlief und er mich nicht mehr weckte, wenn er auf seine Matratze kroch. Ich selber lagerte nach wie vor in der untersten Schublade eines alten Commodekastens, die man, wenns an der Zeit war, zu diesem Behuf aus ihrem Fache zog und über das Stroh darin ein paar nothdürftige Kissen warf. Für ein kleines Kind war es eine ganz bequeme Liegerstatt – später freilich wächst man draus und da hat es schon sein Mißliches.

Na, aber arme Leute richten sich eben ein. Und ich war schon zufrieden, wenn ich nicht in Furcht vor Hieben und Fauststößen aus meinem Neste aufgeschreckt wurde.

Zuweilen kam er gar nicht nach Hause; dann war mein erster Gang vor das Polizeigefängniß in unserem Bezirk, um meine süße Ehehälfte bei Tagesanbruch zu reclamiren.

Die Ouvriers nämlich, die man des Nachts in trunkenem Zustande meist wegen Händel oder weil sie im Freien campiren wollen, von der Straße aufgreift, läßt man am Morgen gerne wieder los, wenn Gattin oder Arbeitgeber sie abfordern; man braucht dann mit ihren Lappalien den Herrn Commissär nicht zu behelligen und für die nächtliche Sicherheit der Straßen war doch gesorgt.

Wußte ich, daß mein Mann bei Geld war, so wußte ich auch, wohin ich am Morgen zu gehen hätte, denn dann trank er immer, und wenn er trank, schlief er »aus Rücksicht gegen mich«, das heißt, um nicht in Versuchung zu fallen, mich arbeitsunfähig zu schlagen, auf irgend einer Bank im Freien, oder unter einer Hecke, oder in einer Gosse – wo er eben hinfiel und liegen blieb.

154 Monatelang sahen wir uns nur im Zwielicht, wenn wir vor dem Gefängniß auseinander Jedes seiner Wege gingen. Das war eine glückliche Zeit. Sie sollte nicht allzulange währen.

Als der Winter gekommen, lernte mein Gatte die häusliche Nachtruhe wieder mehr schätzen. Er fand allmälig bei dieser Gelegenheit – ich weiß nicht, war es eigene Einsicht oder trieben ihn hänselnde Reden seiner Saufbrüder – kurz, er fand, daß ich nachgerade denn doch aus der Schieblade gewachsen und einer besseren Liegerstatt würdig wäre und daß der Kreis meiner Pflichten mit der Abgabe meines Arbeitslohnes und der Reclamation aus dem Polizeigefängnisse noch lange nicht beschlossen sei.

»Lieber kopfüber in die Seine springen, als Dein Lager nur mit meiner Zehenspitze rühren!« rief ich ihn an, und er war nicht weniger erstaunt als ich selber, da zum erstenmal im Leben mein unterdrücktes Selbst sich grimmig gegen ihn erhob.

Daß es der Ekel sein mußte, der meinen Haß erst wehrhaft machte!

Als er nicht abließ, die Hände, die sonst nur mich zu schlagen und zu berauben auf der Welt zu sein schienen, mit zudringlicher Zärtlichkeit nach mir auszustrecken, drückte ich vor Wuth und Angst ihm eine Haarnadel ins innere Faustgelenk.

Ich betete, daß ich ihm doch die Pulsader abgestochen hätte; aber nein, er kam besser davon und in Monatsfrist war Schmerz und Scheu vergessen und der Tanz begann von Neuem.

Ich bin noch ein gar junges Ding, doch List und Rohheit nahm ich zu Hilfe, um mich seiner zu erwehren. Herr, ich habe Nächte durchlebt, die ein stärkeres Geschöpf zusammenknicken könnten. Ich getraute mir vor Angst nicht mehr zu schlafen und nickte dann am lichten Tage mit dem Falzbein in der Hand ein, das armselige Haupt auf die Zeitungen verlierend, welche die Ungeduld des Werkmeisters nicht rasch genug vom Tische konnte fliegen sehen. Man schalt mich, man drohte mir. Und nun entschlief ich nächstens nicht nur nicht mehr vor Angst, auch die Sorgen, ich möchte am Tage einschlafen, stahlen mir den letzten leichten Schlummer.

Die Folge blieb nicht aus.

Eines Tages, da ich so tief eingenickt war, daß ich es lange nicht spürte, wie mir der Werkmeister mit dem eigenen Falzbein, welches er mir aus der Hand gezogen, das Genick bearbeitete, trug man mich aus dem Gewölbe ins Spital.

Ich hatte den Typhus. – Gott sei Dank nur einen leichten, mit dem meine gute Natur bald fertig wurde.

Lachen Sie nicht, wenn ich sage, daß ich immer meine, die Hände falten zu müssen, so oft ich an meine Reconvalescentenzeit denke im Armenspital. Lieber Himmel, Schlaf und Nahrung und Ruhe, was sind das für Bedürfnisse! Mir ward so wohl zu Muthe, wie mir nie gewesen, ja 155 förmlich heilig. Ich meinte, Gott habe sich sichtlich, ich möchte sagen eigenhändig über mich erbarmt; ich dachte nicht an das, was kommen sollte, nicht was gewesen war; ich schlief, ich stillte Hunger und Durst, ich ruhte mich aus, ruhte mich aus von sechzehn elenden, furchtsamen, mageren Jahren und betete und versprach fromm und gut und dankbar zu sein und zu bleiben mein Lebenlang.

