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5000 Kilometer durch Südwesteuropa mit 120 PS

(1927)

I A 4604

An einem strahlenden Morgen, ganz früh im Mai, ganz früh auch noch am Tage sperre ich das Tor meines Hauses auf und trete auf den Platz hinaus. I A 4604 hat sich bereits durch zwei helle Signale der Hupe, ein dunkles kurzes Gebrüll des Klaxon bemerkbar gemacht und wartet, mit Gepäck beladen. Meines ist bald verstaut, und schon sitze ich vorn neben dem Chauffeur Herrn Wegner, der sich an den Pedalen und dem Lenkrad zu schaffen macht.

Ehe wir um die Ecke fahren, sehe ich mir den Platz an; die Kirche, auf die ich nun anderthalb Jahrzehnte lang aus meinem Fenster schaue. Alles neu, ungewohnt! Freilich – das Licht fällt zu solch früher Morgenstunde von anderswoher, die Schatten fallen von rechts … So wird mir's, das fühle ich schon jetzt, auf dieser Reise mit der Welt im allgemeinen ergehen, den wohlbekannten Ländern, Gegenden, Aspekten … wahrscheinlich auch mit meiner Arbeit! Selbstverständlich ist es ein anderes, mit dem Auto zu fahren, als mit der Bahn zu reisen. Quer durch das Land, Tempo und Route nach eigener Lust zu bestimmen, sich der gehorsamen Maschine anzuvertrauen, die auf den Wink pariert …

Diese da, I A 4604, aus guter Familie stammend, der Zeppelinwerft, ein ansehnlicher Karren aus blauem, schwarzem Lack und Nickel, läuft ihre hundertzwanzig Kilometer die Stunde, bergauf, talab, über Sand und holprigen Schotter, über geteerte, blitzblanke Straßen wie über löcherbesäte Feldwege; man fühlt sich auf zarten Federn gewiegt, in guter Hut, man wäre versucht, den Hut vor I A 4604 zu ziehen, danke zu sagen, oder beim Einsteigen: »Wie geruhten Sie die Nacht zu verbringen, Herr von Maybach?«, indes: sie ist kein Mensch, sondern äußerst zuverlässig; sie läuft, läuft, sie ist ihre fünftausend Kilometer ohne Panne gelaufen; sie ist eine vollkommene, zuverlässige Kreatur.

Daß sie so vollendet funktioniert, trübt mein Verhältnis zu ihr. Hie und da möchte man Launen merken, ein wenig schimpfen, fluchen dürfen, sich dann aussöhnen, das gehört sich so unter Menschen; aber, wie gesagt, sie ist eine Maschine, von unheimlicher Unpersönlichkeit, wir fahren am ersten Tage von Berlin nach München, vom Kirchplatz bis zum Siegestor die ersten sechshundert Kilometer und darüber, ich kenne sie nun in- und auswendig und kenne nun auch die Art und Weise, wie ich meine Arbeit zu leisten haben werde, die diesen neuartigen Anblick der sichtbaren Welt veranschaulichen soll. –

Die Eile, die man alsbald in Knochen und Nerven fühlt, enthebt der Gründlichkeit. Eindrücke verflüchtigen sich, wie Kölnisches Wasser auf der erhitzten Haut.

Eine Stunde hinter Berlin schießt der Wagen durch ein paar niedrige Häuserfronten … Treuenbrietzen … das gibt es also! … ich dachte, ein Kotzebue hätte so etwas erfunden … aber auf der Rückseite eines Denkmals lese ich im Vorüberfliegen: »seinen treuen Brietzenern« … wer? wann? … schon sind wir draußen, zwischen Roggenfeldern … so muß die ganze Arbeit werden. –

 

Hauptsache bleibt das Tempo, der Speed der Fahrt – dieses selige Dahinhuschen – glissez n'appuyez pas! – den Menschen der Zukunft blüht ein erträglicheres Erleben der Welt, ihres Schicksals.

Ich spüre das bei dem Phänomen, dessen technischer Ausdruck »Mitfahren« heißt. Jeder Fahrende im dahinjagenden Wagen verwandelt sich automatisch in den Chauffeur. Die Landschaft verschwindet, ist nicht da, sobald ein Huhn über den Weg läuft. Jede Kurve ist ein Problem, wichtiger, lebenbestimmender als die blitzschnell auftauchende Vision einer Märchenstadt auf schroffem Felsen – San Gimignano zum Beispiel mit ihren siebzehn Türmen. Nüchternheit, Nüchternheit, Geistesgegenwart, Oberfläche! – –

Die kleine Uhr, deren roter Zeiger die Kilometerleistung des Motors anzeigt … jetzt 60 die Stunde – jetzt schon 90 – jetzt 110 … saugt mit magischer Gewalt die Aufmerksamkeit an sich. Sitzt man nicht vorn beim Chauffeur, sondern hinten im Wagen, zwischen den behaglichen Polsterlehnen, so sucht man, durch Zählen, von einem Meilenstein zum anderen, die Geschwindigkeit zu ergründen, mit der man soeben dahinfährt.

Bei 60 Kilometern wird man ungeduldig; bei 80 fühlt man sich in seinem Element; 100 lösen das Fett um das Herz, zermahlen den Kalk in den Knochen; bei 120 pustet ein tiefer Atemzug alles Faule, Gealterte, allen Ballast des Hirns durch die Nasenlöcher in Gottes unendliche Schöpfung hinaus …

Kopfüber in die Luft fliegen, oben an einer Baumkrone den Schädel zu zerschmettern, muß ein herrlicher Tod sein!

 

Mit guten Karten, immer dem roten Strich nach, durch Potsdam, das schlafende Leipzig, das eben erwachte Zeitz, Gera, wo es schon wimmelt, quer durch Städte, Städtchen, Weiler, Dörfer, über die Landstraße, Flachland, Saale entlang, Fichtelgebirge … Mittagsrast unter glühender Sonne in Hof. Hier eine erste Wahrnehmung. –

Wie wir, Chauffeur und ich, nach Beendigung unserer Mahlzeit auf die Straße hinauskommen, steht eine kompakte Menschenmenge um I A 4604.

I A bedeutet: Berlin (wie das kleine ovale Schild D: Deutschland); man ist also informiert. Die Menge besichtigt den Wagen, beifällig, mit Kennerblicken, vielleicht gelegentlich: Neiderblicken? – obzwar mir's auf der ganzen Reise auffiel, welche klassenausgleichende Wirkung der Wagen als Gesprächsstoff unter einer bunt zusammengelaufenen Volksmasse hervorrief!! In Florenz, Spezia, in Avignon, in Bordeaux, überall gab's technische Erörterungen, Neugier, Belobung des Details, Austausch von Fachkenntnissen, gelegentlich kleine Vorträge über Fabrikation, Qualität des Chassis, des Phaetons (offener Wagen), der Reifen. In San Sebastian, Nordgrenze von Spanien, hätte die Menge uns am liebsten »Hoch!« nachgerufen: ein Wagen aus Deutschland! welch großer Wagen; Pfiffe hörte ich nur in Poitiers (meine Freunde verneinen dies!); in Monte Carlo, in Biarritz sind ausländische Autos keine Seltenheit, dort sucht man nur die »Marke« festzustellen … dasselbe geschieht im Vorüberflug an einem entgegenkommenden Wagen (weitere Ablenkung von der Landschaft!) … im wesentlichen ist die Bevölkerung dem im Automobil fahrenden Fremden freundlicher gesinnt als der Automobilist dem Mit-Automobilisten.

Naive Menschen! Ein Auto möchte doch jeder haben! Bewunderung überwiegt, Verbrüderung im gleichzeitigen Anstaunen, Kein Haß; Versöhnung durch die Technik. Naive Menschen, wünschende! Erst, wer besitzt, blickt zur Seite.

Reiche Freunde

Der Ton liegt auf: reich.

Der Ton liegt natürlich auf: Freund. –

Achtundzwanzig Stunden nach meiner Abfahrt aus Berlin treffen in München Fritz und Stephanie mit dem Doktorchen ein. Sie sind im Schlafwagen gekommen, haben einen Tag gespart. Meine Zeit ist weniger kostbar. Dafür bin ich bei der Weiterreise, die sofort vonstatten geht, durch die Müdigkeit der gestrigen 650 Kilometer gehandikapt. –

Das Gepäck wird umrangiert, das meiste ist ja in den eingebauten Koffern aus Berlin mitgekommen; bei leichtem Nebelgeriesel geht's ins Gebirg vorwärts, hinauf nach Mittenwald. –

Wir haben alle vier bequem Platz in dem prächtigen Wagen. Mit Rücksicht auf Stephanie wird Herrn Wegner Mäßigung in der Kilometergeschwindigkeit empfohlen. Keine Angst! I A 4604 pariert, das kann ich kraft meines 650-Kilometer-Vorsprungs bezeugen, wie ein folgsames Kind, Windswesen, Windsbraut, fliegender Teppich aus 1001 Nacht.

