Hans Hopfen
Verdorben zu Paris
Hans Hopfen

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II.

Zuweilen schon im Februar kommen dort sonnige Tage ins Land, daß Du meinen magst, Frühlings Anfang sei längst gewesen. Es ist die Luft so mild und so blau und ist was Tanzendes darin, Du weißt nicht was; – reckst die Ohren auf, denn Du meinst, es müßten die Vögel singen. Führt Dich Dein Weg durch den immer schönen Hof des Palais Royal, so bleibst Du, so geschäftig Du's hast, doch ein Weilchen zwischen den springenden Wassern stehen und betrachtest die Blümlein, die da blühen violett und rosenfarb, und blau und roth in allen Tinten. Drüben in der »kleinen Provence«, im Tuileriengarten, lärmen die Kinder, weiße Tücher wehen und ernste, langsame alte Leute lüften die Kleider, legen die Ueberröcke auf den Arm und heben die Nase prüfend gegen Himmel und dann zur Seite rechts und links, wo die kahlen Zweige leise beben im lauen Winde. Thun die Bäume doch just, als wären sie von Blüthen schwer.

Aber guck einmal genau zu, ob das nicht wirklich Knospen sind, die sie zeigen.

Das Gras ist freilich noch gar kurz, aber Du meinst, Du hörst es wachsen. Die liebe Natur sieht aus wie ein frühreifes Mägdelein, geheimnißfroh, putzig und etwas herbe, aber reizend nichts desto minder; sie hält nicht, was sie verspricht, Du weißt es ja, und ist doch wohlige Zeit bei ihr. Hat 58 Einer ein Herz, das gerne liebt, der glaubt bald, es sei Maienzeit, und sucht nach einem Herzen, das ihn mißhandelt. Wer aber Klugheit hat und Reichthum und, was dann selten fehlt, ein sauberes Landhaus und gute Freunde, der rüstet vielleicht diesen guten Freunden in jenem Landhaus ein fröhliches Fest, so ein kleines bewegliches Fest von heut auf morgen, ein Frühstück auf dem Lande, zu welchem Algier sein Gemüse und Chevet seine Fische schickt, und zwischen Champagner und Kaffee glauben die guten Leute wirklich, daß es schon Frühling sei und fahren endlich zurück nach Paris und ziehen sich zu einem Balle an und sind gegen Mitternacht wieder mitten im Winter, wo zwischen Lichterglanz und rauschender Musik mehr lebendige Blumen verblühen, als irgend in einem Saale zur höchsten Sommerszeit.

Das mag wol nicht allgemeine Sitte sein. Aber vielleicht war es eben deßhalb die Sitte Monsieur Klopffechter's – eine Sitte, die er hatte ruhen lassen in der Trauerzeit und nun gerne wieder aufnahm, da sein Töchterlein in der Welt erschienen.

Die Hüter und Pfleger der Villa waren von solch einer Improvisation ihres Herrn immer zeitlich genug unterrichtet, so daß Wirth und Gäste das Haus gelüftet und blank und wohnlich fanden, den Garten in möglichst einladendem Schmuck, für sich ein leckeres Mal auf brechenden Tischen und für ihre Pferde in geräumigen Ställen reichliches Futter.

Der Eingeladenen waren diesmal nur Wenige, eine bunte Serie intimer Bekannter des Hausvaters.

Uns sind davon bisher nur ihrer Zwei bekannt: der Baron und Fortunato.

Letzterer war, seit er Marien vom Fallen bewahrt, gar hoch in Klopffechter's Herzen angeschrieben, was nicht hinderte, daß ihn seine Augen mißtrauisch beobachteten.

Curt dankte seine Einladung lediglich einem Formfehler. Ein Gast, welcher in der elften Stunde sich entschuldigte, ließ ein Couvert frei, das man nun in der zwölften Stunde mit dem hochtrabenden Namen des armen Curt besteckte, um – »um Mademoiselle Marguerite eine Freude zu machen«.

Marguerite hatte nicht Ja, nicht Nein gesagt – das wäre ihr auch nicht zugekommen – sie hatte höflichst geknixt und geschwiegen.

Nun stand sie im Garten an einem Zaun, um den sich kahle Zweige bogen, an denen noch nichts Grünes war, und sah hinaus in die sonnige trügerische Luft. Sie horchte dem Winde, sie horchte der Uhr, die die Mittagsstunde schlug, sie horchte dem Pfeifen und Rasseln der nahen Eisenbahn, welches in kurzen Pausen sich wiederholte, sie horchte ihren eigenen unstäten Gedanken.

Ihre Gedanken waren bei dem Manne, mit dessen Einladung man 59 ihr eine Freude machen wollte. Und die Gedanken dieses Mannes waren bei ihr.

Sie sah ihn nur im Geiste, er aber sah sie mit leibhaftigen Augen, denn er saß kaum einen Büchsenschuß weit auf einem mäßigen Hügel dem Landhause gegenüber. Er hatte sich schon früh am Tage herausgemacht, denn seine Sorgen hießen ihn sparsamer sein als je; sie erlaubten ihm eine Landpartie nur in der letzten Classe der Eisenbahn zu machen. Um mit dieser aufgedrungenen Bescheidenheit den anderen Gästen und mit ihnen dem Wirthe kein Aergerniß zu erregen, war er vor Tag schon ausgefahren und harrte der bestimmten Zeit da oben, ins Anschauen jenes zierlichen modischen Gebäudes versunken, welches seit gestriger Nacht das Wesen barg, das er lieb hatte sich selber zum Trotz.

Wieder führte er Klage und Vertheidigung, führte sie ausführlicher, peinlicher denn je.

Aber wie die heftig Angeschuldigte nun leibhaftig vor ihm erschien, wie sie so unverhofft auf die Gartentreppe kam und dann an den langen Hecken, die mit blätterlosen dornigen Fingern alle nach ihrem schönen weißen Cachemirkleide zu greifen schienen, halb sinnig, halb traurig einhergewandelt kam – wie sie nun dastand, so nah, daß er sie hätte beim Namen rufen können, und die Hand in die liebe Luft streckte, um nach etwas über ihr zu haschen – er konnte nicht sehen nach was – da war ihre Sache gleich entschieden, alle Richter in seinem Herzen gaben ihre Stimmen zu Gretchen's Gunsten ab und hoben das schlanke, rasch bewegliche Menschenbild vom Armensünderstühlchen wieder auf den Thron seiner Wünsche.

Sie sah ihn nicht und sie dachte auch derweilen lange nicht mehr an ihn.

Ihre Gedanken waren wie Wetter und Wind und auf dem Thron ihrer Wünsche saß ein anderer Mann, der trug den Schnurrbart eines Zuaven im wettergebräunten und doch so liebenswürdigen Antlitz und auf der Brust das Kreuz der Ehrenlegion.

Wieder schlugs vom Thurm im Dorfe und neben dem Hause knarrte und knirschte der spröde Kies unter zwei großen dünnspeichigen Rädern, die ein prächtiges Cabriolet nach neuester Mode trugen.

Sie wußte wohl, wem Roß und Wagen gehorchte, sie kannte ja die Stimme des Lenkers nur zu gut, der grüßend und lachend zu den Freunden sprach, welche ihm ein Willkommen riefen, aber sie wendete das glühende Haupt nicht um; mit beiden Händen faßte sie die Latten des Zaunes und sah gewaltsam, blicklos, starr vor sich hin. Sie regte sich nicht, sie athmete kaum.

Curt's thörichte Seele jauchzte vor Freuden in der Stille gespannter Betrachtung.

Ihm schien, was sich ihm zeigte, deutlichster Beweis für das, was 60 er wünschte: Fortunato war ihr gleichgiltig; er sahs ja mit Augen, daß sein Kommen sie nicht rührte, und innig bat er ihr jeden leisesten Gedanken ab, der mit einem Hauch von Zweifel an ihr gefrevelt.

Es war in dieser Secunde, als ob die Gewalt seiner Sehnsucht das Mädchen körperlich berührte. Denn wie beim Namen gerufen zuckte es zusammen und wendete die Augen nach dem verkommenen Baum auf der Höhe, unter dessen schlaffen Zweigen Curt saß und unverwandt herüberstarrte.

Sie sah ihn, sie erkannte ihn, sie wurde blaß und biß sich in die Lippen. Dann fuhr sie unwillkürlich schmerzhaft nach dem Herzen.

– Ueberall! murmelte sie und schloß die Augen.

Sie wendete sich und lief was sie laufen konnte dem Hause zu.

Wieder klang Pfeifen und Läuten und Tuten vom Bahnhof herüber und bald darauf aus der Villa ein ladendes Glöckchen, das Zeichen, daß der Herr bedient sei.

Da sputete sich Curt, den Hügel herab und um die Ecke des Zaunes zu kommen.

Aber er war doch der Letzte, der von den Gästen eintraf, was Klopffechter übel genug vermerkte, obwol er ihm mit umso auffälligerer Freundlichkeit beim Willkomm die Hand schüttelte.

Nachher aber wendete er sich ab und sprach zu sich selber in kosmopolitischer Erhabenheit:

– Sie sind doch unverbesserlich, diese groben deutschen Klötze!

Dies sprach er auf Französisch, denn wie alle Narren der Civilisation bildete er sich ein, bereits »französisch zu denken«, spottete seiner selbst und wußte nicht wie. –

Das Hauptgespräch der Gäste drehte sich noch lange um Fortunato's Vollblutpferd. Ein Jeder wußte eine andere Vortrefflichkeit daran zu preisen, Haltung und Farbe, Gestaltung und Bewegung, sein Feuer, seine Kraft fanden enthusiastische Lobredner; das ganze Gespann war vom besten Geschmack und mußte ein rundes Sümmchen gekostet haben.

Manch Einer frug sich vielleicht, ob denn der corsische Herr so reich sei oder wie er sonst zu solchem Besitz gelangt. Sie kamen nicht dahinter. Uns ist das leichter zu enträthseln.

Seit jenem Abende, welchen wir im vorigen Abschnitt erzählt, schlossen sich Anatole und Fortunato umso enger aneinander, obwol oder eben weil ihre gegenseitige Freundschaft an demselben Abende heftige Stöße empfangen hatte. Anatole that dies, um seinen möglichen Nebenbuhler nicht aus dem Auge zu lassen und jeden seiner Schritte zu beobachten, vielleicht zu gängeln. Die Andere war bei aller soldatischen Geradheit und ungeschwächter Leidenschaftlichkeit nicht ohne Arg und Mißtrauen.

61 Sein Herz ging zuweilen mit ihm durch, seine Zunge niemals; seine Faust war rasch, sein Sinn war zähe; die Weiber hatten ihm manchmal schon ein X für ein U gemacht, aber den besten Freund sah er von zwei Seiten, und erfand er einen hinterhältig, so galt ihm Zeit und Mühsal gering, den Listigen zu überlisten.

Dem glänzenden glatten Anatole hatte er den Schalk bald abgemerkt, und seit er sich eingestandenermaßen in Nebenbuhlerschaft mit ihm begeben, war er auf allerlei Heimtückerei gefaßt und trug es selber fein säuberlich faustdick hinter den Ohren.

Eine gewaltige Neigung, die mit dem Bewußtsein lebensentscheidender Bedeutung eine starke männliche Seele überkommt, macht diese besonders im Beginn überaus sorgsam und bedächtig und, wo es den höchsten Wunsch gilt, unerbittlich gegen sich selbst und alle andere Creatur. Dieselbe Leidenschaft, die den Schwächeren verblendet und berauscht, stärkt, erhöht, überspannt in mächtigerer Natur alle Fähigkeiten.

Freilich auch der Stärkste ist zuweilen noch schwach genug – wer wüßte nicht davon zu erzählen!

Die Lebensweise der beiden Gesellen gewann durch ihr sonderbares Verhältniß wol an Regelmäßigkeit, an Sittlichkeit aber durchaus nicht. Sie begünstigten sich gegenseitig in allen tollen Streichen, erwiesen sich bezüglich derselben die erstaunlichsten Gefälligkeiten, ja große Opfer. Die Gesellschaft fing an, sie die Unzertrennlichen zu nennen und zuweilen den Einen mit dem Andern zu verwechseln.

Gespielt wurde besonders viel und sehr hoch. Es war ganz erstaunlich, wie Fortunato gewann, immerwährend gewann, er mochte sich so unregelmäßig, so keck beim Pointiren benehmen, als es ihm nur einfiel. Zuweilen sprang wie eine schelmische Geliebte wol einmal das Glück zur Seite, aber nur um fester, dauernder sich an ihn zu schmiegen.

Anatole daneben schien schlechte Geschäfte zu machen, sein Gewinnst war mäßig, sein Verlust manchmal recht auffällig. Hie und da strich er wol auch einmal gehörig ein, aber das geschah sehr selten, und weit öfter sah er sich genöthigt, den guten Freund um zeitweilige Aushilfe anzugehen. Fortunato hatte liegendes Geld und konnte sich daneben noch Wagen und Pferde halten – bei Anatole durfte von solchem Luxus keine Rede sein; er tröstete sich derweilen mit dem Sprichworte und rief dem seinen Gewinn einstreichenden Genossen lächelnd zu, daß dieser bei solchem Glück im Spiel unmöglich Glück in der Liebe haben könnte.

Von Klopffechter und Familie war wie nach einer stillschweigenden Uebereinkunft zwischen Beiden nie mehr eine Sylbe gesprochen worden, bis der Capitän eines Tages die Einladung zu dem plötzlichen Frühstück erhielt.

War es, daß Klopffechter auf die Wünsche seines Töchterleins, welche 62 er ohne große Mühe errieth, gern einging, war es ein anderer Grund, Anatole ward nicht gebeten.

Er kam darüber so sehr außer Fassung, daß er von Fortunato verlangte, er solle gleichfalls wegbleiben, indem er ihm mit großem Aufwand erregtester Beredtsamkeit begreiflich zu machen suchte, daß es sich um eine gemeinschaftliche Angelegenheit handelte, daß man bei der Notorietät ihres freundschaftlichen Zusammenlebens, wenn man den Einen nicht lade, auch den Geladenen nicht zu sehen, sondern nur zu beweisen wünschte, daß kein zufälliges Vergessen, daß die Absicht zu kränken vorläge.

– Du hast vielleicht recht, sagte Fortunato, und sah dabei sehr gläubig aus.

Am Vorabend, als sie zum Spiele sich anschickten, nahm der Marquis den Officier beiseite und lispelte, seinen Arm fast zärtlich pressend, ihm angelegentlichen Tones zu:

– Nicht wahr, mein Freund, Du wirst morgen nicht nach Saint-Cloud fahren?

– Ich weiß heute nicht, was ich morgen thun werde, entgegnete der Corse etwas ärgerlich.

– Ich aber möchte es heute Abend wissen, versetzte Anatole mit boshaftem Ton.

– Wozu soll das gut sein?

– Vielleicht für Mancherlei, mein guter Camerad.

Damit drehte sich der Marquis auf einem Fuß um und trat zum Spieltisch.

Fortunato folgte ihm mit überraschtem Sinn. Er pointirte nach gewohnter Weise. Anatole hielt die Bank; er sah den Corsen mit einem kurzen scharfen Blick an und schlug die Volte, Fortunato verlor; zwei-, drei-, viermal hintereinander.

Die Ahnung einer entehrenden Wechselbeziehung zwischen ihm und dem adeligen Spießgesellen stieg plötzlich in seinem Gewissen empor, so abscheulich, so unerhört, so schmachvoll und doch so glaublich, so einleuchtend, so aufdringlich, daß es Fortunato war, als sähe er diesen entsetzlichen Gedanken körperlich, greifbar vor sich. Ein blutiger Satan schien aus dem grünen Tisch herauszuwachsen, ihn grinsend zu packen, zu würgen und alle seine Sinne zu erdrücken.

Auf einen Augenblick verging sein Bewußtsein. Er war auf einen Stuhl gesunken, sah starr vor sich nieder, alle Glieder waren gelöst und die Hände berührten fast den Boden.

Gute Freunde meinten, daß ihn, der immer zu gewinnen gewohnt, das plötzliche Unglück im Spiel so niedergeschlagen hätte. Einer, der ihm näher stand, fragte, ob er sich unwohl fühlte und fügte ganz leise hinzu, ob er ihm mit Geld aushelfen sollte.

63 Fortunato entschuldigte sich mit einem plötzlichen Anfall physischen Unbehagens, trank einen Schluck aus einem schnell gebrachten Glase Wasser und erklärte dann, daß es vorübergegangen.

Er faßte sich mit aller Gewalt, ließ eine Weile verstreichen, und nachdem er seines Gesichts und seiner Stimme vollkommen Herr zu sein glaubte, setzte er sich wider näher zum Spieltisch. Er lehnte alle die so flüchtigen als höflichen Beileidsfragen lachend ab.

Während einer Pause, welche die Spieler machten, wendete sich Fortunato im gleichgiltigsten Tone von der Welt, sein Portefeuille musternd, zu Anatole:

– Ich habe Dir ganz vergessen zu sagen, daß ich morgen in Saint-Cloud frühstücke. Drolliger Einfall das, im Februar ein Frühstück auf dem Lande zu geben. Was?

– Einfall eines Millionärs, fügte ein geschniegelter Geck, welcher Fortunato zunächst saß und wohlgefälligst seine glänzenden rosenfarbenen Nägel betrachtete.

– So, so, sprach Anatole ganz leise und ohne von den Karten, die er mischte, aufzuschauen, Du frühstückst morgen in Saint-Cloud? Ei, ei!

– Ja! erwiderte der Corse so rasch, so laut, daß es wie eine Detonation klang und der eine und andere der Genossen ihn ansah.

Auch der Marquis war unter diesen, und es war der Blick, den die beiden Unzertrennlichen wechselten, wie von zwei schußfertigen Männern auf dem Platze, welche die geladene Pistole bereits in der Hand hängen haben.

– Belieben die Herren ihr Spiel zu machen, fuhr Anatole höflich und gelassen fort.

Es gingen einige Touren vorüber, ohne daß der Capitän sich betheiligte. Dann setzte er mit einemmale alles Geld, das er bei sich hatte, auf eine einzige Karte.

Es war eine hohe, sehr hohe Summe.

– Bist Du toll?

– Das ist stark!

– Du hast Dich vergriffen! und ähnliche Ausdrücke wurden im allgemeinen Erstaunen laut.

– Was sagt der Herr Banquier? fragte Fortunato kalt.

Anatole erwiderte nicht sofort. Er preßte die immer blassen Lippen in einander und fuhr mit dem Mittelfinger der linken Hand über die rechte Seite seines Halses. Seine Ueberlegung mochte seiner Bosheit im Augenblicke zuflüstern:

– Paß auf, oder der italische Narr ist Alles im Stande.

Verlauten aber ließ er nur:

– Ich sage, daß Du aussiehst, als wolltest Du mich ruiniren.

64 – Vielleicht! warf der Corse hin.

– Ah! lächelte Anatole mit sanftem Kopfschütteln. Du wirst mich nicht ruiniren. Meine Herren, das Spiel ist gemacht.

Man streckte die Hälse, Einige standen auf, als ob sie dann mehr sehen könnten.

Fortunato verwendete die Augen nicht von den Fingern, welche die Karten umschlugen. Es ging Alles nach Regel und Gewohnheit. Links – rechts. Da kam seine Karte – er hatte gewonnen.

Anatole, der an diesem Abende viel Glück gehabt, konnte baar ausbezahlen. Es reichte eben hin, aber er erklärte auch, daß er für diesen Abend erschöpft wäre, und es schien, als ginge ihm der Verlust mehr zu Herzen als sonst.

In der Seele des Corsen fielen die Gedanken über einander her wie die Wogen im Sturme, wo eine die andere verschlingt. Seine grausame Probe hatte versagt. Das Mitleid sprach auch darein. Ein edles Herz ist immer leicht geneigt, sich selber der Uebereilung zu zeihen, sobald es ein anderes einer Schändlichkeit fähig halten soll.

Er ging auf Anatole zu, faßte seine Hand und sagte gutmüthig, ja reuevoll:

– Ich habe Dir wehe gethan.

– Ei was, versetzte der Marquis fürnehm gelassen, aber Du thust so, daß ich Dich nicht verstehe. Bist Du toll geworden?

– Vergib!

– Ich wüßte nicht was; ich habe nur Glück zu wünschen.

Er sah dabei lächelnd und zufrieden aus, wie er dem Soldaten die Hand schüttelte und dachte dabei:

– Du bist doch also nicht der Stärkere von uns Beiden und ich habe mich nicht vor Dir zu fürchten.

Laut sagte er nur:

– Morgen wirst Du mir eben Revanche geben . . . und wer weiß, morgen wechselt vielleicht das Glück schon während des Frühstücks.

