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Das Fest Russland

Njegoroloje

Spät am Abend ist die polnische Grenze passiert. Der Korridor des Waggons, in dem wir, Delegierte aus westlichen Ländern, reisen, bevölkert sich. Langsam fährt der Zug vorwärts. Es ist schon beträchtlich kalt, aber die Fenster werden niedergelassen. In der Nacht taucht, weit noch vor uns, ein roter glühender Stern auf. Ganz langsam fährt der Zug auf den Stern zu: den fünf zackigen Stern, ein Transparent – Rußland – Sowjet-Rußland!!

Mütterchen –

Plötzlich Gesang. Einer singt im Korridor, eine Frauenstimme folgt. Und nun singen wir alle, dreißig Menschen in so vielen Sprachen des Erdballs:

»Wacht auf, Verdammte dieser Erde …«

 

Jetzt steht der rote Stern genau zu unseren Häupten. Ein paar Stimmen verstummen. Ein paar Menschen können nicht weitersingen. Ich fahre zum fünftenmal über die Grenze des geliebten Landes, verliere meine Fassung nicht. Andere aber, denen dieses Glück zum erstenmal rot zu Häupten schimmert, kehren in ihr Abteil zurück, setzen sich hin, den Kopf zwischen den Händen. Nun rollt der Zug ganz, ganz langsam. Unten im Schnee, vom roten Stern beschienen, steht der erste Rote Soldat. Hände recken sich aus dem Zug, winken. Weit beugen wir uns aus den Fenstern. »Sdrasdwitje …«

Unten im Schnee – der Graugelbe salutiert zu uns herauf. In geringem Abstand ein zweiter. Wieder dieselbe stürmische Begrüßung. Es sind Neger mit im Zuge, erstaunt blickt der Soldat zu uns herauf. Der Gesang verhallt. Der Zug beschleunigt seine Fahrt. –

 

Viele Freunde, wie viele liebe, altbekannte Gesichter in unserem Waggon. Da – das treue, mütterliche Antlitz Helene Stöckers, da, das wunderbare, von genialer Menschlichkeit durchleuchtete von Käte Kollwitz. Hier ist Hanns Becher, der Dichter der Revolution, vielleicht der Größte unter den heute lebenden. Zum erstenmal fährt er über die Grenze des Landes, das längst die Heimat unserer Seelen geworden ist. Emil Rabold, guter deutscher Schädel, fest und durchfurcht; wie ein Bild aus den Bauernkriegen. Und hier – mein Arm um eine Schulter gelegt, ein Geschenk des Schicksals – wieder mit Jacques Sadoul in Rußland sein zu dürfen, dem Hauptmann Sadoul! Dem Freund seit 1920, diesem historischen Menschen. Held der meuternden französischen Matrosen am Schwarzen Meer; Hauptmann im Generalstabe und erster stürmischer Partisan der großen Oktoberrevolution; in Frankreich zum Tode verurteilt, zum Präsidenten der Republik vorgeschlagen, zum Bürgermeister von Paris, zum Abgeordneten in unzähligen Bezirken; jetzt aus Frankreich nach Rußland zurückgekehrt zu den Festen des zehnjährigen Bestehens der Arbeiter-, Bauern- und Soldaten-Union, Gast der Regierung – wie ich es bin, wie wir alle es sind, hier im Zuge, nicht nur in unserem Waggon, der eine Gruppe von Intellektuellen nach Rußland führt, in den anderen Waggons sind tschechische Arbeiter, englische, französische, Bauern, Revolutionäre. Und nun knirscht der Zug in den Gelenken, wir sind in Njegoroloje angelangt.

 

Njegoroloje, ein riesiges gelbes Blockhaus, aus Stämmen gezimmert, noch nicht ganz fertig, hohe Halle, durch die sich rote Tuchstreifen mit Inschriften in allen Sprachen ziehen. Viel Volk wartet auf uns; eine Abordnung der weißrussischen Universität Minsk; Funktionäre der Sowjets aus den Städten dieses Grenzgebiets. Mit unserem Gepäck ziehen wir in geordneter Kolonne in die Halle ein. Der Willkomm! russischer Willkomm braust uns entgegen. Überschüttet von Rufen, Schreien, aufwallendem Gesang ziehen wir durch das enge Spalier.

Wieder in Rußland. Wieder unter den Menschen Rußlands. Das Fest beginnt. In der Heimat –

Wie feiern die Russen Feste? Reich gedeckte Tische; auch zu Zeiten, wo es wenig zu essen gab in dem gemarterten Lande, tischte das hungernde Volk, wenn fremde Freunde kamen, auf, was es erübrigen konnte. Heute herrscht keine Not mehr, Überfluß ist ins Land eingezogen. Wir blicken in leuchtende Augen. Stark wie das Zimmermannswerk der Halle, rot wie die wehenden Fahnen, die Spruchtücherstreifen über uns, begeistert wie die Willkommsprüche, die uns zu Häupten flattern, sind die Menschen, deren Gäste wir von diesem Augenblick an sind.

Kaum haben wir uns gesetzt, beginnen die Reden. –

Reden. Zweiter Punkt des Festefeierns in Rußland. Reden. –

Wenn Schiller sein Jahrhundert das tintenklecksende genannt hat, dann verdient unser zwanzigstes, besonders in diesen nördlichen Himmelsstrichen, das redenschwingende genannt zu werden. Leider habe ich es versäumt, gleich in Njegoroloje nach der ersten Rede des Vorsitzenden der weißrussischen Sowjets einen Strich in mein Notizbuch zu machen. Gern hätte ich die genaue Zahl der Ansprachen, Begrüßungsreden festgehalten, die von Njegoroloje an während der sechs Wochen meines Aufenthaltes in Rußland über mich niedergeprasselt sind. Für uns ausländische Delegierte mußte ich als erster die Begrüßungsreden erwidern. Nach mir Sadoul, von betäubendem Applaus empfangen. Darauf eine junge, herrlich temperamentvolle tschechische Genossin. Meine Ansprache war etwa die zehnte oder elfte in der Reihe. Ich habe dann wenigstens meine eigenen Ansprachen, die von Njegoroloje über Moskau, die Ukraine, den Kaukasus bis ans Ufer des Schwarzen Meeres und zurück nach Moskau ausgesäet wurden, mit Strichen im Notizbuch notiert: siebzehn Stück. Alles in allem dürften es an die fünfhundert gewesen sein, die unsere Gruppe gehalten hat und anhören mußte. Mit den Übersetzungen ins Russische etwa siebenhundert.

Reden. Reden! Da von uns Ausländern nur wenige die russische Sprache beherrschen – Freund Quintana, der argentinische Professor allein versteht und spricht Russisch perfekt –, können wir nur an den Gesichtern unserer russischen Freude beobachten, welche Wirkung unsere Worte auf sie ausüben. (In Moskau, im Klub der Schokoladenfabrik »Roter Oktober«, rezitierte der gute Schauspieler Alfred Beierle ein Gedicht von mir, dessen Schlußworte »Bank of England!« lauteten. Die Schlußworte des Übersetzers aber lauteten auf Russisch: »Es lebe die Weltrevolution!« Seither hege ich Zweifel an der wortgetreuen Wiedergabe etlicher Ansprachen der fremden Delegierten!) Nach jeder aber ertönt unweigerlich die »Internationale«, der alte Kampfgesang; von Orchestern gespielt, von tausend Stimmen mitgesungen, in Bahnhöfen, Klubs, auf freien Plätzen, in Kongreßhallen, Bankettsälen, Privaträumen. Die alte »Internationale«, der sich in letzter Zeit als wunderbar neue Hymne der Revolution ein quicker, aufpeitschender Rhythmus beigesellt hat: der »Marsch des Reitergenerals Budjonny«.

Tief in der Nacht, im Winterschnee, tönt dann der Bahnhof der Stadt Minsk von Hurrageschrei, Militärmusik und begeisterten Reden wieder. Am Nachmittag aber sind wir in Moskau angelangt. –

Woks

Woks. – Das ist eine der neuen Wortbildungen aus Anfangsbuchstaben, wie man sie in Rußland bei jedem neuen Besuch entdeckt und erlernen muß. Woks bedeutet »Gesellschaft für Kulturverbindung der Sowjetunion mit dem Ausland«. Es ist eine vom russischen Staat instituierte und geförderte Gesellschaft, die unter Führung der Genossin Olga Davidowna Kamenewa steht, des ehemaligen Volkskommissars Gattin, Leo Trotzkis Schwester, einer außergewöhnlichen Frau, die es im Laufe der letzten Jahre verstanden hat, in einer über die ganze Erde gespannten Organisation Zehntausende aktiver und begeisterter Freunde für die russische Idee zu gewinnen. Unsere Intellektuellengruppe verdankt ihre Einladung zur Zehnjahrfeier des Bestehens von Sowjetrußland der Woks. Wir sind in einem Hotel untergebracht, in dem wir, zusammen mit den Arbeiter- und Bauerndelegierten vieler Länder der Erde, eine einzig geartete Geselligkeit genießen. Drei Stockwerke hoch haust hier ein buntes Gemisch von Menschen aus allen Völkern, Rassen, jeder Hautfarbe, allen Schichten der Gesellschaft, vereint zu einer einzigen Einheit – über alle Völker, Rassen, alle Schattierungen der Haut, alle absurden Stufungen einer absterbenden Gesellschaftsordnung –, in brüderlichem Verstehen, nicht einer Theorie, eines Zweiges der Wissenschaft, wie das bei anderen Weltkongressen der Fall sein mag, sondern in gemeinsamer, überströmender Begeisterung für das Zukünftige, Unbeschreibliche, das wir hier an dem Geburtsort der neuen Welt demütig und stolz als unser Eigenes begrüßen, an dessen Werden und Fortbestehen mancher von uns inniger beteiligt ist, als das mit nüchternen Worten ausgedrückt werden kann!

Wo in aller Welt habe ich Ähnliches, eine derartige Vereinigung, Verbrüderung von Arbeitern, Bauern, Künstlern beobachtet? – um eine gemeinsame Tafel herum, von der man dann im geschlossenen Zug durch die Stadt zog, zu Kongressen, in die Klubs, Fabriken, Theater, Schulen und Kasernen? Sprachgruppen bilden sich hier und dort, aber ein freundliches Lächeln, Erkennen vereint die Menschen, wie gemeinsamer Gesang. In die Augen blicken, Handschlag, den Arm auf die Schulter des Nächsten, des Genossen gelegt, so verständigen wir uns, Menschen vielerlei Sprachen. Ein Bild der Zukunft leuchtet auf in diesem Hause, in dem sich die ganze Welt begegnet, aus dem, einmal, gleich am ersten Morgen, ein langer, schweigender Zug sich durch die Straßen Moskaus nach dem Roten Platz bewegt, dem Mausoleum Lenins zu, das am Fuße der Kremlmauer in gläsernem Sarg den Körper des toten Helden, Herolds und Schöpfers des neuen Zeitalters birgt.