Von meinem Sitz zurückgebogen, erzähle ich den Reisegenossen unsere gestrige Fahrt.

 

Der Wagen gehört Fritz, Freund Fritz, meinem Kameraden aus der Zeit vor der Revolution, während der Revolution, nach der Revolution. – In den aufgeregten Zeiten um 1917, 1918, 1919 haben wir, im guten Kampf nebeneinander stehend, unsere Sporen verdient. Wäre es nach unseren Sporen gegangen, die lahme Mähre der deutschen Revolution wäre in schärferen Trab geraten. Nach dem Fiasko der Unabhängigen hat sich Fritz mehr auf das Boxen verlegt: eine persönlichere Art des Sich-Wehrens, immerhin.

Ich freue mich, sooft ich in das heitere, unbeirrbar gute und jungenhafte Gesicht Fritzens blicke; ich erkenne in ihm das Wesentliche, das Unzerstörbare, das Gefühl und Erfahrung bestätigen: die Gabe der Freude an dem Leben, dem eigenen und dem der Mitmenschen; in dem starken, athletischen Körper wohnt eine brave, liebenswürdige, süddeutsche Seele.

Ich kann mit reichen Menschen sehr gut befreundet sein. Wenn ihr Reichtum nicht aus der Ausbeutung der Arbeit ihres Nächsten, nicht aus der Ausbeutung der Not, auch der Not der Zeit stammt, wird mein Gefühl nicht durch das Bewußtsein getrübt, daß ich von dem Geld, das dieser Wagen dahier gekostet hat, fünf Jahre lang leben könnte. Die Welt, diese Gesellschaft ist so eingerichtet, daß sie verschiedene Begabungen auf verschiedene Art honoriert. Fritzens Begabung honoriert sie besser als meine Begabung. Auf der Wage gemessen, sind wir wahrscheinlich, jeder für seinen Beruf gleich befähigt. Als es darum ging, diese Welt und Gesellschaftsform zu ändern, wurden wir Kameraden. Das genügt.

Reiche Freunde heben für kostbare Lebensaugenblicke die Ungerechtigkeit der Gesellschaftsordnung auf, setzen den zu kurz Gekommenen in den Besitz, vollen Genuß von Dingen, die er von Rechts wegen ebenfalls haben müßte, wenn ihm auch an diesen Dingen nicht gerade allzuviel gelegen ist …

Sicher ist es, daß ich mit Fritz befreundet sein kann, obzwar sein Beruf nicht der meine ist, daß ich aber mit diesem und jenem Berufs- und angeblich sogar engeren Gesinnungsgenossen nicht befreundet sein kann, weil er seine Fähigkeiten zum Geldverdienen zum Sichhinaufschwindeln in höhere Kategorien des bürgerlichen Wohlstandes mißbraucht. Ist seiner Fähigkeit zur Kunst jene Fähigkeit zum Geldverdienen beigesellt, so halte ich nicht viel von seiner Fähigkeit zur Kunst. Fühlt er sich bemüßigt, als Künstler wie ein Bankier leben zu wollen, so ist er mir widerwärtig.

(Der Verkehr mit reichen Freunden, das Verhältnis des Reichen zu unsereinem erfordert Takt von beiden Seiten, das heißt angeborene menschliche Geradheit; ist diese vorhanden, so wird die gefährlichste Klippe vermieden, an der ich manches ähnliche Verhältnis scheitern sah: die Unsicherheit, Schwanken des Gefühls zwischen übertriebener Toleranz und ungerechtfertigtem Mißtrauen.)

Doktorchen kenne ich erst seit kurzer Zeit. Ich verstehe etwas von Reisen und weiß, was es heißt, sechs Wochen lang auf anstrengender Fahrt gute Kameradschaft zu halten. Dieses Experiment ist gelungen. Doktorchen ist ein Gefährte; über seinem kleinen Körper wölbt sich ein heroischer Vorname, wie ein romantischer Regenbogen; über seinem skurrilen, paradoxen Witz menschliche Zuverlässigkeit; auch sein Beruf hat Reichtum im Gefolge, nach den Gesetzen der geltenden Weltordnung; Doktorchen hat, besonders seit er in Amerika gewesen ist, die soziale Frage für sich, auf Grund privater ökonomischer Erkenntnisse, definitiv gelöst, gehört aber keineswegs zu jenen Reichen, deren Weltanschauung sich bei näherem Hinsehen als Schutzvorrichtung gegen Andersbemittelte erweist. –

Fritzens Gattin ist das Sorgenkind unserer kleinen Gemeinschaft. Bei den Mahlzeiten zählen wir ängstlich die Kalorien ihrer vegetarischen Kost; wie sie nur Zartes und Reines zu sich nimmt, äußern sich ihre Anschauungen auf dieselbe Weise; von Stierkämpfen, Boxkämpfen darf in ihrer Gegenwart nicht gesprochen werden; gelegentlich staunen wir über die Resistenzkraft ihres Willens, der in dem mit zarten Stoffen so vorsichtig genährten Körper wohnt! –

Im übrigen stellen wir eine fröhliche Reisegemeinschaft vor; zwei Kameras sind in Tätigkeit; Herr Wegner bildet die Dominante unseres Akkords. Sitzt Fritz am Steuerrad, so verschiebt sich das Quintett ein wenig ins Ängstliche, ein paar Töne klingen wie Saxophon, aber das dauert nicht lange. Was mich anbetrifft, so habe ich ein paar Stunden lang – etwa von Berlin bis Treuenbrietzen – innere Gleichgewichtsstörungen zu überwinden gehabt. Ich reise diesmal zum Vergnügen, sozusagen, eine Art des Reisens, der ich allmählich vollkommen entwöhnt worden bin. Diesmal reise ich keiner Revolution nach (sogar nach Italien nicht um Italiens umgekehrter Revolution willen), sondern der Heiterkeit des Lebens, der Schönheit dieses alten Europas entgegen!

Die Heiterkeit des Lebens … Menschen sitzen in Zuchthäusern, Systeme der Welterlösung kämpfen gegen Unverstand, Trägheit, Niedertracht; Ideen werden verleumdet, sind in Not … mit 120 PS nach Florenz, an die Riviera, in die Pyrenäen?? …

Der verstorbene Geijerstam hat mir einmal Mitteilung von dieser letzten Lebensweisheit gemacht: »Einmal im Monat muß jeder vernünftige Mensch Bankett und Ballett haben!«

Hinter Treuenbrietzen habe ich meine Anfangsgeschwindigkeit. –

Übrigens sehe ich drei Wochen später John Henry, den Anarchisten, in Monte Carlo sein Bäuchlein sanft ins Kasino schieben; eine Woche später begegne ich gar dem Genossen Anatol Wassilitsch am sonnedurchtobten Gestade von Biarritz! – Allright. –

Speed

Kilometersteine fliegen vorbei. Das Herrlichste an dieser Fahrt ist das Tempo, in dem wir durch die Länder jagen, über Grenzen weg, Berge hinauf, hinunter, an Meeren vorbei, durch Städte, über Brücken, bald dem roten Strich auf der Landkarte gehorsam, bald von ihm abweichend, kraft der Laune und Lust des Fahrens …

Zuweilen verschwindet die Landstraße vollends. Wo sind wir? Einerlei. Eine Stadt flackert auf: wie heißt sie? Schon ist man wieder in freiem Feld, zwischen Korn, Wein, Oliven. Der Charakter der Landschaft ändert sich: die Föhren weichen den Pinien der Apenninen, die Blumenhänge und Korkeichenforste der Alpes maritimes verwandeln sich in Ginsterhügel, die Gascogne zerrinnt, jetzt bedeckt das hellgrüne Geflimmer, das zarte Gefieder der Tamarisken die Basses Pyrénées. Überall: Wein, in Tirol, in Toskana, in der Provence, in dem gesegneten Himmelsstrich von Angoulème über Bordeaux bis Tours, höher noch. Jeder Stock gepflegt, sauber gebunden, mit hellblauem Saft bespritzt gegen die Reblaus. Unendliche, minutiöse Arbeit, um bescheidenen Lebensgenuß, Erhöhung der Freude an diesem Dasein, Hinunterjagen von blutroten Himmelstropfen, Sonnenwärme durch die Kehlen der nicht immer von körperlichem Durst allein geplagten Menschheit.

Kleine Schenken am Wege tragen naive Schilder; im Flug, lächelnd, liest man sie: »Au bon vin de la treille«; »Le sourire«; »Au fleuve de Léthé«!

(In Arles nennt ein Brillenhändler seinen Laden: »Au trésor de la vue«, und ich denke daran, wie schön der Franzose das Reisen mit dem Schauen, le voyage, bezeichnet, während das englische travel die Mühe, die Arbeit des Reisens über Gebühr betont!)

