Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Monte Carlo

Stirn Monte Carlos

Zwei riesige Arme greifen im Osten und Westen tief in das Meer hinaus, biegen sich auf dem grünen Spiegel nach innen zu, wie zwei Arme, die auf einem Tisch etwas zusammenraffen und für sich behalten wollen: das sind die Landzungen Kap Martin und Kap Ferrat. Mitten zwischen ihnen ruht auf übereinander getürmten Terrassen, aufgestützt wie ein steinernes Haupt, die Spielbank mit ihren beiden spitzen Türmen, die sie wie Hörner überragen. Mit glitzernden Fenstern brütet das Ungeheuer aus tropischen Gärten, Blumen und Büschen, die es behaaren, hervor, glasig glotzend aufs Meer hinaus. Unten, wo das Kinn des Fundaments sich in einen vorspringenden Felsen verbohrt hat, flattern Tauben aus unterirdischen Verschlagen auf, erheben sich einen Fuß breit über den Boden, schlagen sofort nieder, von den Kugeln der berühmten Taubenschützen getroffen: dem giftigen Hauch, den das Ungeheuer durch den Felsen bläst.

Zwischen die runden klopfenden Knalle der Flinten ziehen die gedehnten Pfiffe der Lokomotiven schwarze ungleiche Verbindungsstriche; ein paar Stufen hoch über dem Taubenschießplatz entladen sich die Züge aus dem Osten und dem Westen ihres Menscheninhalts – aus allen Herrgottsländern strömt, strömt es herbei, das Geratter der Hotelomnibusse übertönt geschickt das Geknall dort unten, rasch führen die angekurbelten Maschinen die Opfer des Ungeheuers nach allen Seiten weg ins Land hinein.

Uber den Terrassen der Spielbank, wo der Berg zu den herrlichen Kuppen des südlichen Alpenlandes emporsteigt, leuchten schlanke Villen, glühen Flecke aufgelöster Sonnenfarben, drängen sich, vom Nimbus flimmernder Oliven umgeben, bunte Mosaiksteine kleiner Niederlassungen aneinander. Der Berg, das ganze Land ringsum erinnert sofort an dieses und jenes mit Inbrunst bewunderte Gebiet des Erdballs – da stehen mit einem Male Meeresküsten mit stufenförmigen Vignen, Waldgipfel aus mannigfarbigem Laub getürmt, Rebengelände, die in fruchtbare Täler hinabschauen, vor der Erinnerung, Landschaften, die ein volles Gelächter der Freude erregt, einen herzlichen Gedanken gerade emporgeleitet haben, unbekannt wohin, nur als Dank gedacht für das weise und gütige Geschenk, daß einem die Fähigkeit verliehen worden ist, Schönheit zu erkennen und zu fühlen, inwendig.

In Landschaften wie dieser hat man Kirchen, Dome, große kahle vielfenstrige Gebäude stehen sehen, in denen, so heißt es, gebetet wird und gesühnt. In Landschaften wie dieser legt die Natur dem nur mangelhaft Gläubigen, nur in spärlichen Mußestunden an Gott Denkenden einen Finger ans Herz, einen pochenden leisen oder lauten Finger – dieselbe Natur, die in den Brüdern die Ekstase entflammt, den Beruf zum Lobsingen Gottes so hoch schürt, daß der Himmel gar nicht anders kann, als ganz dicht herniederzukommen bis in die Kirchen, Dome und Klöster. Das ist eine Auslegung des Epikureertums der Orden durch einen freundlich gesonnenen, ahnungslosen Laien. Eine Landschaft wie diese am südlichen Meer, voller Wunder der Schöpfung, aber mit dem bescholtenen, verrufenen, verpönten Namen, mit lasterhaften Villen, versteckten Häusergruppen, prahlerischen Karawansereien, legt die Vermutung nahe: vielleicht baut der Glaube Betstätten nur zu dem Zweck an die schönsten Orte der Welt, damit der große Pan aus seinem sichersten Versteck, wo die Natur alle Hebel der Sinne in der Hand hält, hinausgetrieben werde!