Ja – in dieser Vereinigung, in der sich wildfremde Menschen aus allen Teilen der bewohnten Erde gefunden haben, kennenlernten, befreundeten und verbrüderten, ballte sich ein Kern der Zukunft zusammen, um den einmal die zersplitterten Teile der zerschlagenen Welt wie um eine Nebulose kreisen und sich neu bilden werden. Die magnetische, kosmische Kraft der russischen Idee wirkte hier, beseelte lebendige Menschen, strahlte sichtbar ein Spinnweb von stahlfesten, dünnen Strahlen aus, ein Gespinst um den ganzen Erdball, edles, festes, unzerreißbares Gefüge.

Woks hat in einem schönen Marmorsaal in der Nähe des Kremls seinen Klub eingerichtet. Barbusse taucht hier auf, der Vielgefeierte, neben ihm das frische, jungenhafte Normannengesicht Paul Vaillant Couturiers, eines der glänzendsten Polemiker des Kommunismus. Aus Amerika Professor Dana und Scott Nearing, der vor mir in Canton an der Universität gesprochen hat. Der Romancier Theodor Dreiser, wie ein Literatur-Morgan anzusehen, hier eine ziemlich unglückliche Figur. Die zierliche, zarte Madame Sun Yat Sen, Witwe des Schöpfers der chinesischen Revolution. Das feine Gelehrtenantlitz des englischen Professors Good. Die bleiche, edle Schönheit von Madame Lara, der Tragödin der Comédie française, die sich zum Kommunismus bekehrt hat. Inder: der greise Führer der Swaraibewegung und nächste Freund Gandhis, Motillal Nehru, mit ihm ein schöner, dunkler, langlockiger Jüngling, Enkel Tagores, und zwei in goldne tiefblaue Tücher gehüllte liebliche Inderinnen, die in Moskau bleiben und studieren werden. Akita, der japanische Barde des Proletariats. Norwegische Dichter und Schauspieler. Die geniale Alexandra Kollontai, die aus Mexiko zurück auf ihren Botschafterposten nach Oslo kehrt. Hier ist Raissa Adler, des Wiener Individualpsychologen Alfred Adler Frau. Diego Rivera, der mexikanische Maler, mit Freund Alfons Goldschmidt. Ich sehe Toby Axelrod wieder, dem ich zuletzt in der Schweiz begegnet bin; Panait Istrati, den ich zuletzt bei Masereel gesehen habe; und meinen großen Landsmann Béla Kun.

Olga Davidowna begrüßt die Gäste. Es werden Reden gehalten, unvermeidliche Reden in allen Sprachen, eines und desselben Inhalts, Freude, Begeisterung, Dankbarkeit und immer erneute Bezeugung der Verbundenheit. Sprachengemisch, Abschattungen der Hautfarbe. Ich konstatiere: gelbe, braune und besonders tiefschwarze Delegierte sind außerordentlich willkommen. Ein Argentinier kann infolge seiner hellen Haut nicht ohne weiteres als ein Freund Rußlands erkannt werden, der vier Wochen unterwegs war, ehe er hier angekommen ist – aber ein Neger verbürgt widerspruchslos das Bestehen der Internationale über den ganzen Erdball. Unser Freund Gumede, der Zulukaffer, den ich auf dem Brüsseler Kongreß der Antiimperialistischen Liga kennengelernt habe, ist da, wie auch Richards aus Liberia. Einen dicken Baschlick um den frierenden Kopf gewickelt, so ist der arme Neger an diesem arktischen Wintertag im Saal unseres Klubs erschienen. Er sitzt, von der Temperatur zu Tode geängstigt, zähneklappernd und unter dem dunklen Pigment wahrscheinlich tief erbleichend, im Schatten einer riesigen Palme, die in einem Kübel an der Wand steht – als ob die dürren Zweige über seinem Kopf ihm heimatlichen Schutz gewähren könnten.

Nach einer Stunde haben wir alle uns näher kennengelernt, haben die notwendigen Präliminarien für gemeinsame Arbeit durchgesprochen. Sie soll unmittelbar auf die Festtage folgen, diese Arbeit, die das zweite und die folgenden Jahrzehnte der Sowjetrepublik von uns fordern.

Vorabend

Draußen auf dem großen Platz vor der Oper strömen fremde Laute aus den Lautsprechern über die Menge, die im knirschenden Schnee von einem Fuß auf den anderen trippelt. In allen Sprachen verkündet heute das Radio die Anwesenheit von zweiundvierzig Nationen in Moskau. Es ist der Vorabend des 7. Novembers, des Geburtstages Sowjetrußlands. Heute nacht feiern wir die Geburtsstunde des zweiten Jahrzehntes, in der Großen Oper, die hell und warm beleuchtet, von roten Tüchern mit Inschriften durchweht, eine ungeheure Schar von Menschen vereinigt. Ich habe meinen Platz in einer Parterreloge und sehe das riesige, wogende Haus. Wie oft war ich schon hier! Wie oft sah ich, hörte ich, wohnte ich Feiern in diesem herrlichen Hause der höchsten Kunst bei, in diesem Hause, das seit einem Jahrzehnt dem ganzen Volk erschlossen, uns Menschen aus allen Ländern, zugleich mit Männern, Frauen und Kindern aus allen Kreisen Rußlands Stunden der freudigsten Erhebung gewährt.

Ein Blick hinauf zur ehemaligen Zarenloge: die Diplomatie fehlt diesmal! Die internationale Diplomatie – abwesend. Das erklärt sich leicht, aber ist bedeutungsvoll genug, um erwähnt zu werden. Was ist geschehen? Kriegszustand? Keineswegs. Vielleicht doch …

Ich erinnere mich genau, wie vor fünf Jahren der Gesandte Brockdorff-Rantzau in jener Loge oben nach einer Rede, die der deutsche Kommunist Fritz Heckert auf der Bühne gehalten hatte, in der das baldige Kommen und der glorreiche Aufstieg Sowjet-Deutschlands mit äußerster Energie und wildem Pathos verkündet wurde, aufstehen und die »Internationale« stehend anhören mußte – wie übrigens der französische Gesandte auch, nach der Rede von Monmousseau, Otto Pohl, der Österreicher, desgleichen, und der Pole und der Tscheche und sämtliche anderen Vertreter mehr oder weniger widerspenstiger Königreiche und Republiken. Diesmal erkenne ich dort oben in der Loge Freunde aus aller Welt. Charles Rappaport aus Paris, Karachan aus Peking, Borodin und seine den chinesischen Weißgardisten glücklich entronnene Frau aus Canton, Mongolen, Chinesen, Japaner, aus Brüssel wohlbekannt, und den teuren ehrwürdigen Genossen Felix Kohn, den alten Revolutionär, den Zarenrußland dreißig Jahre lang aus dem Gefängnis in die Verbannung, aus der Verbannung in die Katorga geschleppt und gestoßen hat – der wunderbare aufrechte, ungebrochene Greis, in die Uniform seiner hohen Offizierscharge gekleidet, die er in der Roten Armee innehat.

Auf der Bühne ein langer Tisch, an dem Vertreter der Regierungen, der Parteien, der Komintern, des Moskauer Sowjets und Funktionäre aus entlegenen Gegenden der Union sitzen. Hinter dem Tisch ragt eine ungeheure Büste Lenins, von der rote Strahlen nach allen Seiten ausgehen, Streifen roten Tuches, auf denen Inschriften zu lesen sind. Auf dem deutschen Streifen das Wort: Allen! Seine Übersetzung in die wichtigsten Idiome Europas und Asiens auf den anderen Streifen. –

Ein paar alte Menschen kommen vom Hintergrund der Bühne nach vorn. Wir alle erheben uns in dem riesigen Haus, die »Internationale« ertönt. Es sind drei alte Männerchen, die sich frierend in ihre blutroten Schals eingewickelt haben: Überlebende der Pariser Kommune. Rührende, alte Gestalten. Ursprünglich hatte Paris sieben Kommunarden zur Feier der siegreichen Kommune Rußland ausgesandt, vier von den Alten aber sind unterwegs erkrankt und mußten zurück, ohne das Land der Verheißung erblickt zu haben. Nun stehen sie da, die drei, wie zerschmettert von dem Gesang, der über ihre Köpfe niederbricht. Endlich, da Gesang, frenetisches Händeklatschen sich gelegt haben, beginnen die Ansprachen. Der Vorsitzende des Moskauer Sowjets begrüßt die Versammelten aus der ganzen Welt Lautsprecher, in den Rängen verteilt, erdröhnen durch das ganze Haus. Bucharin tritt vor, ein kleiner, schmächtiger, bleicher Mensch mit dem Nimbus von stahlharter Klugheit und Energie um den blassen, funkelnd gescheiten Kopf. Er gibt einen Bericht über diese glorreichen zehn Jahre, die den Sieg der Idee in der Welt bedeuten. Ironie, Witz, Bosheit zischen um seine Worte. Nach ihm spricht ein Engländer, Grubenarbeiter aus dem revolutionären Wales. Zetkin, die ewig junge, wunderbare Frau, das Idol der Menschen Rußlands, wird an das Rednerpult geführt: in dem frenetischen Jubel hört man Kinderstimmen in die Höhe schlagen. Wie spricht diese Frau, welch ein Mensch! »Vorwärts,« ruft sie, »rascher, rascher, die Welt erobern!« … Barbusse steht vor der Menge, vom Gesang der »Internationale« begrüßt. Im russischen Bauernhemd steht der kranke, gebückte Mann da und kämpft mit der Rührung, denn der Beifall will nicht aufhören. Was ist Barbusse, was unsereiner in seiner Heimat? Literaten, von Cliquen getragen, angefeindet oder totgeschwiegen. Hier sind wir mehr! Hier sind wir mehr!! – Barbusses Stimme klingt schwach und tonlos, aber die Lautsprecher verbreiten sie durch das ganze Haus. Durch das Reich. Heute hört die Welt, wie der Mann, der den mächtigsten Schrei der Revolte im Kriege ausgestoßen hat, sich zu Sowjetrußland und seiner Idee bekennt. Nach ihm tritt Katajama, der alte japanische Rebell vor. Saklatvala, der Parse, einziges kommunistisches Mitglied des englischen Unterhauses. Ein herrlicher Chinese, wie ein Fabrikarbeiter oder Ackerbauer aus dem südchinesischen Kwantung gekleidet, stößt seine kleinen bellenden, schrillen Worte in das Mikrophon, schlägt mit dünnen, stählernen Fäusten um sich. Ein deutscher Rotfrontkämpfer, behäbig in der militärischen Uniform, Windjacke, Kappe und rotes Abzeichen – natürlich Beschimpfung der S.P.D. Der einzige, der sich im Ton vergreift. – Mitten in die Rede Vaillants hinein schnarren plötzlich die Lautsprecher: Begrüßungsreden aus Leningrad, aus Charkow, dem Donjetzgebiet.