Unter der grauen, hell- und tiefgrünen, bläulichen und schwarzen Vegetation schimmert das Gestein der Landschaften, gelbe Brüche, schräge Schichten, grau und schwärzlich; nur einmal, zwischen Pisa und Spezia, vor Massa Carrara, leuchtet der aufgerissene Berg in phantastischem Bunt purpurn, amethysten und grün, dann schneeweiß, schwanenweiß, weiß wie der bekannte Waschtischmarmor und die Ungeheuer sämtlicher Siegesalleen der Welt.

Auf der ganzen Fahrt durch Italien, durch Frankreich – welcher Verbrauch von Marmor, Marmor! Der kleinste Flecken, Weiler besitzt sein Kriegerdenkmal. Lebendige Erinnerung an die toten Helden, die der Ort ausziehen, nicht mehr zurückkehren sah. Statt der lebenden Söhne: starre, zum Teil entsetzliche Gedenksteine, erschütternd nur durch die eingemeißelten unendlichen Reihen von Namen … schon verwittert hier und dort ein Stein, setzt eine Bronzetafel Rost, Patina an, der Gedanke an Krieg überlebt das Gedächtnis der Toten …

Vor 1918 waren all die Dörfer schmucklos, erst das große Sterben hat ihnen die Kunst auf die Straßenkreuzung gesetzt …

 

Lieblich ist es, einer Regenwolke davonzufahren, den Wettlauf mit dem Wind aufzunehmen. Die Sonnenbrille schützt die Ränder um die Augen, sonst bedeckt sich das Gesicht unter dem Sonnenbrand mit Kriegsbemalung. Im Hotel verbrennt die Haut vollends durch die Berührung mit frischem Wasser. Nachts sammelt der Körper die am Tage verlorene Wärmemenge unter dicken Decken, frühmorgens zieht man wieder ins Abenteuer der Weite, »fährt mit«, wenn nur die verhängnisvolle schwarze Katze einem nicht wieder über den Weg läuft!

Wieviel Flüsse durchquert; Etsch, Po, Arno, Garonne, Loire, ja die Bidassoa … Die Bidassoabrücke … wie war der Vers? Schon davon. Die Nivelle:

»… c'est le chien de Jean de Nivelle« … schon ist man anderswo …

Jetzt quer durch Narbonne … Gillette de Narbonne – wer war sie? Tarascon … das ist schon leichter – Tartarins Heimat, wie gegenüber Beaucaire Napoleons Leutnantsjahre gesehen hat. Hier ist eine Tafel des Automobilklubs von Frankreich: Montpellier … kaum so viel Zeit, darüber nachzudenken, ob Mömpelgard Montpellier oder Montbeliard geheißen hat …

Da … zwischen Angoulème und Poitiers ein Seitenweg nach Ligugé: Huysmans' Benediktinerkloster, hinter jenem Hügel … und nicht weit davon ein Ort: Balzac, wir fliegen über Touraine, Balzacs Land …

 

Ein Führerschein für Kraftwagen durch die Länder heißt: Triptique, Triptychon, wie einst Altargemälde hießen; Altargemälde des heutigen Kultus: Gott Speed, Madonna Komfort, die Heiligen Rolls-Royce, Chrysler, Hispano Suiza. Welch eine Zeit! Doch möchte man in keiner anderen gelebt haben. Welches Glück, für kurze Zeit die Quintessenz dieser Zeit, die Vollendung des Technischen, auskosten zu können.

Rechts und links, auf den Seitenflügeln des Triptychons, wie sich's gehört, die Bildnisse der Stifter: links Fritz, rechts Stephanie. Unter dem andächtigen Volk im Mittelaltar gewahrt man: Doktorchen, Chauffeur Wegner und eine nachdenkliche, behäbig sitzende Gestalt mit aufgeschlagenem Notizbuch auf den Knien, Füllfeder und Landkarte, zu den Engeln, die in der Höhe musizieren, emporblickend.

 

Wie leben die Menschen auf den Strecken? Nicht auszudenken dieses Leben, in kleine Flecken, Dörfer, Weiler, verstreute Häuserchen gebannt, lebenslänglich – wo man durch die Welt fliegt, das Tempo seines Lebens erst gewahrt!

Diese Kleinbürger des oberfränkischen Dörfchens: das ganze Dorf eine kurze Straße, am Eingang ein Turmtor, am Ausgang ein Turmtor, dazwischen das kleine Leben, Kino, Gemischtwarenhandlung, Friseur, Schule, Kirche, Klatsch, Behagen, Eifersucht, Habsucht, Bigotterie – in weniger als einer halben Minute durchquert … Bayreuth, einmal alle fünf Jahre erwachend, im Sonnendunst des frühen Nachmittags … Aschaffenburg – die Menschen in kleinen Städten müssen sehr leiden! …

In Italien, in Südfrankreich spielen sie Boccia, die Pelotari werfen Bälle an die Wand, damit zerstreuen sie sich … ein Benzin fassendes Auto gibt ihrem Leben vorübergehenden Glanz und Inhalt; die Kappen ändern sich, Kalabreser, dann die bekannten Hauben der Arlesierinnen, die Boina der Basken; auch ihren Tieren hängen sie wechselnde Kappen und Hörnerbehänge um, hier bunte Netze mit Wolltroddeln, dort dicke Schaffelle, die bis über die Augen reichen …

Auch die Sprache ändert sich rasch – hier gurgeln sie, dort zermanschen sie schon Vokale und Konsonanten, gestikulieren vor ihren Häusern oder stehen starr, stumpf und verschlafen vor Apotheken und Schenken … besonders in den Orten, die im Winter erst wieder von den Fremden und für sie leben werden.

In Städten belebt sich die Promenade um die Abendzeit … vor einer Statue, die übergroß Spitzenärmel schlenkert, findet eine Ansammlung statt; in einer anderen ist Markt, Soldaten werfen Holzringe auf Champagnerflaschenhälse; Geruch von gebratenen Fischen; Dunst von Kasernenhöfen …

Hechtgraue österreichische, schwarzhemdige italienische Miliz, blaue Pioupious, Kolonialgesichter, kaffeebraun aus erdfarbigen Uniformen guckend, die bunten affigen Operettenfiguren der spanischen Grenzwächter, Zollsoldaten, der Miqueletes, Stadtgarden des Guipozkoaner Regiments … überall aber ein und derselbe schwarze Ton, Kontrapunkt zu Uniformen, Landschaft, Natur und Volksbrauch, zu Lebhaftigkeit, Stumpfheit, Spiel und Kappen: Pfaffen, Pfaffen, zu Fuß, zu Rad, auf Eselskarren, in Automobilen, Pfaffen auf allen Wegen, Sutanen vor Tannenwäldern, Korkeichen, Ginsterabhängen, blauem Meer und grauen Straßen, aus romanischen, gotischen, Renaissance- und Barockkirchen heraustretende schwarze Gestalten, zahllos und zäh, trotz Grenzen, Breitegraden, Staatsform und allen Errungenschaften der Technik … Sutanen über den Weg, permanent und eigensinnig, schwarze Gestalten, fünftausend Kilometer weit dieselbe schwarze Gestalt allüberall … das Feststehende, Verharrende in dieser Zeit!

»  … mentre che'l danno e la
vergogna dura – non veder, non
sentir m'é gran Ventura …«

Michel Angelo: »La Notte«.

Im Dom zu Florenz. Ich habe vergessen, daß hinter dem Altar die Pietà Michelangelos ist! Ich habe so vieles vergessen! Und doch war Florenz mir einst … Wozu pathetisch werden.

Im Mediceergrab kann man sein Leben rekapitulieren. Es hat von der Alba, vom Creposcolo zur Notte und zum Giorno geführt, das heißt von den gebrochenen Stimmungen zum positiven Gefühl. Das heißt von der Ästhetik zur Aktion. Darüber sind keine Elegien zu singen. Die Zeit, in der wir leben, ist zerbrochen. Die Zeit, deren Denkmal Florenz ist, war ganz. Man brauchte nicht zu schwanken, mußte sich nicht entscheiden. Man lebte das volle Leben. Der letzte Mensch meiner eigenen Zeit, der es verstand, aus seinem eigenen Leben ein Renaissanceleben zu gestalten, war William Morris. Mit ihm verglichen, sind wir alle Stümper.

Natürlich lebt man ein ebenfalls kleines Leben, wenn man die Existenz jener (gefährlich absurden) Kondottieri betrachtet, die aus dem Kollektivismus sich selbstherrlich zur (mühsam bewahrten) Höhe erhoben haben, von wo aus sie die Suggestion der Massen dirigieren. Ich habe mir ein paar Dutzend Photographien Mussolinis angesehen, die in Italien aus jedem Photographenladen, aus jeder illustrierten Zeitung den Passanten anstarren. Und ich habe auch noch die Photographie in Erinnerung, auf der der Diktator, ganz klein und unscheinbar, in einer Reihe mit den anderen Kondottieri in Locarno zu sehen war.