– Nein, Anatole. Weder morgen, noch sonst einmal werde ich Dir Revanche geben. Mein Wort darauf, ich spiele nie wieder. Ich tauge nicht dazu. Das Spiel macht mich schlecht und ungerecht.

Anatole hörte dies Geständniß nach dem eben Erlebten mit außerordentlicher Zufriedenheit. Er betrachtete den Corsen mitleidig wie einen Dummkopf und sagte:

– Du hast Recht, es fehlt Dir an kaltem Blute.

Seine Eitelkeit feierte ein kostspieliges, aber ein glänzendes Fest. Von dessen freudigem Glanze wurde der Aerger über die mangelnde Einladung Klopffechters aufgezehrt; die Kosten ließ er später Andere bezahlen.

65 Fortunato that es nun fast leid, nach Saint-Cloud zu fahren. Das däuchte ihn so während des Einschlafens; als er aber am andern Morgen erwachte, waren alle seine Gedanken schon voraus über Land gegangen, und es drängte ihn sehr, ihnen zu folgen.

Im Bois de Boulogne schien die Sonne so lustig und es begegneten ihm viele Freunde zu Roß und Wagen. Die lobten sein Ansehen, seine Laune und vor Allem sein Pferd.

Fortunato hatte bisher im Leben wenig Zeit gefunden, sich am Besitze zu erfreuen. Kaum ein Jüngling, war er unter die Soldaten gegangen und, Soldat mit Leib und Seele, hatte knappe Bedürfnisse und konnte noch heute das Wenige, was er nicht entbehren mochte, zur Noth in einem Tornister mit sich führen. Erst in diesen letzten Monaten, da er sich zu Paris von den Krankheiten, welche ihn in Vera-Cruz befallen, erholte und in Müßiggang und in allen hauptstädtischen Freuden sich erging, hier zuerst hatte er auch ein weichlicheres Leben erträglich finden gelernt und daß es nichts Unentbehrlicheres gäbe als das liebe Ueberflüssige.

Noch vor einem Monat hätte er sichs nicht träumen lassen, daß er in eigenem Gefährte durchs Boulogner Holz kutschiren werde, und nun gar mir welchen Pferden!

Die Kenner blieben stehen und schauten ihm bewundernd nach, wie es so stolz und leicht hintrabte, und manche schöne Frau, die in der Wagenmenge seiner nimmerdar geachtet, fand nun das Roß, doch auch den Lenker lobenswerth.

Die Leute fragten sich, wer das wäre.

– Ein corsischer Prinz, sagten die Einen; ein abenteuernder Zuave sagten die Anderen.

– Warum soll ein Capitän zu Fuß nicht so reiche Eltern haben, die ihn fahrend machen können, absonders wenn er so weit her ist? – war die Meinung Anderer, denen wieder ein Anderer versicherte, daß er selber zu Ajaccio gewesen, und im Elternhause des interessanten Mannes, da ginge es gar hoch und herrlich her und in den Ställen stünden der Pferde mehrere, die um kein Haar geringer wären, als das da vorne vor Goldlinds fashionabler Peitsche.

Das war nun wol arg aufgeschnitten, und dem Goldkind mir der Peitsche fiel es selber zu Sinn, wie er zu dem lieben Thier gekommen. Von den Karten wars gekommen, wie so Manches, worum ihn jetzt die Weisen ansahen und die Thoren beneideten.

Noch einmal fielen ihn die Zweifel an, die ihm gestern Abend so unerwartet über den Kopf gewachsen. Wären sie wahr, er wollte lieber gleich zur Erde springen und dem Liebling ein Messer in den Hals schlagen, als noch einen Schritt weit, wenn auch unverschuldet, in Schanden und Sünden fahren. Aber wars denn möglich?

66 Er selber schalt sein corsisches Blut, das so leicht in Wallung zu bringen; wie Vielen hatte es schon Unrecht gethan, wie so oft ihm selbst! War Anatole nicht ein allgemein geachteter Cavalier? ein Gentleman vom Wirbel bis zur Sohle? Ging er nicht mit Ministern zum Spiele und mit Fürsten zu Tisch? Sein ganzes Gebahren vom gestrigen Abend, nur dem Rasenden konnte es verdächtig erscheinen. Oder aber war es denn doch nicht unverdächtig?

Fortunato war wild zu Muthe, er gab dem Pferde harte Führung, daß es gekränkt in seine Zügel biß und wie geängstet durch unziemliche Behandlung das schwanke zierliche Wägelchen jählings davonriß.

Sein Herr beruhigte das stolze schäumende Thier, und wie er es betrachtete mit aufmerksamen Blicken, kam wieder Freude über seine Seele. Kein Fehl, kein Makel war an ihm sichtbar; Kraft und Muth und Schönheit jeder Zoll; es konnte nicht vom Bösen kommen. Es war Alles gut an ihm; auch sein Besitz und Eigenthum war gut. Also weichet, weichet, blaue Teufel! Gebt die Luft frei über des Gerechten Haupt!

Er beschrieb mit dem langen Peitschenende wiederholt einen winzigen Kreis über sich und also fuhr er dahin.

Und wenn nun Einer gekommen wäre und hätte ihm versichert und bewiesen, daß er das Geld, was I-Mu gekostet, und anderes mehr in trügerischem Spiel gewonnen, in einem Spiel. das dem höchstehrenwerthen Anatole gehorchte wie einem anderen Spitzbuben Nachschlüssel und Brecheisen – wer weiß, ob er ihm in diesem Augenblicke geglaubt, ob er ihn auch nur gehört hätte.

In diesem Augenblicke hörte er nichts als die Stimme Mariens, die unerhört liebliche Dinge bald deutsch, bald französisch zu seinem Pferde sprach; er sah nichts als die glänzende kleine weiße Hand, die bald durch I-Mu's glänzende lange braune Mähne fuhr, bald ein Stückchen Zucker unter die gewaltigen Zähne hielt. Und nun das glühende Gesicht, das blonde Haar, das schmeichelnd, schmollend, liebkosend sich an den Hals des schönen Thieres drückte!

Liebt man doch Alles, was dem Geliebten gehört, um wie viel mehr das bevorzugte lebendige Wesen, mit dem er alltäglich verkehrt, für das er auszeichnende Sorge trägt!

Wenn Du die Mädchen kennst, lieber Leser, so weißt Du's, daß ein Mund, dessen Lippen das schüchternste Geständniß noch nicht überschritten, in zärtlichen Metaphern, in wunderlieben seltsamen Fragen überquillt gegen das Roß, das den heimlich Verehrten trägt, den Hund, der ihn begleitet, das Vögelchen, das seine Stube theilt.

Fortunato kannte die Mädchen wenig, aber es kam doch ein seliges Ahnen über ihn, als hätte an dem Kusse, den Samuel's Tochter langsam und 67 nachdrücklich unter des Pferdes Mähne drückte, auch der Eigenthümer einen flüchtigen Theil.

– Geh hin, guter I-Mu, und langweile dich nicht zu sehr in unserem neuen Stall; nach Tische sehen wir uns wieder.

Sie nickte und winkte dem Braunen nach, welchen ein Diener ausgeschirrt nun gegen die Nebengebäude zog. Er sah noch einmal mit großen Augen zur Seite, schlug mit dem Schweif fürnehm gelassen nach rechts und links und verschwand.

Das Mädchen sprang die Stiege hinan, ohne Fortunato mit einem Blicke zu streifen.

Der kam an des Speisesaals Thüre, er wußte nicht wie und wußte nicht, was er daselbst zu Margarethe sagte, die Alles sehr schön fand, was er sagte, und nicht nur schön, auch bedeutungsvoll.

Als dann Curt sich zu ihr gesellte, verfiel sie in schlimmere Laune.

– Du siehst heute so hübsch aus, Gretchen! raunte er ihr freundlich zu.

Mein Gott, das sagte Curt jedesmal, so oft er sie sah, und er sah sie so oft. Sie durfte es billigerweise überhören und ihm gleich eine wichtigere Lehre geben, zu der sie später vielleicht keine Zeit finden dürfte.

– Du hättest doch wenigstens als der Vorletzte kommen können. Sagte Dirs doch oft schon, wie pünktlich Monsieur Klopffechter auf die Stunde hält, auf die Speisestunde nun gar. Aber bei Dir ist alles Reden umsonst.

– Ich bin nun einmal so ein Querkopf! versuchte der Baron zu scherzen.

Aber Marguerite versetzte in bitterem Ernst:

– Du sagst es, mich aber wird mans gelegentlich fühlen lassen. Du vergißt, daß ich nicht die Herrin im Hause bin, sondern die Dienerin.

Er hatte ihr gern erwidert:

– So verlaß dies Haus, Du meine Herrin!

Aber er that es nicht.

Der neueste Vorschlag, den er ihr machen, die Aussichten, die er ihr zeigen wollte, waren bescheidenerer Art als die früheren, so kleinbürgerlich, daß sie erzürnten Sinnen gar nicht vorzutragen waren, am allerwenigsten hier zwischen dem Knistern seidener Gewänder und dem Klirren der güldenen Löffel. Er schwieg während die Anderen schwatzten und dachte zürnend zu sich selber:

– Du bist ein unverbesserlicher rücksichtsloser Geselle, der dem armen Mädel nichts als Aerger und Ungelegenheiten verursacht. Setze Dich und schäme Dich!

Er setzte sich auf den Platz, den man ihm angewiesen. Das war dem Herrn des Hauses gegenüber, zwischen einem Unbekannten aus Portugal und 68 einer Gräfin des Kaiserreichs, deren Mann als General-Steuereinnehmer in seiner Provinz und als keineswegs entfernter Verwandter des Allerhöchsten Wesens in ganz Frankreich von großer Geltung war.

Die Mehrzahl der Eingeladenen – im Ganzen etwa vierzehn oder fünfzehn – waren Deutsche (und unter diesen die Mehrzahl Frankfurter) welche zu Paris ihr Hauswesen hatten. Aber der wenigen Wälschen zuliebe sprach man französisch.

Klopffechter that dies indessen meistentheils, wenn er Gesellschaft bei sich sah. Und gute Freunde, welche böse Zungen hatten, entblödeten sich nicht, auch den Grund dafür anzugeben. Das Französische nämlich sprach Samuel, ohne Aergerniß zu geben, nicht besser und nicht schlechter als die meisten zu Frankfurt a. M geborenen Börsegrößen; das Deutsche jedoch vermauschelte er in einer so empfindlichen Weise, daß selbst seine Verwandten ihm nachsagten, man merke ihm noch zu sehr die polnische Abkunft an; und die Damen der Geldaristokratie in der freien Reichsstadt bezeichneten seine Redeweise scherzhaft als »una certa cantilena Svizzera.«

Klopffechter hatte die liebe Gewohnheit, seine Tischgesellschaft mit aller Harmlosigkeit auf Kosten eines Bruchtheils derselben bei Laune zu erhalten. Heute hatte ers auf den zuletzt gekommenen abgesehen, und er gab sich Mühe, diesen in ein Gespräch zu führen, wo er sich leicht ereifern möchte.

Der Baron hatte die liebe Gewohnheit, bei Tische stark zu trinken. Darauf baute der Hausherr seinen Plan.

Allein Curt konnte viel vertragen, und das Gespräch ging noch immer alltäglich und jüngferlich um den Tisch herum. Endlich kam man auf Samuel's Söhnchen zu reden, einen zwölfjährigen aufgeweckten Burschen, der im Collège Sainte Barbe gedrillt wurde und für diesmal nicht ausgebeten war.

Curt, welchen ein Lehrer dieser Anstalt Landsmann und Freund war, berichtete, wie ihm dieser über Maxime's Fleiß und Anlagen viel Gutes erzählt hätte.

Klopffechter ließ sich dies Lob mit verzeihlichem Behagen gefallen. Und Curt verbarg nun auch die weniger gefällige Kehrseite der einmal ausgegebenen Münze nicht, indem er dem Vater nicht verhehlen zu dürfen glaubte, daß der Lehrer für den seinen Mitschülern vorausgeeilten Knaben angestrengtere Beschäftigung wünschte, als ihm in der Anstalt geboten würde; denn wie die Sachen stünden, gewöhnte sich der müßige Geist ans Flaniren und würde oft über Gebühr zerstreut befunden.

Sein Vater meinte, die armen Jungens würden genug geplagt. Außerdem könnte der Lehrer seinem Fleisch und Blut ja besondere Aufmerksamkeit erweisen.

– Dazu gebricht es meinem Freund an Zeit, antwortete Curt; auch wäre es gegen Regel und Gebrauch in der Anstalt. 69

– Das thut mir leid, sagte Samuel schmunzelnd und schmatzend, und wird Maxime sehr erfreuen. Faullenzen ist so süß und im späteren Leben so selten.

Curt that einen Schluck und sprach zutraulichen Tones zu dem Alten:

– Sie sollten ihren Maxime nach Deutschland schicken auf ein tüchtiges Gymnasium, nach Schulpforta, nach Stuttgart oder wohin Sie wollen, auf daß er zeitig in classischen Studien gedrillt würde; er hat das Zeug zu einem tüchtigen Philologen.

– O, es gibt auch in Frankreich tüchtige Philologen, sagte ein feister Frankfurter, der »mit Nichts in der Tasche« vor neunzehn Jahren nach Paris gekommen war und jetzt bereits seit achtzehn Monaten nicht mehr »auf der Börse« ging, sondern mit seinen Renten ein zurückgezogenes Leben führte.

Er war Junggeselle, ging bei Klopffechters aus und ein wie Einer, der zur Familie gehört, und liebte es, den Protector Margarethens zu spielen. Er saß wie gewöhnlich auch diesmal bei Tische neben ihr.

– Ich will das durchaus nicht bestreiten, entgegnete Curt; allein der Kaiser, der gewiß ein competenter Franzose ist, meinte doch jüngst die Glückwünsche des Augsburger Gymnasiums wegen der neuen Karte von Gallien zurückweisen zu müssen, dieweil sich die Wissenschaft in Deutschland gegen besagtes Product ausgesprochen. Es scheint also, daß selbst Napoleon auf gewissen Gebieten deutschem Wesen und Wissen entschiedenen Vorzug einräumt. Und ein Lehrer der classischen Sprachen und Literatur am Collège de France, der Träger eines berühmten Namens, versicherte mir neulich, wie ich wortgetreu wiederhole:

»Je ne sais pas le Grec moi, mais il n'y a personne en France qui le sache.«

– Bei uns zu Hause gibts vielleicht zu Viele, die Griechisch verstehen, sagte seufzend ein Doctor aus Schwaben, der im Jahre 49 hatte flüchtig werden müssen und seitdem in der Fremde geblieben war.

Er hieß mit Namen Huber und hatte sich nach mancherlei Abenteuern und Entbehrungen sein Brod mit Lectionengeben und Codicesabschreiben verdient oder mit Hilfsarbeiten für glücklicher ins Leben gestellte Gelehrte. Einer der Letzteren, ein Mann, der zur Zeit dieser Geschichte gar hoch im Ansehen stand, war zufällig auf die seltene Arbeitskraft des deutschen Doctors aufmerksam geworden.

Er hatte bald seinen Werth erprobt, machte ihm verhältnißmäßig glänzende Propositionen, durch die der wenig ehrgeizige Mann als des Anderen Handlanger in Pflicht genommen ward. Er hatte nun ein gutes Auskommen und alle Hände voll Arbeit und fühlte sich sehr glücklich. Dem großen Mann ward er bald unentbehrlich; derselbe gewann die treue Seele wirklich lieb und zog den Pflichtigen auch in seine geselligen Kreise.

70 So konnte es nicht fehlen, daß einige – und wahrlich nicht unverdiente – Strahlen des Glanzes auf den bescheidenen Begleiter fielen und man nannte ihn bald den Adjutanten des Herrn . . . . .

Seitdem wurden auch seine deutschen Landsleute auf ihn aufmerksam und zogen ihn, wie Herr Klopffechter, zuweilen in ihre Kreise.

Wie die meisten Emigranten stand Huber noch heute auf dem Standpunkte des Jahres 48, verhielt sich gegen alle seitherige Entwicklung, für die er kein Verständniß erwerben wollte, mit nergelndem Spott und seines Beweisverfahrens Kern und Seele war und blieb der gutgläubige Satz: Haben wir unserer Zeit nichts Dauerndes zuwege gebracht, die wir doch damals ganz andere Kerle waren als ihr, so werdet ihr halbgewachsenen Nachgeborene erst recht nichts zu Stande bekommen: ergo sind die Zustände im lieben Vaterlande hoffnungslos.

Genau besehen, wer will ihn ob dieser Anschauungsweise verdammen? Die Partei, die Fraction, so hochwichtig sie sein, so redlich sie's meinen mag, hat immer nur eine vorübergehende Bedeutung; sie thut ihre Pflicht, indem sie sich abnützt und ihre Berechtigung zu existiren aufbraucht. Die Politik ist Tagesarbeit; ewig ist nur der Patriotismus.

Ein Patriot aber war der Mann trotz aller Verstimmung und Verbissenheit allezeit geblieben; zuweilen ließ er sogar mit sich reden, und als ihm Curt jetzt erwiderte, daß die Leute nie zu viel lernen könnten, regte sich der Nationalstolz der Bildung in ihm und lachend gab er zu, daß die Geschichte, wie sich das Schiff der schwedischen Freiwilligen der – »Seeküste von Polen« näherte, eine Geschichte, welche aus den Spalten der Opinion Nationale die Runde durch die französischen Zeitungen machte, in dem kleinsten deutschen Blättchen unmöglich sei.

Nun ward es Curt warm ums Herz; er sprach dies und das von Lesen und Schreiben, vom allgemeinen Stimmrecht bei nicht obligatorischem Schulunterricht, und gab dann erbauliche Geschichten von deutschen Handwerkern und Bauern zum Besten, die alle mehr oder minder zum Lobe deutscher Art und Sitte beitrugen.

Auch die großäugige Gräfin, von der die Sage ging, daß sie deutsch lesen könnte, erzählte einiges Unbedeutende, was sich auf Badereisen in Deutschland vor ihr zugetragen, und es herrschte Einigkeit und Laune an Klopffechter's rühriger Tafelrunde, als ihn, der sich weiter nicht mehr am Gespräch betheiligt hatte, Curt mit zutraulichem Muth ansprach:

– Nun, werther Hauswirth, wann schicken wir unseren kleinen Maxime nach Deutschland hinüber?

Klopffechter sah ihn durchdringend an, aß dann ruhig weiter und sagte, das Brod brechend, mit gemüthlicher Stimme:

– Ich schicke den Maxime über die Seine, nicht über den Rhein; ins Collège Sainte Barbe ists vorderhand just weit genug; treibt ihn sein 71 eigener Wille einmal weiter hinweg, so mag er darnach thun, wenn er einmal einen eigenen Willen hat. Aber vorher wird fein ruhig im Lande geblieben.

– Es ist Schade um den Jungen.

– Schade – warum?

– Weil ihm, wie gesagt, im Collège Sainte Barbe diejenige Zucht nicht wird, welche seinen Anlagen zu wünschen wäre.

– Ah bah, Sainte Barbe ist anerkannt ein vortreffliches Institut.

– In Frankreich sei's drum; aber vergleichen Sie's einmal mit einem württembergischen, einem preußischen Gymnasium!

– Sei's drum auch! Aber was geht ein württembergisches oder preußisches oder lippe-lobensteinisches Gymnasium mich oder gar meinen Maxime an?

– Na, ich dächte, ein Weniges ginge ihn selbst Lippe-Lobenstein an.

– Nicht das Mindeste!

– Wieso nicht das Mindeste?

– Da er das Glück hat, Franzose zu sein.

Klopffechter sprach diese Worte mit kalter ruhiger Bewußtheit langsam und deutlich, einer furibunden Entgegnung wol gewärtig.

Der Emigrant sah bald ihn, bald Curt an, der sprachlos sein Glas in der Hand hielt und zu überlegen schien, ob es nicht das Gerathenste sei, dem Lästerer das Glas und dann alles Uebrige, was zu Händen war, an den Kopf zu werfen.

Ein Bedienter präsentirte eben eine neue Weinsorte und Samuel gab dem Schweigenden so bedeutsam Wink und Weisung, wie sich Kenner und Feinschmecker einander weisen und winken, als wüßte er von keinem herben Worte, das zwischen ihnen gefallen.

– Glück hat – Franzose zu sein? wiederholte Curt. Ich verstehe Sie nicht, Herr Klopffechter.

– Ich verstehe Sie sehr wohl, mein lieber guter Herr Baron, und ich weiß Ihren patriotischen Eifer sehr wohl zu schätzen für Sie, aber für mich, für Maxime – Sie scheinen zu vergessen, daß Maxime ein Jude ist wie sein Vater.

– Deßhalb sind Sie aber doch ein Deutscher.