Alle gangbaren Glaubensgemeinschaften haben ihre Kapellen zwischen die Lorbeergebüsche, Blumenhaine, Hotelalleen und verschwiegenen Seitengäßchen Monte Carlos hineingepflanzt, und wo sich Gläubige gefunden haben, haben sich natürlich auch Priester gefunden. Auf fetten, mit Zucker dick bestreuten Pfründen lebt sich's da herrlich wie irgendwo in der weißen Wolle des Lammes. Einer steigt die gewundene Treppe zur Kanzel am Sonntagmorgen in die Höhe, schlägt auf das Buch und schließt die Augen zu, um sich im Herrn zu sammeln. Zu seinen Füßen blättern klapperige, ringbeladene Finger in den Seiten der goldbeschlagenen Gebetbücher; man hört ein Knistern in den Bankreihen, die Finger blättern ungelenk, sie sind an Mischen gewöhnt und an das Herumwenden steifer Papierblätter; kleine Goldcrayons streichen die Nummern der Gesangstexte an, falls diese unter der Zahl 36 bleiben. (Der Hirt sorgt schon dafür, es hebt die Popularität!) Heiße Gebete steigen empor, rasch und leidenschaftlich, um Chancen, Goldhaufen, Bündel von Banknoten, eine Nummer soll herauskommen, lieber Gott, möglichst eine einzelne Nummer und nicht eine Transversale, lieber Gott, möglichst noch vor dem Mittagessen …

Auf dem Weg von der Kirche zur Spielbank braucht die Betschwester weder ihre Sinnesart noch ihr Exterieur zu verwandeln. Die Spielbank selbst befleißigt sich des üblichen Barocks, der den Stil der Jesuitenkirchen in Italien, Österreich, Südfrankreich kennzeichnet; Stuck, Brokat, Bronze, Marmor, gernegroßer überbürgerlicher Galastil, Feierlichkeit, die auf den erhöhten Lebensaugenblick zugeschnitten ist, das unerreichte Muster befindet sich noch immer in der verschwiegenen Pariser Rue Chabanais.

Man versichert, in der guten Zeit des Jahres und das ist die, in der ich angekommen bin, stehen in den Prunkräumen der Spielbank unentwegt zwanzig Spieltische in Aktion. Sicher treten jetzt, zugleich mit mir, Leute ein, die verzückt herumgehen und zählen werden, ob's wirklich zwanzig sind oder gar mehr? Nur an wenigen Tischen wird das Kartenspiel Trente-et-Quarante gespielt, an der Überzahl Roulette. Ehe man sein erstes Fünffrankenstück aus der Tasche gezogen hat, staunt man und wundert sich darüber, was in aller Welt an diesen Spielen interessant und spannend sein könnte außer der Frage: werde ich meine Hand mit zwei Fünffrankenstücken belastet oder leer wieder in die Tasche zurückstecken? Schon bei flüchtigem Hinsehen erweist sich Trente-et-Quarante mit seinen langweiligen, immer wiederkehrenden Möglichkeiten als das albernere von den beiden Spielen, das den eingefleischtesten Quietisten in kurzer Zeit in die Flucht jagen muß! Sieht man darauf eine Weile beim Nachbartisch zu, wo siebzehn Chancen und die Zahlen Zéro bis 36 zu Hause sind, so wundert man sich auch recht bald: wie wenig kompliziert solch ein Spielergehirn im Grunde sein mag, man hat es sich immer als einen von tausend Teufeln gezwickten, gestoßenen und gequetschten Schwamm vorgestellt! Wert und Sinn eines Spieles kann sicherlich der am genauesten erkennen, der es von oben und aus der Distanz, nicht als seine eigene Angelegenheit, sondern sozusagen als Kunstwerk psychologisch zu ermessen sucht. Das Glück, ob es nun das Glück des Spielers ist oder das Glück seines Gegenpols, des Reinsten unter den Menschen, ist eine Angelegenheit der ganzen Menschheit und lohnt schon die Mühe, daß man ihm auf seinen Schleichwegen folge, auf denen es sich an den Menschen heranstiehlt.