Sonderbar, in dieser Zeit, die den Kollektivismus triumphieren sieht – die Macht und Faszination, die von dem »Duce« ausgeht! Man mag darüber denken, wie man will: in dieser zweideutigen Figur triumphiert der Individualismus, in dieser Zeit ein frappantes Phänomen! – Man weiß ganz gut, was gegen den Duce zu sagen ist, seine Ursprünge, Renegatentum, Abhängigkeit von der Schwerindustrie, allerhand chemische Formeln der Blutbeschaffenheit, pathologische Diagnose, Pose und Nebengeräusche: doch ist er da, und ein Volk hat sich geduckt vor ihm! Römertum und diese Knebelung! Wahrhaftigen Gottes, ein völkerpsychologisches Paradox von gleichem Kaliber gibt's nicht zum zweitenmal.

Eia eia allala – wie muß er das »Volk« verachten! Dem er mit Rizinusöl die Gedankenfreiheit ausgetrieben hat!

Die Herrlichkeiten Perugias, Sienas, die erhabene Landschaft um Assisi ist vollkommen übertönt – gefälscht kann man nicht sagen, aber überzogen – von dieser Gegenwärtigkeit, der Schande eines einst freien Volkes, das sich solche Bedrückung, Willkür gefallen läßt.

Auf den Straßen das übliche bunte, laute, gestikulierende Gewoge des lebhaften Menschenschlags. Die Viertelmillion Getöteter, Deportierter, Eingesperrter, Vernichteter, Sozialisten mit ihren Frauen, Kindern, Kindeskindern, Schwägern, Nichten usw. sind selbstverständlich auf den Straßen, Märkten und Plätzen nicht zu sehen.

Dafür erkennt man, wo sie einst gehaust haben. Auf die Mauern ihrer Häuser, aus denen man sie vertrieben hat, haben die Faschisten lebhafte Inschriften gemalt:

»W il Duce!«

(W bedeutet nicht Wilhelm sondern zweimal den Buchstaben V – das heißt »Viva«! So wie dasselbe Zeichen umgekehrt M: »Morte« bedeutet, zum Beispiel:)

»M Lenin!«

Ein paar weitere Inschriften besagen:

»La mia missione e di far amare Dio!!«

(Eine Zeile »!!!!« im Gedanken unter diesen Fanfarenstoß!)

»La tua vita è sacra!
Guai a chi la tocca!«

ferner

»300 000 bajonetti sono da noi!«

Man ist vor diesen Inschriften sowie vor den schablonierten finsteren Fratzen, die alle Häuser sprenkeln, im Traume nicht sicher. Hinten auf den Koffer unseres Autos haben, während wir in Siena im Dom uns die Kostbarkeiten der Boden-Sgraffitti, der Bronzeleuchter, Chorintarsien angesehen haben, Gassenbuben »W il Duce« in den Staub gemalt, mit so schmierigen Fingern, daß Herr Wegner trotz aller Essenzen und Säuberungsversuche die Schrift nach drei Wochen noch nicht abwischen konnte.

Die Welle von überschwenglichem Nationalismus, die das Land überschwemmt, ist Fremden wenig fühlbar. Man vermeidet es am besten, schon mit Rücksicht auf die Freunde, mit denen man reist, aber auch auf die Freunde, die in Italien ansässig sind und die man nach Jahren wiedersieht, über Politik zu sprechen, ja, den Namen des Duce auszusprechen. Das Land ist mit Spionen durchsetzt, das Leben infiziert, man verläßt sich auf seine Sinne, Augen, Wahrnehmungsvermögen.

Schon bei der Grenzüberschreitung, oben am Brenner, der jetzt Brennero heißt, grüßt einen eine trompetende Inschrift auf Marmorstele.

Gossensaß, das liebe, alte, heißt nun Colle d'Isarco. Das ginge ja noch an. Eisack – Isar – Isarco, passiert. Aber schon ein paar Kilometer tiefer: bei Sterzing, jetzt Vipiteno genannt, züngelt die übermütige Viper des welschen Nationalismus gegen den guten alten deutschen Sterz.

An den Straßen wird lebhaft gearbeitet; die Straßen geteert, vorzüglich: Elektrizitätswerke, Neubauten, das Land systematisch bebaut, wohin man auch kommt. Doch im Innern Krisen, Krisen, mühsam verklebt, zunehmende Arbeitslosigkeit, Arbeiterorganisationen aufgelöst und auf Grund tyrannischer Zwangsmaßnahmen auf faschistischer Grundlage reorganisiert; Konsumvereine, Studentenverbindungen, Zeitungen, alles neu und uniform faschistisch; auf freie Koalition und Streik steht Gefängnis, noch Ärgeres.

Wo sah ich solchen Zwang? Etwas nördlicher – aber andersherum, vermutlich nach der richtigen Seite zu gewandt, vorwärts, nicht nach hinten. –

Dabei große Maueranschläge: die Währung macht eine Scheinstabilität durch, eine Eia-eia-allala-Geste, hohl und falsch, sehr zum Schaden des Landes, der Industrie, der Ausfuhr; es wird den Ladenbesitzern nahegelegt, aus Gründen des Patriotismus ihre Waren um 15 Prozent herabzusetzen … »dieses Ansinnen ist als Befehl aufzufassen!« – Gleichzeitig sinken aber, und das steht auf den Plakaten nicht zu lesen! die Löhne um 25 bis 30 Prozent, die Kaufkraft vernichtend …

Was ist das Minimum an Hoffnung, womit ein Mensch leben kann? Was ist das Minimum an Freiheit, das ein Volk braucht, um sein Leben zu fristen?

Wie lange noch?

 

In Florenz, auf dem Platz vor unserem Hotel großes Geschrei, Blechmusik, Tamtam. Kalabresische Studenten ziehen auf dem Weg nach Görz durch Toskana.

Hymnen werden gespielt, gesungen:

»Giovinezza! Giovinezza!
Primavera di belle-e-ezza!«

Zum erstenmal höre ich in Italien, diesem musikalischsten Land der Erde, falsch blasen, falsch singen! Erstaunlich …

Zudem: »Viva il Duce!« – hundert Hände recken sich zum schrägen Faschistengruß; dann aber, nach dem Rufe: »Viva il Rè!« – tausend!

Was geht, inwendig, in diesem Volke vor?

Wiedersehen mit der Certosa von Florenz. Wir kommen spät an, der diensthabende Mönch fragt uns, ob wir mit der Trambahn oder mit eigenem Auto des Weges dahergekommen sind; seine Miene verklärt sich, als er hört, daß wir das letztere Vehikel benutzt haben.

Kontemplation, Gebet, Ruhe. Die Zellen: Wohn-, Schlafzelle, kleine Terrasse, Gärtchen, komfortable Appartements; hätten Huysmans bei seiner Weltflucht besser behagt als die Zelle in Ligugé mit der zu kleinen Waschschüssel, die ihn wieder in die böse Welt zurücktrieb.

Im Kreuzgang Blick auf duftende Kräuter um die Zisterne; im Klosterladen guter Schnaps, den die Brüder selber brennen, Schokolade, die sie selber fabrizieren; all das an die andächtigen Fremden zu unbescheidenen Preisen verkauft. –

Auf der Rückfahrt nach der Stadt ein Höllenbreughelzug von Schwerverkrüppelten, mit zertrümmerten Gesichtern, blinden Augen, zerschossenen Beinen, geknicktem Rückgrat Dahinwankenden – hier, irgendwo in einer Vigne am Wege befindet sich das Heim der »Ultra-Mutilati«, von einem ägyptischen Prinzen gestiftet, weit weg von menschlichen Behausungen, ebenfalls zur Kontemplation, Ruhe, vielleicht Ruhe, vielleicht auch Gebet. –

 

Wiedersehen mit Siena; mit San Gimignano. Unter den tragischen Türmen der kleinen Felsenstadt haben sich jetzt in vier neuen Hotels englische Misses angesiedelt. Die Krähen, die um die Türme zu kreisen und zu kreischen pflegten, sind auf und davon.

Zum erstenmal in Perugia. Der unerhörte Marktplatz. Hoch über dem Tor des Rathauses, das aus dem vierzehnten Jahrhundert stammt, hält der peruginische Greif und der welfische Löwe die im Krieg zurückerkämpfte Kette der Stadttore fest. Die Kette, Sicherung vor dem Feinde; die Kette, zurückerkämpft; so oder so, immer kämpft ein Volk um Ketten, einmal um alte, das andere Mal um neue, das ist der Sinn der Weltgeschichte. –

 

Wunderbare, heilige Landschaft zwischen Perugia und Assisi …

Pilgerscharen ziehen über die Straßen zum Dom des Freundes der Sonne und des Bruders der Tiere und Blumen. Im Vorhof des Doms lagern Abbruzesen. Wilde, verwegene, sture Gestalten. Sprechen ein Bergidiom, das außer ihnen kein Mensch in Italien versteht.