– Freut mich, wenn ich die Ehre habe. Aber Maxime ist auf französischer Erde, eines französischen Bürgers Sohn geboren, ist ein Franzose, und daß das wirklich für ihn ein Glück ist, werde ich Ihnen gern beweisen. Nur müssen Sie billig sein und mir erlauben, mich dabei auf meinen höchstpersönlichen Standpunkt stellen zu dürfen, auf den Standpunkt des practischen Mannes und Vaters, der seine Kinder liebt und ihr bestes Gedeihen und Glück will. Es handelt sich also wohlverstanden nicht um Sie, liebster, bester der Barone, denn ich kann nur wiederholen, daß ich Ihre patriotischen 72 Neigungen und Ansprüche vollkommen, d. h. für Ihre Person, gerechtfertigt halte. Es handelt sich dabei auch nicht von meiner Wenigkeit, denn mein Sinn ist nicht wetterwendisch und ich weiß nicht, was ich nach Allem, was ich erlebt und erlitten, dem alten Herrgott zur Antwort gäbe, so es ihm einfiele, mich nach etlichen Seelenwanderungen zu befragen, welcher Nation im Schoße ich neuerdings geboren werden wollte. Es handelt sich um meinen Sohn Maxime, den Sie selber ein begabtes Kind zu nennen die Güte hatten, und da entsteht die Pflicht für einen rechten Vater, alle Sentimentalitäten beiseite zu setzen und sich nackt und roh die Frage zu stellen, wo wird Dein Sohn sich am glücklichsten zu einem tüchtigen Menschen entwickeln und seines Wirkens Früchte so ungeschmälert als thunlich genießen? Ich weiß, daß man überall was Tüchtiges werden kann, halte mich selber für nicht ganz mißrathen und verehre, ja bewundere zeitweilig Manchen, der daheim lebt oder schon gestorben. Ich weiß auch, daß das Bewußtsein der höchste, einzig sichere Lohn der treuen Arbeit ist. Aber Sie werden mir zugestehen, daß all diese Trostgründe erst da von Werth werden, wo Einem schon eine oder gar beide Hände gebunden sind. Einen practischen, ungebundenen Mann, der seinen Kindern gern alles Gute bereiten möchte, muß andere Voraussicht lenken. Sie sagen nun, Maxime wird seine Bestimmung hienieden am besten erreichen, wenn er in Deutschland zum Philologen herangebildet wird. Na gut, nehmen wir einmal an, Maxime sei in Deutschland gebildet worden, er habe zu dem vorgeschlagenen Studium nicht nur das Talent, sondern auch Neigung und Fleiß besessen. Er steht am Ende seiner Universitäts-Laufbahn, ist Doctor und Magister, er strotzt von Gelehrsamkeit, er ist eine wandelnde Encyklopädie, er spricht Latein und schreibt Griechisch wie seine Muttersprache; lassen wir ihn dabei nicht nur einen ehrlichen und anständigen Menschen sein, auch einen hübschen, liebenswürdigen, herzhaften Jungen, der den Männern an den Hals und den Weibern an die Hand gehen kann, geben wir ihm weltläufige Manieren, sehr viel Geld, noch mehr Glück und Freunde, Gönner und Bewunderer so viel Sie wollen – und nun sagen Sie mir, zu was kann es dieses pädagogische Weltwunder semitischer Abkunft in Deutschland bringen? He? Heraus damit! –

Zu nichts! Zu gar nichts, als was er schon ist, als das, wozu ihn Gott und er sich selbst und sonst Niemand gemacht: ein Mensch, ein Jude, ein gelehrtes Haus.

Klopffechter schöpfte Athem und trank einen Schluck. Derweil sagte die großäugige Gräfin und sah dabei aus, als wäre es was sehr Gescheites, was sie sagte:

– Maxime kann ein berühmter Mann, ein großer Schriftsteller werden.

Darauf fuhr der Hausherr doppelt gereizt, wegen des Einwandes nicht – sondern weil man überhaupt ihn zu unterbrechen gewagt, heraus:

73 – Die Berühmtheit und das Talent, angebetete Gräfin, haben mit den Erwägungen eines Vaters um seinen Knaben gar nicht das Mindeste zu schaffen. Wer kann mir sagen, ob der dreizehnjährige Range überhaupt je einmal Tiefsinn, Styl, Phantasie zu entwickeln fähig sein werde, oder aber gar in welchem Grade? Niemand von allen Sterblichen kann mir auf seinen wenn auch guten Kinderkopf einen werdenden Baruch Spinoza oder Moses Mendelssohn, einen Heine oder Börne zusagen. Das gehört gar nicht hieher. Wir haben es mit einem Durchschnittsmenschen zu thun, den sich sein Vater immerhin vortrefflich genug herausstaffiren kann, und wohlgemerkt, theure Gräfin, mit der Möglichkeit, welche Stellung in der socialen Ordnung seines deutschen Vaterlandes mein Junge einnehmen kann, selbst wenn ich einräume, daß der sehr ehrenwerthe Philologus neben allen bereits aufgezählten Eigenschaften noch dazu ein Philosoph von Spinoza's Bedeutung, ein Dichter von Heine's Größe zu werden verspräche.

– Na, Professor, hauchte die Gräfin mit gebrochener Zuversicht.

– Professor im Billardspielen, versetzte Samuel, oder in der Taschenspielerkunst, aber wenn Sie glauben an der Universität, so irren Sie aufs Grausamste, angebetete Gräfin – was spreche ich von Universität? nicht einmal an einem Provinzial-Gymnasium. Ah was, nicht einmal Dorfschullehrer kann er werden. Und wollte er doch trotz alledem »Professor« gescholten werden, so mag er in einem Fräuleins-Institut für höhere Banquierstöchter leichtfaßliche Vorlesungen halten über National-Literatur oder Aesthetik – und siehe da, auch das möchte ihm ohne Taufwasser kaum gelingen, denn die Töchter deutscher Banquiers werden in christlichen, womöglich in adeligen Erziehungs-Anstalten gebildet.

Aber wir haben ja auch ausgemacht, daß mein Sohn zu leben hat und nicht um Brosamen zu ergattern seine kostbare Zeit verzetteln muß. Könnt er vielleicht »Alles« werden, er würde vielleicht freiwillig »Nichts« und widmete, ein weiser, glückseliger Niemand, seine Zeit den Musen und Grazien und lobte Gott täglich, daß er ihm Unabhängigkeit verliehen und keinerlei Nahrungssorgen. Aber wie schmählicher Zwang auch das Glück grinsen und die Pflicht weinen macht, so hängt sein Herz und Leben daran, einem Dutzend alberner Maulaffen alle Wochen vierundzwanzig lange Stunden von einem rohgehobelten Kathederchen herabzusalbadern, und da er just das nicht darf, das just zehrt ihm am Mark und vergällt seine Laune und untergräbt seine Gesundheit.

Da wandelt er herum, ein Bild weisheitverklärter Resignation, kauft kostbare Drucke und edirt – auf eigene Kosten – aus Moder gezogene Handschriften, um doch »etwas für die Wissenschaft zu thun«. Von den Seinen betrachten ihn die Einen mit mitleidigem Stolz, die Anderen mit unausgesprochenem Vorwurf, daß er des Vaters Gut nicht mehre, sondern ohne Dank und Frommen verzehre. Alle aber sehen in ihm den wandelnden 74 Schatten, den der alte Ahasverus in die Familie wirft, das verkörperte Bewußtsein, daß man nicht nach Wahl und Ueberzeugung im inneren Berufe glücklich und thätig werden dürfte, sondern bleiben müßte, bleiben immerdar beim urväterlichen »Nichts zu handeln?« Handeln und Hausiren, alte Kleider und neue Staatspapiere, Einerlei, Lumpenwaare, Lumpenzeug, Hausiren und Handeln und weiter nichts!

Vielleicht gewinnt es der stille Vorwurf noch über den Stolz der Anderen, und eines Tages geht der gelehrte Doctor, der zwei Professoren und drei Bibliothekare im Leib hat, zu einem hausbackenen Schwager oder Vettersmann und klopfet emsig und läßt sich aufthun das Comptoir, wo eben eine Stelle frei geworden, rechts unten neben dem Cassirer, und da steht er sehr gelehrt und ein wenig kahlköpfig, der jüngste Commis im Bankgeschäft, und gibt dem schönen Spruch die Ehr', daß man die Katze werfen kann wie man mag, sie springt doch immer auf die alten Füße. Mein Gott, er will auch sehen, daß seiner Hände und seines Kopfes Plag' und Sorge ein Menschenleben nähren mag; er kann so viel, was Andere nicht können, warum sollt' er nicht können, was wir können allesammt: Handeln und Hausiren?

Das ists mit der Philologie. Und was ists mit den übrigen Facultäten? Dieselbe Geschichte. Kein Richter, kein Pfleger, kein Staatsmann! Zwei Stellungen sind ihm gelassen außer der Börse und dem Handwerk: Advocat kann er werden und Mediciner. Aber weiß ich, ob mein Maxime Advocat oder Arzt werden will, werden kann? Advocaten sind selten glücklich und Aerzte leben meist nicht lang. Wenn er durchaus einer werden will, Gott bewahre mich, ihn in seiner Berufswahl zu hindern. Aber Gott bewahre mich auch, ihn nach Deutschland zu schicken, blos daß er etwas werden müsse, was ihm später bald verleidet werden mag.

Aber nein, es soll ihm nicht verleidet werden; er soll sein ein gesuchter Arzt, ein großer Advocat, zugegeben! Aber geben wir auch noch ein bischen was zu.

Der große gesuchte Mann hat irgendwo im Verborgenen eine kleine Clientin oder Patientin, die er anders curiren oder vertreten möcht' als die anderen vielen Leute. Sie mag ihn auch; recht sehr mögen sie sich alle zwei beide; auch die Herren Eltern mögen den Maxime ganz wohl, aber, aber, aber das Mädel ist zufälligerweise katholisch oder lutherisch oder calvinistisch oder griechisch-unirt oder was weiß ich, und 's ist eben nichts. Es geht den beiden Leuten an Herz und Nieren, es geht ihnen Beiden ans Leben – und der Eine von den Beiden ist mein liebes Kind, mein einziger Sohn, und ohne das andere, das mein Kind werden will, kann mein eingebornes Kind nicht leben.

Was soll ich ihm für Rath geben, wenn er gelaufen kommt und schön bittet:

75 »Vater, sag', was soll ich anfangen?«

Was für einen Rath soll ich ihm geben als den: Liebs Kind, machs wie ichs gemacht hab', da ich jung war wie Du und in dem Fall, der heute der Deine ist. Ich habe gepackt meine Siebensachen und das kleine liebe Mädel dazu und bin herübergegangen nach Frankreich und hab' mich da niedergesetzt mit meiner lieben Frau. Hier kannst Du thun und lassen, lieben und arbeiten just wie die anderen Menschen, die Gott erschaffen. Mußt nicht werden Banquier oder Hausirer, Arzt oder Rechtsanwalt, wenn Du nicht magst; Du kannst werden, was Du willst und wessen Du fähig bist; wird Dich Niemand fragen: Sem, Ham, oder Japhet? Schau, war der Mortier nicht Marschall von Frankreich, der Wolf nicht General, und der wäre Pair von Frankreich geworden, wär' er Jude geblieben! Ist der Fould nicht Minister! Ja, selbst der Kaiser ist nicht Kaiser, weil er im Purpur geboren ist, sondern weil ers verstanden, es zu werden. Und wenn Du's verstehst, kannst Du auch Minister und Marschall werden und kannst heiraten eine Montmorency, wenn der alte Herr Montmorency und der alte Herr Klopffechter nichts dagegen haben, geschweige gar ein kleines Bürgersmädel von Frankfurt am Main!

Na also, lieber guter Herr Baron, schloß Samuel mit triumphirender Miene, warum soll ich mein Bübel von mir thun und hinüberschicken nach Deutschland, um ihm, wenn er ein Mann geworden ist, zu sagen: Komm' herüber nach Frankreich! Da ists doch einfacher, er bleibt gleich wo er ist, im Land, auf dem er geboren, daselbst er sich redlich nähren kann auf jede Weise, in diesem lieben, schönen, alten Frankreich, das Gott erhalte. Sie sind ein guter Deutscher, Baron, ich weiß es, und Gott weiß, ich bin auch ein guter Deutscher, aber wir können Beide unerschrocken und unbeschadet das Glas in die Hand nehmen und es ausleeren, und Sie, meine Herren und Damen, mögen uns nur Bescheid thun. Es gilt ein deutsches Vivat dem Vaterland meines kleinen Maxime, es lebe Frankreich!

Die Männer tranken, die Weiber nippten, und der dicke Rentier an der Seite Margarethens stieß noch einmal an das Glas seiner Nachbarin und wiederholte schmunzelnd:

– Es lebe Frankreich und vor Allem die Französinnen! Meiner Treu, sie sollen leben, die liebsten Weiblein auf der weiten Welt!

– Wer Anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein, dachte Klopffechter, als er sich mit dem Sacktuch über die Stirne fuhr, denn er fühlte wohl, für einen Hausherrn hatte er zu viel, zu warm und zu laut gesprochen.

Allein es war ihm nicht kühler, nicht friedfertiger zu Muth, als er hörte, daß der Baron, wenn auch sittig und heiter, doch entschieden zu entgegnen wagte:

– Ich habe nie behauptet, daß die Zustände in unserem Vaterlande, 76 politische wie sociale, nichts zu wünschen übrig ließen, allein Sie übertrieben die Verhältnisse doch ein wenig. Wenn man Sie hört und Deutschland nicht gesehen hat, so mag man meinen, Ihre Glaubensgenossen zu Berlin und Wien würden noch allabendlich in eine schmutzige Judengasse gesperrt. Es ist aber durchaus nicht an dem!

Samuel war nun einmal in der Hitze und es handelte sich um Fragen, die sein und der Seinen Schicksal bestimmt hatten; er antwortete leidenschaftlicher als mans an ihm gewohnt war:

– Ich sage Ihnen, die Judengassen bestehen noch, sie sind nur größer und behaglicher geworden und ihre Häuser stehen nicht nebeneinander, sondern zerstreut in der ganzen Stadt umher, da eins und dort eins in bunter Reihe mit anderer Menschen Häusern. Gebessert ist das Uebel, wer leugnets? Aber gehoben, radical curirt ist es nicht. Und der Staat in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, der einen großen Theil seiner Bürger, loyaler, steuerzahlender, vermöglicher, gewerbfleißiger, intelligenter, waffenfähiger Bürger von einem großen Theil seiner bürgerlichen Rechte ausschließt aus Gründen, die mit dem Wesen des Staats nichts zu thun haben, der Staat ist krank, denn jeder eingebildete Kranke, der ein gesundes Glied nicht brauchen mag, ist krank. Die Schranken sind nicht gefallen, sie sind nur da und dort durchbrochen und überall schön verklebt und malerisch verhangen.

Mein Gott, der nervus rerum ist ja da und ums liebe Geld kriegt man viel Spielereien, wie anderwärts so auch bei uns zu Haus, kriegt Tapeten und Gemälde, Statuen und Racepferde, Landhäuser und Paläste, Rittergüter und Rittertitel. Man kriegt auch aufgeklärte Freunde, wirkliche brave liebe Freunde, die das Schöne und Gute gut und schön finden, wer immer es im Haus oder auf dem Leib oder in der Seele haben mag. Und der Gedrückte hält seine Freunde gut und ist gastfrei und zuvorkommend, denn Freunde sind Segen. Und gedrückt sind wir, wenn auch höflich und leise, wenn man auch nicht mehr glaubt, daß wir zu Ostern kleine Kinder schlachten und zu Neujahr die Brunnen vergiften. Eine Kette ist schwer, aber ist ein Faden, der Einen festbindet, so leicht er ist, nicht auch gleich unerträglich?

Ich hab' einmal ein Zuchthaus gesehen; in einem Saale, wo die Sträflinge spinnen mußten, hatte man ihnen Allen die Kugeln und die Ketten abgenommen; sie schienen gar nicht gefesselt zu sein; erst wenn man genauer zusah, gewahrte man, daß sie durch einen kaum merklichen Bindfaden mit dem einen Bein an den Stuhl gefestigt waren. Wehe dem, der den zerbrechlichen Bindfaden brach! Oder glauben Sie, daß die armen Teufel frei waren, weil ein menschlich gesinnter und etwas eigenmächtiger Director ihnen die Eisenfesseln des alten Regime für besondere Fälle aufgespart hatte?

77 Der Staat, in dem ein einziger Bürger von einer einzigen Stelle ausgeschlossen ist, zu der er alle nöthige Befähigung und Bildung besitzt, welche strenge Prüfung fordern kann, ausgeschlossen aus Gründen, die vor seiner Geburt liegen – gleichviel, ob die einzige Stelle die des Staatsministers ist oder die des Nachtwächters – der Staat hat unfreie Bürger, ist ein Sklavenstaat.

Curt warf lächelnd dazwischen:

– Wir haben in Deutschland im größten wie im kleinsten Staat ein größeres Maß von Freiheit als in Frankreich.

– Das ist richtig, versetzte Samuel hurtig, mehr Freiheit ja, aber nicht Gleichheit.

– Was sagen Sie denn dann zum hochgelobten England mit seinen Standesunterschieden, seinem Kastengeist, seinen Wahl- und Ehegesetzen, seiner Unduldsamkeit und seiner Sonntagsfeier?

– Ich sage, daß die Zeit hoffentlich nicht mehr fern ist, wo lediglich Pferde- und Rindviehzüchter, brodlose Hoflieferanten und exilirte Feudalherren für englische Zustände schwärmen werden.

– Ich kenne Damen und Herren Ihres Volkes, die am liebsten zu Pferde sind und am liebsten Englisch sprechen.

– Reden Sie nur nicht von »meinem Volk«.

– Ich habe den Ausdruck von Ihren Priestern und Predigern mit Vorliebe brauchen hören. Ich wollte Sie damit nicht kränken.

– Das weiß ich, liebster Baron, aber lassen Sie den Ausdruck auch den Priestern und Predigern; ihnen bekommt er auch allein. Die Pfaffen sind unser wie anderer Menschen Unglück. Ich aber will von keinem Volk im Volke wissen. Ich bin ein Deutscher, der ein Franzose, ein Engländer und so jeder was er ist; wir wollen unsere Lasten tragen, unsere Rechte genießen und wenns sein muß für unser Vaterland sterben – aber wie sich meine unsterbliche Seele mit ihrem Herrgott unterhält, das kümmert den Dritten nicht.

– Den Gebildeten gewiß nicht; aber wo ist die Bildung tiefer und nachhaltiger in das Volk gedrungen als eben in Deutschland?

– Lieber Freund, das ist auch wahr. Aber wie lange ists her, daß das schönste Gedicht, daß der »Nathan der Weise« in deutscher Sprache geschrieben worden ist? Sie wissen auch, was der alte Fritz gesagt hat. Aber der alte Fritz und der alte Lessing sind schon lange todt – und um wie viel sind wir in der Theorie weiter gekommen? Von der Praxis zu geschweigen.

– Glauben Sie nicht, daß daran die Juden soviel Schuld sind als die Christen?

Circulus vitiosus, lieber Baron. Wenn Sie mir damit andeuten wollen, daß viele unter unseren Jungens unausstehliche Kerle sind und manche 78 selbst im Alter widrige Manieren behalten, so gebe ich Ihnen das zu; aber ich muß auch das und vieles Andere nur als mittelbare oder unmittelbare Folge des verhaßten Zwanges bezeichnen. Dauernder Druck, den man nicht lüpfen kann, macht feig oder hinterlistig; vom Vater auf den Sohn vererbt, wird aus der Noth eine Tugend, welche disciplinarisch cultivirt, methodisch durchgeistiget wird. Läßt der Druck auf einer Seite nach, hui, springt der alte Adam übermüthig empor. Was ist verzeihlicher und was ist menschlicher, als daß Einer prunkend das zur Schau trägt, womit ihm zu prahlen erlaubt ist, auf daß man nicht merke, wie bitterlich er entbehret Alles, was er so leicht haben könnte und nicht haben darf. Ein »Volk«, dem man nichts zu treiben gestattet, als Handel und Wandel, muß es nicht bald in Handel und Wandel die Anderen überflügeln? Ein »Volk«, dem jahrhundertelang kein Recht gegönnt, als das, Geld zu verdienen, muß es nicht für Geld und Geldverdienst auszeichnende Liebe gewinnen? Ein »Volk«, was jahrhundertelang von Land zu Land, von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf hausiren gehen muß, soll es sich durch besonders kleine Füße auszeichnen?

Man lachte, man trank und aß; nur Curt meinte es nicht so ganz auf sich beruhen lassen zu dürfen.