Man verhätschelte mich auch geradezu und ich konnte wol an mancher Nachbarin sehen, daß es nicht einer Jeden so gut ward wie mir. Die Herren Professoren, die alten und die jungen, streichelten mir übers Haar, wenn sie vorübergingen, und nickten mir lächelnd zu wie einem kranken Kinde. Und die Herren Studenten, die sich absonderlich viel mit mir zu schaffen machten, schleppten, als es einmal erlaubt war, allerhand Eßwaaren ins Spital und gaben mir noch überdies süße Redensarten in Menge. Sie hießen mich allgemein nur »die Frau«; auch noch einen anderen Namen gaben sie mir, den ich Ihnen aber nicht – den ich Ihnen ein andermal sagen werde.

Das Beste aber, was die guten Leute an mir thaten, war, daß sie mir sogar einen Platz verschafften, wo ich sofort, nachdem ich aus dem Spital entlassen wurde, Unterkunft und zwar gute Unterkunft fand. Etliche von den jungen Männern hatten sich meine Lebensgeschichte erzählen lassen und es nicht vergessen, daß ich mit meiner Krankheit auch die Aussicht verloren, in meinem alten Geschäfte wieder aufgenommen zu werden. Es mochte dem Einen und Anderen wol auch daran gelegen sein, mich nicht allzuweit von der medicinischen Schule entfernt zu wissen, sie sagten mir das auch geradezu. Und eines Tages kamen ihrer Drei oder Vier – Herr Sève war auch darunter – und meldeten, daß in der Rue Monsieur le Prince eine Kaffee- und Bierwirthschaft wäre, die zur Zeit nun freilich nicht gar sehr im Flor stünde. Daran wäre aber lediglich der Umstand schuld, daß das Comptoir-Fräulein häßlicher sei denn eine Vogelscheuche. Spät zur Einsicht gekommen, habe ihr der Pächter des Hauses den Laufpaß gegeben und sei nun auch auf Zureden meiner Freunde und besonders durch ihre Versicherungen, daß ich ihm die Löwenmenagerie des lateinischen Quartiers in Kundschaft ziehen würde, gern bereit, mir den erledigten Sitz vor dem kleinen Pulte anzubieten. In Rücksicht auf mein rothes Haar waren die Bedingungen sogar annehmbarer gestellt als gewöhnlich.

Ob ich annahm? Ist das eine Frage?

Bei meinem Geschäftsantritt zeigte sich aber eine andere, von mir nicht bedachte Schwierigkeit.

Ich hatte nämlich nicht mehr Kleidungsstücke aus dem Spital herausbringen können, als ich hineingebracht. Meine ganze Habe bestand in wenigen kläglichen Fetzen, die schon von meiner Mutter zu Schanden getragen waren. Mit diesen konnte ich mich nicht auf den Wirthschaftsthron pflanzen. 156 Von Geld, damit eine andere Garderobe zu kaufen, war bei mir keine Spur. Der Herr Pächter machte ein schief Gesicht.

Allein meine Freunde von der Facultät hatten auch diese Sorge getragen.

Die vier Studiosen, welche mir den Dienst verschafft, überreichten mir ein seidenes Kleid – Sie sehen es hier – welches sie mit zusammengeschossenen Geldern für mich erstanden.

Das ist keine Kleinigkeit, mein Herr, der Stoff allein ist über hundert Francs werth!

Dabei war nun aber das Komische, daß alle Viere mit einander meine Liebhaber werden wollten.

– Alle Viere – au einmal! rief Curt entsetzt dazwischen und wollte schon seine Hand zurückziehen.

Aber Euphrasie hielt sie fest und ergänzte lachend:

– Das kommt öfter vor im Quartier, aber besänftigen Sie Ihr Gemüth, bei mir nicht. Offen gestanden, mit meinem großen Sinn für Dankbarkeit, mit der kindlichen Verehrung, die ich für alle Männer der segensreichen Facultät empfinde – hätt' Einer allein von den angehenden Heilkünstlern mir Leib und Seele bestürmt, ich kann nicht darauf schwören, ob ich mich nimmer ihm ergeben hätte. So aber intriguirten, conspirirten, genirten die Viere Einer den Anderen vor Ungeduld und Mißtrauen, daß sie sich bald alle Vier unbeschreiblich lächerlich machten, und ich blieb – Witwe.

Nun gabs freilich noch eine Menge kleiner heimlicher Geschenke, mit denen Einer den Anderen in aller Stille den Rang ablaufen wollte. Das fing an, mir zu gefallen. Ich hatte nie vordem etwas besessen. Ich nahm Alles und – gab nichts.

Das war auch meinem Wirthschaftspächter, der ein mürrischer, wachsamer Tropf ist, sehr gelegen. Er wollte, wie er sich auszudrücken beliebt, daß ich schon im Interesse des Hauses die Concurrenz noch eine Weile offen ließe.