Ein deutscher Mönch führt uns durch den Dom, zur Krypta des Heiligen hinunter. Als mir die Bemerkung entschlüpft, das Grab und die Höhle erinnere mich an Bethlehem, entpuppt sich unser Führer als Kenner Palästinas. Im Krieg war er mit den deutschen Truppen an den anderen heiligen Stätten der Menschheit. Begeistert erzählt er von seinen Erlebnissen.

Noch oben, in dem kleinen Museum des Doms, vor dem geflickten Kittel Franziskus', der ein Mann von kleiner, schmächtiger Statur gewesen sein muß, nicht größer als ein Knabe, hält die Begeisterung unseres Führers für das Erlebnis des heiligen Landes an. Ist je ein Mensch durch den Aufenthalt an Stätten des Glaubens religiöser geworden, als er es schon von Mutterleib gewesen ist?

Der Umschwung in Francisci Leben, vom Weltmann zum Gottesmenschen, ist durch das Geschenk seines Samtmantels an den Aussätzigen bezeichnet. Jede Heiligkeit, das heißt Freiheit der Erdenkreatur, beginnt mit der Entäußerung des Besitzes, Aufgabe der Macht, Erlöschen des Triebes! Wie gut, arm zu sein! Keine Konflikte!

Lindbergh-Day

Elf Uhr nachts, am einundzwanzigsten Mai, klebt der Kasinodiener einen Zettel auf die Nachrichtentafel im Vestibül.

Lindbergh in Le Bourget angekommen!

Das Kasino wird alt, alt, die Marmorsäulen porös, biegen sich, die Decke verschiebt sich, die gemalten Genien der Lebensfreude bröckeln ab, fallen dem schläfrigen, verschwitzten Spielerpack auf den Kopf; hier und dort wankt aus der Tür einer, eine heraus, liest die Neuigkeit, schiebt sich gähnend wieder ins Jetongeklapper zurück, das mit dem beinernen Geräusch der Danse Macabre von den Roulettetischen emporsteigt, über den grünen Lichtern wie eine bleierne Wolke kreist.

Lindbergh angekommen. Rien ne va plus. Le Zéro. Die Bank hat gewonnen. –

Stuck, Bronze, Plüsch, alte klapperige Kolonels aus den britischen Kolonien, ins Leben zurückgeschminkte Kokottenleichname mit Retikules, in denen sich etwas bewegt: ein überfüttertes King-Charles-Hündchen … Lindbergh hatte einen Hühnerknochen als Talisman in der Tasche, er spielte mit dem Leben, diese nur um Papier, ihre letzte Hoffnung in dem nicht rasch genug zu Ende gehenden Dasein. –

 

Monte Carlo ist sozusagen ein Denkmal der Vergangenheit. Wäre es möglich, diesen weißen Serail zwischen der Felsenstraße der Corniche und dem allzu blauen Golf, einer Postkartenschönheit, im Stil des heutigen Tages, etwa von Wright, Taut oder einem der Holländer, die begriffen haben, was Luft und Sonne, Kühlanlage und Telegraphenstation im Verhältnis zu den Ecken und Angeln eines Hauses bedeuten, neu erbauen zu lassen?

Es spielen an den Tischen aber, hier und dort, noch junge Menschen. Man sieht hier und dort aus der Menge aufleuchtend, noch in der unteren Hälfte eines zu tiefen Busenausschnitts blendend frisches Hautdreieck, das zum oberen, sonne-, wind-, speedgebeizten Hals, Kinn und erregten Gesicht anmutigen Kontrast stellt. Aber die Künstlichkeit der seit undenklicher Zeit ungelüfteten Katakombenleidenschaft, auf die hüpfende Kugel über dem andersherum kreisenden Zahlenrad konzentriert, wischt alle Zeitbestimmung, Licht und Farbe, sogar das heitere Mitleid angesichts dieses unbewußten Dahinwesens ins Nichts hinunter, weg, spült alles in den hohlen, gurgelnden Abgrund der verflossenen Dinge.

Zwischen Börsenkursen, ephemeren Namen der Politik und Mode leuchtet draußen, im Vestibül, die Tatsache auf: Überwindung von Zeit und Raum durch Energie, wahnsinnigen Übermut der unkomplizierten Natur – Gegenwart!

Stationen in der Provence

Gascogne? Languedoc? Vorbei. –

Dieses Land: weiße Felsen wie gebleichte Skelette ausgestorbener Vorwelttiere, mit Kaskaden von wildem Ginstergebüsch herunter zur geteerten Fahrstraße, erinnert mich an die Berge zwischen Jaffa und Jerusalem. Dort ist das Gelb: Mimosen!

Steinige Höhen, wie in der Bibel.

Die Päpste, als sie über diese Wege in die Verbannung zogen, dachten sie an Judäa, an Galil? Sie kannten das Heilige Land nur vom Hörensagen, ja.

Jetzt ziehen Zigeuner, in Karren, von Kleppern gezogen, über den Teer; gestern war unten bei Cette das Fest ihrer schwarzen Madonna. Der Brauch wird durch materielle Nöte abgetötet. Von Jahr zu Jahr wird die Prozession kürzer, kürzer. (Bis aus der Normandie kommen Familien, um den Segen zu empfangen, hergereist. Die hier vor uns, glühende Augen aus dem Schatten des zitternden Plachendachs, sehen wie unsere ungarischen aus.)

Am Straßenrand kocht ein Stamm ab. Baubo hockt breitbeinig auf einem niederen Korkeichenstumpf. Nicht weit vorn steht ein Automobil, verlassen, da. Das Pärchen hat sich wohl im Walde verirrt, düsterer Wald, heller Wald, grau und ginsterfarb …

 

Glühender Mittag zittert um uns. Vor Fréjus holen wir einen Trupp Kolonialsoldaten ein; schon von ferne: Schall; une fanfare! Trompeter auf Übungsmarsch. Schmutzigbräunlicher Khaki, olivenschwarze Haut, Gesichter und Hände, die Blechtuten wagrecht glitzerndes Weiß, die Musik: dunkelrot, das jählings kanariengelb spitz nach oben schießt. Hinter uns verweht schnell ein Fetzen Ton.

 

Avignon. – Nichts zum zweitenmal sehen wollen! Städte nicht (außer etwa Paris, Wien), Stätten nicht, vielleicht: Menschen nicht!!

1914 im Januar: der riesige, plumpe Fels des Päpstepalastes mitten hinein in das Gewimmel niedriger Provinzstadthäuser gestellt. Heute: als ob er kleiner geworden, die Umgebung gewachsen wäre …

Bewegung in den einst still verschlafenen Straßen. Warenhäuser, Marmorfassaden, englische Überschriften … das Hotel, in dem wir wohnen, pikneu, talmiamerikanischer Komfort, Fremdenindustrie, dabei funktioniert nichts; am anderen Ende der Stadt im alten Gasthof schwingt hoffentlich die Glashalle noch von den zwölf Reihen knarrender Schaukelstühle …

Vasseur, der alte Dichter, Félibre, aus der Körperschaft ausgestoßen, obzwar Mistral sein Freund, macht noch, wie vor dreizehn, wie vor dreiundzwanzig Jahren, den Führer durch den Palast; aber er frühstückt gerade. Auch hier taugt der Nachwuchs nichts. Der unsere, der durch alle Säle und Kapellen, treppauf, treppab, nur an sein Trinkgeld denkt, ekler Anreißer, junge Eleganz; gäbe es hier Nachtleben, dafür wäre er wahrscheinlich kompetenter.

Der alte Vasseur dagegen: ich habe zu Hause noch die Karte mit seinem Bild, Klagegedicht (wegen des Ausschlusses) im klassischen Provenceau!

Wieder einmal war der Fels, der Palast, dieses Wunderwerk, Zwingburg des Mittelalters: Kaserne. Von 1914 bis 1919: Kaserne. Restauriert, renoviert, Kalk, ausgebesserte Stiegen, Wasserleitung – hinter all dem, verschwindend, die spärlichen geretteten Freskenfragmente …

Plötzlich erwacht, innen, im Herzen, im Gehörgang des Ohrs, ein Rhythmus, Melodie … was? woher?