Die ganz willkürlich bestimmte Zahl 36, die Anordnung der Zahlen zu dritt auf dem Tuch, der Anstrich der Zahlen mit roter und schwarzer Farbe und die Einteilung in Paar und Unpaar, unter 18 das heißt Manque und über 18 das heißt Passe – reduziert sich zusehends zu einer unsäglich primitiven Schablone. Und wenn man gar die kleine Elfenbeinkugel zappeln, hüpfen, endlich müde in einen der kleinen Zahlenställe hineinlaufen und dadurch das ganze Spiel entscheiden sieht – da darf man schon behaupten, es muß irgendein fundamentaler Fehler in der Menschennatur bestehen, sonst wäre der Aufwand von Energien, der bis zur Unerträglichkeit überhitzten Leidenschaften, die letzte Konzentration von Glauben und die endgültige Auflösung des ganzen inneren Organismus, die auf Schritt und Tritt zu konstatieren sind, nicht zu erklären. Oder man müßte an der Schöpfung irre werden, was man aber überall, wo man einer solchen Gefahr begegnet, besser vermeiden soll.

Es ist bekannt, daß das Roulette ein halbes Jahrhundert und länger schon ungehemmte Anziehungskraft ausübt; daß unausgesetzt Hekatomben von Existenzen aus aller Herren Länder sich in den rotierenden Trichter wie in einen Strudel werfen, um in ihm unterzugehen. Die Scharen, die, wie bei den Haaren an das Rad angebunden, um seine Achse Jahr um Jahr im Kreise herumwirbeln, nicht mehr fort können, die niemand als der Tod losschneiden kann, sie zeugen für die unverminderte teuflische Macht, die dem einfältigen Spiele innewohnt. Denn man muß sich immer wieder sträuben gegen die Vorstellung, daß die Chance allein es ist, die die Hekatomben um die Roulette suchen und daß das Spiel selber dabei gar nicht in Frage kommt. Es wäre ein Leichtes, eine neue Chance zu den bestehenden siebzehn hinzuzudekretieren, und wie die große Dummheit schon beschaffen ist, würde solch eine Chance plus ein erneuertes Herbeiströmen von Menschen aus allen Himmelsrichtungen zur Folge haben. Gewiß würden die Leiter der Spielbank dies Mittel anwenden, wenn es sich eines Tages erwiese, daß das Interesse der Welt an Monte Carlo zu erlahmen beginnt. Aber die Erregungslüsternen, die sich draußen um die Spielbank herum, einen neuen Kitzel zu erjagen, die Beine bis an die Knie ablaufen, benehmen sich an der rotierenden Krippe wie richtige Menschen der Herde, stupid und konservativ, und stillen jahraus jahrein ihren Seelendurst an den beiden abgestandenen Spielen.

 

In der allerersten Stunde schon, die man in der Spielbank verbringt, geht einem die Erkenntnis auf: hier ist man an einem Ort, an dem sich Menschen preisgeben. Hier ist einer der spärlich gesäten, bedeutungsvollen, von Pathos gesättigten Orte, wo Menschen aus sich herausgehen, ihre Menschenwürde vergessen, wo ihnen der Sinn für ihre Kläglichkeit abhanden gerät, wo ihr Stolz zugleich mit ihrer Scham wie über einer Stichflamme zerschmilzt und sich in Nichts auflöst, wo ihr unsterbliches Teil sich Handlungen zuschulden kommen läßt, deren Schauplatz sonst nur das Kämmerlein sein darf, wo das ganze Wesen des Menschen, Abkunft, Ziel, Schicksal, Widerstand wie eine sichtbar gewordene Aura an die Oberfläche und in die Ausstrahlungen seiner körperlichen Erscheinung gestiegen ist, bloß und ohnmächtig in der Atmosphäre um ihr Gefängnis herumwogt, schwankt, sich loslösen möchte, zurückgesogen, bald wieder hingeatmet wird, wo die ganze Zivilisation, deren sich die Menschheit ohne Scheu zu rühmen wagt, bedingungslos kapituliert und sich drückt vor der einen Urleidenschaft, der unaustilgbaren, die keine Entwicklung mildert noch übertüncht … zu rauben, zu besitzen.