– Vielleicht für ihn selber? warf der Baron lächelnd in ihre Rede.

– Ist keine Gefahr! versetzte sie mit trotzigem Mäulchen. Der Graukopf, der Tolpatsch, der Säufer!

– Das Alles ist er in Einer Person? fragte Curt.

– Was wollen Sie? 's ist eben ein Deutscher!

– Nun, ich bin auch einer.

– O nein, das ist nicht möglich! Sie wollen mich necken. Sie sind – Sie sind ein Engländer.

– Danke für die Ehre! Ich bin ein Deutscher und rühme mich dessen.

157 – Ach?! rief die Kleine und ließ vor Erstaunen den Mund offen, als betrachtete sie ihn nicht blos mit den Augen. Sie sehen gar nicht aus wie die Anderen; meiner Treu ganz und gar anders!

– Wie, welche Anderen?

– Na, der Herr Pächter und der Herr Eigenthümer. Denn dieser ist gleichfalls ein Deutscher. Aber ich mag ihn auch nicht; er ist ein filziger, geldsüchtiger, zänkischer Mensch, welcher ein halb Dutzend kleiner Geschäfte in Paris herumstehen hat, die er verpachtet. Er selber ist seines Zeichens ein Schneider. Mit unserer Brasserie hat er freilich kein großes Glück . . .

– Auch nicht seit Sie im Geschäfte sind? unterbrach der Baron ihre Rede.

Darauf erwiderte sie ernsthaft:

– Ich bin noch nicht lange genug dort. Aber der Pächter kanns weiter nicht abwarten, da der Schneidermeister ihm gekündigt hat. Er kann nirgends genug Geld herausschlagen. Man sagte mir –

Sie stockte.

– Was sagte man Ihnen? Nur heraus damit! Mich solls nicht kränken. Man hat Ihnen gesagt, daß alle Deutschen Filze wären?

– Die Studenten schwatzten also; aber andere Leute, es schienen wol Kaufleute zu sein, die fügten hinzu, die Deutschen wären sozusagen die Juden der neuen Zeit. Wo immer in der Welt viel Geld zu verdienen wäre, da fände man jetzt auch Deutsche und selten wenige. Die redeten auf allen Märkten mehr drein als Einem lieb wäre. Denn sie fräßen das Geld und seien erstaunlich – sparsam.

– Und so erobern sie die Welt in aller Stille, lachte Curt, ohne daß Jemand darum weiß.

– Erobern? rief Euphrasie und zwinkerte mit den braunen Augen. O nein, das ist ja Sache der Franzosen!

– Ist das so gewiß?

– Ach, gehen Sie doch einmal nach Versailles..

Der Wagen hielt und der Kutscher erlaubte sich die Versicherung, daß er die Pferde ein wenig ruhen und saufen lassen müßte.

Der Baron sah sich die Gegend an.

Er konnte sich nicht erinnern, Paris bis in diesen Winkel besucht zu haben. Es waren breite, theilweise neugebaute, noch unvollständige Straßen, die auf einen großen, runden, mit vielen Bäumen besetzten Platz mündeten.

– Sagen Sie doch einmal, Kutscher, wo wir hier sind?

158 – O keine Gefahr! versetzte dieser. Da drüben ist die Place du Trône. Ach, mein Herr, wir haben eine hübsche Fahrt gemacht. Befehlen Sie gefälligst, wohin ich Sie jetzt bringen soll.

Curt wendete sich mit derselben Bitte an Euphrasie, die ihn etwas verdutzt ansah und dann verdrossen sagte, er solle sie eben nach Hause führen, in die Rue Monsieur le Prince.

– Das ist etwas weit von hier, lachte der Baron.

– Na, nicht allzusehr! tröstete der Kutscher.

Und die Dame im Wagen rief heraus:

– Sie brauchen die armen Thiere gar nicht zu überhetzen – meinethalben; ich habe keine Eile.

Und zu Curt gewendet, der wieder in den Wagen stieg, fügte sie hinzu:

– Heute ist ja mein freier Tag, ich habe Zeit bis zum Abend.

Die Leute, welche von der Arbeit kamen durch den Faubourg St. Antoine daher, zeigten sich lächelnd den behaglich rollenden Wagen. Noch immer waren die Vorhänge herabgelassen, noch immer sah der Kutscher so schweigsam wichtig drein, als führte er ein glückliches Geheimniß seiner weiteren Bestimmung entgegen.

Derweilen war Euphrasie immer verstimmter, je näher man der Heimat kam; sie hätte wol ganz stillgeschwiegen, wären Curt's Fragen nicht immer mehr geworden.

Dabei sah sie ihn abwechselnd mit beiden staunenden Augen an; der »angebetete Mann« kam ihr immer unbegreiflicher vor, denn was er fragte, galt nicht ihr.

Ob und was Pächter und Eigenthümer von der Wirthschaft verstünden? Wie selbe gelegen? Ob sie vollständig eingerichtet? Was sich für Frequenz hoffen ließe? Woher sie das Bier bezögen? Wie lange schon? und ob auch nicht von dort oder da? Wie viel Seitel, wie viel Tassen sie des Tages verschenkten? Zu welchem Preise? und ob Schulden stünden?