Ich bleibe in der Kapelle zurück, lausche in mich … da dämmert es, kehrt zurück … vor dreizehn Jahren, die beiden holden jungen Amerikanerinnen, mit ihrer alten Mutter, sie ging, von Vasseur galant gestützt, voraus, während ich mit den Mädchen über Aucassin und Nicolete sprach, das alte, verträumte, süße Liebespaar, das hier gelebt hat, hier irgendwo zwischen den Türmen …

»Aucassin ist fortgegangen …« die kleine primitive Melodie, das Herz hat ein gutes Gedächtnis, noch regiert es über Zeit und Raum, Willen, Verstand und den Lauf des Geschickes! – –

Vaucluse: die Quelle zwischen den hohen Felsen: Petrarcas Sonette, aus der Verbannung, an Laura. Noch quillt das Wasser, tief grün, zwischen Gebüsch, unter hohen Bergwänden hervor.

Das Gasthaus, unmittelbar an die Quelle hingebaut: »à la renommée des écrevisses«; weiter unten treibt das strömende Wasser eine Papiermühle. Also doch: Papier?!

Es ist nur: Zigarettenpapier. – Vaucluse, eingesperrtes Tal. Lauras Schatten über den kleinen Wellen, die sich im Fall wie Glassträhnen voneinander lösen, klar, kristallen.

 

Carcassonne. – Irgendwo, in einem amerikanischen Reisebuch, »Satchel – guide of Europe«, oder in einem Reiseprospekt dort drüben muß Carcassonne (sprich: Kâ'ksn) drei Sterne bekommen haben!

In der ovalförmigen, hochgebauten alten Stadt, die von doppelten Wällen, dreiundfünfzig dicken, runden Türmen umgeben, steht ein amerikanisches Hotel: exzellentes Essen, berühmtes Management.

Die Türme: Turm der Inquisition, Visigotenturm, Albigenserturm, Türme aus allen Jahrhunderten, jeder seine eigene Art Befestigung, Verliese, Eingemauerte, schweigende Zisternen, Kampf, Qual, Rache und Wiedervergeltung; die Weltgeschichte – wofür? Pour aboutir à quoi? Garagen, Pensionspreis, bengalische Nachtbeleuchtung, Reklametafeln für Benzin: hie Shell, hie Lampo, in Führerhandbüchern: Welf und Ghibelline, Cocktails und Flirt, alles, die Jahrhunderte, Wehr, Qual und Blut: für Omaha, Cedar Rapids, Little Rock (Kansas), Pittsburg (Pa.), Brooklyn, Culwer City usw.

Ein halbes Jahr später in Omaha, Cedar Rapids usw.: »Yes, we have been at Kâ'ksn. Und we have seen Avignon. Pretty.« (Sprich: p'ty!).

Der Name stammt von Carcasse her, Leichnam, Aas. –

Im Dom, hoch oben zwischen den Wällen der Cité, wunderbare Fenster, bunt, himmelsbunt wie nur noch in Chartres, in der Kathedrale von Chartres.

Das heilige Kaleidoskop der Wimperge …

Unten, in den abschüssigen Straßen, ein Laden mit der Aufschrift: »Au temps passé.«

In einem Rinnstein spielen lärmende, rohe Jungen, eine schimpfende, fingerschneuzende, zigarettenrauchende, bettelnde Brut; mitten unter ihnen sitzt ein kindischer Alter, in blauer Bluse und mit Holzpantinen, und rollt eine winzige Blechlokomotive über die Pflastersteine.

Auf der Plattform vor dem Osttor, Porte Narbonnaise, über der neuen Stadt, über dem weiten, fruchtbaren Tal des wunderbaren südlichen Landes tanzt ein kleines, halbwüchsiges Zigeunerluder vor unserer Maschine, wirft die Hüften, zwinkert, streckt uns Hände und Brüste entgegen.

Der Motor springt an, vor Abend müssen wir in

Lourdes

sein.

Am Abend ist die Zeit um vier Jahrtausende zurückgeschraubt. –

Tausend Regenschirme und mehr Kerzenfackeln schwanken die Rampe zum Dom des Rosenkranzes empor.

In wieviel Sprachen tönt die Hymne zum Regenhimmel, zur blau, rot und weiß illuminierten Kirche empor …

»Sur cette colline, Marie apparut,
Au front qu'elle incline, Rendons le salut.
Avé avé avé Mariâ …
Avé avé avé Mariâ.«

Die Melodie ist die eines Kinderliedes. Bei den betonten Silben des Refrains heben sich die flackernden Kerzen rhythmisch über die Regenschirme.

»Vierge immaculée, Ah! priez pour nous,
Je veux chaque année Revenir vers vous.
Avé avé …«

Chaque année … (praktische Leute!). –

Der Kölnische Lourdes-Verein hat vier Eisenbahnzüge hierher geschickt. Die Stadt Tournai ebensoviel. Die Londoner National Society of Our Lady of Lourdes einen Zug voll Kranker. Aus Kanada, aus Italien, Griechenland, Spanien … eine Internationale, die wirkliche Internationale der Kirche, der gläubigen, auf das Wunder hoffenden, hilflosen, schmerzensreichen Menschheit.

Wo sah ich solche Lourdes, auf meinen Wegen?

Zuletzt in Benares, im Gangesschlamm. – Zuletzt in Moskau, vor dem gläsernen Sarg Lenins, hundert Schritte weit von der Kapelle der Iberischen Mutter Gottes. –

Wundertätiger, heilender, heiliger Glaube, einzig rettende Wahrheit in dem Trug dieser Welt. Lachet nicht. Entrüstet euch nicht. Weise kehrten an der Schwelle ihrer Verklärung zum primitiven Ursprung ihres Kindergebetes zurück. Es muß etwas daran sein. Es muß etwas daran sein. –

Die Kirche steht über der Grotte von Massabielle, in der das Dorfkind Bernadette Soubirous 1858 zu wiederholten Malen die Jungfrau erblickt hat. Als die Jungfrau, nur von Bernadette gesehen, Bernadette zum siebzehntenmal erschien, standen Hunderte um die Grotte und sahen voll Grauen, wie die Flamme einer Kerze zwischen den verkrampften Fingerspitzen der Verzückten flackerte, ohne die Haut zu versehren.

Seit Charcot hat auch dies einen Namen. Er erklärt nichts.

Raubt den Menschen nicht das Unerklärbare. Auch Ihr, schwarze Gestalten auf allen Wegen – raubt den Menschen nicht das Unerklärbare!

 

Die Grotte ist ganz verräuchert. Ein Kerzenbaum flackert, tropft, immer erneuert, durch Opferstamm, Opferzweige, Stearinäste und Flammenknospen stetig genährt. Davor kniet die Menge. Viele singen. Viele stoßen die Stirn an dem geweihten Boden, auf dem jetzt Pfützen stehen. Viele küssen den Stein vor dem Höhleneingang. Eine junge Engländerin hat Kerzenstümpfe, Rosenkränze, Kruzifixe in einem Sack mitgebracht, streift mit all diesem langsam und eine Litanei murmelnd den verräucherten Stein. Menschen in England werden davon stiller atmen, ruhiger schlafen, lächeln vielleicht und für eine Stunde ihr Weh vergessen.

Viele knien, nicht mit auf die gefalteten Hände demütig niedergeneigtem Kopf, sondern mit erhobener Stirn, die Arme weit ausgebreitet, in der Haltung Christi am Kreuz. Die rechte Hand umpreßt krampfhaft den Rosenkranz, die linke ein Fläschchen mit dem Wasser der Quelle, die unter der Grotte fließt.

 

Am Ganges, bei Sonnenaufgang, knien sie so, die Arme wagrecht ausgestreckt, die Rechte hält das Büschel heiligen Grases umkrampft, die Linke ist in einem Säckchen versteckt, darin Kugeln die Namen des Endlosen bedeuten. –

In Jerusalem schieben sie brennende Kerzlein zwischen die Quadern der bröckelnden Klagemauer. –

Leise wispern, zischeln die Kerzenblumen des hohen, vielästigen Stearinbaumes.

 

Nachmittags kommt eine lange Reihe von Tragbahren, Krankenwagen aus dem Hospital »Notre Dame des Douleurs« zur Grotte heruntergefahren, zur Zisterne heruntergefahren, in der schon Todgezeichnete gesund geworden sind.

Vor dem Eingang zu den Bädern gehen Priester auf und ab. Die Kranken werden aus den Karren, von den Bahren gehoben, behutsam in das Haus getragen. Die Priester rufen:

»Priez pour eux!«
»Bitt' für uns!«
»Pray for us!«

Im kalten Quellwasser unterzutauchen, ist gefährlicher als im gewärmten, aber die Gnade ist im kalten im Naturzustand, daher wird das kalte Bad vorgezogen. Das Wasser wirkt Wunder.

Der Glaube wirkt Wunder. Der katholische Glaube wirkt Wunder.