Schwer zu beschreiben, welche Alpwesen, Unterweltsgestalten, Menschen nur von fern verwandte Dämonen sich an einem vorbei bewegen in diesen von Silbergeklapper, halblauten Rufen, Schritteschlurfen, Seidengeräusch, Düfte- und Dunstkämpfen, Licht- und Schattengefechten geheimnisvoll belebten Räumen. (Um einstweilen nur von den Wahrnehmungen an der Kontur der äußeren Geschehnisse zu sprechen.) Schimmer und Blitze, Tänze verruchter Schatten, spielende Veränderungen, die über Gesichtszüge hinweghuschen, Verschiebungen von Farben, in die hier und dort eine grelle Zeichnung von Schmuck und Zierrat fällt, Wolken von Schweiß, eingesperrtem Staub, aufgelöster Schminke, gedämpftes Metallgeklirr, Geräusche, Gerüche, die die Atmosphäre vom Boden bis zur Decke in steter leiser rhythmischer Schwankung erhalten – es ist zweifellos, daß die Sinne von all diesem unrettbar umfangen, hypnotisiert, geknebelt und vergewaltigt, willenlos hingestoßen werden zu uneingestandenen Insinuationen.

Das oberste Gebot des Spielers nach außen und nach innen heißt Beherrschung, Kühle, Gleichmut, das ist: Mimikry. Es ist der übriggebliebene Rest von Zivilisation an dem Individuum, das sich im übrigen skrupellos und willensberaubt seinem Trieb hingibt. Die Mehrzahl läßt auch diesen spärlichen Rest fahren im Augenblick, da sie den Stuhl hinter sich schiebt und vom Tisch aufsteht. Die Beherrschung, die sie verläßt, verwandelt sich im Nu in die Spannung zurück, aus der sie gemodelt war, und verteilt sich über die Sitzengebliebenen, während das Spiel weitergeht. Der aber der sich eben absentierte, ob er nun entronnen ist oder sein Schäfchen aufs trockene gesetzt hat, enthüllt auf einmal bis in die letzte Falte sein wahres Wesen. Wie einen Hampelmann hat ihn das Laster gleich am Faden. Man kann das sehen: seine Gelenke sind tot, die Gliedmaßen zittern, die Augen sind verdreht, die Zunge kommt wie ein Betrunkener aus dem Wirtshaustor zwischen den Mundwinkeln herausgetaumelt, in den Taschen schlottert Silber und Gold aufeinander, als wollte es sich weiter begatten, vermehren, verzehren, irgendwo in der Nähe oder weiter weg vom Schauplatz, auf einer Bank, stürzt ein Haufen Agonie nieder. Dies ist (selbstverständlich) nicht der Mensch von Monte Carlo schlechthin, sondern der Spieler. Der Schauende findet ihn leicht heraus, sichtet ihn, umkreist ihn, hat ihn schon aufs Korn genommen, erlegt und sein Eingeweide von unterst zu oberst gekehrt. Dies ist nicht schwer, denn die gute saftige Jagdbeute trägt die Stelle, an der sie verwundbar ist, über ihren ganzen unbeherrschten Körper ausgebreitet. Der Veitstanz der Habsucht hat sie in den Klauen, aber warte noch ein bißchen!

An Orten, wie dieser einer ist, verdienen die Uninfizierten, die Unbeteiligten, die Immunen Teilnahme und Betrachtung – in Monte Carlo ist der kleine Mann, der ehrliche Arbeiter, der bescheidene und beladene Proletarier ein Problem von nicht gewöhnlicher Eigentümlichkeit. Darüber ist ja kein Wort zu verlieren: überall, wo Luxus und Übermut zu Hause sind, muß dem Dienenden, dem Fronsklaven das Bewußtsein der Absurdität unserer Weltordnung gegenwärtig sein; während er um Groschen seine Kraft bis an die äußerste Grenze anspannt, mit Hirn und Hand wirkliche, in Heller und Pfennige umgerechnete Arbeit leistet, unter dem Gesetz des Angebotes und der Nachfrage sich hoffnungslos verbraucht – sind einen Schrittbreit weiter plötzlich alle Gesetze umgeworfen, sinnlos geworden, und die sauren Groschen stützen ächzend den Scheffel, in dem das mühelos und auf die verwerflichste Art hernieder und zurück strömende Gold fluktuiert. Überall, wo Leben verweilt, sich verankert, verzweigt, stößt der Ellbogen des Schuftenden an den Ellbogen des Parasiten, nirgends wird einem dies aber in seiner ganzen schamlosen Widersinnigkeit offenbar wie an Orten, wie dieser hier einer ist. Das Herzogtum Monaco untersagt dem eingeborenen Bürger, die Spielbank zu besuchen, und belohnt ihn für diese Tantalusqual, indem sie ihn von Steuern und Abgaben befreit. Dies kann das Herzogtum Monaco leicht schaffen, denn vom ersten Staatsminister bis zum letzten Kanalräumer ist jeder Monegasse mehr oder weniger ein Helfershelfer der Bank, angestellter Heiz- oder Zwickteufel der großen Spielhölle.