Was ging das Alles und Anderes dergleichen mehr den Mann an, dem sie im Leben zu größter Dankbarkeit verpflichtet war und der zwischen herabgelassenen Vorhängen im traulichsten Gegenüber nicht mehr ein einzigmal so kurzweg Euphrasie zu ihr gesagt hatte, wie er doch wußte, daß sie es so gerne gehört.

Sie war ordentlich froh, als der Wagen vor ihrem Kaffeehause hielt und doch gleich wieder stolz, wie sie am Arm ihres stattlichen Retters zwischen den gaffenden Gästen hindurchrauschte, die alle ihrer Rückkunft zu harren schienen.

159 Das Erste, was Curt zu thun hatte, war, daß er sich über seine Person ausweisen mußte, wie es ein Polizist nicht ohne Höflichkeit von ihm verlangte.

Da der Baron genügende Papiere bei sich hatte, wars bald abgethan. Die Angelegenheiten Madames erklärte der Mann der Sicherheit bereits als hinreichend aufgeklärt und längst gerichtsbekannt. Sie habe nichts zu besorgen.

– Ich habe sehr lang auf Sie warten müssen, Herr Baron, schloß er, seinen Schoppen in die Hand fassend. Aber es wartet sich gut hier. Indessen, mein Herr, möchte ich Ihnen den Rath geben, sich niemals in Polizeisachen zu mischen. Es dürfte Ihnen in Paris nicht immer so gut bekommen – wie heute.

Er schnitt ein wichtiges Gesicht, leerte sein Glas, strich sich den Schnurrbart und empfahl sich. Trank dann aber auf Zureden des Pächters noch ein Schöppchen.

Mit diesem kam Curt, welcher die Zeche des Polizisten freiwillig bezahlte, rasch ins Gespräch. Er ließ sich von ihm alle Verhältnisse klar auseinandersetzen, wobei er weidlich über den Eigenthümer schimpfen hörte, der an Allem Schuld trüge.

Später erschien auch der Eigenthümer, fing sofort wirthschaftliche Händel an, ließ sich dann bereitwilligst mit Curt in die gewünschten Erörterungen ein, wobei dieser hören mußte, daß der Pächter ein Lump und einzig am Verkommen des Geschäfts Schuld wäre.

Curt übersah die Sache ziemlich klar, sah auch, wie ihr gründlich abzuhelfen wäre und erwog im Stillen seine Absicht.

Wol steckten die Erinnerungen aus der Heimat ihre stolzen Köpfchen dazwischen, wol fuhr noch ab und zu ein rosigeres Zukunftsplänchen über die wählerische Seele hin. Aber Curt verscheuchte sie vor der schroffen Wirklichkeit der Dinge; seine Lage war bereits peinlich, die traurige Noth hatte sich schon zum Besuch ansagen lassen, es galt rasch einen Entschluß packen, welcher sich ihm wie eine Schickung und mit freundlichen Aussichten geboten.

Der Eigenthümer schien an dem neu aufgetauchten Landsmann viel Gefallen zu finden; er bot ihm die Wirthschaft unter weit günstigeren Bedingungen als je einem seiner Vorgänger und verpflichtete sich sogar auf Verlangen feierlichst, nicht das Mindeste in den Betrieb dreinreden zu wollen und das Haus nur ab und zu als simpler Gast zu besuchen.

Curt drückte das eine Auge, welches trotz alledem noch immer arg aristokratisch in die Welt guckte, zu, und schlug ein unter dem Vorbehalt, daß ihm noch drei Tage Frist gegeben wären, zurückzutreten.

Margarethe mußte doch vorher darum wissen. Aber diesmal sollte sie Ja sagen! 160

– Ist es wahr, ist es möglich? rief Euphrasie, die erst spät vernommen, worum es sich handelte.

Eifrig sprang sie von ihrem schmalen Kathederchen herab und faßte mit beiden Händen den Oberarm des Barons.

– Sie werden unser Herr? Sie werden diese ganze Geschichte in die Hand nehmen? Ach, das ist himmlisch! Nun wirds bald anders geh'n.

Sie patschte mit den Händen und hüpfte in ausgelassener Freude zwischen den Bänken herum.

Plötzlich hielt sie stille, bohrte den langen wohlgepflegten Nagel ihres kleinen Fingers nachdenklich zwischen die beiden Reihen Zähne, trat wieder näher zu Curt und lispelte:

– Sagen Sie doch, mein Herr, wird der neue Pächter auch mich behalten?

Der Baron empfand überrascht, daß diese Frage für ihn ernster war, als er bisher bedacht.

Er mochte und durfte nicht lügen.

– Das weiß ich noch nicht, sagte er, jedenfalls bleiben Sie für den Anfang; das Weitere hängt nicht von mir allein ab.

Sie sah ihm nicht nach, da er fortging; sie schrieb Ziffern in ihr Buch und machte dazu ein langes gleichgiltiges Gesicht. Es war aber nicht gut plaudern mit ihr an jenem Abend.