– Wenn Sie auch mit den Juden Recht behalten, sagte er, ich muß die hochgelobte Gleichheit in Frankreich nur allzu oft vermissen; nirgends scheidet der Besitz so schroff wie hierzulande die Menschen, nirgends wie in Paris ist die Armuth so viel wie eine Schande, nirgends ist die Sucht nach Geld so schreiend, so zu allen Mitteln entschlossen, so bestimmend in Leben und Gesellschaft wie hier.

– Was geht das mich an? antwortete Klopffechter. Ich habe Geld und kann meinen Kindern Geld geben. Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, daß ich nicht auf dem Standpunkte der Philosophie, sondern des practischen Familienvaters stehe. Ich gehe nicht darauf aus, die Welt zu verbessern; ich will nur, so weit es in Menschenkräften steht, meine Kinder glücklich machen.

– Diese Rechtfertigung, sagte Curt, kann auch die Amme geben, welche reichen Leuten ihr eigen Kind unterschiebt, auf daß sie ihm Wohlergehen und Glück bereite, so weit es in ihren Kräften steht.

– Mit dem Unterschied, verwahrte sich Klopffechter, daß hier ein Betrug vorliegt, während bei meinem Verfahren mit Maxime weder Land noch Leute betrogen werden.

– Aber Sie entziehen, wenn auch nicht heimlich, denn doch Ihrem Vaterlande eine geistige Kraft, die vielleicht einst zur Mehrung seines Ruhmes würde beigetragen haben. Jedenfalls entziehen Sie ihm zwei Arme, die in Waffen oder friedlichem Handwerkszeug zu seiner Wohlfahrt zu dienen bestimmt waren.

– Bestimmt? Wer sagts? Hat nicht vielmehr der Boden, auf dem 79 Einer geboren wird und gehen lernt, der Boden, mit dessen Blüthen wir uns zuerst geschmückt, dessen Früchte wir zuerst genossen, ein heilig Recht auf unsere Liebe und unsere Arbeit und unsere Vertheidigung?

– Es kommt doch wol auf den Sinn an, mit dem wir ihn beziehen und bewohnen.

– An meinem Sinn, rief Klopffechter, mit dem ich dies Land bezogen und bewohne, kann kein Zweifel sein, und wahrlich, ich denke, es ist eine gute Gesinnung, ich denke, es ist eine Gesinnung. wie sie einem Vater zu unserer Zeit Pflicht ist, daß er sagt, ich will ein Vater sein von freigebornen Menschen, und kommen meine Söhne hier als Knechte auf die Erde, so laßt uns dorthin gehen, wo der Boden frei macht und dort unsere Hütten bauen. Schmähen Sie den armen Teufel aus Meklenburg, der Weib und Kind zusammenpackt und seine letzte Habe versilbert, um drüben in Eurem gelobten Lande Amerika sich eine neue Heimat zu gründen, wo er das Feld für sich selber bauen kann, nicht für einen Gutsherrn, der in Mußestunden den Stock führt?

– Es führt keiner mehr den Stock, sagte Curt. Freilich ist es Pflicht, sich und den Seinigen ein menschenwürdig Dasein erringen. Aber wollen Sie behaupten, daß Sie sich in dem gleichen Fall befunden hätten, wie jene Aermsten, die Hunger und Elend aller Art von ihrer Scholle trieb, die nicht Land um Land wechselten, die einen Welttheil verließen, welchen sie nicht leicht wiedererreichen mochten je nach ihres Herzens Bedürfniß oder gutem Glück. Und dennoch, auch diese würde ich schelten, hätten sie drüben das größte Glück gefunden und sagten sie sich nicht, daß sie denn doch »im Elend« wären, und lehrten sie nicht ihre Kinder, daß drüben ein Land läge, aus dem sie gekommen, das ihre Liebe verdiente, wie die Mutter, die sie geboren. Freilich kann und soll das nicht so fortgehen auf Kinder und Kindeskinder; der Boden, auf dem wir wandeln und der uns nährt, hat heilige Rechte; verföchte ich die gegentheilige Ansicht, so müßte ichs ja correct finden, wenn Sie sich noch immer nach Canaan sehnen wollten. Ich werde mich nicht über Maxime ärgern, wenn er sich als Franzose und als solcher glücklich fühlt, sondern ich ärgere mich über seinen Vater, der ihn ob dieses Wechsels von dennoch zweifelhaftem Vortheil überschwenglich glücklich preist.

– Sie ärgern sich, sagte Klopffechter lachend, weil Sie als Enkel der Geharnischten sich nicht vorstellen können, wie einem Menschenherzen in eines Anderen Brust zu Muthe sein kann.

– Wol kann ich das. Sie wissen, daß ich nicht auf meine geharnischten Ahnherren poche. Aber hätte das Blut denn gar keine Stimme mehr? Die Sprache der Eltern, die Erinnerungen ihrer Jugend, der unsterbliche Ruf heimatlicher Pflichten, werden sie nicht viel mehr dem Kinde sein Vaterland geben, als die Zufälligkeit, wo es geboren und zum erstenmale Blumen und 80 Futter gebrochen hat? Was anderes ist Ihre Theorie, als eine modernisirte Umschreibung des alten ubi bene ibi patria?

Samuel nahm eine ernsthafte Miene an, betrachtete bald die Nägel an seinen Fingern, bald den Baron, bald einen anderen seiner Tischgenossen und sagte dabei:

– Wäre das ubi bene ibi patria mein Motto, so hätte ich ja nichts weiter zu thun brauchen, als meinen Jungen taufen zu lassen. Warum hab' ich das nicht gethan? Sie können mir diese indiscrete Frage nicht stellen, aber ich will sie Ihnen nichtsdestoweniger beantworten. Und ich sag' Ihnen, eben weil ich in meinen Ohren den Ruf des Blutes vernehme, meines Bluts und des Bluts meiner Eltern. Daß ich den Ruf nicht einseitig vernehme, daß ich nach rechtshin höre wie nach linkshin, dessen ist Ihnen Marie ein lebendiger Beweis. Wie Sie sie da sitzen sehen, das leibhaftige Ebenbild ihrer Mutter, ich könnte weder mir noch sonst Jemandem einreden, daß sie eine Französin wäre. Sie spricht deutsch, sie denkt deutsch, sie ist Christin, wie ihre Mutter eine war. Aber nicht weils die so verlangt hat, nicht weil der Ursprung ihrer Tage nicht auf französischem Boden war, sondern weil ich die Stimme des Blutes hörte, die von klein auf so vernehmlich sprach, daß sie nicht überhört werden konnte. Und ebenso vernehmlich sprach die Stimme aus dem Maxime.

Aber die Stimme sprach unverkennbar hebräisch, obwol der junge Herr noch heute kein hebräisches Wort versteht. Warum soll mein Sohn nicht beten lernen wie ichs gelernt hab' und den Kadosch sagen, wenn ich werde gestorben sein, wie ich ihn gesagt habe meinem Vater? Wenn Sie mich aber fragen, warum das Alles in Frankreich, so werd' ich hervorholen und betrachten die »Sprache meiner Eltern und ihre Jugend-Erinnerungen und den Ruf heimatlicher Pflichten« – was, wie Sie sagen – dem Kind sein Vaterland gibt.

Die Sprache meiner Eltern war ein häßliches Kauderwälsch, nicht deutsch, nicht polnisch, nicht hebräisch, sondern ein Bissel was von alledem. Soll ich die lernen lassen meinem Maxime? Ich wüßt' bei Gott nicht, wo ich mir den Lehrer sollt' verschreiben. Die Heimat meiner Eltern war ein kleines, schmutziges, armseliges Nest tief im Polnischen, ihre Jugend-Erinnerungen waren Plackerei und Handelschaft, Kugel kochen und Talmud singen, Fußtritte und zerrissene Stiefel. Sie haben mir – Gott segne sie! – nimmerdar zugemuthet, ihre Erinnerungen in ihrer Heimat suchen zu gehen. Der Ruf heimatlicher Pflichten ist auch ergangen an uns, z. B. an einen Bruder meines Vaters. Den haben sie so gut gerufen, daß er gar nicht mehr zurückgekommen ist, und wär' doch gern gekommen, denn er ist gegangen wider Willen, ist gegangen in stockfinsterer Nacht, weil sie ihn geholt haben aus den Betten und gebunden zwischen zwei Pferde uns so fortgeschleppt immer weiter bis nach Sibirien.

81 Ich weiß nicht, ist er an der grimmigen Kälte oder an heißem Blei gestorben, am Schnaps oder an der Knute; aber das weiß ich, daß mich Gott bewahren soll, solchen Ruf der Pflichten an Maxime gerichtet zu wünschen. Was aber mich betrifft, so möcht' ich nach Ihrer Theorie wissen, bin ich ein Russe? Lieber guter Herr Baron, ich bin kein Pol', ich bin kein Russe, kein Deutscher kein Franzose. Lieber guter Herr Baron, es ist eben traurig, sehr traurig, kein Vaterland zu haben. Ich hab' aber doch kein Vaterland. Mein Maxime hat eins. Und daß er eins hat, das eben ist ein Glück.

Curt hätte fürs Leben gerne dem Alten erwidert, es aber war schon lange peinlich zu fühlen, daß man für ein Tischgespräch zu weit gediehen, und auf dem besten Wege war, sich gegenseitig zu erboßen und die Gesellschaft in Verlegenheit zu bringen, so machte der sentimentale, pathetische Ton, in welchen der Hausherr schließlich verfallen, jedem Gaste das Fortsetzen des Gesprächs unmöglich. Auch war das Frühstuck am Ende und man erhob sich, um den Kaffee in einem anstoßenden Gemache zu nehmen.

Das war ein liebliches Boudoir mit niederen Sitzen und schweren Vorhängen; Alles in persischen dunklen Stoffen; auf den Tischen standen frische Blumen in langen Vasen, im Camin, der mit blauem Stahl ausgelegt war und auf der Platte unter dem Spiegel zwischen zwei dreiarmigen Bronceleuchtern eine bunte Reihe von chinesischen Figürchen und kleinen pompejanischen Hausgeräthen trug, flackerte ein lustiges Kienfeuer.

Verdauen und Plaudern schien hier noch eins so gut.

Dennoch waren einige Herren, welche die Cigarren nicht länger mehr entbehren konnten, im Speisezimmer verblieben. Fortunato saß auf einem Sofa zunächst dem Feuer in lächelndem Gespräch mit der hageren Gräfin, deren stark in Weiß geschminktes, immerhin schönes Antlitz beim Zucken der Caminflamme einen bläulichen, metallenen, man möchte sagen unheimlichen Anflug zu tragen schien.

– Das muß immer streiten, lispelte sie. Man nennt uns Franzosen ein lebhaftes Volk und unser ein Viertelhundert an einem Tisch machen nicht so viel Lärm als Drei dieser Deutschen, wenn sie sich über eine Frage, die Keinen etwas angeht, in aller Freundschaft verständigen.

– Ich sehe nicht recht klar, entgegnete der Zuave, und ich muß zu meiner Beschämung gestehen, daß mirs scheinen will, als hätten alle Beide Recht.

– Keiner von Beiden hat Recht, antwortete die Gräfin noch leiser als gewöhnlich, während sie ihr langes Kinn auf die Spitze ihres Fächers stellte und den Blick der großen Augen machtbewußt und schwer in Fortunato's Gesicht legte. Keiner von Beiden kann Recht haben, da beide Unrecht haben, mehr Wein zu trinken, als ihren Nebenmenschen erfreulich ist. Ihnen aber, 82 Capitän, ist die Frage nicht klar, weil Sie sich angelegentlichst mit einer anderen beschäftigt haben.

– Daß ich nicht wüßte.

– Sie wüßten nicht, daß Fräulein Marie Ihnen sehr gut gefällt?

– Warum nicht? Ist sie nicht allerliebst?

– Ich finde sie ein ganz klein wenig zu blond – für Sie, mein Herr; mir würde zum Beispiel Fräulein Marguerite weit eher gefallen. Sehen Sie nur einmal den putzigen Alten, er scheint ganz meiner Ansicht zu sein.

Fortunato begriff nicht, wie die Gräfin, ohne den Blick von seinen Augen zu verwenden, beobachten konnte, was hinter ihrem Rücken vorging, und ließ sich über diese weibliche Kunst in höflicher Bewunderung aus.

Hinter dem Rücken der Gräfin saß der feiste Frankfurter, der vor neunzehn Jahren als armer Teufel nach Paris gekommen war und nun von seinen Renten lebte. Er rührte höchst behaglich in seiner Kaffeetasse herum, schmunzelte und leckte seinen Gaumen und schwatzte mit Marguerite, sich bald der deutschen, bald der französischen Sprache bedienend, wie es ihm eben gelegener kam.

Marguerite hatte ein ganz klein wenig von dem Champagner genippt, welchen ihr der muntere Herr Nachbar mit seinen Scherzen und Späßen credenzt.

Sie lehnte den Kopf in die Hand und legte den Ellbogen auf den Mantel des Camins. Mit den Fingern ringelte sie in ihren Haaren, die von der dunklen Tapete hinter ihr sich noch dunkler, glänzender abhoben. Ihre Augen waren feucht; zuweilen fielen die langen Wimpern drüber herab und dann sah sie im Geist ein qualvolles Land; darin wandelten in langen, engen, schmutzigen Zeilen böse bis an die Zähne bewaffnete Menschen hin und her, die in der einen Hand eine Knute, in der anderen einen langen Bindfaden hielten, an dessen entgegengesetztem Ende ein Mann, der in Lumpen ging, mit seinem Beine gebunden war.

Die zerlumpten Greise sahen alle aus wie der höchst ehrenwerthe Monsieur Klopffechter, nur viel, viel gebeugter, elender, verkommener, etwa wie verhungerte entfernte Verwandte des Herrn.

Die martialischen Quäler dagegen hatte alle gelbe Stiefel und trugen die Züge des Barons, nur noch wilder, bärbeißiger, boshafter; aber dafür sprachen sie kein Wort, und Curt hatte so unverzeihlich viel gesprochen!

So stellte sich das Mädchen in ihrer Champagnerlaune vor, daß es in dem Lande aussähe, welches das »Volk von Dichtern und Denkern« bewohnte.

Ein leichtes Frösteln ging über ihre Glieder und halb mit Rührung, halb mit Abscheu sagte sie zu ihrem Gönner: 83

– Das müssen entsetzliche Zustände sein, Onkel Tam-Tam!

Onkel Tam-Tam – also nannten ihn die Kinder des Hauses, und er hatte Gretchen die Erlaubniß ertheilt, ihn mit demselben Namen anzureden – brachte sein Haupt in langsame Bewegung und that dann die dicken Lippen zum Sprechen auf:

– Na, 's ist nicht so arg . . . man kann überall viel verdienen . . . in Deutschland wird sehr viel verdient . . . lebt auch gar nicht schlecht. Im goldenen Lamm in Wien zum Beispiel speist man ganz gut; auch in Berlin im Hotel Petersburg ist ein guter Tisch; in Hamburg speist man noch besser, o ja! Aber Gott weiß, es ist nicht meine Küche. Ich habe mich einmal an die französische Küche gewöhnt, die beste Küche auf der ganzen Welt! – ich könnt' nirgends mehr leben als hier in Paris. Hier hab' ich meinen Tisch, meine kleinen Bequemlichkeiten, die ich liebe, meine Theater – die besten Theater von der ganzen Welt! – hab' eine vortreffliche Regierung, die keine Revolutionen mehr aufkommen läßt – gescheiter Mann der Kaiser! der gescheiteste Mann in der ganzen Welt! – und wie ich Ihnen schon gesagt habe, liebe Marguerite, wenn man die Pariserinnen kennt, gefällt Einem in der ganzen Welt kein Frauenzimmer mehr. Nur in Frankreich gibts Frauenzimmer.

– Dann hat unser Herr dem Mariechen also kein großes Lob gespendet, maulte Gretchen, ließ das Mündchen offen stehen und machte die Augen zu.

– Na, je nach dem! war Onkel Tam-Tam's Antwort, der dabei schmunzelnd über die Schläfrigkeit seiner Zuhörerin mit zwei dicken Fingern eine Haarflocke zurechtzustreichen suchte, welche von der nickenden Stirne in das hübsche Gesichtchen gefallen war. Es gibt in Deutschland auch ganz köstliche Geschöpfe. O ja! Aber Gott weiß, es fehlt ihnen ein gewisses Etwas, was man nur bei Französinnen findet, es fehlt ihnen mit einem Worte der »chic«!

Marguerite schlug mit der Hand nach des Onkels Fingern, die sie etwas zu empfindlich am Stirnhaar gezogen hatten, that die Augen groß auf und fragte:

.– Was ist denn das – der »chic«?

– Mein liebes Kind, das ist schwer zu sagen, denn der chic ist Alles und ist Nichts. Der chic ist das Anmuthige in der Form des Einfältigen und das Einfältige in der Form des Anmuthigen; er ist niemals das Nothwendige, und doch für Jeden, der seine Bekanntschaft gemacht, das Unentbehrliche; chic ist das Unerhörte im Alltäglichen, was Dich zum Lachen zwingt, ohne lächerlich zu sein, ist das Entzückende im Allergewöhnlichsten von der Welt; chic ist das Gewählte im Einfachen und das Versöhnende im Auffallenden; vor Allem aber ist es das Reizende, was da blendet und berauscht, verrückt und bezaubert in einem Nu, die Grazie auf Einem Bein, Amor auf 84 allen Vieren. Chic ist die Art, den kleinen Finger zu geben, daß es mehr Freude macht als die ganze Hand, und doch dabei eine Hand ahnen läßt, wie man sie schöner, köstlicher noch nie in der seinen gehalten. Chic ist die Art, wie Du in die Falten Deines Kleides fassest, um hinter Dich zu gucken, wenn auch das, was hinter Dir geschieht, mit Deines Kleides Falten keinen Zusammenhang hat. Chic ist die Toilette, welche man sieht, welche genaue Rechenschaft ablegt über die Toilette, welche man nicht sieht. Chic ist der launigste Zufall und die überlegteste Absicht; chic ist das Verführerische in social gangbaren Formen; chic ist das Haarlöckchen, welches Dir über die Stumpfnase fällt, und die Art, wie Du drunter hervorschielst und zwinkerst; chic ist, was das Knarren Deiner Stiefelsöhlchen plaudert und was Deiner Kleider Rauschen sich erzählt; chic ist die Nadel, die da haftet, und das Häftchen, das da bricht – Du hörst, mein Kind, es läßt sich nicht erschöpfen, denn, wie gesagt, der chic ist Alles und ist Nichts.

– Aber Onkel Tam-Tam, Sie sprechen ja reines Feuilleton!

Der ungewöhnliche Redner kam ein wenig in Verlegenheit, denn er liebte es in der That, seine Conversation zuweilen mit fremden Federn zu schmücken; aber er faßte sich rasch und sagte:

– Oh la la, man muß seine fünfzig Jahre hinter sich. haben, um das Feuilleton gut zu schreiben. Ich habe sie hinter mir – leider! ich kanns.

– Also muß man was chic ist, von alten Herren lernen?

– O, ich werde Dir ein sehr guter Lehrmeister sein.

– Sprechen Sie gefälligst ohne Illustrationen, wenn ich bitten darf, sagte Gretchen und schlug ihn auf die feisten Finger.

– Oh la la, sei nicht so wild!

– Sagen Sie weiter. Ich kann doch Ihnen nicht Alles das absehen, was Sie vorhin als chic bezeichneten.

– Warum nicht?

– Oh!

Sie lachte herzlich und Onkel Tam-Tam fuhr mit gespitztem Munde fort:

– Man sieht es am besten bei Leuten, die man –

Tam-Tam sah sich um, schneuzte sich dann ziemlich ausführlich und sagte endlich:

– Ei, bei allerhand Leuten. Schau zum Beispiel die Gräfin an; die hat chic, sehr viel chic.

– Die ist ja angekreidet wie eine Wirthstafel.

– Thut nichts. Es läßt ihr gut. Sie wird in zehn Jahren noch eine sehr interessante Frau sein; in Deutschland wäre sie seit zehn Monaten bereits eine alte Schachtel. 85

– Wir kommen aus den alten Leuten nicht heraus; sind das diejenigen, denen man den chic am besten ansieht?

– O nein!

– Na, was denn für Leute?

– Solche, die man kleinen Kindern nicht nennt.

– Also wer?

– Kleines Kind!

Margarethen stieg das Blut in das Gesicht; sie stand auf und mit dem Ausruf: »Sie sind ein abscheulicher Mensch!« lief sie aus dem Zimmer.

Onkel Tam-Tam erhaschte sie unter dem Vorhang der Thüre und gab sich lachende Mühe, die Erzürnte zu beschwichtigen, die sich lachend seiner Gründe erwehrte. Nachdem der Friede geschlossen war, sagte der Alte gutmüthig:

– Na, wo bleibt der cachet für die erste Lection?.