Und nun ein Aufmarsch von Vertretern aus allen Teilen der Union: Arbeiter, Bäuerinnen, Kinder, wie sie nur in dieser wunderbaren Vereinigung befreiter Menschen, allein an diesem Platz, in dieser Stadt, diesem Lande denkbar ist! Zwei Bergleute aus dem Dongebiet bringen Geschenke: einen Spaten – die Waffe, eine Grubenlampe – Erleuchtung! Drei alte kaukasische Kosaken haben sich plötzlich vor der Rednertribüne aufgepflanzt. Das Gewehr geschultert. Der älteste spricht in seinem Bergidiom. Seine Rede muß sehr witzig sein. Unser Freund, der tschechische Dichter Weiskopf, übersetzt unserer Loge, was der alte Kosake sagt. Also spricht der Alte, indem er das Gewehr von der Schulter reißt: »Blickt nicht auf mich, Genossen, blickt auf diese da! Ich bin ein alter, häßlicher Mensch, aber diese da, seht, wie schlank mein Liebchen ist! Seht, was für einen glänzenden Hals sie hat«, (und auf den Kolben schlagend:) »feste Schenkel, das ist eine brave Gefährtin. Achtet nicht darauf, was mein weißbärtiges Maul spricht, seht, welch ein niedliches Mündchen sie hat« (er steckt seinen kleinen Finger in die Mündung des Laufes), »einmal wird die noch laut und vernehmlich sprechen. Dann werdet ihr erfahren, daß die Stunde der Weltrevolution geschlagen hat.« Die drei Alten salutieren militärisch, als der Applaus einsetzt. Sie werden abgelöst von einer Schar kleiner Mädchen und Knaben, militärisch hereinmarschierender Pioniere, der jungen Garde der Revolution. Unter ihnen sind Kinder von vier, fünf Jahren. Es sind die »Wölfchen«. Sie haben eine kleine Blechkapelle mitgebracht. (Unter mir im Parkett sitzt auch solch ein »Wölfchen«, es hat ein rotes Tuch um den Kinderhals geschlungen; immer, wenn die »Internationale« gesungen wird oder wenn jemand gesprochen hat, oder wenn applaudiert wird, hebt sein Vater, auf dessen Schoß es sitzt, das Wölfchen in die Höhe, und das Wölfchen hält die kindliche Patschhand salutierend an die Stirn.) Ein zwölfjähriges Mädchen, Pionierin, tritt an den Rednertisch, rückt das Mikrophon zurecht, so daß es vernehmlich werden kann, was sie zu sagen hat, und hält eine Ansprache, nicht an uns Versammelte diesmal, sondern im Gegenteil: an die Herren der Regierung, die an den Tischen sitzen. Diese hören ernst und aufmerksam zu, was das Kind mit energischen Worten, kleinen, dezidierten Bewegungen ihrer Faust in das Mikrophon spricht. Sie trägt eine Resolution vor, die von ihrer Pioniergruppe verfaßt ist und die in dieser feierlichen Stunde, an diesem feierlichen Ort vorzutragen sie beauftragt worden ist. »Ihr gebt zu wenig für Schulen aus,« sagt sie, »in eurem Budget ist ein zu geringer Posten für uns Kinder ausgeworfen. Wir Kinder erachten ihn als zu gering! Zehn Jahre haben das Sowjetsystem zum Triumph geführt, das Land ist im Aufbau. Für die nächsten zehn Jahre fordern wir Kinder: mehr Schulen, warmes Essen für jedes Kind in Rußland und die Freiheit, die wir euch verdanken, fort und fort.« Ich muß gestehen, daß mir heute, Monate nach dieser Episode, die Tränen in die Augen kommen, wenn ich daran denke, welche Jugend diesem Volk beschieden ist …

Arbeiterinnen, Bäuerinnen kommen an das Rednerpult. Sie haben Klara Zetkin umarmt und geküßt, dann reden sie. Die Bäuerin streckt die Hände nach der Leninbüste aus, unnachahmliche Gebärde, ihre Stimme zittert, darauf wendet sie sich dem Hause zu, und ihre Stimme wird fest. Alle denken wir, stumm und erschüttert, an den Konflikt, der in diesem Lande unterirdisch grollt und tobt, den Antagonismus von Bauern und dem städtischen Proletariat. Ich muß daran denken, daß an diesem selben Tisch vor fünf Jahren Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Smilga und Rakowski saßen, daß sich Tausende von Stimmen zu brausendem Chor erhoben, als Trotzki, der Held und Retter der Revolution, an das Rednerpult getreten war …

Die Revolution verschlingt ihre Kinder. Ihre Helden. Die Revolution kennt keine Dankbarkeit. Die Revolution muß fortgeführt werden. –

Zum Schluß der Kundgebung, es ist schon spät, erscheinen drei Männer mit raschen Schritten auf der Bühne. Wir alle erheben uns, die »Internationale« ertönt, vom herrlichen Orchester der Oper begleitet diesmal; es sind die drei Führer, neben Bucharin die wichtigsten Männer des heutigen Rußlands: Rykow, der Präsident, Stalin, der Führer der Partei, und Woroschilow, ein junger, untersetzter, bereits ergrauter Mann, Nachfolger Trotzkis. Ihre Ansprachen sind kurz, sagen nicht viel aus, und die Drei kehren bald zu ihrer Arbeit zurück, nachdem sie wenige knappe, streng formulierte Sätze in das Mikrophon gesprochen haben.

Dann sinkt der Vorhang über die Bühne und erhebt sich bald, zu dem zweiten Teil der Feier, einem wunderbar überschwenglichen, bunten, bewegten und großartigen Ballett, das den Triumph der Arbeit über die Sklaverei der Welt darstellt.

 

An einen riesigen Bergkegel sind rundum Arbeitssklaven gekettet. Mit Hammerschlägen brechen sie, selber an die Felsen geschmiedet, das Gestein. Plötzlich, auf dem Grat des riesigen Felsengebirges, befreit sich einer von seiner Kette! Frei steht er vor den erstaunten Blicken der noch Angeschmiedeten, die nun, von Tönen aufreizender Musik angefeuert, mit ihren Hämmern die eigenen Ketten zu zerschlagen beginnen. Dann, als der letzte seiner Ketten ledig geworden ist, alle sich unten am Fuße des Berges zu einer gewaltigen Gruppe, einer Pyramide, vereinigt haben, erheben sich ihre Hammerschläge vereint und wuchtig gegen den Berg, an den gekettet sie Jahrtausende in Fron und Elend verbracht haben. Das Orchester peitscht den Rhythmus der Rebellion, bis unter den gemeinsamen Hammerschlägen der Berg birst – der Berg tut sich auf, und man sieht, was er verhüllt hat: zwei riesige Götterbilder erschimmern im Innern des Berges wie Kristall – Marx und Lenin, gewaltige Häupter, hinter denen sich Konstruktionen von Maschinen, Werken, Gebilden der Zukunft erheben, die dem Menschen die Last abnehmen, den Menschen zum Herrn der Arbeit machen werden. Eine Apotheose der arbeitenden Menschen, die sich nun (auf der Bühne) in freie, ungezügelte Tänzer verwandelt haben, statt der Hämmer blühende Zweige in den Händen halten. Männer, Frauen und Kinder, ein bacchantisch jubelnder Zug steigt in die Höhe, um die Kristallgänge des Berginnern, der rote Stern des Sowjets geht auf über dem Berg, und die »Internationale« umbrandet mächtig das grandiose Bild.

Rote Parade am 7. November

Auf dem riesigen Platz vor der Kremlmauer sind Tribünen zu seiten des Leninmausoleums errichtet. Das Dach des Mausoleums ist die Rednerestrade. Dort stehen die Männer, die heute Rußlands Geschicke lenken. Frierend steht die kleine Gruppe beisammen. Sie wird von neun Uhr früh bis neun Uhr abends dort stehen, dem Vorbeimarsch der Armee, der waffentragenden und der mit Emblemen in langen Zügen aus ihren Fabriken heranmarschierenden Arbeiter beiwohnen müssen. Es ist bitter kalt, der Boden ganz vereist. Wie die erste Kolonne vorbeimarschiert, erinnere ich mich, wieder, an diese selbe Feier, auf demselben Platz vor fünf Jahren! Lenin war noch unter uns, aber schon krank. Wo jetzt sein Mausoleum sich erhebt, stand die Tribüne. Vorn, einen Schritt vor den anderen, Trotzki, der jedes vorbeimarschierende Regiment mit Namen anrief, von jedem vorbeidefilierenden Regiment mit Hurra begrüßt wurde. Trotzki … der Schöpfer der Roten Armee, dieser weltgeschichtliche Mensch, in bestimmter Hinsicht größer und merkwürdiger als Napoleon, denn Napoleon war Edelmann, Christ, Soldat – wer aber war Lew Davidowitsch Braunstein? Ein Hungerleider, jüdischer Journalist, d. h. ein gering geschätztes, verachtetes, beiseite geschobenes Wesen; noch dazu ein Mann, der sich nicht verkaufen mochte! Und dieser Mann hat aus der Zarenarmee die Rote Armee geschaffen, die Revolution gerettet, die Zukunft nach seinem Ebenbild umgeschaffen.