 

Curt eilte, was er konnte, nach Hause und warf sich in andere Kleider, um noch rechtzeitig bei Klopffechter's vorsprechen zu können.

Er wußte wol und sagte sichs auch, daß Margarethe seinen neuesten Lebensplan so wenig zuvorkommend empfangen würde, wie die früheren, unter denen manche einleuchtender gewesen. Indessen war auch die Zeit dringender denn je geworden und – sie liebte ihn ja. Hatte sie's ihm doch oft genug gesagt.

Als er in den Salon trat, fand er große Gesellschaft.

Anatole machte sich außerordentlich viel mit dem Fräulein des Hauses zu schaffen.

Margarethe verschwand augenblicklich aus dem Zimmer, sowie sie den Baron ersah.

Da dieser hinreichend mit der Familie vertraut und sein intimeres Verhältniß zu der Gouvernante bekannt und gebilligt war, so fiel es Niemandem auf, daß er nach einigen Vorgesprächen im Salon sein Schätzchen suchen ging.

161 Er fand es auch bald.

Marguerite saß im anstoßenden Gemach wie von der Welt verloren, sinnend oder schlafend da, das Haupt in ihren Händen.

Als Curt auf sie zutrat, sah sie aus, als wollte sie weinen; sie gab ihm freundlich die Hand. Es war ein tiefes Mitleid in ihrem Blick, wofür der, dem es galt, freilich kein Verständniß hatte, sondern sofort mit Vortrag seines Projects begann.

– Nur heute nicht! Um Gotteswillen! sagte Marguerite und erhob sich. Laß uns zur Gesellschaft zurückkehren.

Curt folgte ihr in den Salon, wo ihm zum erstenmal im Leben der stechende Blick Fortunato's mißliebig auffiel. Der Corse war erst mittlerweile gekommen.

– Gretel, sagte Curt, sich dicht neben den launischen Gegenstand seiner beharrlichen Wünsche setzend, Du mußt Dir heute den Vorschlag noch überlegen; mit hochfahrenden Zierereien, mit den gewöhnlichen Mädchenausreden darfst Du mir diesmal nicht wieder kommen. Die Sache ist zu ernst geworden. Du kennst meine – ich darf wol hinzufügen, Du kennst unsere Lage. Du mußt Dich entscheiden.

– Quäle mich nicht! erwiderte Jene, welche Mühe hatte, ihre Worte hervorzustoßen, also bedrückten ihr die widerstrebendsten Empfindungen das Herz. Ich kann nicht, ich darf, ich will nicht.

– Du sprichst wie ein thöricht Kind, sagte der Baron; schäme Dich und bedenke –

– Nichts! entgegnete Marguerite überlaut, und schon erstickte ein Strom von Thränen das weitere Wort.

Sie stand hastig auf und wendete sich; aber noch ehe sie zur Thüre kam, wankte sie und wurde von Marien, die ihr zur Hilfe sprang, hinweggeleitet.

– Was hat sie denn? fragte Monsieur Klopffechter.

– Launen! antwortete Curt und zuckte traurigen Sinnes die Achseln.

– Verdammter Kerl! murmelte Fortunato seinem Freunde zu. Ich gäbe viel darum, wenn ich ihn auf zwei Tage in eine Salzsäule verwandeln könnte!

– Ich werde das besorgen, sagte Anatole.

– Du?

– Gar nichts zum Lachen. Willst Du mit mir wetten, daß er morgen nicht im Salon dieses Hauses erscheinen soll und zum darauffolgenden Frühstück auch nicht? 162

– Hernach könnte die Säcke meinethalben wieder Mensch werden, sagte Fortunato.

– Na also! Ich halte die Wette. Tausend Louis!

– Narrheiten!

– Einerlei.

– Ich spiele nicht mehr, ich wette nicht mehr. Aber ich wollte, daß der Teufel den Burschen holte.

– Umsonst, ja! Na, er wirds eben umsonst thun müssen.

Anatole stand auf und ging, und Fortunato meinte noch immer, daß er spaßte.

 

Für den Abend des nächsten Tages hatte der Baron dem Doctor Huber ein Stelldichein in der Brasserie der Rue Monsieur le Prince gegeben.

Er wollte wenigstens mit Einer befreundeten Seele die Sache durchgesprochen haben.

Der Doctor kam und hörte und billigte das Vorhaben, und nun saßen die Beiden wieder beisammen in einem gemüthlichen Winkel und plauderten von diesen und anderen Dingen.

Da geschahs, daß einer der Gäste, der lang überlaut geschrien und gezankt hatte, plötzlich hinfiel und sich in epileptischen Krämpfen unter den Tischen wälzte.

Huber und Curt kamen dem Kranken zu Hilfe und sorgten um ihn, bis er wieder ruhig bei sich war. Eine kleine Wunde, die er sich im Niederstürzen an der Tischkante geschlagen, verklebten sie mit Heftpflaster und gingen, nachdem ihrer Samariterpflicht Genüge geleistet, langsam und in Gesprächen ihrer Wege.