– Was für ein cachet?

– Ein ganz kleinwinziger nichtssagender Kuß mit allerhöchster freiherrlicher Bewilligung.

– Klingende Münze?

– Vollwichtiges Gepräge!

– Habe nichts bei mir.

Onkel Tam-Tam ahmte die Geberden eines Bettlers nach und winselte lächelnd:

– Ein Almosen für einen alten abgebrannten Mann?

Marguerite spottete ihn aus:

– Einen alten Sünder, der die jungen Mädchen nicht in Frieden lassen kann – da!

– Das war chic! sagte Onkel Tam-Tam.

Aber Marguerite lief erröthend davon, denn an der offenen Thüre war eben, als sie den Alten geküßt, Fortunato vorübergegangen, der mit Marien plaudernd auf- und niederwandelte.

Es war ein trauliches Gespräch mit vielen Pausen, wo Eins das Andere ansah, wenn dessen Augen gerade seitwärts beschäftigt waren; und die Augen hatten, ohne daß die Lippen etwas davon wußten, immer die Gefälligkeit gegen einander, recht lange zur Seite zu sehen, wenn sie den Blick des lieben Nächsten fühlten oder ahnten – vielleicht auch wollten sie sich nur noch nicht begegnen, wie kluge Leute, die sich das Beste zuletzt aufheben. Die Augen haben ihren eigenen Instinct, die Augen sind so klug!

Fortunato wußte das wol nicht; er war arg unzufrieden mit sich und nicht ohne Grund.

Zu derselben Zeit, als die gefürchtete Gräfin dem staunenden Portugiesen versicherte und betheuerte, daß sie nie einen geistreicheren Mann gesprochen als Fortunato. versagte die sonst willfährige Zunge ihren Dienst, und 86 der bedrängte Corse schwor darauf, daß er Marien entsetzlich albern vorkommen müßte.

Das Gute, was ihm einfiel, schien ihm Alles nicht gut genug; solche Phrasen konnte man der gezierten Gräfin hinwerfen, aber nicht in diese lieben kleinen Ohren legen, die ein Gott gemacht zu haben schien, nur um allein zu ihnen zu plaudern.

Fortunato schalt sich im Innern wie er einen Recruten gescholten hätte, der im Augenblick, da der Feind einbricht, die Besinnung verliert und vor Schreck sein Gewehr nicht mehr zu handhaben weiß. Da stand er, ein Held und ein Lebemann, der Stolz der alten algerischen Schule, der in dreien Welttheilen Blut in Strömen hatte fließen sehen, ohne mit der Wimper zu zucken; ein kleines Mädchen hatte es ihm angethan, daß er nach Worten rang. Es lag ihm immer anders auf der Zunge. Er hätte sie am liebsten auf seine Arme genommen und weit, weit fortgetragen, er wußte nicht wohin, aber irgend wohin, wo es duftig und einsam und herrlich war; da hätte er sie auf einen goldenen Stuhl setzen und vor ihr niedersinken und ihr sagen mögen:

– Ich wäre der glückseligste Mensch, wenn ich Deine kleinen Füße küssen dürfte, denn ich habe nichts in der Welt so lieb wie Dich und ich mache meiner guten alten Mutter den Kummer, und sterbe langsam und langweilig, wenn Du mich auch nicht ein Bischen lieb haben willst, nur ein wenig . . . viel . . . von Herzen.

Er sagte nichts von alledem, und doch, was er sagte, gefiel Marien so gut.

Es war so einfach, schlicht und recht. Ohne Schönthuerei und Prahlen. So ganz anders als die anderen kleinen Herrchen der großen Salons vor ihr zu reden pflegten. Er machte nicht in Geist. Man fühlte, was er sagte, war wahr; sie meinte, es wäre auch schön, wie er es sagte. Und selbst der fremdartige Accent, mit welchem der Corse sein Französisch sprach, welchen unduldsame Landsleute komisch fanden – ihr däuchte das seltsam einschmeichelnd, melodisch, herzgewinnend.

Einmal freilich hätte er sie fast erzürnt.

Sie kamen nämlich auf das Tischgespräch zurück. Fortunato, der Deutschland nie betreten, hatte keine sehr klare Vorstellung davon. Seine Armee-Traditionen reclamirten die »natürlichen Grenzen«; jenseits dieser Grenzen wohnten ernsthafte, aber unpractische Leute, welche sehr viel Tabak rauchten, sehr viel Bier tränken, sehr viel Sauerkraut äßen, dicke Bücher über ideale Angelegenheiten schrieben, Tag und Nacht Musik machten und sich um die übrige Welt nicht kümmerten.

Außerdem hatte er viel Rühmliches von preußischen Infanterie-Gewehren sagen hören, war indessen der festen Ueberzeugung, daß es Niemandem einfallen 87 dürfte, von denselben ohne kaiserlich französische Veranlassung oder Erlaubniß ernsthaften Gebrauch zu machen.

Da er von dem weiblichen Theile des deutschen Volkes vielleicht keine richtigeren, jedenfalls aber viel schmeichelhaftere Vorstellungen hatte, so werden trotz jener Schwächen seiner allgemeinen Bildung die Leserinnen doch wol glauben mögen, daß Fortunato ein ganz liebenswürdiger Mensch war.

Auch waren es nicht jene Anschauungen, die Marie erzürnen konnten, da sie nicht vor ihr laut wurden. Sie sprachen vielmehr eben von den deutschen Mädchen, und der Officier brachte manches Sinnreiche vor von blauen Augen und blonden Locken, von Veilchen und Mondschein, alten Kirchen und älteren Märchen, und als er es gesagt, gefiel es ihm nicht, und darüber ärgerlich, schlug die derbe Soldatennatur in ihm durch und versicherte Marien nicht ohne Anflug von üblem Humor, daß er des Glaubens, die deutschen Mädchen wären arg furchtsam, und Furcht sei ansteckend, so daß man furchtsam werden möchte, wenn man mit ihnen lange verkehrte.

Marie sah ihn erstaunt mit großen Augen an. Fortunato reute bereits bitterlich, was er geschwatzt.

Das Mädchen lenkte nach einer kleinen peinlichen Pause das Gespräch auf gleichgiltige Dinge.

Was sie gesprochen, hätte jedoch keines von Beiden nach einer halben Stunde zu sagen gewußt; sie sahen dabei sehr nachdenklich aus, aber sie dachten an gar Anderes.

Fortunato fand es endlich gerathen, sich zu empfehlen.

Marie erwiderte nicht, daß er bleiben solle; erst als ein Diener die Nachricht brachte, daß für den Capitän angespannt wäre, warf sie trockenen Tones hin, sie möchte ihrem Freund I-Mu Adieu sagen. Sie rief nach Margarethen, daß sie sie begleitete.

Marguerite war nicht so rasch gefunden. Sie stand in einem Saale des Erdgeschosses nahe am Ausgang des Hauses, und bei ihr stand der Baron. Sie senkten Beide den Blick zu Boden; es that ihnen Beiden das Herz weh. Marguerite wußte nicht warum, und Curt meinte wol, er wüßte es, aber es war nicht an dem.

Das neueste Vorhaben, sich einen Herd in Paris zu gründen – es stand freilich auf bescheidenen Voraussetzungen – hatte Gretchen eben recht unfreundlich abgewiesen.

Aber mit dem Schmollen wars damit nicht am Ende. Wie hatte Curt den guten Klopffechter mißhandelt, der sich immer freundschaftlich gegen ihn verhalten und ihr ein Herr war wie ein zweiter Vater! Und ihn hatte er vor seinen Gästen lächerlich machen wollen!

Und warum?

Wieder wegen der altbackenen deutschen Marotten.

88 Curt schwieg – wie immer, wenn zwei Gefühle in ihm stritten und er dem heftigeren nicht wollte die Oberhand lassen. Es verstimmte ihn tief, aber Gretel war ja ein Frauenzimmer, ein Kind. So schwieg er denn lieber. Und Gretel schwieg endlich auch.

Curt hatte dem Doctor versprochen, mit ihm nach der Stadt zu fahren. Die beiden allezeit politisch aufgeregten Menschen hatten rasch Gefallen an einander gefunden und fühlten Mancherlei auf dem Herzen, was mittheilsam. Deß in Erinnerung zog der Baron die Uhr.

Die Stunde drängte.

Er hielt Gretchen die Hand hin:

– Willst Du denn ewig schmollen?

Gretchen mochte, nun es ans Scheiden ging, empfinden, daß sie denn doch des Guten zu viel und des Argen nicht zu wenig gethan. Ein Gefühl wie Mitleid kam über sie. Es ward ihr mit einemmal zu Muth, als gälte dies Ade nicht nur heut und morgen, sondern für viel, viel länger, für ein Leben lang.

Sie legte in die dargebotene Hand die ihre und blickte ihn freundlich und gütig an.

– Und ist das Alles? sagte Curt vorwurfsvoll zärtlich, da er gewohnt war, sonst einen Kuß mit auf den Weg zu nehmen.

In seinen Augen glänzte es wie ein Licht aus alten vergangenen Tagen.

Gretchen fühlte wol, daß sie vergangen waren, aber sie fühlte es schmerzlich. Das Weinen war ihr nah. Und als sie merkte, daß ihr Auge sich trübte, warf sie sich an das alte treue Herz und gab Curt einen raschen heftigen Kuß.

Curt sah verwundert auf das dunkle Mädchenhaupt, das ihm jäher als er gehofft zugeflogen.

Erst als sie sich ebenso rasch wieder losmachte, rührte es ihn in der Seele; treuherzig und versöhnt gab er ihr nochmals die Hand und ging die Treppe hinab in den Garten und weiter seiner Wege.

Eben als die vorige Scene zu ihrer erfreulicheren Wendung gelangt, war Fortunato von der anderen Seite in den Saal des Erdgeschosses getreten, um nach Margarethen in Mariens Auftrag zu sehen.

– Das ist nun schon der zweite Kuß in einer halben Stunde, dachte er in seinem Sinn und zog sich zurück.

Im Zurückziehen aber dachte er weiter.

– Wer wol der Dritte sein wird?

Und weiter:

– Es wäre doch drollig, wenn Du selber der Dritte wärst.

Marguerite hatte vom ersten Augenblick an einen lebhaften Eindruck auf ihn gemacht.

89 Die zufällig gewollte, absichtlich scheinende Vertraulichkeit des ersten Abends hatte Beide rascher einander genähert, als es erfahrungsmäßigen Leuten bei der ersten Begegnung und noch dazu auf einem Balle sonst zu gelingen pflegt.

Wie damals war Fortunato auch heute in zornig erregter Stimmung, zornig gegen sich selbst. Liebe im Beginn äußert sich nicht selten in heftigem Unmuth gegen die erste Person. Dabei kommt der Mensch oft auf absonderliche Gedanken, die ihm später noch viel mehr zu denken geben und sattsam Gründe, sich ernstlich und rechtmäßig gegen sein liebes Selbst zu erzürnen.

Für jetzt dachte Fortunato in seinem Zorn:

– Entschieden, der Dritte seist Du!

Wollte die Leserin an der Innigkeit, am Ernste, an der Ausschließlichkeit seiner Neigung zu Marien Zweifel hegen, sie thäte ihm schwer Unrecht. Sagt auch nicht, es sei inconsequent. Die Männer sind nun einmal so. Sagt meinetwegen, die Männer sind recht schlecht – das heißt die Mehrzahl der Männer. Freilich, es gibt Ausnahmen. O ja. Aber habe ich Fortunato als eine Ausnahme gepriesen? Nicht daß ich wüßte. Es war ein leichtes Blut.

Ueber der Schwelle stieß Marguerite auf ihn.

– Des Hauses Tochter läßt nach Ihnen suchen, mein Fräulein, sagte er.

– Ich fliege dahin, sagte das Mädchen, ihr purpurrothes Gesicht zur Seite wendend.

– Warum so rasch? sagte der Herr der Situation, faßte sie mit der Linken an der Hand, kräuselte mit der Rechten seinen Schnurrbart und war wieder ganz Soldat.

– Mein Herr, sagte Gretchen mit großer Anstrengung ihrer sittlichen Entrüstung.

– Hat denn Ihr Landsmann Alles mit sich fortgenommen?

Das Wort Landsmann klang ihr heute recht wie ein peinlicher Vorwurf. Sie wurde blaß und sagte nur:

– Ich verstehe Sie nicht, mein Herr.

– Ich Sie auch nicht, mein Fräulein, lachte der Corse, daß die weißen Zähne glänzend unter dem Schnurrbart erschienen.

Er haschte; sie wand sich nach allen Seiten und wehrte sich tapfer. Als sie aber doch Lippe mit Lippe rührten, konnte man auf Zehne zählen, bis sie sich trennten, und der Gewaltige fühlte den festeren Druck der Hand, die nun die seine ließ.

Sie barg das Gesicht und eilte davon und das Blut in ihren Ohren sang:

– Er liebt Dich!

Er dachte nicht daran.

90 Er strich sich den Schnurrbart und sagte.

– Das war der Dritte.

Dann ging er hin, wo Pferd und Wagen stand.

Er war noch immer sehr zornig gegen sich selbst, ja zorniger als vordem.

Bei dem Pferde fand er Marien, die mit I-Mu sehr angelegentlich sprach. Es war Deutsch und er verstand es nicht, was ihm sehr leid that. Neben ihr bemerkte er nun auch Margarethen. Ihre Blicke hafteten auf der Erde, als suchte sie ein Verlorenes; ihre Wangen wurden purpurroth, da Fortunato sie ansah, aber er verstand Gretchen's Erröthen so wenig wie die Sprache Mariens, an welche er sich nun mit einer höflichen Redensart wendete.

– Warum haben Sie Ihrem I-Mu einen so sonderbaren Namen gegeben? fragte des Hauses Tochter.

– Weil mich dieser sonderbare Name an sonderbare Erlebnisse erinnert.

– An die Sie sich gern erinnern lassen?

– Warum nicht? Oder glauben Sie nicht, mein Fräulein, daß man auch unter Chinesen glücklich sein kann?

– Ich glaube zwar, daß das Glück keine Heimat hat, aber daß es leicht überall zu Hause sein mag . . . Sagen Sie mir indessen, waren die Chinesen auch glücklich, da Sie unter ihnen waren?

– Theilweise, sagte Fortunato lächelnd.

Und nicht ohne Zögern fügte er dann rascher hinzu:

– Wie alle Sterblichen, wenn ihrer Viele beisammen sind.

– Es waren vielleicht zu Viele beisammen, entgegnete Marie, deren Antworten immer schärfer und hitziger wurden.

– Nicht daß ich wüßte, berichtigte der Officier. Die Division –

Das Mädchen unterbrach ihn; während sie sich fortwährend mit I-Mu zu schaffen machte, ließ sie gleichgiltigen Tones die Frage fallen, ob er auch bei dem Sturm auf Peking gewesen wäre und bei der Plünderung der kaiserlichen Paläste.

Als er dies unverfrorener Laune bejahte, sah sie ihn ein Weilchen groß an, als ob sie erkennen wollte, daß es derselbe Mann sei, mit dem sie schon vordem geredet.

Dann wendete sie sich ab und sagte:

– Sie sind wol so gütig und erzählen uns davon ein andermal.

So ging es fort.

An Gretchen fiel keine Phrase ab, kein armes Wort. Im Anfang war sie froh, daß man sie nicht berücksichtigte; da ihr noch die Lippen bebten von seinem Kuß, was hätte sie reden mögen und können? Nun sich das Blut 91 verkühlte und sie sich wieder aufzuschauen getraute, fand sie's doch seltsam, daß auch seine Augen für sie keine Sprache hatten.

Ein Sturm sich überstürzender Gedanken jagte durch das sanftgewiegte Köpfchen, aber keiner ließ sich fassen und halten. Ihr war, als vergingen ihr die Sinne.

Da eben, als Marie sich zum Gehen wenden wollte, machte I-Mu, des langen Harrens satt, eine jähe ungeduldige Bewegung mit dem Kopfe, so daß das Mädchen, welches just so vertraut mit ihm gethan, erschreckt, einen kleinen Schrei ausstoßend, zur Seite sprang.

Fortunato sprach entschuldigend; dann sah er schweigend und verwundert Marien an, welche, obwol sie vordem schon Abschied genommen. bald erblassend, bald erröthend, nicht von der Stelle zu können schien. Mit einemmale schüttelte sie trotzig das Haupt und fragte mit einem Lächeln, welches wäre hochmüthig zu nennen gewesen:

– Nun werden Sie die armen deutschen Mädchen für noch furchtsamer achten als ohnedies?

Eine höfliche Redensart des Capitäns schien sie zu überhören; sie wendete sich zu Marguerite, welche dicht an ihre Seite getreten war, und sprach zu deren nicht geringer Verwunderung:

– Glauben Sie, Fräulein, daß Papa uns arg auszanken werde, wenn wir den Herrn Capitän ersuchen, uns zehn Schritte weit über Feld zu fahren?

– Bist Du toll?

– Vielleicht aus Neugierde. Blos rund um das Haus! Bitte, sagen Sie Ja, Marguerite!

Diese entgegnete bald heftig, bald bittend. Als aber Fortunato selbst auf den unerwarteten Einfall einging und dringend bat und beschwor, verlor sich ihre Ueberlegungskraft noch mehr. Sie wußte nicht, was Alles sie zur Abwehr vorbrachte . . . sie wußte auch nicht, wie sie auf den Wagen gekommen war.

Auf dem vorderen Sitz neben Fortunato saß das unbändige, launische Kind, Margarethe hinter ihnen. Der kleine Groom war auf Geheiß zurückgeblieben; er fuhr mit dem Rücken seiner Finger über das glattrasirte lederne Antlitz, dessen Regung und Aussehen blos dem Pferde galt; was hinter dem kam, rührte sein Interesse gar nicht.

Der trockene Staub flog auf. Es dunkelte schon ein klein wenig. Nun waren sie um die Ecke und der Groom ging leise pfeifend, die Hände in den Taschen, nach dem leeren Stall zurück.

Schweigend fuhren die Drei auf dem hohen Wagen dahin.

Nach einer Welle ergriff Marguerite das Wort und sagte gouvernantenhaft drängend:

– Nun laß es genug sein, Marie, und uns heimkehren.

92 Fortunato blickte das Mädchen an seiner Seite fragend an; sie sah starr und wortlos vor sich nieder auf das Pferd. Da nun kein Gegenbefehl kam, meinte er, Margarethens Wort müsse gelten und das Gefährt bog rechter Hand um die Ecke.

Bei einer zweiten Ecke, die man abermals schweigend erreicht hatte. wollte er dieselbe Wendung machen. Man war dem Hause ziemlich nahe. Da rief Marie plötzlich:

– Noch nicht – die Allee hinauf, bitte schön, mein Herr!

Gretchen greinte, Marie bat, Fortunato hatte längst gethan, was diese gewünscht und jene sagte ernstlich schmollend:

– Du bist eigensinnig wie ein kleines Kind; man meint, Du wärst noch auf keinem Wagen gefahren –

– Ah? war die ganze Antwort und die Erzieherin schalt weiter:

– Was soll der Herr Capitän von Dir denken!

– Capitän, rief nun Marie, was denken Sie von mir? Bitte, sagen Sie's doch!

Der Corse gab nicht sogleich Antwort; das Pferd, welches das unangenehme Gezänke gellender Mädchenstimmen hinter ihm in Unruhe brachte, daß seine Ohren ängstlich hin- und herzitterten, erforderte die ganze Aufmerksamkeit des Wagenlenkers. Als dieser endlich Antwort gab, war es eine ziemlich allgemeine und nicht sehr zierlich gefaßte.

Marie lachte laut auf, daß das erschreckte Pferd heftiger anzog. Nur mit Mühe und Zureden beschwichtigte es Fortunato, der des Mädchens Gebahren nicht begreiflich fand und ernstlich mit dem aufsteigenden Unwillen kämpfte.

Aber Marie lachte nur umso heftiger; dann sagte sie:

– Es scheint, Ihr lieber I-Mu ist nervös.

– Ein wenig, sagte Fortunato, und machte ein ernstes Gesicht.

– Sie haben mir noch immer nicht gesagt, was Sie von mir denken, fuhr die boshafte Laune fort; was aber würden Sie sagen, wenn ich Sie bäte, diese langen Zügel in meine Hände zu legen, sofern es Ihnen gefällig wäre?

– Ich würde nichts sagen, aber ich würde sie Ihnen auch nicht geben, Fräulein.

Gretchen lachte höhnisch.

Fortunato lenkte den Wagen herum, dem Heimweg zu. Sie waren bereits tief in den Park gekommen und Mariens Humor schien gefährliche Wendungen annehmen zu wollen.

Sie nagte ein Weilchen an der Unterlippe; auf einmal brachte sie halblaut und tonlos die Worte hervor:

– Geben Sie mir die Zügel.