Ich werde in dem Folgenden sagen, wie und wo Trotzki sich in diesen Tagen verhalten hat. –

Jetzt stehen wir also hier, und die Regimenter marschieren vorbei. Ich stehe in der Nähe von Barbusse. Wir wechseln Blicke, der Mann, der »Le feu« geschrieben hat, und ich. Gegner des Krieges wir beide – Pazifisten. Wie reißen wir alle die Mütze vom Kopf, sooft ein Regiment, eine neue Formation, die Rote Armee an der Tribüne vorübermarschiert! Die Infanterie; die Rote Kavallerie; das Regiment der G. P. U., auf Deutsch: der politischen Polizei; die schwarzen Uniformen der baltischen Flotte. Artillerie rattert vorbei. Diesmal keine Tanks. (Staffeln von dreihundert Aeroplanen sollten über dem Platz kreisen – der Winternebel und wilde Strömungen der Winterluft, die uns die Muskeln von den Knochen reißt, verhinderten es.) Drei Stunden lang dauert der Aufmarsch. Dann setzt sich vom Ende des Platzes klirrend eine Wolke, das dunkelblauschwarze Heer der Tscherkessen, in Bewegung, und nun ereignet sich etwas Wunderbares.

Oben auf der Tribüne steht Woroschilow, der Kriegsminister, neben Kalinin, dem alten Bauern. Die Tscherkessen auf ihren kleinen, schwarzen Pferdchen, in schwarzen Schaffellmänteln und dunkelblauem Tuch, stürmen mit gezogenem Säbel, in gestrecktem Galopp, an unseren Tribünen, an dem Mausoleum vorbei, über den weiten Platz, der von der bunten Basiliuskathedrale begrenzt ist. Wie eine Attacke ist es – ein stürmendes Regiment von Menschen, die mit ihren Tieren zusammengewachsen scheinen, blitzende, krumme Säbel in den erhobenen Fäusten, ein Klingen von blitzenden Hufen über das vereiste Pflaster, schaurige Jagd, die uns das Herz in der Brust erstarren läßt. Alte Menschen mit weißen Bärten und junge Knaben, das ist dieses Tscherkessenregiment. Kosaken, Reiter vom Don, vom Ural, vom Kaukasus, Menschen, die von Kindheit an den Krieg, das Reiten, den Streit mit Nachbarvölkern und Rassen als ihr Gewerbe, ihren Beruf, Bestimmung, Lebensberechtigung empfangen, auf die Welt gebracht haben – jetzt eine Garde der Revolution. Geschliffene Säbel, gesenkte Lanzen, auf denen grauschwarze und violette Wimpel flattern, jeder Reiter unbewegt auf seinem galoppierenden Pferde, mit dem Tiere verwachsen, über das das Schaffell herunterwallt; minutenlang, eine atemraubende Viertelstunde lang galoppiert das Heer an uns vorüber. Oben auf dem Leninmausoleum stehen die Männer, die Machthaber, schweigend beisammen, die Hände an die Helme, die Mützen, die Arbeiterkappen gelegt; stumm salutierend nehmen sie die Parade der zehntausend Uniformierten ab, denen, wie man später erfährt, ein Zug von anderthalb Millionen Menschen sich anschließen wird.

Als ich, nachdem wir fünf Stunden auf unseren Tribünen ausgeharrt hatten, mich zur Heimkehr anschickte, strömten noch unabsehbare Scharen, begeistert marschierend, auf Kraftwagen aneinandergepreßt, singend über die Twerskaja durch das Tor der Iberischen Mutter Gottes zum Roten Platz, zu den Tribünen heran. Arbeiter, Arbeiterinnen, Kinder. Aus Betrieben, aus Klubs, aus Schulen, aus den großen Werkstätten der staatlichen Fabriken, aus den Heimen in den Vororten, organisierte Arbeiter, bewaffnete und solche, die die Symbole ihrer Arbeit, ihrer Gesinnung in naiver, volkstümlicher Weise vor sich aufgerichtet trugen. Die Eisenbahner hatten eine riesige Lokomotive konstruiert, unter der ein starkes Automobil verborgen war, so rollte diese Konstruktion aus Holz, Leinewand und Eisenblech durch das Tor herein. Die Drucker eine Rotationspresse, die staatlichen Aeroplanwerke einen veritablen Doppeldecker. Chinesische Arbeiter hoben einen riesigen, beweglichen Drachen auf Stangen über ihre Köpfe. Vor kaum zwei Jahren hatte ich seinesgleichen, am 1. Januar, in Canton gesehen: die Parade vor Tschang und Wu, vor Borodin, dem Russen, und der Kuomintang in der Vorstadt Hai Gun Bu … (Eine Welle aus dem Herzen strömte jäh durch meinen erfrorenen Körper, als ich daran dachte, welches Geschick mir beschieden war: die Weltgeschichte so sichtbarlich zu erleben! –)

Im Zuge sehr viele Puppen, an Galgen baumelnd, in ironischer Karikatur auf langen Stangen vorbeigetragen. Besonders auf Chamberlain hatte man es abgesehen. Ein riesiger Kiefer klappte über raubgierigen Zähnen auf und zu, von einer Glasscherbe im Auge hing ein langer, dicker Draht zum Knopfloch des Gehrockes herunter, in dem eine riesige Orchidee zu sehen war. Ein Sarg wurde vorübergetragen, in dem die II. Internationale zu ruhen schien. Karikaturen von Briand, Mussolini, Primo de Rivera. –

Kein Bild oder Emblem, keine Karikatur, nicht der geringste Hinweis auf die Opposition! Kein Streifen, keine Inschrift, keine Fahne, die den Wunsch oder den Willen, die Entrüstung oder die Zustimmung der Arbeiterschaft gegenüber der Opposition verraten hätte, den Männern, deren Abwesenheit keinen von uns auf den Tribünen unberührt ließ. Denn in der Tiefe von unser aller Gedanken lebten die Taten dieser Männer, die das Werk der zehn Jahre mit aufgerichtet, die dem Aufbau der Republik ihr Leben geopfert hatten, ein Leben vielleicht, das in dieser Stunde schon verwirkt sein mochte.

Denn um die gleiche Zeit, um die der Riesenzug sich von der Twerskaja her zum Roten Platz vor der Kremlmauer bewegte, ereignete sich an der Ecke der Twerskaja etwas, was die Weltgeschichte ebenso ernst und sachlich verzeichnen wird wie die größte, entscheidende Episode jener welterschütternden zehn Tage, in denen die Oktoberrevolution das Schicksal des russischen Volkes besiegelt hat.

Wolke über Rußland

Das Kino wird für die historische Gerechtigkeit der Weltgeschichte den Eindruck korrigieren müssen, den dieser Tag, der 7. November 1927, in uns hinterlassen hat. Auf den Kinoaufnahmen der letzten zehn Jahre sind Trotzki, Sinowjew, Kamenew an der Seite Lenins wahrzunehmen; in allen entscheidenden Augenblicken der geschichtlichen Entwicklung dieser zehn Jahre. Wo sind sie heute geblieben?

Auf dem Rückwege von der Parade zum Hotel überrascht uns, an jener schon erwähnten Ecke der Twerskaja, Geschrei und wirre Unordnung in der Masse der geschlossen vorwärtsdringenden Arbeiterscharen. Vom Balkon des Eckhauses, desselben Hauses, in dem ich vor fünf Jahren mit den französischen und amerikanischen Delegierten zum Weltkongreß der III. Internationale gehaust habe, gestikulieren ein paar Menschen, über das Balkongitter weit vorwärts gebeugt, hinunter. Schreie antworten ihnen von der Straße her, emporgeballte Fäuste. Schon fliegen Geschosse hinauf, faule Äpfel, ein Stein klirrt an ein Fenster, die Scherben bersten, der Zug löst sich an der Ecke auf, versucht, in das Haus einzudringen, Handgemenge. Es dauert minutenlang. Dann treten die oben vom Balkon zurück, und der Zug ordnet sich zum Weitermarsch. Die »Internationale«. Die Opposition – verstummt.

Eine Stunde später will, weiter oben, an der Ecke der Ssadowaja, ein geschlossenes Automobil die Marschkette, den Strom der marschierenden Arbeiter durchqueren, wird aufgehalten, von den entrüsteten Arbeitern zurückgeschoben. Mürrische und drohende Gesichter blicken in den Wagen hinein. Im Wagen sitzen Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Preobraschenski …

 

Nächsten Tag bringen die Blätter spaltenlange Berichte. »Die Opposition haranguiert die Menge.« »Die Opposition hat das Fest gestört.« »Man wird mit der Opposition anders verfahren müssen, energischer als bisher.« Drohungen. Ein Mißton. In den Ohren, in den Herzen von uns, die wir von weither kamen, bebt dieser Mißton schrill, schmerzhaft und lange nach. Mancher unter uns schließt sich für Stunden, für halbe, für ganze Tage in sein Hotelzimmer ein, dreht das Licht aus, damit keiner ihn störe, und denkt nach, oder setzt sich mit anderen Genossen zusammen in einen abgesperrten Raum, im Hotel oder irgendwo in der Stadt, und es wird halblaut stunden-, nächtelang debattiert. –

 

Was ist es mit der Opposition. Zwei Weltanschauungen klirren, stoßen, schlagen gegeneinander. Zwei Formen der Taktik, zum selben Ende: Stärkung der Idee, der großen russischen Idee, Fortführung der Revolution, Sieg des Kommunismus in der Welt. Es gibt eine reinrussische Richtung, diese ist die Richtung, die die Regierung Stalin, Rykow, Bucharin vertritt. Mit dem Bauer gegen das Ausland. Stärkung der Bauernschaft (die ja neunzig Prozent des russischen Volkes ausmacht), Stärkung des Bauern auf die Gefahr hin, daß es wieder Kulacken, d. h. reiche Bauern und Dorfarmut, d. h. Knechte, geben wird. Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion, um aus den Überschüssen der Ausfuhr die darniederliegende Industrie selbständig aufzubauen. – Die Opposition aber, die unter Trotzkis geistiger und machtvoller persönlicher Führung steht, will vom Ausland Kredite empfangen, dem Ausland Konzessionen gewähren, um unter Stärkung des Außenhandelsmonopols den Bauer niederhalten und das Werden einer kleinbürgerlichen Bauernrepublik verhindern zu können. Wieder schwirren aus einem Lager ins andere Pfeile des Vorwurfs, Drohungen, tödliche Schlagworte. Jedermann steht beklommen unter der Wolke, die zu Häupten Sowjetrußlands sich dunkler und dunkler färbt. Wieder beschuldigt die Regierung jene westlich gerichteten Intellektuellen um Trotzki des heimlichen oder ausgesprochenen Menschewismus. – Hinter der Opposition stehen, so wird berichtet, keine Massen. Die stehen hinter der Regierung. Die Opposition stützt sich auf Intellektuelle – einen Teil der Jugend …

Der Opposition geht es schlecht. Wie lange wird sie sich, rein ökonomisch, halten können? Die Männer der Opposition gingen ihrer Stellungen verlustig. Ein Gerücht besagt: Sinowjew und seine Familie hungern. Trotzki lebt mitsamt seinen Freunden von den Honoraren, die er beim Staatsverlag jahrelang nicht behoben hat. Radeks Artikel werden nirgends gedruckt. Diese gewaltigen Führer, die zehn Jahre lang die Macht über ein Riesenreich in ihren Händen hatten, leben heute in elenden Stuben, in der Stadt verstreut, bald im Exil …

Wer wagt noch zu behaupten, sie hätten die Macht für ihre Tasche, ihre persönlichen Ziele ausgenutzt! Gegen wieviel schurkisch infame, niedrige Verleumdung mußten wir, Partisane Rußlands, in Europa ein Jahrzehnt lang mit unserer Überzeugung standhalten! Beweist euch die Verelendung einer Gruppe großer, eben noch allmächtig gewesener, für ewige Zeiten denkwürdiger Menschen endlich: was es mit der russischen Idee, mit dem Leben des russischen Revolutionärs und Kommunisten auf sich hat??