Als sie auf das Boulevard kamen, hörten sie Geräusch von Menschenstimmen und fanden hinzutretend etliche Leute, meist Blousenträger, neben einem Fiaker stehen.

Aus der Mitte dieser dunklen Gestalten schrie und schalt ein Mann in modischen Kleidern, der etwas angetrunken schien und von einem anderen Mann im Kittel behauptete, er habe sein Pferd angehalten und ihn bestehlen oder beschädigen wollen.

Curt erkannte sofort in dem Bedrängten, gegen welchen der taumelnde Gentleman sein golden beschlagenes Röhrchen schwang, den Arbeiter, welchem er und sein Freund vor Kurzem improvisirte ärztliche Hilfe geleistet.

Er trat hinzu und versuchte dem Aufgeregten begreiflich zu machen, daß er es mit einem Kranken zu thun hätte, der unmöglich bei den nöthigen 163 Kräften wäre, um zwei Fiakerpferde sammt deren Wagen mitten im Lauf anzuhalten.

– Was gehen Sie fremder Leute Händel an? sagte der Mann in modischer Kleidung.

– Das will ich Ihnen morgen sagen, wenn Sie nüchtern sind, entgegnete der Baron.

– Sie unterstehen sich, zu behaupten, daß ich betrunken wäre!

Damit schwang der Herr sein Stöckchen gegen Curt.

Der aber faßte ihn ins Handgelenk und sagte:

– Wenn Sie nüchtern sind, so geben Sie mir Ihre Karte.

– Ach, Sie verlangen meine Karte! schrie nun der Andere, in unbegreifliche Wuth versetzt.

Er fuhr dabei mehrmals mit der Hand in die Brusttasche, als suchte er nach seinem Portefeuille, brachte jedoch nichts hervor als die zornigen Redensarten:

– Ich verweigere niemals meine Karte! . . . . Ah, mein Herr, Sie sollen meine Karte haben! . . . . Man wagt es, mir meine Karte abzuverlangen!

Bei diesen überlauten Variationen waren die Stadtsergeanten von allen Seiten herangekommen und fragten gebieterisch nach der Ursache des Streites.

Doctor Huber zog den erbosten Curt am Rocke und sagte auf Deutsch zu ihm:

– Machen Sie sich schleunigst aus dem Staube; mir scheint, der Betrunkene ist ein Polizei-Agent.

Dem Baron leuchtete das ein und er bog zur Seite. Sein Gegner hatte aber bereits ihn als Denjenigen bezeichnet, der ihm mitten in der Nacht seine Pferde angehalten, augenscheinlich blos zu dem Zwecke, um ihn zu insultiren, wenn nicht gar zu berauben. Ehe Curt zwei Schritte gemacht, hatten ihn vier Stadtsergeanten festgepackt und erklärten ihm, daß er auf die Wache geschafft werde.

– Gehen Sie ohne Widerspruch mit, redete Huber ihm zu, es ist das Gescheiteste, was Sie jetzt noch thun können; vielleicht entläßt man Sie gleich wieder.

Er sagte das auf Deutsch. Und sofort legte ein Stadtsergeant Hand an ihn, rufend:

– Ah, Sie conspiriren, um den Gefangenen zu befreien! Mein Herr, Sie sind verhaftet.

– Also vorwärts, ich werde Ihnen Gesellschaft leisten, sagte der Doctor und machte sich auf den Weg zwischen zwei Unterofficieren.

164 Curt aber hatte weniger friedlichen Gang.

Die Viere, welche ihn eingefangen, ließen die Fäuste nicht von ihm, obwol er sich nicht im Geringsten widersetzte. An jedem Arme hielt ihn Einer und Zwei hatten ihn am Rockkragen, und also brachten sie ihn trotz wiederholter Versicherung, daß er ruhig ihnen Folge leisten wollte, mit großem Aufwand theatralischer Ergrimmtheit und unter dem wildem Geschrei: »au poste! au poste!« von einem Dutzend Neugieriger begleitet nach dem Bezirks-Polizeigefängniß gegenüber dem Pantheon, eben als es Mitternacht schlug.

Hinter einem langen Tisch rieben sich drei alte Unterofficiere die Augen.

Einer führte die Feder.

»Eingebracht wegen Störung der Nachtruhe, Widersetzlichkeit &c. &c.«

– Meine Herren, Ihre Legitimationspapiere!

Curt pflegte sonst seinen Paß bei sich zu tragen; diesmal hatte er diese rathsame Gewohnheit leider außer Acht gelassen.

Huber hatte nichts Lesbares bei sich, außer einer deutschen Zeitung, die sofort mit Beschlag belegt wurde, wie Alles, was die Leute an fahrender Habe am Leibe hatten.

Nachdem die drei Fragen um Namen, Stand und Alter beantwortet waren, wollte ein Jeder sachdienliche Erklärungen abgeben, aber das gebieterische Wort: »au violon!« und der ausgestreckte Zeigefinger des ältesten Sergeanten schnitt jedes weitere Reden unerbittlich ab.