93 Der Capitän wich höflich aus.

Marie bestand darauf:

– Wie viele Damen fahren im Boulogner Holz, die selbst die Zügel führen; hab' ich nicht das Fahren gelernt?

– Mag sein, aber I-Mu ist nicht leicht zu lenken; selbst für einen Mann.

– Fürchten Sie für Ihr Leben, Capitän?

– Nein, aber vielleicht für das Ihre und das Ihrer Freundin.

– Wir sind versichert. Geben Sie!

Fortunato bot ihr die Zügel zum Schein; er ließ sie zwar Hand anlegen, wollte aber die Führung nicht aus der Hand geben. Marie verbat sich das und unter einem gelinden Aufschrei Margarethens fügte sich der Corse. Nun führte wirklich das Mädchen die Gesellschaft; ruhig, sicher, in gleichem Trabe gings dahin.

Die leuchtenden Augen des eben noch besorgten Mannes ruhten freudvoll auf den festen kleinen Händen, den vorsichtig aussehenden Blicken des eigenwilligen Kindes, das ihm heute in so anderem Lichte und in mehr als Einem Sinn gefährlich erschien.

Da war eine Nebenallee. Marie bog ein; eine zweite, auch hier. Marguerite zeterte ein wenig, daß ihrem Zögling, den aller Tadel in diesem Augenblick wie Feuer zu brennen schien, der Zorn blutroth in die Wangen stieg.

Straffer spannten sich die Leitseile:

– Vorwärts, I-Mu! Vorwärts, hopp, he! rief die Erboste und klatschte mit der Zunge, daß der Braune weitausgriff und in jähem Fluge das Gefährte mit sich fortriß, welches wie eine Schaluppe über Meereswogen in seinen großen Federn sich wiegte.

Fortunato sprach kein Wort; er mußte fürchten, die Lenkerin und das Thier noch mehr aufzubringen.

Gretchen konnte vor Angst nicht sprechen; ihr schlug das Herz bis an den Hals. Sie bückte sich vor und faßte mit beiden Händen den linken Arm des Mannes, den er ihr überließ, während er mit der Rechten fest in das eiserne Geländer des Wagens griff, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Das war noth.

Taumelnden Gespenstern gleich huschten die kahlen Bäume an ihnen vorbei; dort knackte ein Reis im Wege, hier zerbarst ein Kiesel; an Fortunato's Roß schien jede Fiber in flüssiger Bewegung; wie die Barke des sturmverwehten Luftschiffers schien der Wagen über den Gebüschen nur zu fliegen und diese zitterten wie im Schaudern in solch tollkühnem Flug. Der Schaum aus I-Mu's Rachen bespritzte das Gewand Mariens. Das Hutband löste sich und, kaum gedacht, flog der Hut zurück im Winde. Eine Flechte um die andere machte sich frei, und bald flatterten rings um das todtblasse 94 Gesicht die goldenen Haare in der Dämmerung und die wilden zornigen Gedanken ihres Hauptes schienen wie Fünkchen darüber hinwegzuzüngeln. Aber ihre Hände blieben ruhig und ruhig blieb ihr Angesicht, keine Fiber bebte, kein Zug bewegte sich; nur ein wenig war die Oberlippe in die Unterlippe geschoben, als wollte sie das Lächeln verbergen, das sich nicht von diesen Lippen bannen ließ.

Wars Freude, wars Verachtung, Hohn, Ungeduld, Behagen – was der liebreizende Unhold lächelte, während die Hufe des Rosses gellend am Deichselholz erklangen und der sausende Wagen auf- und niederknickte wie ein Bäumlein im Gewitterregen – wer sagt es aus? War wol von alledem dabei und Anderes noch, was sie selbst nicht hätte sagen können, hätte Einer sie gefragt.

An der Straße im winterlichen Walde sprang jählings ein Mann zur Seite.

Er trug eine Blouse von unbestimmter Farbe und in der Hand einen langstieligen Hammer, mit dem er Steine zerklopfte. Er hatte das Fuhrwerk gerade noch zur rechten Zeit daherkommen sehen. Aber bei dem Sprung in den Graben hatte er sich den Fuß verrenkt, daß er seitwärts zu Fall kam. Dennoch richtete er sich schleunigst auf und hielt, obwol es dunkelte, die Hand übers Auge, als fürchtete er schon von der Schau so jäher Bewegung geblendet zu werden.

Er sah gerade, wie es wieder in eine Nebenallee einlenkte. Dort ging der Weg bergab, wenn auch nicht sehr steil. Das Rad auf der linken Seite schien in den Graben gerathen zu sein, denn der Wagen neigte sich heftig nach dieser Seite; aber nichtsdestoweniger ging es windschnell davon und hinterdrein schauerte der Staub und flogen die Kiesel nach rechts und links. Jetzt konnte sie der in der Blouse nicht mehr sehen; er hörte nur noch des Rollen der Räder, das Knirschen im Kies, des Windes Rauschen – und nun einen jähen Krach, einen leisen Schrei und die aufmunternde Stimme eines Mannes.

Der Arbeiter kroch aus dem Graben und hinkte dahin ab, wo er die verunglückte Gesellschaft fand.

Der Unfall war nicht groß.

Der scheue I-Mu hatte den schwankenden Wagen mit dem einen Rad so fest in einen Steinhaufen, der hochaufgeschichtet am Wege stand, verfahren, daß er ihn trotz aller wüthenden Anstrengung nicht darüber hinwegbrachte. Diesen Halt im Nu benützend, war Fortunato vom Wagen gesprungen, hatte sich dem Pferd in die Zügel geworfen und suchte es nun mit aller Kraft zu verhalten und durch allerlei Zuspruch zu besänftigen.

Das kluge Thier schien seine Worte zu verstehen; während der Frost alle seine Glieder schüttelte und der milchweiße Schaum über seines Herrn dunkle Rockärmel floß, sah es diesen bald zornig, bald furchtsam mit großen 95 Augen an, als spräche es: wie könnt Ihr mich auch so unerhört behandeln!

Fortunato hielt eine sehr einschmeichelnde Rede in corsischem Dialect, die Niemand verstand als eben I-Mu, der sie auch beherzigte und sich gemach so friedlich ins Geschehene ergab, daß sein Herr dem herzugekommenen Steinklopfer die Zügel übergeben konnte und nach den Damen sich umthun.

Marguerite war bereits allein vom Wagen herabgeklettert und strich sich nun ihr Kleid in seinen Falten zurecht – nicht ohne chic. Marie saß noch immer auf dem schiefgelegten Kutscherbock, noch immer hielt sie in fest geschlossenen Fäustchen das Leitseil, und als nun Fortunato nicht ohne Beben der Stimme sie aufforderte, die Hände los und sich von ihm herabheben zu lassen, lachte sie nochmals laut auf. Es klang eigenartig, dieses grell hervorgestoßene Lachen; es schauerte den Hörenden, als wäre es vorhin auf den übermüthigen Lippen, noch ehe es sich losmachen konnte, erfroren und nun bei wieder wärmerem Pulsschlag nachträglich aufgethaut.

Marguerite rief sie beim Namen, wie sie zu rufen pflegte, wenn sie die Pflegebefohlene aus dem Schlaf erwecken wollte; auch das Pferd und der Arbeiter bewegten sich; da ließ sie endlich die Zügel los, die Arme sanken schlaff, wie leblos, an ihr herab, mühsam drehte sie das Haupt zur Seite und suchte mit irrenden Augen nach den Befreundeten.

Fortunato trat hart an den Wagen heran; doch wie er seine Arme nach der erhobenen Gestalt aufreckte, um sie zu fassen, merkte er erst, daß sie über und über vom Schaum des Pferdes bespritzt waren, und er hielt inne.

Noch einmal glitt ein Lächeln über Mariens Mund, aber ein lautloses, das sich rasch verzerrte. Sie taumelte, sie sank, und halb gehoben, halb gleitend kam sie zur Erde, zwischen den Gefährten in die Knie brechend, und fing nun so jämmerlich zu weinen an, daß die Beiden sie vergebens zu beschwichtigen suchten.

Margarethe schlang die Arme um den Hals der Kleinen, drückte Wang' an Wange, nannte sie mit allen süßen Namen; der Andere wagte nur abgerissene schüchterne Zusprüche, doch hielt er die kleinen starren Hände fest in den seinigen, als wollte er sie erwärmen – dann sahen sich die beiden Sorgenden lange in Verlegenheit schweigend an; das Weinen war nicht zu stillen, es war ein kurzabstoßendes, thränenloses Schluchzen, ein Krampf, der aller Widerrede spottend sich langsam an sich selbst erschöpfte. Er wich einer kurzen Betäubung und diese einem mäligen sich Fassen und Aufsammeln. Die Dreie rückten dabei näher zusammen und gaben sich die Hände, aber sie sprachen nicht.

Es war ganz dunkel geworden und fing sachte an zu regnen. Das knisterte gar leise und heimlich, sonst war Alles still im Walde, und Menschen und Bäume schienen dem Mann in der Blouse zu horchen, der 96 halblaut und einschmeichelnd dem Pferde chinesischen Namens, das heute schon vielerlei Sprachen verstanden, eine kleine Predigt in bäuerischem Bretonisch über die Nothwendigkeit alles hienieden sich Ereignenden unter die triefenden Kinnketten raunte.

– Jesus Maria, was wird Monsieur Klopffechter sagen! rief Margarethe, da sich Marie nun auf die Füße stellte.

– Wer kennt den Weg nach seinem Hause?

– Weiß Gott wohin wir uns verfahren!

– Der gute Mann wird Auskunft geben können.

Der gute Mann konnte Auskunft geben; es kostete nur ein wenig Zeit, sich zu verständigen; dann versicherte er, daß es ziemlich weit sei, nahm das Pferd, welches er längst ausgeschirrt hatte, an die Hand und ging voraus, den Weg zeigend.

Der Wagen war beschädigt und mußte einstweilen im Walde gelassen werden.

Um die Zeit zu kürzen, führte der Proletarier die Gesellschaft einen Fußpfad, der sie manchmal zwang, sich unter die Bäume zu ducken, und selten gestattete, daß Zwei neben einander hergingen. Die modischen Reifröcke nahmen zu viel Platz ein.

So schritt denn Eines hinter dem Anderen dahin. Dem Führer zunächst Marguerite, welche die Angst vor Klopffechter in größte Ungeduld setzte. Der Letzte war Fortunato.

Es regnete heftiger.

Mühsamer ward der Weg, auf dem sich Kies und Staub erweichten und das Laub vom vergangenen Jahr.

Auf einer geräumigeren Stelle wendete sich Gretchen zu den Folgenden und jammerte über den zu Verlust gegangenen Hut Mariens, die nun barhaupt im Regen gehen mußte. Sie bot ihr den eigenen an, und da Marguerite darauf bestand, daß diese ihn nehme, wie sie gar die Bänder löste und ihn ihr aufdringen wollte, wich Samuel's eigenwilliges Kind zur Seite unter die Bäume.

– Ich habe dichteres Haar als Sie, sagte es, und überdies – der Schirm genügt!

Damit hatte sie ihr Kleid ergriffen mit beiden Händen und schwang es übers Haupt wie einen Mantel, aus dem neckisch das liebe Gesicht hervorguckte.

Den Einwendungen Gretchen's wurde widerredet; man war nun einmal in der exceptionellen Situation und am dringendsten sprachen der wachsende Regen und die schwindende Zeit.

97 Marie hatte dichteres Haar, das war richtig, und Gretchen hatte die Bemerkung wie einen Vorwurf hingenommen; aber hatte sie nicht kleinere Füßchen, als diejenigen waren, die jetzt vor Fortunato's Augen in der Dunkelheit einherglitschten? Sie dachte daran, dachte an Onkel Tam-Tam's sonderbare Lehren, erröthete still für sich und sagte dann laut zu den Anderen:

– Da auf dem Marsche denn doch die strenge Ordonnanz gelockert, was soll mein armes Hütchen, und noch dazu auf meinem Haupt, verkommen?

Sie trat beiseite, schürzte sich und zog das Oberkleid über den Hut. Wie sie in die Falten griff, war ihrs, als sähe sie Onkel Tam-Tam leibhaftig vor sich, der ihr zunickte, belobend und aufmunternd.

Der Anderen Zwiesprach verdrängte gar bald dies grinsende Bild und also mit wiedergewonnener Laune schritt die kleine Karawane tapfer aus, so gut es auf der schlüpfrigen Bahn eben anging.

Je länger das aber währte, desto ängstlicher, desto unruhiger wurde Marguerite; selbst die Hoffnungen der Liebe und die Rathschläge weiblicher Koketterie verstummten und drückten sich schüchtern in einen Winkel ihres Herzens vor der überlauten Sorge, wie sie Klopffechter empfangen und beurtheilen würde.

Fand daneben noch ein Gedanke Platz, so war es der, man möchte nicht auf dem rechten Wege nach Hause sein.

Dann begann sie mit dem Führer ein Gespräch über dieses Thema und trieb ihn zur größeren Eile an.

Er that ihr den Willen gern.

Marie jedoch war zu erschöpft, um mit Jenen gleichen Schritt zu halten, und als dieselben ihre Schritte nun gar verdoppelten, blieb sie ein kurzes Weilchen stehen, legte die Hand aufs Herz, schöpfte tief Athem und sah sich um nach Fortunato.

Er war ihr näher als sie gedachte. Das Haupt wendend sahen sie sich Aug' in Auge.

Fortunato's Blicke glänzten so eigenthümlich in der Dunkelheit. Das gefiel Marien und sie lächelte gar freundlich.

Der Capitän sah drein, als wollte er ihr etwas Wichtiges sagen, sie kehrte aber sich rasch wieder um und eilte, die Vorausschreitenden einzuholen.

Da war eine große Pfütze, die der Regen über den Weg gelegt. Man mußte sich an den Zweigen der Bäume halten, und so sich mit den Händen weiterhelfen, um ohne dreinzupatschen vorüberzukommen. Fortunato bot dem Fräulein seine Hilfe; dieses wies dieselbe kurz ab, man könnte fast sagen barsch, unfreundlich.

Man sprach nicht mehr. Jedes setzte schweigend einen Fuß vor den 98 anderen. Nur zuweilen machte der Mann, der das Pferd führte, einen trockenen Spaß über die nasse Wanderschaft, oder Marguerite rief in irgend einer salonfähigen Cultursprache dem säumigen Zögling ein »So spute Dich doch!« zu.

– Nun wären sie gleich im Orte, vertröstete der Mann in der Blouse – leider nicht zum erstenmal.

Aber der Weg verengte sich nun so sehr, ward auf der rechten Seite von kahlen Steinen begrenzt und fiel auf der anderen steil ab in den Wald, daß bei der Glätte des Bodens und der Dunkelheit unter den wenn auch laublosen Bäumen selbst die zur Hast antreibende Margarethe ihre Schritte verzögerte. Sie hatte einen großen Vorsprung.

Marie wollte sich nach ihrem Begleiter umsehen, aber es gelang ihr nicht. Ohne sich im Weitergehen stören zu lassen, fragte sie mit heller Stimme:

– Capitän, wo bleiben Sie? Warum sind Sie so stille in der Finsterniß?

– Hier bin ich! antwortete dieser.

– Wo? Ich sehe Sie nicht.

– Hier dicht hinter Ihnen. Aber warum soll ich gerade im Finstern reden?

– Vielleicht weil ich im Finstern – furchtsam bin? sagte das Mädchen schnippisch.

– Das ist nicht wahr, platzte Fortunato mit betheuernder Stimme heraus, Sie sind nicht furchtsam!

– Nicht? Also ist die Ehre gerettet.

Damit fing sie wieder an zu lachen.

Im Lachen aber versah sie's und glitt mit einem Fuß aus. Allein sie hielt sich fest auf dem anderen und kam nur ein wenig ins Schwanken. Schwankend griff sie mit der rechten Hand nach den Steinen, mit der linken hinter sich, die schlanken Fingerchen bewegend, als bäten sie schweigend um Hilfe.

Die Steine waren so kalt und regennaß, daß das Wasser durch den Handschuh drang. Sie zog ihn jäh zurück.

Die Linke, die keinen Handschuh trug, blieb rückwärts gewendet, obwol das Mädchen weiterging.

Fortunato hielt sie fest und ließ sie nicht los, und so gingen sie hin, ohne sich ins Angesicht zu sehen, wie zwei Kinder.

– Marie! sagte der Corse und seine Stimme bebte vor Aufregung.

– Was solls? fragte das Mädchen sanften Tones, aber wie arglos.

– O, ziehe die Hand nicht zurück, Marie!

– Warum nicht?

99 – Aergerts Dich denn, wenn ich sie halte?

– Nein!

– Marie!

– Was willst Du von mir?

– Ich will Dir sagen, daß ich Dich unsagbar lieb habe.

Sie seufzte, sie lächelte und sprach:

– Das weiß ich längst.

Aber sie sah sich nicht um; Hand in Hand und schweigend gingen sie des Weges dahin.


Derweilen waren Curt und Doctor Huber längst wieder nach Paris gekommen.

Sie hatten sich schon am Bahnhofe von der Gesellschaft getrennt und schlenderten nun, gemächlich plaudernd, über die Boulevards, wo man die Laternen anzündete und die Abendblätter feilbot. Die bunten Leute, welche vor den Kaffeehäusern saßen, riefen nach Neuigkeitskrämern; die Spaziergänger standen ein Weilchen still, um aufzuhorchen. Paris war wieder einmal politisch bewegt, denn der Krieg in Polen war heftig entbrannt und die Franzosen meinten, es wäre schon wieder einmal hohe Zeit, sich in anderer Leute Händel zu mischen.

Der Doctor und der Baron hatten zu einer politischen Unterhaltung niemals weit, aber das Gedränge der Menschen, der Lärm, welchen Omnibusse, Kellner und Händler verführten, hinderte Huber, der, selten gesprächig, wenn er einmal ins Reden kam, sich nicht gern unterbrechen ließ, zumal wenn er, wie diesmal, einem Landsmann reinen Wein einschenken zu müssen meinte.

Sie wendeten sich darum südwärts, stillere Straßen suchend.

Der Baron vertrat eine Ueberzeugung, welche in ganz Deutschland, vielleicht in der ganzen Welt die herrschende war und es theilweise noch ist. Er meinte, die Unsicherheit des europäischen Gleichgewichtes, das fortwährende Zittern und Schwanken aller Grenzpfähle, die permanente Kriegsbedrohung ginge lediglich von Ihm aus, von dem kleinen, klugen, waghalsigen Mann, der seiner Selbsterhaltung zuliebe und um das von ihm regierte Volk nicht auf die Schäden im Innern seines Staatskörpers aufmerksam werden zu lassen, sich genöthigt sähe, an allen Enden der bewohnten Erde Händel und Ränke anzuspinnen und der rüstigen Thatkraft seiner Unterthanen alle Hände voll zu thun zu geben, auf daß sie nicht Daheim nach anderen Dingen griffe.

Wäre nur einmal dieser Eine Mann – wäre nur dieser Störenfried an der Seine durch Glück oder Unglück beiseite geschafft, unschädlich gemacht oder gar begraben, dann würde das goldene Zeitalter des gemüthlichen 100 Behagens über den industriellen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts aufgehen und vor Allem die beiden großen Nachbarvölker der Civilisation, Frankreich und Deutschland, sich die Hände reichen; dann würde die langverhaltene Anerkennung des vollen gegenseitigen Werthes die herrlichsten Früchte tragen.

Welche Aussichten! Der Gallier, der jüngere, heißerblütige Bruder des weiseren, aber schwerfälligeren Germanen, er würde diesem Munterkeit und Raschheit mittheilen und dafür an seiner Gediegenheit und seinem Ernste Theil haben.

So aber wider ihren besseren Willen von der Ehrsucht und Eigenliebe ihres Potentaten verhetzt, verblendet durch den Eintagsjubel unterdrückter Völkerschaften, trunken gemacht von Ruhm und Ruhmsucht, verwechseln die Civilisationshelden des Empire Freund und Feind; sie suchen den Fluch, der ihnen selber aufgebürdet, möglichst weit zu verbreiten und winken in drohender Sehnsucht mit ihrem ganzen martialischen Kriegsapparat, mit gezogenen Kanonen und Haubajonnetten, mit Turcos und Zuaven nach den schönen deutschen Ländern am Nieder- und Mittelrhein. Und an all dem ist Niemand Schuld als Er, Napoleon, seines Namens der Dritte.