 

Drei Wochen später, in Tiflis, im großen Georgischen Theater, tagt der Kongreß der Sowjets von Georgien, Aserbeidschan, Abchasien. Über dem Zuschauerraum rote Streifen, auf ihnen Inschriften: »Jeder, der die Gruppe Trotzki unterstützt, unterstützt die Partei der Betrüger der Arbeiterschaft!« und »Je höher Streikbrecher stehen, um so schwerer müssen sie bestraft werden.«

 

Mit einem lieben, treuen Freund aus der Zeit von 1920, er lebt jetzt in östlicher Provinz, spreche ich über das Schicksal der Opposition. Sie sollten ins Ausland gehen! Der Aufbau ist im Gange, der Aufbau darf nicht gestört werden! Eine zweite Partei wäre vom Übel. Die Arbeiterschaft, das Volk will keinen Streit. Ruhe, keine Schwächung der Einheit. Eine einheitliche Leninsche Partei – sie sollten ins Ausland gehen.

Sie können nicht. Stell' dir vor, Trotzki, Sinowjew erschienen plötzlich in Paris, in London, sie wären ihres Lebens nicht sicher.

Ein langer Blick, Freundesauge in Freundesauge: »Und hier? …«

 

Wir sind auch in Gefängnisse geführt worden. Dieses, über das ich berichte, ist in einem Vorort Moskaus gelegen, ich kannte es noch nicht. Sein Name ist » Lefortowo Isolator«. In der Nähe ist die nach dem französischen Instrukteur Lefort benannte Kavalleriekaserne. Isolator – – eine euphemistische Bezeichnung für Gefängnis – aber, was wir zu sehen bekommen, trägt wahrhaftig nicht den Stempel der hoffnungslosen Einkerkerung, Ausschaltung menschlicher Wesen aus dem Reiche der Lebenden.

Die Gefangenen haben einen Klub, ein Theater und Kino (in der ehemaligen Kapelle der Anstalt, wo sie einst, einer vom anderen getrennt, jeder in seinem Kasten sitzend, durch ein Guckloch den Popen sehen konnten! Jetzt übt dort ein kleines Orchester mit einem guten Primgeiger Stücke ein). Die Gefangenen tragen keine Sträflingskleidung. In fast allen Zellen sehen wir Radioapparate. Es werden bemerkenswerte psychologische Experimente mit den Gefangenen angestellt. Der Gefängnisbarbier z. B. ist ein Mörder. Der Verwalter des Lagers ein ehemaliger Beamter des Zentrosojus, wegen Unterschlagung verurteilt.

Natürlich wollen wir politische Gefangene sehen. Es sind deren einige in Lefortowo. Bereitwillig öffnet man uns ihre Zellen. Wir, eine kleine Gruppe, treten in diese Zellen ein, Becher, Höllering, Rabold. Weiskopf ist unser Dolmetscher. Hier sitzt ein alter Mann, den sie vor kurzem erst gefangen haben. Grollend und giftig. Vor vierzig Jahren hat er sich, gelegentlich des Attentates auf Alexander II., als Lockspitzel entpuppt – eine berühmte Persönlichkeit in der Geschichte des russischen Freiheitskampfes! Viele Revolutionäre jener Epoche wurden durch ihn verraten. Jetzt hat man ihn ausfindig gemacht: sechs Jahre Gefängnis.

Nebenan zwei junge Männer, auf Pritschen liegend, Zigaretten rauchend. Einer wegen bewaffneten Raubes verurteilt, der andere Koltschakoffizier. Wir treffen in einer Zelle einen jungen, schönen Menschen an; wallendes Haar, schneeweiße Bluse, blasses rasiertes Gesicht, feine Hände. Konterrevolutionär aus dem Uralgebiet. Seit drei Jahren gefangen; kennt die Bücher von Mühsam, Becher und meine aus russischen Übersetzungen; hat Spengler russisch gelesen; auf seinem Tisch, an dem er sitzt und arbeitet, liegt der »Faust« in deutscher Ausgabe, er ist aber, wie er gesteht, noch nicht so weit, ihn ohne Wörterbuch lesen zu können. Im Gefängnis hat er eine Tolstoibiographie verfaßt, die ein Moskauer Verlag herausgegeben hat! Jetzt arbeitet er an einer Biographie Bakunins. Einmal durfte er schon Frau und Kind besuchen. Er hat noch zwei Jahre abzusitzen, war vor seiner Haft Schullehrer, will nach den zwei Jahren in Moskau als Schriftsteller leben.

Als wir an den Zellen auf diesem Korridor vorübergehen, klopft es an ein Fenster. Ein Gefangener kommt heraus, bittet uns, ihm Material für seine Arbeit über den Antisemitismus zu verschaffen, besonders: die authentischen Protokolle des Schwarzbartprozesses. Er hat zwei Brüder in Petljuras Pogromen verloren, ist wegen Veruntreuung verurteilt, zu harter Strafe. Angestellte der Sowjets, Parteimitglieder, werden besonders drakonisch behandelt. In der Freiheit ist Armut und Disziplin ihr Teil, halten sie nicht stand, so büßen sie härter als der gewöhnliche Bürger oder Genosse.

Der Aufseher: »Wollen Sie den Fürsten sehen?« »Den Fürsten?« »Ja.« – Fürst U., General der Kavallerie unter dem Zaren, berühmter Frauenjäger, elegant, geschmeidig, grausam. Zehn Jahre wegen aktiver Betätigung als Konterrevolutionär, davon sieben abgesessen. Man öffnet uns eine Zelle. Kahl und grau. Keine Bücher, kein Radio. Ein Fellmantel auf einer Pritsche. Ein alter Mann sitzt mit dem Rücken gegen uns an einem Tisch, raucht Zigaretten und liest eine Zeitung. Er wendet den Kopf leicht nach unserer Seite, liest und raucht dann weiter. Der Aufseher: »Ausländische Delegierte möchten Sie sprechen.« Der Gefangene steht auf, dreht sich nach uns um. Er ist ein hoher, schlanker, ungebeugter Greis von etwa siebzig Jahren; langes, dünnes, weißes Haar, langer, ungepflegter, weißer Bart. Ohne die Zigarette aus der Hand zu legen, sieht er uns der Reihe nach durch den Kneifer an, sagt dann laut und langsam auf Russisch: »Ich habe schon mit vielen Delegationen gesprochen, habe keinen Nutzen davon gehabt. Bedauere.« Setzt sich dann an den Tisch zurück und raucht weiter. Die Zelle ist kahl, weil er jede Vergünstigung stolz ablehnt. Eine Weile stehen wir noch stumm in der Tür und sehen den Mann an, den Fürsten, General, Frauenliebling, der seit sieben Jahren in dieser Zelle sitzt. Später hören wir, daß er, auf geheimnisvolle Weise, bei einer Spionageaffäre die sich vor wenigen Wochen in Leningrad ereignete, noch seine Hand im Spiel gehabt haben soll.

 

Auch in anderen Orten sahen wir Gefängnisse, sind wir politischen Gefangenen begegnet. Wir haben Menschen gesprochen, die dieses System bis aufs Blut haßten, es mit bewaffneter Faust oder heimtückisch durch Spionage bekämpft haben, es wahrscheinlich mit demselben blutigen Haß und mit unverminderter Tücke weiter bekämpfen würden, wenn man sie eines Tages frei ließe. Wegen seiner Gesinnung allein sitzt kein politisch Andersdenkender in russischen Gefängnissen. Erst wenn er konspiriert, spioniert, Aufruhr mit Waffen gegen die Sowjets unterstützt oder sich dabei aktiv betätigt, faßt man ihn, macht ihn unschädlich. Über nichts sind solche giftige, niederträchtige Lügen in der Welt im Schwung als über die Frage der politischen Gefangenen in Rußland. Ihre Behandlung ist humaner als woanders in der Welt. Im übrigen kann ich heute nur meine eigenen Worte aus meinem vor sieben Jahren über die Tscheka geschriebenen Abschnitt in »Drei Monate in Sowjetrußland« wiederholen: »Soll es sich um Gnade handeln, Gerechtigkeit gegen politische Widersacher, so darf man füglich den französischen Spruch zitieren: ›Que Messieurs les assassins commencent‹.«

In Batum, am Schwarzen Meer, ist der Vorsitzende der autonomen Sowjetrepublik Adscharistan, Genosse Prikadze, unser Führer durch das Gefängnis. Er selbst, ein alter, verdienter Revolutionär, hat unter dem Zarenregime zwölf Jahre in Gefängnissen, in der Verbannung, in der Katorga verbracht. Jetzt hängt sein Porträt im Zimmer des Direktors dieses Gefängnisses von Batum, in dem er selbst jahrelang unmenschlich gelitten hat. Hier, an der Grenze der Türkei, Armeniens, Persiens, sind gegenrevolutionäre Umtriebe, Spionage, Schmuggel besonders häufig. Man läßt uns unbehindert mit einigen »Politischen« sprechen, die uns ihren Fall ruhig vor dem uns begleitenden Beamten sowie dem Präsidenten vortragen. Wir vergleichen später die Aussagen und die Wünsche, die sie begleiten, mit den Protokollen der Behörden, der politischen wie der G. P. U. Ohne uns zu beeinflussen, läßt man uns alle Akten durchsehen. Es befinden sich in unserer Reisegruppe, unserer internationalen Delegation, über die ich später schreiben werde, politisch recht milde, rechtssozialistisch eingestellte wie auch parteilose Genossen, welche sogar von ausgesprochen menschewistischer Richtung. Es liegt im Interesse der Sowjets, daß der Fremde klar sehe, erkenne, sich überzeuge und demgemäß berichte. Wir unternehmen Stichproben. Hier ist ein alter zaristischer General, der aktive Arbeit als Offizier Denikins, später Spionage zugunsten Englands zugibt, sowie den Umstand, daß er jahrelang an der Grenze unter falschem Namen gelebt hat. Ein anderer, alter, ehemals reicher Gutsbesitzer hat sich mit gefälschten Papieren in die Redaktion einer kommunistischen Zeitung einzuschmuggeln gewußt. Ein dritter, Deutschsprechender aus Polen, gibt Verbindung mit Engländern zu. Alle diese Menschen haben das System schädigen wollen, an seinem Ruin tätig mitgearbeitet.