Sowie die Thüre geöffnet wurde, hinter welche die beiden Neuangekommenen gesteckt werden sollten, schrie eine Stimme aus der Finsterniß:

– Aber, meine Herren, wir sind schon unser Achte! Man erstickt ja hier!

– Zwei mehr oder weniger, das trägt nichts aus! hieß es und Schlösser und Riegel thaten ihre Schuldigkeit.

– Lassen Sie doch eine Minute lang die Thüre offen – ein wenig frische Luft – ein Licht! schrie rasch noch die eine und die andere Stimme.

Dann verhallten die Tritte des Schließers über den Hof und man hörte eine zeitlang nichts, als das mächtige Schnarchen etlicher Mitbewohner.

Es dauerte eine Weile, bis sich die Augen an die Finsterniß gewöhnten und etwas um sich unterschieden.

Es war ein oblonges Gelaß, etwa von der Größe einer bescheidenen Schlafkammer, hatte aber außerdem mit einer solchen nicht die entfernteste Aehnlichkeit.

165 Die ganze Breite und etwa fünf Sechstel der Tiefe nahm ein pritschenartig schiefliegender Holzboden ein. Zwischen seinem Rande und der Thüre lag der Rest der Keuche wie ein Abzugscanal, mit vielmißbrauchten Ziegelsteinen gepflastert.

Von den langen Wänden rieselte Feuchtigkeit und Unrath herab; auf der Pritsche war kaum eine Stelle zu finden, darauf man sich ohne Ekel setzen konnte.

Die früheren Ankömmlinge waren freilich weniger wählerisch gewesen; da lagen Blousenträger von allen Farben, gestandene Männer und unbärtige Bürschchen, die Einer wie der Andere gelassen alle Viere von sich reckten. Die meisten schliefen den schweren röchelnden Schlaf zwischen Rausch und Katzenjammer.

Die frische Luft, welche all diesen thätigen Lungen zu verarbeiten gegönnt war, drang aus einem schmalen Hof durch ein Dutzend nagelgroßer Löcher; diese waren durch eine handbreite Eisenplatte geschlagen, welche über einer viereckigen Oeffnung in der Thüre angebracht war.

Trotz Clausur und pestilenzialischer Atmosphäre hatten die beiden Deutschen Laune genug, um über ihre Situation herzlich zu lachen.

Nach einer Stunde wurden sie stiller; der Doctor dachte an seine Folianten und an den großen Mann im Schlafrock, der ihn morgen vergebens erwarten würde.

Der Baron dachte an seinen imperfecten Pachtvertrag und Anderes, was damit in leichte Verbindung zu bringen war.

Es schlug zwei Uhr und Huber fing an zu singen:

Ah qu'il est doux de ne rien faire,
Quand tout s'endort autour de nous!

Da rasselte das Schloß wieder und die Riegel klirrten und man schoppte einen elften Mann herein und später auch einen dreizehnten und vierzehnten.

Man mußte gute Nachbarschaft halten, wenn für Jeden in der Gesellschaft in wagrechter Lage genügend Platz sein sollte.

Der Letztgekommene schien anderer Meinung zu sein. Er debutirte mit der stehenden Phrase jedes trunkenen Proletariers, daß er so gut ein Mensch wäre wie andere Leute.

Huber beugte sich über den ausgestreckt neben ihm liegenden Curt, denn er meinte die heisere Stimme, die da sprach, jüngst erst anderswo gehört zu haben.

Die weiße schmutzige Blouse, die mageren Hände, das stumpfe drohende Gesicht – es war der gewaltthätige Lumpensammler, der trunksüchtige Gatte der kleinen Euphrasie. 166

– Was gaffen Sie mich so an, mein Herr? Ich bin ein Mensch wie Sie!

Damit wies er dem Doctor die Zunge.

Man sahs dem stieren thierischen Blick an, daß kein Gedächtniß früheren Begegnens ihn durchdrang. Der alte Knabe ließ seinen lästigen Leib auf die Pritsche fallen und wälzte sich dicht an den Baron heran, bald röchelnd, bald lallend versichernd, daß er seine Menschenrechte noch immer nicht verloren.

– Wenn Sie ein Mensch, wie wir Anderen sind, so hören Sie auf, Ihren Nebenmenschen mit Füßen zu treten. Sie stoßen in einemfort, wozu das?

– Ah, der Verräther! gurgelte der Lumpensammler. Und dennoch bin ich ein Mensch so gut wie Sie! Bins, wenn ich auch schlechtere Hosen anhabe – als Sie, ja selbst wenn ich gar keine anhabe!

Damit fing er an, Curt's Beine mit beiden Füßen in Trillerschlägen zu bearbeiten.

Der aber stand auf, packte den Störenfried mit der rechten Faust unter dem Kinn am Hemde und gab ihm mit der Linken ein paar schallende Ohrfeigen und legte ihn dann beiseite in den nächsten Winkel nieder, wo er ohneweiters einschlief und gute Nachbarschaft hielt bis an den grauenden Tag.

Der Doctor lachte:

– Wie schade, daß Jener nicht der Stärkere von Beiden, wir hätten dann eine recht ruhsame Nacht!