Huber hörte ihm lächelnd zu und sprach dann:

– Es gab eine Zeit, wo man noch nichts von einem dritten Napoleon wußte im deutschen Reich, aber umsomehr noch von dem ersten. Ich erinnere mich, da ich ein kleiner Junge war und noch nicht recht Lesen und Schreiben konnte, da sprach man noch viel von den Franzosen, und man schenkte den Kindern Bilderbücher, worin die Schlachten von Hochkirch und Roßbach und die von Wagram und Waterloo und Leipzig und viele andere und dazu der alte Fritz mit seinen Generalen, der alte Blücher und der Erzherzog Karl abgebildet waren; und man nannte die Nachbarn im Westen den Erz- und Bluts- und Landesfeind und mit anderen ähnlichen bösen Namen, welche der kosmopolitischen Bildung eines Culturvolkes wie die Deutschen nicht würdig waren.

Und das währte auch nicht allzulange.

Als ich, älter geworden, anfing, in der kosmopolitischen Bildung und classischen Literatur Fortschritte zu machen, das las man in seinen wenigen Mußestunden schon nichts lieber, als die verbotenen Schriften von Heinrich Heine und Ludwig Börne.

Wenn ich es auch niemals so weit gebracht habe, über den Schimmel des großen Kaisers Thränen der Rührung zu vergießen, so glaubte ich doch ernstlich an den Freundschaftsberuf der beiden großen Culturvölker und an die Möglichkeit gegenseitiger Hochachtung und Hilfeleistung und den Fortschritt des Verständnisses.

101 Ich füge hinzu, daß ich für meine Person das französische Volk schätze und hochachte, daß ich es zuweilen bewundere, daß ich als Bruchtheil der Menschheit mich ihm zu Dank verpflichtet fühle, ja daß ich selbst von seiner Kunst und Literatur eine bessere Meinung hege als die meisten meiner Landsleute. Aber Alles das kann mich nicht verblenden, die Lage der Dinge und das gegenseitige Verhältniß der beiden Nachbarvölker freundlicher zu sehen als sie einmal sind. Es wäre gut und schön und für beide Theile außerordentlich nützlich, wenns anders wäre, aber es ist eben nicht an dem.

Nicht Napoleon III. ist es, der sich die Neigungen, Wünsche und Bedürfnisse seines Volkes also zugerichtet hat, wie sie seine Herrschaft begünstigen, sondern Napoleon und sein ganzes System sind der fleischgewordene Ausdruck der Bedürfnisse, Wünsche und Neigungen, welche diesem Volke im Laufe seiner neueren Geschichte zu Theil geworden sind.

Diesen Enkeln des Convents und der Schreckensherrschaft ist trotz aller demokratischen Vortheile, welche ihnen in der That und Wahrheit zu eigen geworden sind, der aristokratische Unfug Bedürfniß; sie geben die beste, fruchtbarste Grundlage ab für den aufgeklärten Despotismus, welcher zur Zeit im Sohne der Hortense so meisterlichen Ausdruck gefunden, und der Napoleonismus, der Cäsarismus ist geradezu die Religion der Franzosen.

Vielleicht daß es einer Umwälzung des Volkes, einer Verschwörung der Käuze des Faubourg St. Germain oder gar irgend einer heiligen oder unheiligen Coalition fremder Mächte gelingt, auf den Neffen des Corsicaners einen Bourbon folgen zu lassen. Sei es: man wird nur den Namen wechseln und vielleicht die Kraft und Fähigkeit; Form und Gehalt der Pyramidenspitze der Centralisation werden dieselben bleiben.

Der Erfolg freilich wird nicht derselbe sein; aber diese Frage behandeln wir heute nicht.

Auch die Nachfolger aus bourbonischem Geschlechte auf den ersten Napoleon haben, trotz ihres lilienreichen Firlefanzes und der Abgötterei des vierten Heinrich, mit den Volksneigungen cäsarischer Gattung kokettirt – Neigungen, die auch der erste Napoleon nicht geschaffen, sondern nur ausgebildet und zu jener Fruchtbarkeit und Ungeheuerlichkeit zu übertreiben vermocht hat, welche die Welt an ihm bewundert und verflucht. Wo Louis Philipp in Schlössern und Museen noch eine Wand frei fand, ließ er die Schlachten von Valmy und Jemappes hinmalen, an denen er, in der Revolutions-Armee dienend, Antheil gehabt; da ließ er die Belagerung von Antwerpen und die bunten Dinge von Algier verherrlichen, bei denen seine Söhne sich ausgezeichnet.

Der afrikanischen Schule verdankt die Armee, welche in der Krim und in Italien gefochten, nicht ihre kleinsten Erfolge; und bekanntlich trug auch 102 die Zeit Louis Philipp's lebhaft laut werdendes Gelüsten nach dem »freien deutschen Rhein«.

Selbst Charles X. und Louis XVIII., da sie wenig mit Kriegsruhm und blutigen Lorbeern gesegnet waren, sie ließen auf den Wänden ihrer Staatsgemächer doch zum wenigsten ihre Revuen und Wachtparaden verewigen, denn ohne Pulverdampf und Pferdegetrampel, ohne Bajonnettengewühl und Trommelwirbel darfs nun ein für allemal nicht abgehen.

Und wo heute ein Tambour über die Straßen geht, so trommelt er: »An den Rhein, an den Rhein!« Wo ein Soldat sein Bajonnet putzt oder sein Pferd striegelt, freut er sich auf die nächste Arbeit und meint wohl zu wissen, wo sie zu finden ist. Als die aus aller Welt zusammengetragenen Batterien vor den Invaliden jüngst den Fall Pueblas, die Einnahme Mexicos verkündigten, da dachten die Kanoniere: Heida, wie die Kugeln fliegen werden über den Rhein!

Es ist eine alte Geschichte: man denkt Manches, was man nicht sagen darf, man sagt Manches, was man nicht schreiben darf, man schreibt Manches, was man nicht drucken lassen darf. Aber glaube Niemand, daß die Opinion Nationale, wenn sie von den natürlichen Grenzen faselt, aus der Schule schwatzt. Was Sie gestern und ehegestern dort gelesen, das können Sie hierzulande jeden Augenblick und so oft und so höflich Sie es nur wollen, hören; das sagen die Arbeiter, die Studenten, die Kaufleute, die Beamten, die Gelehrten und die Bummler und die Börsenmenschen; Sie hören dasselbe, etwas mehr oder weniger rückhaltig oder umschrieben geäußert, in Cabarets und Salons; Sie lesen es in den Zeitungen, Sie sehen es in den Carricaturen der Bilderläden; die Kinder lallen es auf den Straßen und die Spatzen pfeifen es auf dem Dach.

Natürlich drückt man sich verschiedenartig aus; aber wer sich die kleine Mühe nimmt, um Erläuterung zu fragen, dem ertheilt man die Auskunft in dieser Sache mit einer bei den Franzosen sonst gar nicht so gewohnten Aufrichtigkeit, und wer die Umgangssprache der Pariser an Ort und Stelle erlernt, der weiß gar bald, daß la guerre pour la Pologne auf gut Deutsch wie im Elsässer Dialect durchaus nichts anderes heißt, als die Besitzerwerbung des linken Rheinufers.

Die Declamationen der Franzosen um das immer noch nicht verlorene Polen sind so alt! Und so alt wie diese sympathischen Aeußerungen ist die Wahrheit, daß Frankreich an wahrer Hilfeleistung den armen Polen bitter wenig erwiesen, so oft es sie auch durch gute Worte, Geld und Führer ins Feuer gehetzt hat.

Der Franzose hat eine Menge guter Eigenschaften, darunter gewiß auch das Rechtsbewußtsein sehr ausgebildet ist; aber er hat noch eine andere, manchmal etwas zweifelhaft ehrliche Tugend, die stärker ausgebildet ist denn jede andere – – das ist sein National-Bewußtsein. In Frankreich muß 103 Alles, was gelten will, nationalen Charakter haben; selbst die Wissenschaft ist in Frankreich »national« und das Rechtsbewußtsein der Franzosen ist erst recht »national«.

Ihnen gilt der Besitzumfang des ersten Kaiserreichs als heiliger Rechtsboden ihrer Territorial-Ansprüche, und die Verträge von 1815 dünken ihnen das himmelschreiendste Unrecht, das man ihnen jemals vor Göttern und Menschen hat anthun können. Luxemburg voran und die preußische Rheinprovinz und Westphalen gleich dazu und Rheinbaiern und die anderen sofort hinterdrein. Das Alles war ja ihr Eigen vor aller Welt Augen, und sie geberden sich angesichts dieser Verluste mit einer Indignation, als ob sie diese Provinzen vom lieben Herrgott eigenhändig geschenkt bekommen und dann ein Taschenspieler sie ihnen unversehens gestohlen hätte.

In der That, charakteristisch ist die zuweilen auch unbewußt hantierende Hinterlist, das spielende Escamotiren der Begriffe in Gespräch und Schrift, das dem Franzosen zur Natur geworden und ihm die gerade Ehrlichkeit germanischer Race als querköpfige Versimpelung lächerlich erscheinen läßt.

Man hört zuweilen Leute sich in eine Siedhitze von Aufopferungswuth für die ringenden Polen hineinreden oder schreiben, daß man fast gerührt werden möchte; betont man aber, daß diese Aufopferung an Kraft und Geld und Muth und Blut zu Gunsten der polnischen Nationalität nicht blos um Gottes und der Freiheit willen geschehen werde, so wird Einem sofort die Entschädigung durch die Rheingrenze als selbstverständlich, naturnothwendig und was weiß ich noch genannt. Frankreich hat nun einmal den kostspieligen Beruf, dem Nationalitäts-Princip zur Geltung zu verhelfen; das ist die von der Humanität ihm übertragene culturgeschichtliche Mission und von den Malern der zukünftigen französischen Schulen wird dieser Beruf in allerhand allegorischen Deckengemälden oft genug versinnbildlicht werden.

Niemandem fällt es bei solchen Declamationen ein, daß es eine Nation von fünfzig Millionen gibt, eine große Nation, die an Muth und Fleiß, an Blut und Gut und Genialität für die Civilisation des Menschengeschlechts mehr verausgabt hat, als ihre sämmtlichen Nachbarn rund herum. Dieser Nation gegenüber wird sofort das Princip der Nationalitäten-Frage mit einem anderen vertauscht, mit dem der natürlichen Grenzen. Sonderbare Theoretiker!

– Sie möchten wol gern, warf Curt ein, aber ihre gebildete Einsicht, die Kenntniß deutscher Kraft und des wiedererwachten deutschen Volksgeistes, mit einem Worte, die Achtung, welche sie einer Nation wie die unsere schulden, wird sie von ihren Gelüsten schon zurückhalten. 104

– Aber wer sagt Ihnen denn, daß der Franzose den Deutschen achtet? rief der Doctor. Der Deutsche gilt dem Franzosen als dumm und tölpelhaft, und die stehenden Ausdrücke des Volkes für den Nachbarn im Westen sind: »tête de choucroûte« und »tête carrée«. Aber »Krautkopf« und »Querkopf« haben keineswegs die halb komische Bedeutung wie bei uns; man kann Spitznamen und Schimpfwörter selten wörtlich übersetzen. »Tête carrée« bezeichnet dem Franzosen die mögliche Größe verstocktester Bornirtheit und »tête allemande« wird oft und gern für jenen Ausdruck gebraucht. Achtende Anerkennung des deutschen Wesens ist in Frankreich selbst unter den Männern der Wissenschaft nicht sehr vorlaut.

Seit der Kaiser vollends der deutschen Wissenschaft bei der bekannten Gelegenheit der Karte von Gallien den Vorzug und der französischen ein öffentliches Dementi gegeben, wird sich solche Achtung noch weniger vordrängen.

Der Kaiser genirt sich zuweilen auffallend wenig und hat seinen Unterthanen schon mehrfache deutliche Beweise seiner souveränen Geringschätzung gegeben.

Wir wollen dieselben weder bestätigen, noch billigen, aber wahr ist, daß die Franzosen eigensüchtig, ehrgierig und vor Allem eitel sind wie kein anderes Volk. Ein Bischen Ruhm und Vortheil sind ihnen mehr werth, als Billigkeit und Gerechtigkeit, auch mehr als die Freiheit. Sie lieben die Centralisation, obschon die Centralisation nichts anderes ist als der Despotismus; Selbstüberschätzung ist ihnen Bedürfniß und Genuß, und so schmähen sie wie ungezogene Kinder mit grobem Namen das ernste, ringende Volk der denkenden Menschen.

Die beiden neuen Freunde traten nun in den Hof des Palais Royal und Huber las den Theaterzettel. »Le Brésilien«, »l'Anglais timide« waren unter anderen für heute den Gästen des lustigsten aller Possenhäuser angekündigt.

Aber das schien nicht in des Doctors Kram zu passen und er drängte weiter.

Curt, welchem es auffiel, daß die Engländer besonders häufig in Possenspielen vertreten waren, meinte, die Franzosen nähmen es wol mit anderen Nationen auch nicht so genau.

Und der Andere versetzte:

– Sie finden im Augenblicke kaum ein Theater, wo komische Opern, Lustspiele, Volksstücke, Possen, Rührdramen aufgeführt werden, in welchen nicht ein Engländer oder eine Engländerin den Stoff zum Lachen abgeben müßte.

Der Engländer ist nämlich noch in ganz andrem Grade der Gegenstand der französischen Selbstüberschätzung als der Deutsche.

105 Dem Deutschen will der Franzose nur so viel als möglich wegnehmen, und er glaubt sein bescheidenes Verlangen auch ausführen zu können, ohne auf unüberwindliche Schwierigkeiten zu stoßen; den Engländer aber haßt er und die Meinung des Volkes bürdet alle Preissteigerung und jegliches Uebelbefinden in Handel und Wandel dem verfluchten Treiben des habsüchtigen Albions auf. Zwar ist den Engländern im Augenblick nichts wegzunehmen, aber ein Krieg mit ihnen, und wärs auch nur um den alten tiefwurzelnden Haß der Eifersucht zu sättigen und um der Welt zu erweisen, wer der Stärkere von Beiden, so eine Landung etwa, wie sie der erste Napoleon auf den Werften der Nordküsten gerüstet und Nelson durch den Sieg bei Trafalgar vereitelt hat, das wäre – zwar das hirnrissigste, aber nichtsdestoweniger populärste Unternehmen, welches im dermaligen Frankreich gedacht werden könnte. Da man aber vorderhand trotz des guten Willens an der Ausführbarkeit gerechte Zweifel hegen muß, so führt man derweilen einen kleinen Krieg gegen diejenigen schätzenswerthen Bruchtheile des seemächtigen Inselvolkes, welche sich auf den französischen Theil des Continents gewagt haben.

Im Verkehr werden die Engländer aufs Unbarmherzigste und Unverschämteste geprellt und geschunden, und um sich nicht zu irren, nimmt der Franzose in Handel und Wandel ganz einfach Jeden, der ihm ein Fremder däucht, auch für einen »anglais«. Das ist sicherer und fällt ihm bei der geringen Neigung zu gründlicher Untersuchung, welche dem französischen Charakter zu eigen geworden, nicht schwer.

In allen Schaufenstern der Bilderhändler hängen kleine und große Carricaturen von englischem Civil und Militär, und insbesondere sind gegenwärtig die Darstellungen solcher Situationen beliebt, in welchen ein Engländer von einer Pariser Lorette geplagt oder betrogen wird. Es fällt dabei Niemandem ein, daß der Vertreter des verhaßten Volkes in diesem Conflict immer noch eine weit ehrenwerthere Person ist, als der des eigenen; es kann dies keinem Franzosen einfallen, denn die ärgste Sünde hierzulande heißt: sich lächerlich machen.

Der Engländer ist denn auch zur Zeit die stehende Hanswurstfigur auf den Pariser Theatern, und hat als solche auch schon auf dem Theater Français seinen Eingang gefunden. Zuweilen geht es mit lächerlicher Gutmüthigkeit ab, aber selten; meistens wird der National-Charakter der Albionssöhne aufs Unglimpflichste angegriffen, und die Stücke sind nicht rar, in welchen einem pharisäisch an die Brust schlagenden Publicum eine ganze englische Gesellschaft, ein Drama, das jenseits des Canals spielt, aufgetischt wird. Alsdann ist eine der Hauptfiguren ein französischer Officier oder Emigrant, der sich zufällig oder im Auftrag unter den Beefsteakfressern oder Sportleuten herumtreibt; und es versteht sich, daß er die Intrigue leitet, dem Genie, welches allemal als merkwürdigerweise dem französischen Volke entgangen 106 behandelt wird, oder der leidenden Armuth, der mißhandelten Tugend zum Recht verhilft, bei jeder Gelegenheit von der Präponderanz der Heimat declamirt, oder doch zum Mindesten mit Muth, Edelsinn, Witz und Lebensart in einer Weise bevorzugt erscheint, welche die ihn umgebenden Deutschen als Theilhaber einer weit untergeordneten Gattung von Menschen erscheinen läßt.

– Was die Augen sehen, glaubt das Herz, sagte Curt. Aber sind Sie der Ueberzeugung, daß diese Art, die Schaubühne zu Bearbeitung der Volksgemüther zu gebrauchen, eine gewollte, von Oben her beabsichtigte, statt vielmehr ein zufälliges Spiel muthwilliger Kräfte sei?

Der Doctor antwortete:

– Die Ueberschätzung der eigenen, die Geringschätzung anderer Nationen wird dem Franzosen von der Wiege bis zum Grabe auf jedem möglichen Bildungswege beigebracht. Dies fängt schon, wie begreiflich, in der Schule an. Kein ABC-Schütz in Frankreich gibt Ihnen zu, daß seine Landsleute jemals in einer Schlacht geschlagen worden seien. Aber von der »nationalen Wissenschaft« und der Schulbildung hierzulande haben wir heute schon bei Tische gehandelt.

Will einmal der erwachsene Franzose zu seiner Bildung und Erholung in ein Museum, in eine historische Sammlung gehen, so ist auch hier überall dafür gesorgt, das Vollbewußtsein seiner militärischen Ueberlegenheit nirgends erschlaffen zu lassen. Selbst das berühmte Hotel de Cluny, das historische Museum der Hauptstadt Frankreichs, reicht in die neueste Zeit. Die Sammlung an sich ist in der That merkwürdig, wenn sie auch weniger durch ihre Reichhaltigkeit, als durch ihre Buntheit und noch mehr durch das Durcheinander ihrer Aufstellung Verwunderung einflößt, in welcher das Werthvollste neben dem Unbedeutendsten, und alle Zeiten und Länder sich ungeschieden vertragen müssen.

Diese Sammlung, wie noch die eine und andere, hat den Anschein, als warte sie auf den ordnenden Sinn eines deutschen Gelehrten, der für bescheidenen Lohn aus reiner Liebe zur Sache den Franzosen Wissen und Zeit opfern werde, ihr »historisches Museum« in Ordnung zu bringen. Aber das thut nichts; der französische Besucher findet bald, was er am liebsten sucht. Da ist ein Altar aus Rußland, eine mehrfelderige grobe Schilderei, mit rund ausgeschnittenen Blechplatten besteckt, welche die Gesichter der Heiligen freilassen; man sagt, solche und ähnliche fänden sich in jedem Bauernhaus gewisser Landschaften; je nun, eben diese Schilderei aber hat die soundsovielte Compagnie des soundsovielten Regimentes mitgebracht aus dem Krimfeldzuge. Und drunten im Garten zwischen zwei Gypsköpfen der heiligen Maria und des Nährvaters, neben zwei antiken Säulencapitälern und etlichen Fratzenmasken aus der Zopfzeit prangt das eiserne Kreuz der Kirche St. Wladimir von Sebastopol.

107 Und wie hier, so trifft sichs überall; vollends gar in denjenigen Sammlungen, welche ausdrücklich oder insbesondere zur Verherrlichung des französischen Kriegsruhms aufgestapelt sind. Die umfangreichste und bedeutendste derselben ist die historische Bildergalerie zu Versailles, »à toutes les gloires de la France« gestiftet, im gleichen Sinne vervollständigt bis auf die neuesten Tage.

Zehn Stunden reichen nicht hin, um die überfüllten Säle auch nur flüchtig mit offenen Augen zu durchwandern.

Selbstverständlich fängt hier die französische Geschichte mit Chlodwig oder noch früher an; die Hausmaier der Merovinger, die Karolinger sind französische Helden, die Unterwerfung Wittekinds ist der Sieg eines französischen Kaisers über deutsche Völker. Das darf Niemand wundern; was aber jeden Nichtfranzosen wundert, das ist die Art und Weise, wie denn »toutes les gloires de la France« hier ihren reichhaltigen Ausdruck der Versinnlichung finden.