Der Croupier und die Prostituierte aber sind so ziemlich die beiden repräsentativsten dieser dienenden Typen außerhalb der Spielerwelt.

Der Croupier, ein schlecht bezahlter und übermäßig angestrengter Proletarier, rächt sich dafür, daß sein Beruf ihn zu dauerndem Kontakt mit der verachteten Spielerschar zwingt, durch ironische Höflichkeit und überlegene Apathie. Sobald einer seinen Dienst an dem Tisch beendet hat und abtritt, greift er in die Brusttasche und übergibt seinem Nachfolger eine verschlossene Metallbüchse von der Form eines Zigarettenetuis, die der Nachfolger sofort in seine eigene Brusttasche versenkt. In diese Büchse fällt zuweilen vom rollenden Gold eine Münze hinein – (merci, monsieur! seltener: merci, madame!) – und dieses Trinkgeld ist's hauptsächlich, das dem Croupier, einem von Schicksals-Glorie umwitterten Mittelding zwischen Kellner und Detektiv, die Führung seines bürgerlichen Familienhaushalts ermöglicht.

In den breiter und breiter um die Spielbank herum gezogenen Kreisen, in denen die konzentrierte Bestialität allmählich verebbt, sind Geschöpfe beheimatet, deren Entwürdigung beispiellos und höchsten Mitleids bedürftig ist. Nirgends in der Welt stehen Ausschweifung, Verbrechen, Schuld, wie hier so ausgesprochen im Dienste eines einzigen, alles dominierenden Triebes. Nirgends darf sich der mißbrauchte Mensch so sehr verworfen fühlen wie hier. Nirgendwo kommt unter der Larve der Gottähnlichkeit so deutlich und stechend das Zeichen des Werkzeugs, der Unterschiebung, des endgültigen Vernichtetseins zum Vorschein. Aus Seide und unter Geschmeiden starrt das hoffnungsbarste Gesicht in den herrlichen, durch das Teufelsmal geschändeten Süden aus Blau und Gold hinein.

Hier speit der Paria seinem Schöpfer ins Antlitz dafür, daß er ihn so strafwürdig unvollkommen, mit einem Fluch und Hohnwort ins Lebensverderben hineingestoßen hat; nichts vermag den Schimpf vom Antlitz der Ewigkeit wieder abzuwischen. Der Racheakt, womit die Kreatur sich, entlastet, rechtfertigt ihr Verweilen an solchem Ort, befestigt und zirkelt ihre Stellung unter den Menschen der Welt ab. Der flüchtige Ankömmling, der schon die Abreise im Sinn hat, tut gut, sich diese Position genau anzusehen, ehe er sich vermißt, Urteile über die Kaste abzugeben, die innerhalb der Verschanzung lebt. Nirgends ist Gott so erschrecklich klar zu erkennen, als wo eine fremde Leidenschaft sich einem ungebrochen und gewalttätig kundgibt. Man glaubte durch Befremdung und Haß gefeit zu sein und fühlt erschrocken, daß man in dieser Distanz zwischen Gott und seiner Kreatur plötzlich nicht mehr sicher weiß, wo man eigentlich Fuß gefaßt hat?

Denn hier gibt es den Pöbel, die Besessenen und Heilige, ja: auch Heilige. –

Menschen in Monte Carlo

Baudelaire, der selber nie mit Bestimmtheit seinen Standort zwischen Himmel und Hölle, zwischen seinen künstlichen Himmeln und der höchst realen Hölle seiner Alltagsexistenz anzugeben wußte, hat ein Gedicht: »Le jeu« geschrieben; man darf es lesen, der wußte Bescheid. In einer Ecke stehend, wie es sich für den gefallenen Engel, den ausgestoßenen Menschen ziemt, betrachtet er den grotesken Auswurf um den Spieltisch. Selbst im Schatten stehend, sieht er auf die von oben gelb, von unten grün beleuchteten Fratzen und sein Herz krampft sich vor Neid zusammen – denn dort sind die Erfüllten, er aber ist leer. Von ihrem Blut betrunken, taumeln die dort schmerzgeschüttelt in ihrem Inferno herum, er aber steht abgestorben da, in ihm und um ihn das Nichts.