Sie genossen der Ruhe auch so nicht; sie zählten die Stunden und bald auch die Viertelstunden, und priesen die frische Luft als das erste Gut des Menschen.

Schließlich sprachen sie von Geschäften.

Bei Tagesanbruch öffnete man die Thüre zum erstenmal. Ein Sergeant rief einen Namen und einer der Habitués des Orts rüttelte den geohrfeigten Lumpensammler auf, der dagelegen wie ein Sack,

– Ihre Frau reclamirt Sie, Biedermann! rief der Sergeant. Trollen Sie sich!

Die beiden Freunde sahen sich erstaunt an und machten sich dann schweigend ihre Gedanken über die barmherzige Gewohnheit, welcher das flüchtige mißhandelte Weib treu blieb trotz aller und der letzten Unbill, die es von diesem thierischen Gesellen erduldet.

Nämlicherweise wurde die Gesellschaft frühzeitig ihrer interessantesten Bestandtheile beraubt und nur die Hälfte des nächtlichen Häufchens trat endlich nach neun Uhr unter sorgsamer Escorte die Reise zum Commissär an. Um zu dessen Amtsstube zu gelangen, mußte man mehrere der belebtesten Straßen durchschreiten.

167 Mit den Arbeitern wurde kurzer Proceß gemacht; die beiden Herren in solcher Gesellschaft zu finden, that man sehr erstaunt. Als der Commissär aber hörte, daß sie Ausländer wären, bat er sie mit höflichem Achselzucken, in den miserablen Kerker sich zurückbegeben zu wollen, bis über ihre Person und deren Unschädlichkeit bei ihren Miethgebern hinreichende Erkundigungen eingeholt wären.

Widerreden konnten nichts helfen.

Bald waren sie wieder in der Keuche, die man, wie hinter Verbrechern, fest zuschloß und verriegelte.

Huber vertrieb sich die Zeit, indem er geduldig Alles las, was Menschenhände an die vier Wände geschrieben im Laufe langer Jahre. Curt stemmte sich gegen die Thüre und suchte der frischen Luft habhaft zu werden, die spärlich genug zu den Löchern der kleinen Eisenplatte eindrang. Er sah durch das Gitter in den Hof.

Ein schmales trübes Wässerlein durchschnitt denselben die Quere. Langweilig bogen sich etliche Grashalme hin und her, die zwischen den Steinen herauswuchsen. Ab und zu kam eine große rund gemästete Ratte geschlichen, hielt den Rüssel zwinkernd und schnobernd über die rieselnde Pfütze und huschte dann eiligst wieder davon, man konnte nicht sehen wohin.

Also vergingen Curt und Huber drei weitere Stunden zögernd und peinlich.

Mittag war vorüber, da man sie endlich mit der höflichen Erklärung freiließ: »daß die Häuserlinie des diesseitigen Boulevard Sebastopol zum Quartier Mouffetard gehörte, daß in demselben gar viel schlimme Leute wohnten und man deßhalb nicht streng und achtsam genug sein könnte.« Das unliebsame Mißverständniß wurde ausdrücklich bedauert.

Huber sprang in einen Wagen. Curt war ohnedies vom Hause nicht gar ferne. Er nahm ein Bad, schlief etliche Stunden und ging sodann ins Louvre. Dort blieb er lange sitzen vor dem schönen Steinbilde aus Melos, welches eine Venus vorstellen soll, und entsühnte also seine Augen von all dem Häßlichen und Unreinen, was sie in jüngster Zeit hatten schauen müssen. –

 

Von da zu Klopffechters war nicht weit.

Der Bediente, der ihm öffnete, staunte ihn mit großen Augen an:

– Sie hier, Sie, Herr Baron! Ah!

– Sie hier! rief der alte Samuel, da er dem laut Gemeldeten entgegeneilte.

Und mit dem Schrei des Entsetzens: »Sie hier!« stürzte gleich darauf Marie ins Zimmer.

Das arme Mädchen war todtenbleich und ihre schönen Augen purpurn gesäumt von Weinen. 168

– Wo haben Sie Marguerite hingebracht? riefen nun Beide zusammen. Und warum haben Sie uns das gethan?

Erst allmälig erlaubten es die Umstände, daß der Baron klar einsah, man habe sich im Hause bis zur Stunde mit der Ueberzeugung getragen, daß er, Curt v. K . . . . . . ., diese Nacht Marguerite heimtückischerweise entführt.

Curt war sprachlos.

Marie sprang auf:

– Sie ist vielleicht doch noch im Hause, hat sich versteckt, verirrt, sich unversehens eingeschlossen und kann nicht öffnen!

– Margarethe! Marguerite! Gretel! Gretchen! scholl es Gang auf, Gang ab.

Sie suchten sie im ganzen Hause; überall, wo sie sein und wo sie nicht sein konnte suchten sie sie. Suchten sie in der ganzen Stadt Paris. Und fanden sie nirgend.

Keiner von alle den Suchenden hat Marguerite im Leben je wieder gesehen, außer Einem – und dieser Eine spät, sehr spät, zu spät!

 
Ende des ersten Bandes.

 


 


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