Es ist notwendig, in Rußland Gefängnisse zu besuchen. Es entlastet das Gewissen des Europäers. Man muß die harten Notwendigkeiten, die tragischen Härten zu erkennen und verstehen suchen, die einem Lande aufgezwungen sind, wie Rußland es ist. Zehn Jahre eines heroischen Kampfes um die Befreiung der Menschheit, Kampf gegen den fremden, den inneren Feind, gegen Tücke, Not und Ermattung. Ein Volk in mächtigster Entwicklung, eine Idee in unerhörtem Aufschwung, Idee, die sich über die Welt verbreitet, trotz Not, Lüge, Vernichtung, siegreiche Idee!

Arbeit und Fest

Die Engländer sind es, von denen der Vorschlag zu diesem Kongreß herrührt, der Sinn unseres Besuches und Zweck unserer Einladung ist. Fünfzehnhundert Delegierte, Arbeiter und Bauern zum überwiegenden Teil – unter den fünfzehnhundert nur etwa hundert Intellektuelle. Kongreß der Freunde der Sowjetunion, Freunde, Partisane, vielleicht einst Märtyrer der Sowjetidee in der Welt. – –

Der imperialistische Weltkapitalismus sammelt sich zum Kampf, bereitet den Krieg gegen Sowjetrußland, Unterdrückung der kommunistischen Idee vor, die ihn stürmischer und stürmischer bedrängt und gefährdet. Dieser Krieg muß verhindert werden. Dazu sind wir da. Das ist Sinn und Parole unseres Kongresses. Im Präsidium Arbeiter und Intellektuelle; Klara Zetkin, Madame Sun Yat Sen, der Engländer Lowther, ein chinesischer Gewerkschaftler, Mongolen, Neger; von Intellektuellen unter anderen Barbusse, Krupskaja, Holitscher. Im Saal, in der deutschen Delegation, viele Gewerkschaftler; viele Sozialdemokraten, viele Parteilose. Auch hier: alte Freunde aus aller Welt, Freunde aus allen Rassen, vor acht Monaten in Brüssel angetroffen. Die Reden betonen übereinstimmend: Verbundenheit mit der Idee der Sowjets, Treue zum Sozialismus, Vernichtung der Ausbeutung des Menschen durch Menschen, Ende der Unterjochung eines Landes durch das andere, Siebenstundentag, Hebung des materiellen Wohlstandes und des Kulturniveaus der unteren geknechteten Massen, für allgemeine Abrüstung, gegen die nationalen Phrasen, die wieder die Weltpolitik beherrschen und Vorbereitung eines neuen furchtbarsten Krieges verschleiern sollen.

Die Institution der Kongresse ist reformbedürftig, das ist wieder zu sehen. In den Kommissionen werden die wichtigen Dinge besprochen, im Plenum, dem herrlich geschmückten, beleuchteten, feierlichen Saale aber herrschen nur allgemeine programmatische Redensarten, ins Mikrophon gesprochen, für die ganze Welt bestimmt; Gesten. –

Jupiterlampen blenden Redner, den Präsidententisch und die Hörer im Saal und auf den Galerien. Die »Internationale« nach fast jeder Rede; pomphaft feierliche Verleihung von militärischen Orden und Ehrenabzeichen, von gestickten Fahnen ferner Völker, die unter Lebensgefahr über wilde Grenzen geschmuggelt worden sind. Immer, wenn jemand gesprochen hat, verteilen sich Gruppen im Saal, und während der nächste Redner seine Papiere vorbereitet, stehen inmitten der Sprachgruppen Dolmetscher auf Stühlen und verlesen die Rede, die man eben gehört hat; russische, französische, englische, deutsche und chinesische Dolmetscher. Wieviel von dem originalen Sinn und Impetus der Reden in der Übersetzung verlorengeht, habe ich im Kapitel Njegoroloje bereits schüchtern anzudeuten versucht. Unter den Dolmetschern gibt's Genies der Übersetzung, aber auch gefährliche Ignoranten, die Kernsprüche zu nichtssagenden Floskeln denaturieren. Hauptsache bleibt die Atmosphäre, Hauptsache bleibt das Sich-von-Angesicht-zu-Angesicht-Sehen, Händeschütteln, brüderliche Umarmung, gegenseitiges Stützen der gemeinschaftlichen Idee, Erkennen der internationalen Verbundenheit und der Notwendigkeit des gemeinsamen konzentrischen Vormarsches. –

Einmal unterbricht ein fremder, selten gehörter Gesang die Monotonie der Reden: da hat Tomski, der Führer der roten Gewerkschaftsinternationale, die Tribüne betreten! Aus dem Teil des Saales, wo die englischen und amerikanischen Arbeiterdelegationen sitzen, ertönt es aus fünfhundert Kehlen:

»For he's a jolly good fellow« …

Aber dann, wie Rykow seinen Bericht über die zehn Jahre Aufbauarbeit der Sowjetunion, die Diktatur des Proletariats gibt, die Hoffnung auf ungestörte kraftvolle Entfaltung der sozialistischen Idee auch in den nächsten zehn Jahren ausspricht, erbraust der mächtige, weiße Säulensaal des Gewerkschaftshauses – ehemals war er Ballsaal des Adelskasinos – von vieltausendstimmigem, einmütig-begeistertem Gesang der alle werktätigen Menschen der Erde vereinenden »Internationale«. –

 

Noch einen Kongreß haben wir in Moskau abgehalten, nämlich den internationalen Kongreß der revolutionären und proletarischen Dichter der Welt. Er tagte unter dem Vorsitz des Volkskommissars für Erziehung Lunatscharski zwei Tage lang, und auf ihm wurden bedeutungsvolle Beschlüsse gefaßt: Beitritt zur Konvention, Zentralisierung der Schriftstellergruppen unter Führung der russischen, notwendige Ergänzung des praktischen Kampfes der Arbeiterschaft durch die intellektuellen Kräfte, die den drohenden Krieg gegen Rußland konterkarrieren und die Verbreitung der Sowjetidee über die Welt propagieren sollen. Der Zusammenschluß ist gelungen; es wäre verfrüht, Einzelheiten zu geben; in wenigen Monaten, im Verlaufe der nächsten Jahre werden sich die Früchte des gemeinsamen Willens bemerkbar machen.

 

Eine Zeitlang schien es, als sollten wir aus Banketten, Festefeiern gar nicht mehr herauskommen. In Moskau folgten sie sich in rasender Eile. Später war unsere kaukasische Reiseroute mit Banketten gesprenkelt. Phänomenale Tafeln, Tafeln, die sich biegen von allen Schätzen des Hühnerhofes, der Wolga, der Wälder, Kaviar, Wein; je tiefer nach Süden man kommt, um so üppiger: Früchte, herrlich würzig und süß wie nirgendwo in der Welt. Dazu Reden, Reden, Sturzbäche, Wasserfälle, Stromschnellen von Reden, die sich in allen Sprachen der Welt ablösen, in strömender, schießender Rapidität – und dann Photographiertwerden. Scheinwerfer, Jupiterlampen von allen Seiten.

Zuweilen wird einer oder der andere der Gäste oder auch der Einheimischen in einer Ecke des Saales plötzlich von kräftigen Fäusten gepackt, in die Höhe geworfen, drei-, viermal, beträchtlich hoch, ganz ohne Rücksicht auf sein Körpergewicht in die Höhe geworfen, wobei dann der also Geehrte, wenn er mit heilen Gliedmaßen wieder auf die Beine gestellt wird, Brille, Füllfeder, Uhr und allen beweglichen Kram aus den Taschen vom Boden auflesen mag! Auf dem herrlichen Bankett, das der Moskauer Sowjet uns im Haus der Gewerkschaften gab, erging es Rykow, dem Präsidenten, so. Plötzlich sahen wir den mächtigsten Mann Rußlands wie einen dunklen Engel in den Lüften schweben, während an einer anderen Stelle des Saales die Gestalt des sehr populären chinesischen Delegierten aus Hankau mit seiner weißen Jacke und weißen Hose durch die goldene Atmosphäre wirbelte.

Bei dem Bankett der Gelehrten im Hause des »Zekubu« beschränkte man sich auf Reden und Photographieren. – Beim Bankett, das Tschitscherin uns gab, wurde aber nicht geredet, sondern gesungen, nicht im Chor, wie das sonst bei Banketten üblich ist, sondern von einigen wunderbaren Solisten der Großen Oper. In den herrlichen Räumen des ehemaligen Palastes eines Zuckerkönigs, am Sophienufer gegenüber vom Kreml, tummelten wir uns, interessanteste Internationale der Welt, und das zeitgenössische Büfett schien, in einem Wetteifer mit der Kostbarkeit der vorsowjetistischen Einrichtung, alles Erdenkliche zu überflügeln. Auch hier keine Diplomaten, nur Menschen von Geist, begeistertem Willen zur Verbrüderung. Besonders an den runden Tisch in einer Ecke eines gründamastenen Saales werde ich mich mein Lebenlang erinnern, wir saßen da mit Barbusse, Istrati, Eisenstein, ein paar entfesselten Amerikanerinnen, und der Verbrüderung war kein Ende. – Aber das denkwürdigste Bankett in Moskau war doch das schon erwähnte, das uns der Moskauer Sowjet gab. Gekrönt von herrlichen Gesängen, Zigeunerchören … Tscherkessentänzen, die von düster gehaltenen Rhythmen einer kultischen Handlung, der Anbetung Schamiels, des Kriegsgottes, bis zu der wilden Raserei des Schwertertanzes und Frauenraubes sich phantastisch steigerten.