Mengt man sich nur für kurze Zeit unter die Mitmenschen, die in der Spielbank die dahinrinnenden, gemeinsamen Stunden mit ihren Pulsen abzählen, so sieht man gar bald, wo die Lager sich scheiden, wo die handelnden Personen und wo die Zuschauer ihren Platz haben, wo der Held steht und wo die Statisten, wo sich die Tragödie des Lasters abspielt und wo sie sich im Daneben, Dabei, Rundherum verkrümelt, wo der Bezirk der Besessenen von dem des Pöbels peripherisch abgegrenzt ist.

Unter Pöbel mag man eine Zusammenrottung von Menschen an einem Ort verstehen, wo sie nicht hingehören. Jeder einzelne unter ihnen hat den Ort, wo er selber handelnder Held in seiner eigenen Lebenstragödie ist, und nicht Pöbel; wo er seinen Mann stellt im Zusammenhange des irdischen Menschengehabens und nicht der Ungebetene heißt. Begibt er sich von seinem Schicksalsort weg und rottet sich anderswo mit Menschen zusammen, die sich ebenfalls aus ihrer eigenen Gemeinschaft hinausbegeben haben, um einen Kernpunkt herum, um den sich eine Zunft kristallisiert hat, so hilft er den Pöbel bilden, der den Lebensborn vergiftet, indem er mittrinkt.

Baudelaire, der die Höllensöhne beneidet, wie sie sich das lebende Fleisch von den Knochen reißen, braucht bloß zu seiner Mulattin ins Hotelzimmer in der Rue de Dieppe heimzugehen, um die bedeutsame und ewige Figur zu werden, die in der Welt da ist, seit er aus der Welt gegangen ist. Und Leute meines Schlages, die paar Schritte weiter, zwischen den Dünsten aus fremdem Schweiß und dem Gestöhn aus fremden Kehlen herumlungern, dürfen sich vor ihren Schreibtischen allein mit ihrem immer und immer wieder der Korrektur bedürftigen Weltbilde weiß Gott wie hoch einschätzen, während sie sich die schwierigen Dinge aus den Fingern saugen.

Aber wie viele wissen denn tief in ihren Nerven von der Chemie der Welt? Wie viele lassen denn ihre Handlungen oder auch nur ihre Stimmung durch die Erkenntnis beeinflussen, daß der Vorgang, dem sie beiwohnen, ihre Anwesenheit durch kein Reagens zur Kenntnis nimmt? Von der Vormittagsstunde an, da die Säle geöffnet werden, bis in die späte Nachtstunde hinein, da der Croupier die drei letzten Spiele verkündet, sitzt mitteninne unter den Berufenen, den glücklich zugreifenden Monomanen, eine zähe, stumpfe und träge Herde, die spielt, wie sie raucht, säuft und Geld verdient, Kinder in die Welt setzt, vor Höheren kriecht, Lügen lügt und Wahrheiten lügt, in der nichts steckt wie Gier und Geilheit, die Herde, die leicht entzündete und willkürlich abstellbare Leidenschaft hergetrieben hat, leere Neugierde und schale Hoffnung, die nicht von der Stelle weicht und die mit dem Sinn und Bezirk ihrer Existenz bis Torschluß und bis das letzte Spiel ihres Lebens verspielt ist, nicht ins reine kommen wird.

Dem Menschen der Herde gehören die Schnauzen und Fressen, das sehe ich jetzt, die Stielaugen und sabbernden Mundwinkel, die regellos exzitierten, flackernden Fratzen, die verzerrt um die unterirdisch brennende Fackel herum irrlichtern, sich von ihrem Schein und ihrer Hitze befächeln lassen, nicht aber mit gesammelter Glut sie unterhalten – das besorgen die tief unten langsam sich verzehrenden, im Schweigen erstarrten Vorherbestimmten – jetzt fange ich an, zu unterscheiden.