Ich glaube nicht, daß etwa Frau Silberstein aus der Grenadierstraße durch ein Bad in der Lourder Quelle von ihrem Gliederreißen geheilt werden könnte. Also ist das Wunder doch nicht wunderbar genug …? –

 

Unweit von Basilika, Grotte und Zisterne eine Tafel:

»Veillez sur vos portemonnaies.«
»Beware from pickpockets.«
»Vor Taschendieben wird gewarnt!«

Der Familie Soubirous, die hier die Rolle spielt, wie die Familie Wagner in Bayreuth, gehören Hotels, Kerzenläden, Läden mit Andenken. Auf meiner vielgeprüften und vielbeklebten Handtasche prangt seit dem Himmelfahrtstag unter den Worten »Hotel Moderne« der Familienname der seliggesprochenen Bernadette.

Die ganze Stadt ist ein Basar. Die Franzosen haben ein gutes Wort für die Waren, die hier feilgehalten werden. Sie nennen sie: »Bondieuseries«. Gottesramsch.

Daß Glaubenstiefe sich mit Kitsch paart, macht mir erstere nicht verdächtig, letzteren sympathisch. Laßt die Kunst sich an anderen Gefühlen vergreifen. Seit hundert Jahren haben wir kein Bild, kein Bildwerk mehr, in dein ein Künstler seinen Glauben in Christo, an die Madonna, der Dreifaltigkeit Gestalt für alle Zeiten besiegelt hätte.

(Später sehe ich in Paris das remarkable Gemälde eines jungen Mannes, der sich zur Schule der Sürrealisten bekennt: die Jungfrau hat den Knaben Jesus, dem bei dieser Gelegenheit der Heiligenschein vom Lockenköpfchen gefallen ist, übers Knie gelegt und holt mit der Hand zu einem tüchtigen Schlag aus, während aus einem Loch in der Mauer drei ernste Montparnasse-Gesichter der Prozedur zuschauen. Warum nicht? Diese Generation allein konnte auf solch einen Gedanken kommen!)

 

Stundenlang bleibe ich unten vor der Zisterne stehn, wo die Krankenwagen sich aneinander reihen.

Die da warten auf das Wunder. Ultima ratio. Das heißt, nach Fehlschlag aller Ratio, auf das Letzte, Göttliche, das Irrationale. Wer dürfte diesen da ihren letzten Glauben zunichte machen?

Eine wunderbare, wachsbleiche Engländerin liegt da, die himmlisch-blauen Augen der Wassersüchtigen zum Himmel emporgewandt, der grau auf sie hernieder schaut. Zwei junge Engländer, flach ausgestreckt, auf federndem Tuch, Rückenmarkkranke, der eine ein Proletarier offenbar, der andere, mit von Leiden gedunsenen knabenhaften Zügen, einen Leinwandgurt mit Metallschnalle um die Stirn; dieser ist der schwerere Fall; um beide bekümmern sich viele; der Proletarier zieht, während der Platz von Litaneien widerhallt, ein Gesangbuch hervor, der mit dem Gurt aber blickt an allen vorbei, seine Augen suchen Leere, einen Ort, wo niemand steht. Und doch: unter den Berichten von wunderbaren Heilungen in Lourdes stehen solche, die die Pottsche Krankheit, Rückenmarksentartung, -verletzungen betreffen, an erster Stelle!

Man muß Zola lesen, Huysmans lesen. Beider Bücher sind in Lourdes nicht zu haben. Man muß aber auch »Les faits de Lourdes« lesen, von Dr. A. Marchand, Président du Bureau des constatations médicales de Lourdes; préface de M. le Chanoine Duplessy. All das gehört zu Lourdes, wie zu unserem Leben, zu unserem Tag.

Lindbergh gehört zu unserem Tag, und Lourdes gehört zu unserem Tag. Das rollende Glücksrad in Monte Carlo und die Zisterne mit den kalten und gewärmten Bädern. Zola und Mr. le Chanoine Duplessy, alle beide gehören zu diesem berauschenden Dasein, das von Leiden und Entzückungen, Entsagung und Kühnheit, Willensströmen und Zufallsfügungen, von Leidenschaft, liebe, Angst und Gefahr übervoll ist … wie die Atmosphäre um uns voll ist von Licht, Schall, Gesang, den nur der Kristall vernimmt, Schluchzen der Herzen und Glanz des Abbilds, die noch auf Erweckung warten … voll ist die Welt und das Leben von geheimnisvoller Gottesnähe.

Oh, alles ahnen, trinken, aufnehmen können, Gutes und Böses, das ganze Geheimnis der Welt – ehe sie entschwindet, alter Mann, ehe sie dir entschwindet …

Während ich stehe, schaue, lausche, lebe, hat sich Volk angesammelt; Bauern, Bäuerinnen, Pilger und Landvolk aus Basken und Béarn.

Nicht weit von mir kniet eine elegante Frau, mit ausgestreckten Armen, in der schon beobachteten Haltung des Gekreuzigten. Sie ist nach der neuen Mode gekleidet, zu kurzer Rock, Seidenstrümpfe, enger Hut, das Gesicht übergeschminkt, die Lippen zu rot. Vor sich hat sie eine Tasche aus gesprenkeltem Kalbfell, darauf ihr goldenes Lorgnon, Gebetbuch, Rosenkranz. Mit geschlossenen Augen, auseinander geworfenen Armen kniet sie. Der Boden ist naß, sie hat ein Gummikissen unter die Knie gelegt. Leise murmelnd bewegen sich ihre zu roten Lippen.

Priez pour nous. – –
Priez pour nous. –

O Vierge Immaculée, priez pour nous, misérables pecheurs …

Notizen bei einem Stierkampf in Bordeaux, am Pfingstsonntag (dessen Schilderung ich mir schenke!)

Statt nach Bilbao, von Biarritz nach Bordeaux gefahren. 175 Kilometer hin, ebensoviel zurück.

Lohnt das? Sechs Stiere fallen, ein Pferd. –

Die Pferde tragen Lederpanzer um den Bauch, eins wird vom Stier trotzdem zwischen den Hinterbeinen aufgespießt. –

Der berühmteste von den drei Matadoren heißt Facultades, ist offenkundig schlecht aufgelegt, eine faule Orange trifft ihn im Genick. –

Die beiden anderen müssen Hüte und Schirme, die ihnen Begeisterte aus den Rängen zuwerfen, elegant und lächelnd zurückwerfen. – Martinez, ein Stern erster Größe. –

Wir sitzen auf den Plätzen der Amateure – der Aficionados. – Benimmt sich ein Stier feig, will ausreißen, gleich recken sich von unserer Seite gestikulierende Hände zur Präsidentenloge hinauf, protestierend, weil der Stier klüger ist, als die Menschen es sind. –

Will ein Stier kneifen, gleich erhebt sich aus den Zehntausenden der Schrei: » Fuego!« Das heißt: »Feuer!« Etwa: »Gib ihm Saures!« Das heißt: man soll das Tier mit Explosivbanderillos spicken. Was aber nicht geschieht. –

Facultades, phlegmatisch, stößt dem Stier den Degen zweimal falsch in den Rücken, muß zweimal den Degen herausziehen, das Tier blutet vorn zwischen den Vorderbeinen, zum Erbarmen, es ist, als pisse es an der unrechten Stelle. –

Kissen fliegen dem Matador an den Kopf. Klägliches Geheul des Stiers, dem ein dumpfer Laut von den Rängen wie unterdrücktes Mitleidsgebrüll der Menge antwortet. –

Viele Frauen. Kein Ohnmachtsanfall. Ich erinnere mich: vor vierzehn Jahren, in Gibraltar – La Linea, war es aufregender, mehr Kunst Geschicklichkeit. –

Carlottades – das heißt Neckereien, Chapliniaden, ehe der Stier getötet wird, wie jetzt in Spanien üblich, in Frankreich verboten. Fehlte gerade noch! –

Unfreiwillig komische Episode: ein Kerl mit Degen unter grauer Sackleinwand springt in die Arena, will sich mit einem Schlage berühmt machen, schon packen ihn Fäuste der Professionellen, werfen ihn über die Barriere in den Zuschauerraum, wo er zunächst Ohrfeigen einheimst, sodann von der Polizei in Empfang genommen und abgeführt wird. –

Draußen, am Eingang der Arena, eine Tafel: »Vivent les libertés régionales!« – (Zu denen die Befugnis gehört, im Süden, der das braucht, Corridas abzuhalten.)