Bankette in Charkow, in Baku, in Tiflis … hier überströmte die russische Freude an der Bewirtung, der Ehrung des Gastes auf verwirrend großartige und erhebende Weise. Gastgeber: die Regierung und die proletarischen Dichter. Eine anmutige Gepflogenheit: mit dem Gast, dem Fremden, immer zugleich auch einen Einheimischen hochleben zu lassen. Ein deutscher Dichter und ein georgischer zugleich. Ein französischer Jurist und ein georgischer zugleich. Fünfzig Toaste, ja hundert. Schon tanzen am Ende des Saales Tscherkessen, diesmal ein edles Jünglingspaar, zart, parfümiert, offenbar ineinander verliebt – da klopft der Vorsitzende, Volkskommissar für Erziehungswesen, auf sein Glas und verkündet mit erhobener Stimme: »Soeben haben drei Freundinnen von unseren hier anwesenden proletarischen Dichtern den Saal betreten!« Wir alle stehen auf, erheben unsere Gläser: »Die Freundinnen hurra!« Schon kommen Photographen herbei und photographieren …

Schwer, freudig leichte Stunden dieser Art zu entbehren. Schwerer noch: diese wunderliche, wunderbare Note der Hingabe, der Freude an den Mitmenschen, an der Freiheit, der Lösung aus allem Zwang in den erstarrten Formen unserer westlichen offiziellen Geselligkeit zu vermissen!

Anblick der Städte

Nur wenige Worte über das, was auf flüchtiger Reise an dem Stadtbild auffällt, wahrzunehmen ist, sich verändert hat. Es geht aufwärts!

In einer Straße, in der noch vor wenigen Jahren verfallene, menschenleere Häusergruppen standen, erheben sich jetzt amerikanische Wolkenkratzer: Telegraphenzentralen, Verwaltungsgebäude, Magazine, wissenschaftliche Institute. Über die Gegenwart hinüber, aus der Vergangenheit des zaristischen Rußlands unvermittelt in die Zukunft des Zweckbaues, der imposanten Betonburgen wechselnd, kündet der amerikanische Stil den Willen an, den Vorsprung einzuholen. Handicap überwunden, mehr als eine flunkernde Geste. Das Stilgefühl windet sich, der Stolz richtet es gerade. Die Fabriken im Donetz – auch diese Potemkinsche Dörfer?? Hier ist Aufschwung, brüllende Jugend. Was tut es, daß mancher dieser Wolkenkratzer wie ein riesenhafter Stapel von steinernen Schiebladen, wie eine steingewordene Kartothek anzusehen ist … Beim ersten Anblick der Downtown New Yorks hat es mich geschüttelt, hier schreie ich aus begeisterter Kehle: Recht so, vorwärts, in die Höhe! (Wolkenkratzer, Armee, ja Taylorsystem und Rationalisierung – in Rußland haben sie ein anderes Gesicht …)

Charkow: ein funkelnagelneuer Stadtteil, siebzehn Stock hohe Betongebäude, Verwaltungshäuser, Industrie-, Trust-, Regierungsgebäude, Theater, Versammlungs- und Festhallen. Alles riesig, kahl, glatt, sich wild und gebieterisch in die Höhe bauend. Was schadet es, daß diese Stilart in fünfzig Jahren überholt, in weiteren fünfzig nicht mehr anzusehen sein wird – Menschen begegne ich in Moskau, die ich vor Jahren noch, erledigt, müde, verzweifelt und grau einhertrotten sah und die sich zauberhaft verjüngt zu haben scheinen, lebensfroh, heiter und übermütig ins Leben blicken!

Wie der Geschmack russischer Früchte ist der Geschmack des russischen Menschen, aus vulkanischem Boden gewachsen, würzt er die alte Welt.

 

Man sieht keinen Bessprisorni mehr. Die Scharen verwahrloster, flüchtiger, zerfetzter Kinder, die aus der Hungerzeit über die Städte des Landes, wie eine Plage, Heuschreckenschwarm, ausgeschüttet waren, sie sind verschwunden! Wo sind sie hin? Hat man sie, wie die faule Dienstmagd es mit dem Schmutz tut, unter das Sofa gefegt, damit der Gast die Stube sauber meint? Nein, wie allerorten Häuser, Straßen renoviert, das Verkehrswesen aufgefrischt, alle Formen des Stadtlebens erneut, belebt erscheinen, den Aufbau, die Rückkehr zur Ordnung, Fortschritt zur Neuordnung der Dinge verkündend, so hat man diesen brennendsten, schmerzlichsten aller Schäden des gequälten, mächtigen Landes liquidiert. In Moskau, in Charkow, Baku, Noworossijsk besuchen wir riesige Gebäudekomplexe; zumeist sind es ehemalige Klöster, in denen jetzt Schulen, Werkstätten, Wohnräume, Klubs für diese – ehemals – Ärmsten unter den Armen Rußlands eingerichtet sind. Das Maxim-Gorki-Institut in Charkow z. B. ist nur eins von den Hunderten gleich großartiger, in denen jene Ausgestoßenen zur Gesittung des arbeitenden Menschen und Genossen erzogen werden. Gorki – er selber ein Bessprisorni. In einem Jahr, in zwei Jahren soll es kein verwahrlostes Kind mehr im weitem Rußland geben! Lenins Witwe, Krupskaja, hat die größten Verdienste um die Rettung dieser jungen Seelen für die Gesellschaft, die Gesellschaft der Zukunft sich erworben. Nur wenigen von diesen Kindern, deren sich der Staat angenommen hat, sitzt Vagabundentum so stark in Blut und Nerven, daß sie zur Arbeit nicht mehr zu erziehen sind. Ausreißer gibt es ja überall, aber ihre Zahl vermindert sich stetig. Es sind ja keine Korrektionsanstalten, in denen diese armen Kinder erzogen werden. Keinem Sadisten sind sie ausgeliefert, wie das bei uns im zivilisierten Westen so oft der Fall ist. Es ist der Genosse, der sich des jungen Genossen annimmt. Kameradschaft lernen sie kennen, nachdem man die Not des Lebens von ihren schwachen Schultern gehoben hat. –

In der Bai vor Baku liegt, sieben Kilometer weit von der Küste, eine Insel. Dort ist ein Heim für besonders ausreißerisch veranlagte Kinder errichtet. Hie und da schwimmt einer bei Nacht und Nebel auf einer Planke sieben Kilometer weit ans Ufer herüber. Ich verstehe das, ach, wie gut versteh' ich das! Wer von uns, die wir die Welt durchstreifen, denen das Stillsitzen Strafe und Qual dünkt, die, noch mit alten Knochen, sich der Disziplin gesitteten Bürgertums nicht zu fügen vermögen, wünschte diesen kleinen, bei Nacht und Nebel auf einer Planke davonschwimmenden Ausreißern nicht Glück auf den phantastischen Lebensweg?

Wir fahren, unsere kleine Gruppe, schon den dritten Tag, von Rostow quer durch Georgien. Schneebedeckte kaukasische Berge, weit weg ein Schimmer wie eine weiße Wolke: Elbrus, d. h. Ararat. Eine kleine Station. Jemand blickt aus dem Fenster … »Bessprisorni! Seht mal dort, der Kleine und der Größere, gerade jetzt sind sie unter dem Zug hervorgekrochen!« Wir alle stürzen an die Fenster. Da stehen zwei kleine, zerlumpte Knaben, von oben bis unten mit Ruß bedeckt, auf dem Perron, d. h. auf der anderen Seite des Zuges, und machen Turnübungen, schlagen sich die dünnen Ärmchen um den erstarrten, frierenden Leib, binden sich ihre armen, schwarzen Lumpen enger um die Hüften. Knirschend setzt sich der Zug in Bewegung – husch, sind die beiden unter einem Waggon verschwunden! Werden wir sie auf der nächsten Station wiedersehen? Im Abteil, in dem Panait Istrati mit uns fährt, sitzen wir und hören Istrati zu. Auch er vor Jahren noch ein Bessprisorni. Heute kennt ihn die Welt. Mit durchschnittener Kehle hat man ihn eines Morgens am Genfer See in einer Blutlache aufgefunden. Da wurde Romain Rolland auf ihn aufmerksam. Und da hat ihn die Welt entdeckt. Bessprisorni – heimatlos, irrend, flüchtig, von der glorreichen Welle des Zufalls hin und her geschleudert, nirgends beheimatet als in der Weite der abenteuerlichen Welt. Der Zukunft ergeben, auf der Flucht vor dem Alltag! Schon hält der Zug, wir blicken aus den Fenstern: da kriechen sie wieder unter dem Zug hervor, die beiden, wir winken ihnen zu, werfen ihnen Geld hinunter, Brot, Früchte. Die kleinen Vagabunden grinsen zu uns herauf. Die Zähne sind das einzige Weiße an den von Ruß bedeckten Gestalten; Brot und Früchte stecken sie in die Falten ihrer Lumpen, die Münzen aber verschwinden in dem wahrscheinlich einzig heilen Teil ihrer elenden Gewandung: der kleinen Tasche, die sie sich für diesen Zweck genäht haben.

Kurze Fahrt nach dem Kaukasus

Eine Gruppe Delegierter, Intellektuelle, sechzehn Leute aus der Welt, dazu vier Begleiter, Russen, alle in einem Waggon. Achtzehn Tage lang in einem Waggon unterwegs; Moskau, Charkow, Rostow am Don, Baku, Tiflis, Batum, Ostküste des Schwarzen Meeres, Noworossijsk, Moskau. Nie weniger als vier Menschen in einem Abteil, nie weniger als zu viert in einem Hotelzimmer. Keine Minute allein. Genossen, Gleichgesinnte, Menschen, aus allen Teilen der Welt zusammengeweht, die am Anfang der Reise nichts voneinander wissen, am Ende der Reise vielleicht nichts mehr voneinander wissen wollen. Menschen mit Freiheitsdrang, zusammengekoppelt, aneinandergeschmiedet achtzehn Tage lang. Bitte: die Probe auf Kameradschaft, Verbundenheit!! (Auch dieser Kelch ging vorüber.)