Damit leuchtet mir zugleich das Doppelgesicht Monte Carlos ein: über der Stätte der Verdammnis erhebt sich das geduldete und genehmigte Vergnügungs-Etablissement amüsant anrüchiger Art, die eingeborene Tragik ist an der Oberfläche geronnen und sauer geworden, die Todsünde ist zu einem das Bürgertum erhaltenden Element herabgewürdigt, dadurch, daß man in ihrem Tempel, fern von der behüteten Reputierlichkeit der gewohnten Lebenssphäre, ein Laster zu befriedigen befugt ist.

 

Man würde meinen, an der Grenze zwischen dem Spielpöbel und dem Besessenen von Schicksals wegen und der seinem Gewissen gehorcht, stünden vereinzelte tragische Übergangsgestalten: Individuen, die aus verspielter Lust, Verschwendungstrieb und Langerweile dahergelaufen kommen und plötzlich, an der Flamme der Fackel geröstet, ihre normale Temperatur erkennen. Denen es plötzlich aufgeht, warum sie bisher stets gefröstelt haben, sich in ihren Umständen und Umgebungen unbehaglich gefühlt haben. Die nun mit einemmal ihrem Dämon von Angesicht gegenüberstehen, sich auf sich selbst besinnen, wo sie sich doch nur zerstreuen wollten, zum erstenmal in ihrem Leben vollkommen ausgefüllt sind, wenn auch mit Höllenkohle, die sich in ihrem Eingeweide eingenistet hat und sie von Kopf bis Fuß brennt und sengt. Sind das die Grenzmenschen, diese dem Romanschriftsteller und Dramatiker werten und kostbaren Gestalten, deren Kompaß noch schwankt, deren Leben sich noch nicht zurechtgefunden hat zwischen Zufallssklaverei und unabänderlicher Bestimmung?

In den Sälen der Spielbank lebt und webt, fiebert und oszilliert eine Schar von überhitzten geschwätzigen, in halb bewußtlosem Taumel ihre Seele durch alle Poren, vor aller Welt und zu allen Stunden des Tages und der Nacht lassenden Megären. An der Wende der Jahre, in der sich das körperliche Bedürfnis in Bigotterie verwandelt, das eine Extrem über das gemeinsame Zentrum zum anderen Extrem hinüberschlägt, in der die Gier nach Lust und die Funktion des Geldeinheimsens verwischt und ineinanderübergegangen ist, hat diese Spielart von Menschenwesen sicherlich keinen zuverlässigeren Halt auf der Welt als das St. Peter des Teufels auf dem Felsen von Monte Carlo. Wären die Leute, die sich in den Sälen tummeln, nicht allzusehr von dem Problem ihrer eigenen Beschaffenheit in Anspruch genommen, der Anblick dieser um alle Tische herumsitzenden, durch alle Türen gehenden, beängstigenden Spukgestalten mit Harpyienklauen und Köpfen wie aus den Bildern der flämischen Teufelsmaler, dieser von den Wasserspeiergalerien der gotischen Kathedralen heruntergesprungenen Fabelwesen, müßte den Leuten einen derartigen Schrecken einjagen, daß sie von Furien gepeitscht sich auf Nimmerwiedersehen aus dem Staube machten.