Feststellung: auf dem Heimweg, dem Weg zur Garage, wo IA 4604 auf uns wartet, streckt sich mir eine verwachsene, bläulich gedunsene Bettlerhand mit gelben, schmutzigen Fingernägeln entgegen. Gleich dreht sich mir der Magen um, versucht, zu speien. Das Blut im Zirkus hatte keinen ähnlichen Effekt! –

Mit Scheinwerfern um halb elf wieder in Biarritz. –

Baskenland

Und nun nähert sich diese Reise ihrem Ende, und auch dieser Bericht wird bald abgeschlossen sein. Wir haben bereits nahezu 5000 Kilometer zurückgelegt, und ich müßte eigentlich für meinen eigenen besonderen Motor Essenz aufnehmen, den Mund recht voll nehmen, um dem Leser zu guter Letzt noch eine gediegene Abhandlung über Land, Sitten und Gebrechen des Baskenvolkes, dieser Nachkommen der Lakedämonier zu versetzen. Aber ich pfeife mir eins, was man mit vollem Mund nicht tun kann; dieser Bericht soll so flüchtig und beschwingt wie möglich enden, ach, das Bleibende im Leben ist ja die rasche Veränderung des Zustandes, des Aufenthaltes, das stete Auf und Ab der Kilometerzahl in allen Lebensstunden, der Schmetterlingstrieb des Menschen, den mein alter guter Meister Fourier erkannt hat und dem mancher erst spät gehorcht, mancher erst, wenn's zu spät ist, die meisten … nie.

Dank, heißen Dank, daß mir dieses Rabengekrächz Nevermore nicht im Ohr geklungen hat, mein Leben lang nicht, jetzt, Pfingsten 1927, am wenigsten. –

Früh am Morgen treten wir vier, ich auf meinen, Doktorchen auf seinen Balkon und Fritz und Stephanie auf den mittleren. Dann sehen wir uns lachend an: ein Gottesgeschenk … Sonnenmorgen über der Bai von Biscaya. Das smaragdene Meer rauscht zur Terrasse des phänomenalen Hotels herauf, in dem wir wohnen. Ein ausgehöhlter Felsen, braun wie verrostetes Eisen, bröckelt vom Wogenanprall, bröckelt so, wahrscheinlich seit hunderttausend Jahren. Ach, wir haben Zeit …

Draußen zieht eine Jacht über den Atlantik, weiße Segel zerschmelzen in der Sonne, wie ein Herz im Segen des Glückes. Welch ein schönes Quartett von Lebensfreude ließe sich auf diesem Balkon, in dieser Stunde singen … Ich begnüge mich, über das Gitter, das meinen Balkon vom Nachbarbalkon trennt, Fritzens, des Freundes Hand zu erfassen, zu drücken …

Biarritz ist noch leer, es ist leer zwischen zwei Saisons; gut so; die Stadt, dieses ganze Luxusnest, dieses Boudoir mit zwei Badestränden wird um und um gebaut; alle großen Schneider, Parfümfabrikanten, Juweliere usw. der Rue de la Paix in Paris haben hier auf kleinstem Raum ihre Paläste aufgeschlagen … die Saison muß fürchterlich sein!

Unser Hotel, ein Palast, trägt noch die Initialen des dritten Napoleon und seiner Eugenie. Im Korridor meiner Etage hängt vor einer Tür die Golfjacke eines Mitbewohners, Universitätsstudenten aus Oxford, was an dem aufgenähten Schild der Jacke zu erkennen ist: »Ora et labora.« Tu parles. Ora et labora – in diesem Hotel! Der reine Hohn! –

Im übrigen sieht man an Tagen, wie dieser einer ist, bis nach Spanien hinüber. Berge sonderbarer Formation erscheinen, unausdenkbar weit, am Horizont, der vielleicht gar keiner ist, sondern schon Wolke, transparentes Paradies.

Männer mit dem kleidsamen flachen Barett, der Boina, gehen unten vorüber, reden eine unverständliche Sprache, aus der mich nur zwei oft wiederkehrende Worte interessieren: etche, Haus, und goien oder garay, Höhe; auch irri heißt auf baskisch etwas, was, weiß ich nicht mehr; Irrigoyen, Etchegaray, ein kräftiges, untersetztes Volk, Gebirgsvolk, blutrote Nacken, kurze Beine, Fäuste, mit denen es, ohne Holzhandschuh, stundenlang Pelotabälle an eine Mauer feuern kann.

Jenseits Fuentarrabias, der Bidassoa, beginnt Primo de Riveras Reich, Diktatur Nr. 2 auf dieser kurzen Reise. Wie lautete der Vers, den wir in Moskau gesungen haben? Ich erinnere mich nur an:

»Mussolini, de Rivera – wahrlich, eine nette Ära!«

 

Mit einem einzigen Visum kann man nur ein einziges Mal nach und aus Spanien heraus – daher beschränken wir uns auf San Sebastian. Es ist leer wie Biarritz; der Strand heißt »die Muschel«, la Concha, ist von zwei Felsenkegeln, Igueldo und Urgull, eingefaßt, zwischen denen eben zwei niedliche Kriegsschiffe, Kreuzer unter schwedischer Flagge hereingefahren sind. Salutschüsse!!

Später sehe ich den schwedischen Kommandeur, blau und gold, lang, X-beinig, mit dem spanischen Garnisonkommandeur, klein und braun wie ein Affe auf einer Drehorgel, mit ähnlicher Uniform, purpur, hellblau, gold, Goldschnüre, Tressen, Epauletten, Gold, Gold, an der Landungsstelle Empfangszeremonien abhalten.

Die Kirche Santa Maria hat eine düster herrliche Jesuitenbarockfassade mit einem heiligen Sebastian aus Stein, Ephebe, wie von Sodoma, der sich unter den Pfeilen wollüstig zu winden scheint. Die Bondieuserien in den Kirchen und Läden nicht so sanft und azurblau wie in Lourdes – plötzlich spanisch, düster, grausam, blutig, fast geil in der Überbetonung von Wunden, Schmerz, zerrissenem Fleisch, eiterndem Herz. Katholisch – erotisch – Stierkampf – Pietà. –

An die Concha, die eleganten Hotels des Strandes, ein Gefängnis eng angebaut. Sensationen up to date??

Ein geschlossener, viereckiger Platz in der Stadt aus alten, hohen, ganz gleichhohen Häusern mit Eisenbalkonen heißt Plaza de la Constitucion; hohe, grüne Türen, in allen Stockwerken, numeriert mit großen, schwarzen Zahlen, weil hier Zimmer vermietet wurden, für die Feierlichkeiten unten auf dem Platz; schade, schade, keine Autodafés mehr, schlechte Geschäfte! –

 

An der Alameda dann der Massenauflauf um unseren Wagen; schon erwähnt; was noch? Ach, nichts, morgen, übermorgen geht es ja schon zurück, zurück …

Ein Blick, von der Bidassoa, nach dem wie eine Krone vielgezackten Berg Haya, dann sind wir von der spanischen Seite des Baskenlandes wieder auf die französische hinübergewechselt, und nun kann die Heimfahrt beginnen.

Schluß

Wie war doch das? Irgendwo, zwischen Biarritz und Tours, stiegen wir aus und photographierten uns gegenseitig. Herzlichen Glückwunsch zum 5000-Kilometer; Shakehands mit I A 4604, brav gemacht, gute Maschine, brav!

Dann die letzten fünfzig Kilometer, von Orleans nach Paris. Traurigkeit – dies nun zu Ende! Nur mehr dreißig, zwanzig, nur mehr zehn … in der Ferne plötzlich, der Eiffelturm … und wie ein Erschrecken fährt es durch die Glieder: Paris!! Wenige Augenblicke nur, und dann wieder Paris! Die Geliebte der Jugend, die nie untreu gewordene, einzig geliebte Stadt …

Diese Reise zu Ende … aber ist denn etwas zu Ende, kann etwas je zu Ende sein, in diesem Leben, dieser Welt? Alles ein neuer Anfang, immer und unendlich neu und immer aufs neue beglückend.

In Paris trenne ich mich von den Freunden, dem Wagen, von diesem Flug durch die bezaubernde Weite. Sie kehren nach Berlin zurück, ich aber stehe wieder, wie vor siebzehn Jahren, an meinem Fenster in dem alten Hotel am Quai Voltaire … unten schießen die kleinen Schiffchen über die Seine, über den Pont du Caroussel, den Pont Royal laufen die hurtigen Taxis, das Louvre, drüben die Tuileriengärten, und dort hinten der dröhnende Atemzug der Rue de Rivoli, Paris …

Nebel verziehen sich, die Sonne kommt hervor, die Kuppel des Instituts verdeckt den Doppelschatten der Notredame-Kirche nur unvollkommen. Zwischen den Türmen tut sich das Helle auf, der mystische Abgrund, von Ungeheuern belauert, bespien, die Jahrhunderte überdauernd …

 

Paris, das Leben, Freundschaft, Jugend, nichts nimmt ein Ende. Fernher braust, dröhnt, funkelt es von neuen Abenteuern, kaum erfahrenen Gefühlen, nie geträumten, schönen Worten, die erwachen wollen, schönen Worten, im Pochen des unstillbaren Blutes vernehmlicher, deutlicher, deutlicher …


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