Toutes les gloires! Sonderbar: Menschenwürde, Menschenrechte sind so ziemlich vor der Thüre geblieben, aber wo ein Gemetzel, ein Todtschlag, ein Unrecht zu verherrlichen war, das wurde nicht vergessen. Blut, Rauch, Trümmer und Dampf vom Anfang bis zum Ende; das nämliche Vergewaltigen zu Wasser und zu Land immer wieder, wenn auch unter anderen Trachten und Geräthen, bald von Meisterpinseln versinnlicht, bald handwerksmäßig auf die Leinwand geklext. Nicht nur, daß man manche Begebenheit als »Sieg« verewigt wiederfindet, welche unsere bescheidenere Bildung gerade als Gegentheil oder als ein unbedeutendes, erfolgloses Ereigniß zu wissen vermeint – man sieht hier auch solche Facta, welche eine ehrgeizige Nation als klägliche Erinnerungen verhüllen sollte, schamloser Weise der Bewunderung sich aufdrängen.

So zum Beispiel wie die französische Armee auf ihrem Zug über das Feld von Roßbach die Gedächtnißsäule des preußischen Sieges umwirft; oder wie Napoleon den Degen des großen Fritz von dessen Sarge wegnimmt und Ebenbürtiges.

Warum hat man denn doch vergessen, auch den »großartigen« Moment in einem Bilde zu fesseln, in welchem die Invaliden vor dem Einzuge der Alliirten in Paris denselben Degen desselben alten Fritz zerbrechen und vernichten?

Vielleicht holt einmal ein deutscher Maler dies Versäumniß nach.

Man verfällt nach etlichen Stunden solchen Galeriebesuchs in einen eigenthümlichen Zustand; man fühlt, daß man in dieser anschaulichen Geschichtslection brutaler geworden, als man vordem gewesen. Man glaubt eine Zeit lang in der That, die Weltgeschichte werde auf der Fleischbank gemacht; man sieht nicht mehr als Blut und rothe Hosen; man glaubt Pulver zu 108 riechen, das Getrommel und das Gestöhne und den erschütternden Marschtritt der Bataillone in den Ohren zu vernehmen.

Als ich nach meinem ersten fünfstündigen Besuch aus dem Versailler Schloß kam, schien mir alles Ernstes Leben und Streben nicht mehr werth zu sein, als ein Liter Rothwein, und hätte sich das Menschengewühl, in dem ich einherging, auf einen plötzlichen Ruf in zwei Parteien getheilt, welche unbarmherzig auf einander losgetrommelt und gewüthet und gemordet hätten, so lange sie die Arme regen konnten, ich hätte in der augenblicklichen historischen Stimmung, in der ich mich befand, solches weder auffallend, noch unangemessen, noch beklagenswerth gefunden.

Wie weit sind wir im rohen Deutschland noch von solch civilisatorisch missionärer Bildung entfernt!

Das wirksamste aber und das bedeutendste Mittel, die Stimmung eines Volkes zu bearbeiten, aufzuregen, wachzuhalten und zu steigern, ist – abgesehen etwa von der Presse – gewiß die Schaubühne; und dies ist noch in weit stärkerem Maße als irgendwo anders hier in Frankreich der Fall, wo man für das Theater mehr Neigung und Theilnahme, Fleiß und Begabung vorfindet, als für irgend eine andere Kunst.

Schon in der natürlichen Anlage des französischen Volkes liegt außerordentlich viel Geschick und Neigung zum Comödienspielen, und diese natürliche Anlage wird durch eine ausgebildete Technik, durch eine sorgfältige Kunsttradition unterstützt, welche es selbst untergeordneten Kräften, sowol Darstellern als Bühnendichtern, möglich macht, Besseres zu leisten, als sie unter anderen Verhältnissen und lediglich auf ihr innerliches Vermögen angewiesen zu bieten im Stande wären.

Schon die Sprache bringt dem Dialog und der Declamation eine günstige Fülle der Abwechslungen im Tonfall und Vortrag entgegen, und man gibt sich alle redliche Mühe, diesen ererbten Schatz durch sorgfältiges Studium und raffinirte Mittel zu steigern. Die Künste der Bühne werden in Frankreich mit einer Gründlichkeit und Weihe betrieben, wie äußerst wenige andere Dinge.

Es hängt dies unzweifelhaft mit der Art und Weise des Volkscharakters zusammen, welcher Alles, was er thut und treibt, mit Rücksicht auf den unmittelbaren Erfolg unternimmt.

Der Causalzusammenhang zwischen Leistung und Beifall ist dem Franzosen keineswegs gleichgiltig; er will wirken, aber er will auch seine Wirkung genießen; er hat bei Allem, was er anfängt, die entschiedene Absicht, zu gefallen, während es in Deutschland nicht selten ist, daß ein Mann lediglich um der guten Sache willen etwas unternimmt, mit Aufopferung aller persönlichen Eitelkeit und Vortheile bis an sein Lebensende betreibt, und dann stirbt und anderen die Früchte seines Schaffens zu genießen überläßt.

109 Welche Thätigkeit aber hängt so nahe, so unmittelbar mit ihrem Erfolge, mit einem augenblicklichen lauten, zuweilen übertriebenen Beifall zusammen, wie die der Schaubühne und besonders in Frankreich! Hierzulande geht alle Welt ins Theater, nicht nur die feine Gesellschaft und die wohlhabenderen Classen, auch der Arbeiter, der gemeine Mann; und man hat Häuser, wo des Abends mehrere Ränge über einander von Blousen und Kitteln angefüllt sind – wahrlich, nicht die übelste Gesellschaft in Frankreich! Mit exemplarischer Aufmerksamkeit, mit ununterbrochener Theilnahme folgt das Publicum einer jeden Vorstellung, und wie weiß man auf diese Theilnahme zu Gunsten der nationalen Eitelkeit und der politischen Stimmung zu speculiren!

Alles das und Aehnliches ist aber eitel Kleinigkeit gegen einen Theaterabend, an welchem die Herzen des Publicums in ihren soldatischen Sympathien mit imperialem Kriegsruhm und der nothwendigen völkerzertretenden Culturmission gekitzelt und geschmeichelt werden. In dieser Beziehung leistet man hier wirklich Außerordentliches; man scheut kein Mittel und keine Kosten, und wahrlich, weder Kosten noch Mittel sind verschwendet.

Ein Beispiel, allerdings eines der merkwürdigsten, genügt. Kommen Sie einmal mit mir.

Der Doctor kaufte nun bei einem Händler Theaterbillets ein, während Curt einen langen Anschlagzettel überlas, an dessen Beginn mit Riesenlettern das schicksalschwere Wort »Marengo« geschrieben stand.

Das Theater, in welchem »Marengo« gegeben wurde, war erst im vorigen Jahre unter Dach gekommen: Theâtre Impérial du Châtelet, nach dem Platz, auf welchem es steht, genannt. Es ist sehr groß, geräumig, reich ausgestattet und eigens für Spectakel und Ausstattungsstücke gebaut und eingerichtet und wird von Volk aus allen Classen, besonders aber von Ouvriers besucht.

Ein solcher Mann im Blaukittel stieg neben dem Doctor die Treppe hinauf; da dieser keine Blouse trug und jener ziemlich angetrunken war. sagte er etwas übellaunig zu Huber:

– Sie steigen wol schwerlich so hoch wie ich. Warum gehen Sie überhaupt ins Theater? fuhr er fort. Sie können sich ja allerhand andere Vergnügungen bereiten. Aber für unser Einen ist das Theater das allerbeste. Wo wollen Sie, daß ich bleiben soll? Daheim? Pfui! Meine Frau hat einen Liebhaber, einen ganz verschmitzten, unverschämten, abscheulichen Liebhaber – haha, wissen Sie, das kommt hier in Paris zuweilen vor; was will man dagegen einwenden? Jeder unterhält sich auf seine eigene Faust. Meine Frau und ihr Liebhaber, ich selbst und wir allesammt. Und . . . . . Sie werden auch was absonderlich Schönes sehen heut Abend, verlassen Sie sich darauf.

Und er stolperte weiter im Gedränge.

110 Im Theater war bereits großes Getrampel, denn die landesübliche Ungeduld konnte den Beginn des Spectakels nicht erwarten. Es begann denn auch bald.

Das Stück ist ein ganz absonderliches Ragout von haarsträubenden Bühneneffecten, so daß ein Zuschauer germanischer Nation sich das eine ums anderemal fragen muß: was wird denn nun noch kommen? Die Franzosen sind auch in ihren besseren und besten Dramen nicht sehr zimpferlich im Motiviren, wo sie aber gar für »Volk« und »Vaterland« dichten, werden die Motive gewaltsam wie Kriegsgefangene eingebracht.

Im ersten Act liegt der jugendliche Liebhaber noch hinter der Scene in den ersten Windeln; im zweiten Act ist er schon Lieutenant, und gelegentlich des Uebergangs über den St. Bernhard wird er von einer Schneelawine vor unseren Augen in einen Abgrund geschleudert, aus welchem ihn aber sein anonymer Vater, der zufällig des Weges daherkommt, an Seilen gebunden, halb erfroren wieder herauszieht und zum Leben zurückbringt – woraus das Publicum mit Genuß erkennt, was ein Soldat der großen Nation für ein zähes Leben hat.

Im weiteren Verlauf des Schauspiels bringt der Held eine Menge Oesterreicher um; dann will er seinen Lebensretter und Erzeuger – von dieser letzteren Eigenschaft hat er aus Anstandsrücksichten für die Familie seines Pseudovaters keine Ahnung – vom Kriegsgerichte wegen subordinationswidrigen Betragens zu Pulver und Blei verurtheilen lassen; endlich kommt Alles in Ordnung; der Junge und der Alte stürmen noch etliche Batterien, erbeuten etliche Fahnen, der Alte stirbt daran und der Junge bleibt am Leben.

Das ist ungefähr der Faden der Geschichte, welche in fünf Acten ausgebreitet und mit ernsten und komischen Episoden aller Art verbrämt ist – aber Alles das ist Nebensache; der eigentliche wahre Held des Stückes ist ein ganz anderes Wesen, das ist die civilisatorische Mission, »das unabweisbare Bedürfniß nach Ruhm«, die Völkerbefreiungs-, die Nationalitäten-Zurechtverhelfungswuth, der Erste Consul, das cäsarisirte Frankreich, die Armee.

Diesen Helden ins grellste Licht zu setzen, wird alles Erdenkliche aufgeboten: Thränen der Rührung und höherer Blödsinn, Weiber und Pferde, Pulverdampf in Fülle und historisches Costüm von allen Farben. Am drolligsten nehmen sich in letzterer Hinsicht die Schauspielerin und der Schauspieler aus, welche den Napoleon Bonaparte geben.

Die Schauspielerin? fragt der Leser.

Ja wol, denn im ersten Act erscheint der nachmalige Kaiser noch als ein kleiner Junge, der sich mit anderen Figurantinnen und Choristinnen in einer Erziehungsanstalt befindet.

111 Diese beiden Acteurs haben nämlich die Verpflichtung, sich fortwährend den ganzen Abend lang in den authentischen Stellungen zu bewegen, welche von Gros, Horace Vernet und den anderen Malern »des Consulats und des Kaiserreichs« verewigt worden sind. Das eine Bein straff angezogen, das andere ins Knie gebeugt, die rechte Hand in die Weste gesteckt, die linke an der Scheide des Türkensäbels, oder beide Arme auf der Brust gekreuzt u. s. w. Gewandung und Waffen lassen natürlich nichts zu wünschen übrig, und der Lärm und das Geschrei, Musik und Kanonade und Kleingewehr noch viel weniger.

In diesem Stücke kommen, abgesehen von kleineren Exercitien und Scharmützeln, zwei Revuen, der Uebergang der französischen Armee über die Alpen und zwei Schlachten an die Reihe.

Wir Deutsche sind gewohnt, wenn ein Gefecht über die Scene geht, während, vor und nach diesem uns ungehörig dünkenden Zwischenfall zu lachen; und es wird auch lächerlich und ärmlich genug in Scene gesetzt. Hier ist das anders; dem Publicum ist der Scandal Herzenssache und die Theaterkasse und die Regie strengen sich dabei nach Kräften an. Pferde, Maulthiere, Soldaten und andere Comparsen sind auch bei uns nichts Seltenes, wenn der Zweck die Mittel heiligt und die Bretter die Last vertragen können; aber daß man Batterien hinter dem überflüssig gewordenen Souffleurkasten aufpflanzt und sie zu wiederholtenmalen abbrennt, ohne daß im Hause die Scheiben springen, das hat man in Deutschland wol noch nicht oft gesehen.

Das Publicum spielt aus Leibeskräften mit, und ist das Theater mit österreichischen Uniformen bedeckt, so herrscht Todtenstille in allen Zuschauerräumen. Die Franzosen stürmen an, die Bewegung nimmt in allen Rängen zu.

Die Oesterreicher von 1790 haben natürlicherweise auf der Pariser Volksbühne keine bessere Rolle zu spielen, als die von 1859 im Feuilleton des Siècle. Sie haben nur zu schießen, davon zu laufen und sich gefangen aufführen zu lassen, d. h. lediglich als wirksame Gegensätze zu der »unwiderstehlichen Tapferkeit« des Soldaten des »Consulats und des Kaiserreichs« sich in Scene setzen zu lassen.

Dabei lärmt und tobt das liebe Publicum, daß selbst der Kanonendonner davor den Kürzeren zieht, und bricht nach erfolgtem Comödiensieg in endlosen Jubel aus.

Curt grämte sich bei diesem Anblicke tief ins Herz hinein, aber er konnte sich doch nicht verhehlen, daß ein Franzose ganz andere Wirkungen empfinden müsse, daß zu viel Patriotismus immer mehr werth sei, als zu wenig, und während die Blousenmänner klatschten und die Statisten ihre Pferde tummelten und ihre Kanonen abfeuerten, fragte er sich im Stillen: 112

– Warum machen wir daheim unserem deutschen Volke nicht auch solche Freude? Es ist gar nicht so ohne Ziel und Zweck, dem Volk zuweilen den sauer erkämpften Ruhm, den Jubel seiner Größe zu zeigen. Wir haben doch auch Volkstheater in Wien und Berlin und anderweit, wir haben auch große Siege zu verherrlichen und Gelegenheiten und Gründe genug, die Nation an streitbare Tugend und Kriegsglück zu gemahnen; wie dankbar wäre das Publicum jeder deutschen Hauptstadt für ein Stück, in welchem man z. B. die Erstürmung des Montmartre als wirksamen Schluß gäbe, im Vordergrund Blücher und York und die Aussicht auf die eroberte Hauptstadt des gestürzten Welterschütterers in der Tiefe? Warum haben wir kein solches oder ähnliches Stück für das deutsche Volk?

Er wendete seine Augen unwillig von der dampfüberzogenen Bühne, auf der hinter Blitz und Krachen wenig anderes mehr als »Gloire« und »Victoire« zu vernehmen war.

Der Zuschauerraum des Théâtre du Châtelet ist von einer Decke bläulichen und gemalten Glases überdacht, hinter welcher der Kronleuchter, ohne ein Auge durch seinen Glanz zu kränken, aus dem Verborgenen sein Licht gehen läßt. Unter dieser schimmernden Glasdecke kreiste zappelnden Flügelschlages ein armer kleiner Vogel, der weiß Gott wie in das Haus gekommen war und nun, von dem höllischen Kriegslärm ängstlich durch alle Winkel gejagt, keinen Ausweg finden konnte und rathlos schien wie Curt's Frage.

Auf einmal sah er den Vogel nicht mehr; er mußte denn doch sein Loch gefunden haben, und als der Vorhang fiel, wußte Curt auch, warum solch ein Stück bei uns daheim nicht gang und gäbe sein könnte.

Da saß der Erste Consul auf bäumendem Roß, die Generale hielten um ihn herum, die Trommeln wirbelten, die Musikbanden spielten drein, die siegestrunkenen Soldaten reckten ihre Hände aus und schwenkten ihre Hüte auf den Gewehren, und alles Volk, trunken von Begeisterung, jubelte mit ihnen.

Da nahm der Schauspieler, welcher den Ersten Consul vorstellte, seinen Hut ab und rief mit lauter Stimme:

Vive la France!

Und die Begeisterung steigerte sich zu tobender Wuth.

Was sollten wir daheim rufen bei ähnlicher Gelegenheit?

– Es lebe Deutschland!

Das wäre ein Anachronismus.

Wir müßten rufen:

– Es lebe Reuß-Greiz oder Lobenstein oder Mecklenburg-Schwerin oder Strelitz! je nach Ort und Zeit, und das hat eben denn doch bei allem schuldigen Respect die rechte Wirkung nicht.

Und warum alsdann so viel Lärm – um so wenig Wirkung?

113 Als sie über die Treppe kamen, fanden sie den trunkenen Ouvrier wieder, der in die Kriegscomödie gegangen, weil er sich um sein schlechtes Hauswesen nicht kümmern wollte.

Er hielt mit der Linken seinen schwankenden Körper ans Treppengeländer, mit der Rechten warf er seine Mütze über den Kopf und schrie dazu »gloire!« bis er gar heiser wurde und ihm ein Folgender, dem er im Wege stand, einen der hierzulande gebräuchlichsten Fußtritte gab.

Die beiden neuen Freunde gingen schweigend fürbaß.

Huber wußte wohl, daß der Baron nun überzeugt wäre. Und dieser war es auch, aber er war auch tief verstimmt und Jener nicht minder.

An einer Straßenecke gaben sie sich die Hände und wollten scheiden, denn Huber wohnte diesseits des Wassers. Da wies der Doctor mit dem Finger nach der Wand hinter ihnen.

Curt sah ein Placat und las die Erklärung eines Wahlcandidaten für den gesetzgebenden Körper, wie sich solche den Stimmberechtigten der einzelnen Pariser Quartiers zu empfehlen pflegen. In dem Maueranschlag des Oppositionsmannes war viel von unnützem Blutvergießen die Rede und von der Nothwendigkeit, die Kräfte des Landes nach Innen zu kehren, die Steuern zu regeln, die Gemeindeverhältnisse neu zu gestalten, den Schulbesuch für die Armen unentgeltlich und für Jedermanns Kind zur Pflicht zu machen. Aber auch zu Gunsten eines ungenannten Krieges im Interesse des wahren und nothwendigen Gedeihens Frankreichs fanden sich schöne Worte, mit denen dem »Bedürfnisse nach Ruhm und Territorial-Erweiterung« des französischen Volkes Rechnung getragen war.

– Dieser nützliche, immer ehrenwerthe, von Alt und Jung und Rechts und Links gebilligte Krieg ist der Krieg um die »natürliche Grenze« am Rhein, sagte der Doctor.

Und dieser Krieg wird so lange populär in Frankreich sein, als der Schelm einen Finger hält und damit ein Recht zu haben glaubt, die ganze Hand zu verlangen; so lange, bis das deutsche Volk mit der Kraft auch den Willen fühlen darf, wieder zu nehmen, was man ihm einst verschachert, bis es das französische Besitzrecht nach eben dem Rechte des von Jenen gepredigten Nationalitäts-Princips entschieden und auf seine wahren und natürlichen Grenzen zurückgeführt hat: hinter die Vogesen. Sie halten mich vielleicht in diesem Augenblicke für einen Thoren oder von der hierzulande herrschenden Großmannssucht angesteckt. Aber ich meine, diese Frage ist nicht romantischer und anscheinend schwieriger, als manch eine andere, die zur Zeit in der Heimat unter den Grundsätzen wahrer Patrioten oben ansteht.

Entweder lebt das deutsche Volk noch, oder es ist unter den Acten des Frankfurter Bundestags erstickt und erdrosselt worden. Ist es todt, dann handelt es sich nur mehr um eine Leichenfeier; lebt es aber noch. dann wird 114 es allen denen, die im In- und Auslande es als todt behandeln und beerben zu dürfen meinen, schreckenerregende Beweise von seiner Lebendigkeit geben. Ich meinestheils glaube, daß es noch lebt, und in diesem Glauben lassen Sie uns scheiden. –

Curt stand lange auf dem Pont au Change nächst den altersgrauen Thürmen und sah hinab wie die Wellen kamen und verschwanden.

Die letzten Worte des Doctors hatten tiefer in sein Inneres gebohrt, als Jener ahnen konnte, und wie droben über den Mond die hastigen Wolken, so jagte ein wildes Heer von schwarzen Gedanken über seine Seele.

Als er endlich nach Hause ging, kam er am geschlossenen Laden der Journalfalterinnen vorüber. Es fiel ihm ein, daß das fleißige Mädchen mit dem krausen rothen Haar schon seit etlichen Tagen auf ihrem Platze fehlte. Seit jenem Morgen nach Klopffechter's Ball hatte er zuweilen nach ihr gesehen, wenn er des Weges vorbeizog.

Vielleicht war sie krank?

Aber der Gedanke haftete nicht in seiner Seele, und noch im Traum sprach er weiter mit dem kritischen Doctor Huber – auch über Verhältnisse und Menschen, deren er wachend gegen ihn keinerlei Erwähnung gethan.

 


 


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