Schwer, ach schwer, Mensch zu sein. Erfrorene Nasenspitzen verbieten den Anblick der ewigen Berge. Große Gesichtspunkte, Blick in die Zukunft, behindert durch einen Narren im Waggon, einen Schnarcher im Abteil, kalte Füße. Schließlich ist man ein Mensch trotz allem. – Die Weltrevolution durchführen? Was macht der werte Magen? – Aber dann hat man sich rasch besonnen, zieht das Notizbuch hervor und konzentriert sich auf die wesentlichen Dinge.

Charkow. – Ein Dorf, »Durchschnitt« genannt. Im Dorf Sowjet werden wir gefragt: »Was seid ihr eigentlich. Ihr seht wie Bourgeois aus!« Bauern sind es, die uns dies ins Gesicht sagen, ins Gesicht spritzen. – Jawohl, wir sehen wie Bourgeois aus, sind es doch nicht; doch nicht so, wie ihr das meint. Auch wir arbeiten, auch wir sind, wenn auch bürgerlich angezogen, keine Bourgeois mehr. »Warum helft ihr uns dann nicht? Was ist's mit der Revolution in euren Ländern?« Wieder feindselige Blicke. Einer von uns, der argentinische Professor, versucht es den Bauern zu erklären.

Nachher gehen wir und sehen uns ihre Hütten an. Hütten von Bauern, ukrainische Bauernhütten. Neben dem großen warmen Ofen, an der Wand: sieben Heiligenbilder, ein Bild Lenins im Rahmen mit Papierblumen, und ein alter Öldruck: die Zarenfamilie!!

In allen Bauernhütten, die wir besuchen: Ikone, Lenin. Wir fragen: »Warum habt ihr diese Heiligenbilder behalten, diese Öldrucke der Zarenfamilie?« Antwort: Wandschmuck. Mit irgend etwas müssen wir doch die Wände schmücken. Man will doch nicht in kahlen Wänden hausen!

 

Baku. – Unglaubliches Völkergemisch. Türken, Russen, Armenier, Osseten, Lesginer, Bergstämme vom Kaukasus, Perser, Grusinier, Kurden, Bergjuden, all das heißt zusammen Aserbeidschan. Jahrhundertelang wilde, bewaffnete Fehden unter den wirren, einander hassenden Volksstämmen, den Sekten, religiösen Gemeinschaften, feindlichen Anbetern verschiedener Götzen, Gefolge verschiedener Propheten. Heute all dies erloschen. Seit April 1920 eine sozialistische Sowjetrepublik.

Frauenklub, darin ein Saal: Hebammenschule. Russinnen, Kaukasierinnen, Armenierinnen, Türkinnen. Diese trugen noch vor Jahren das Gesicht verhüllt, heute genießen sie alle Rechte und Freiheiten der Frauen von Moskau, Leningrad oder Wladiwostok. Sie lernen schreiben und lesen. Neben ihren vierzig Dialekten, vierzigerlei Schriftzeichen lernen sie Russisch. Sieben Jahre haben unter diesen aus jahrtausendaltem Schlaf aufgescheuchten Rassen eine Kulturarbeit bewirkt, die bewunderungswürdig, einzig in der Geschichte der Menschheit ist. Wo gab es, unter den Zaren, solches Völkergemisch in Baku? In den Bordellen. –

Verbringt eine Stunde im Frauenklub von Baku, ihr Widersacher, Verleumder, Beschimpfer Sowjetrußlands. Dann wollen wir weiterreden!

Autofahrt nach der Halbinsel Abscharon, nach Balachan – zu den Ölfeldern. Zweitausend kleine Eiffeltürme, schwarz abgebrannte, aus Quergebälk aufgebaut, alle gleich groß, ein Wald von Bohrtürmen. Oben ein Rad, das Drahtseil zieht den »Löffel«, einen Metallzylinder mit Naphtha aus der Tiefe herauf. Dann sticht der Bohrer wieder ins Gestein, in den Schlamm des Erdinnern hinunter. Mancher Turm ist nicht aus Holz, sondern aus Zement gefügt. Ein Drittel in Betrieb. Älteste Methode, wie diese, die noch den Löffel verwendet, bis zu der neuesten, die mechanisch aus einem Zentralradantrieb die Bohrungen vornimmt. Wir sprechen mit Arbeitern; sie verdienen siebzig bis hundert Rubel. Es regnet, schneit durcheinander. Das riesige Ölgebiet ist mit zähem, gelbbraunem, irisierendem Schlamm bedeckt. Wir sehen uns die Arbeiter an: muntere, kräftige Menschen. Ist dies die Hölle? Was ist das für eine Arbeit! Und dazu frische, selbstbewußte Menschen? Hartes Brot, aber keine Fron!

Plakat an den Mauern: eine gierige, dürre Hand mit Brillantringen an den Krallen greift auf die Bohrtürme hinunter, von der Seite aber reckt sich eine rote Faust nach ihrem Gelenk, ergreift es, umpreßt es mit hartem Griff. Darunter die Worte: »Hände weg vom Öl!« Jeder Arbeiter in dem großen Ölgebiet versteht, was mit diesem Plakat gemeint ist.

Am Ausgang Abscharons – etwas Entsetzliches, nie Gesehenes, Unvergeßliches: ein Riesenfriedhof, Hügel, Kreuze, mohammedanische Steine am Kopf- und Fußende der Hügel – all dies von einem Schlammsumpf umgeben, in braunem, gelbem, irisierendem Schlamm halb versunken. Menschen, die ihr Leben im Naphthaschlamm verbracht haben, vermengen im Tode ihre zerfallenden Gliedmaßen mit dem Schlamm, der zähen Naphtha, dem irisierenden Höllenstrom.

Jemand in unserem Auto spricht den Namen Strindberg aus.

 

Tiflis. Die Stauanlage, das neue riesige Elektrizitätswerk. Und

Noworossijsk: die Zementfabrik. – Überall Arbeiter, in diesen unpersönlichsten aller Produktionsarten: Erdöl, Kraft, grauer Staub. Und doch, in Übereinstimmung, frische, selbstbewußte Gesichter! Wer den russischen Arbeiter mit Arbeitern kapitalistischer Länder vergleicht, hat keine Augen, kein Herz, keinen Verstand. Hier ist die Arbeit keine Plage, keine Fron, denn der Arbeiter arbeitet für sich, für seine Zukunft, für eine Idee, deren Herr er selber ist. »Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen hat aufgehört.« Dies ist ein Paragraph der Verfassung der Sowjetunion. Zehn harte Jahre haben einen Schritt vorwärts zur Verwirklichung dieser Bergpredigtworte getan. Der Stumpfsinn des laufenden Bandes sogar wird ja gemildert, erhoben in den Arbeitsgebieten, in denen die Produktion Mechanisierung erfordert. Der Arbeiterklub, die Kameradschaft, die Aufklärung über Wesen und Zweck der Gemeinschaft, das Ziel adelt noch die drückendste Form des Schuftens. Das tägliche Brot ist schmackhafter, weil es gesalzen ist, nicht mit Tränen, sondern mit dem Salz, das die Erde, der Sinn der Welt geboren hat. Was verschlägt's, daß der braune, irisierende Schlamm um die Stiefel fließt, daß sich Dröhnen der Turbinen in die Nerven einnistet, wie der feine, fliegende graue Staub in die Poren des Körpers. Arbeiter mit leuchtenden Augen. Freier, schöner, menschlich gerader warmer Blick. Händeschütteln mit von weither gekommenen Genossen, Freunden. Ein gemeinsamer Gesang, abends, herrlich weit tönend wie Sonnenaufgangslied über diesen Bergen zwischen dem Kaspischen, dem Asowschen, dem Schwarzen Meer. Hier, tief im Süden, dem südlichsten Punkt des großen russischen Weltteils, reiner, froher, begeisterter Gesang. »Die Internationale!«

 

Am Ende der Reise, im Vorübergehen, ein Symbol. Dort, wo das Stauwerk über Tiflis erbaut ist, am Fuße des Davidberges, vor dem alten Mzchet, der ehemaligen Hauptstadt Georgiens mit ihrer herrlichen Kathedrale, der Wiege uralter grusinischer Kultur, ist der Fluß Kura durch das neue hydroelektrische Kraftwerk abgedämmt. Wie die Kathedrale die Wiege der alten, ist das Kraftwerk die Wiege der neuen Kultur Grusiens.

Dort, wo der Fluß, von den Schleusen aufgehalten, in scharfem Bug ins Tal hinunterströmt, ist auf riesigem Sockel ein überlebensgroßes Standbild Lenins errichtet. Das Denkmal zeigt den Schöpfer des neuen Rußlands in einer Haltung, die auf wohlbekannten Photographien Lenin, den Volksredner, der ein Argument vorbringt, kennzeichnet. Das Haupt erhoben zu einem Ziel, das fern über dem Tag, der sichtbaren Wirklichkeit, nur von Seheraugen erblickt werden kann. Die rechte Hand hinunterstoßend auf die Erde, den Boden, mit ausgestrecktem Zeigefinger, der das Wort, das eben den Lippen entströmt, mit Nachdruck versehen, aus dem Erdreich, mit Urstoffen des übermenschlichen Willens bekleiden, beleben will. So, mit emporgewandtem Blick, steht Lenin da, und sein Finger, die nach unten geballte Hand weist auf den Strom. Der Wille lebt, Naturgewalt zu bändigen.

Als wir dieses Standbild gesehen hatten, am Fuße des Davidberges, in diesem Land Georgien, das als letztes für die Idee der Föderation der Sowjetstaaten erobert worden ist, verspürten wir, eine Gruppe aus der ganzen Welt zusammengewehter Menschen, Franzosen, Deutsche, Südamerikaner, Belgier, Griechen, Rumänen, Japaner und Russen, den gemeinsamen Strom. Entzweit durch Kultur, Temperament, Herkunft, Reflexion, Realität, Ideal, Wunsch, Enttäuschung, verstanden wir jetzt, gleichzeitig, den Sinn der symbolischen Gebärde. In diesem Augenblick war alles Trennende, Menschliche vergessen. Sogar das Pathos der Gebärde fiel keinem mehr auf, der Widerspruch: eine oratorische Geste, übertragen auf einen fast mythologisch anmutenden Begriff. Im schneidenden Winterwind, der vom vereisten Kaukasus zu uns herabströmte, blickten wir gleichzeitig, ehe wir dieses Land verließen, auf die Statue, die über dem bezwungenen Strom sich erhob.

 


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