Wie es sich nicht anders denken läßt, ist in diesen Frauen die Tragik des Ortes ins Groteske umgeschlagen. Was das Schicksal an rätselhaften Vorstellungen, Ahnungen und Wahn in den besessenen Menschen versenkt hat, drängt sich in ihnen kindisch und wüst, in einem uferlosen Getue an die Oberfläche. Alle die geheimnisvollen Einflüsse, von denen schon die Alten wußten, die Einflüsse von Steinen, Zahlen, Menschenkräften, Tierseelen um jeden einzelnen von uns herum, belebt das Gebaren dieser Wesen in auffallender und nicht mißzudeutender Weise, sofern man sich nur die Mühe nimmt, sie etwas genauer zu beobachten. Hier und dort gibt es sicherlich Wissende, Adepten, die von ihrer Geburt an von Ahnungen solcher Einflüsse insgeheim besessen waren. Hier werden diese Ahnungen hundertmal am Tage ausgeplaudert, von der Sucht, aufzufallen, aller Welt preisgegeben, plump und dick aufgetragen, fast diskreditiert. Edelsteine, die verhängnisvolle und in unergründlich konzentrierter Form dargebotene Naturkräfte sind, besprenkeln roh und massiv gehäuft Hände, Hälse und Gewänder. Der Name der Zahl, die das Planetensystem beherrscht, in dessen Mittelpunkt wir stehen, wird in kleinen Ausrufen, unmotivierten und halbartikulierten Lauten aus klappernden Gebissen hervorgestoßen; ermunternde, liebkosende oder drohende Redensarten schlüpfen zwischen verwelkten Lippen hervor, während die Elfenbeinkugel hüpft, müde wird und sich besinnen möchte. Es genügt nicht, durch Konzentration des Willens und inbrünstigen Kniefall inwendig das Schicksal zu überreden, daß es sich auf der gewünschten Zahl niederlasse; flüsternd leise und laut wird eine Beschwörungsformel herausgestammelt, man kann aus ihr auf eine ganze unterdrückte Litanei schließen, auf heimliche Bräuche, Riten und Verrichtungen. Erscheint dann die ungewünschte Zahl, so wird sie nicht selten, zumal, wenn sie sich öfter meldet, mit Zurufen verletzender und beleidigender Art empfangen, mit Spitznamen bezeichnet, (die rote Neun z. B. kann man: »le sale juif« nennen hören, die Dreizehn gilt als der Zuhälter mit seiner Dirne usw.). Man hört gewisse Worte, beachtet sie erst kaum, wird aber auf sie aufmerksam mit der Zeit, weil sie bei bestimmten Ereignissen und Verkettungen regelmäßig wiederkehren: das sind Blitzableiter, nicht mehr und nicht weniger, Stromleiter und Isolatoren, sie gelten dem Genius des Ortes, oder der Elfenbeinkugel, oder dem Croupier, dem gleichmütigen, unbewegten Croupier, der die Verbindung herstellt zwischen den Mächten und dem sterblichen Individuum.

Fetische der unbelebten Welt, aber auch der belebten, sollen erprobte Mittel gegen ungünstige Einflüsse sein. Daß Tiere, Schoßhunde, Affen, Meerschweinchen, weniger die Katzen, sich zum Abwenden, zur Beseitigung böser Zufälle und feindlicher, animalischer Beeinflussungen besonders gut eignen, wissen die Frauen genau; in ihrem vegetativen Leben stehen sie ja den Rätseln unserer primitiven Existenzformen näher als der Mann mit seinem logisch geschulten Denken, dessen Gefühlsapparat von der Vernunft kontrolliert ist. Damit es nur offenkundig sei und den Feinden recht in die Augen falle, paradiert eine ganze Menagerie von unheimlichen Lebewesen mit jenen menschenähnlichen, an deren Anblick man sich gewöhnen muß, unterm freien Himmel herum, und zuweilen wird man in einem umfangreichen Retikule auf dem Schoß der Nachbarin ein verdächtiges Gekrabbel beobachten, das unmöglich von einer Puderquaste herrühren kann.

Selten wird man das äußere Gehaben, selten das charakteristische Gesicht des wirklichen, von seiner Leidenschaft ausgefüllten und grimmig beherrschten Spielers von solchen offenkundig zur Schau getragenen Trieben verändert sehen. Es begegnen einem auf der Promenade Menschen, sie bleiben stehen, diskutieren, man hört Zahlen, Reihen von Zahlen, wie etwa bei verhängnisvollen politischen Ereignissen auf den Promenaden Namen, an die sich diese Ereignisse knüpfen, in leidenschaftlicher Rede und Gegenrede wiederkehren. Irgendwelche Stimmen, die aus dem Unbekannten herübertönen, machen dann, daß das hoffnungslose Spielergesicht mit den stark entwickelten Tränensäcken unter den Augen sich für Augenblicke belebt; irgendwo horcht es hin, irgendwo sieht es etwas, die verbissenen Münder lockern sich, wie vor Überraschung, als erschiene am Ende der Promenade plötzlich der erwartete Umriß der verspäteten Geliebten. Aber es ist nur das Phantom des Glückes, das sich in der Ferne flüchtig gezeigt hat. Nur Dilettanten des Spiels werden sich von Wesen mit zerfahrenen Instinkten, wie jene Frauen es sind, ins Schlepptau nehmen lassen. Dieses Verhängnis trifft, wie zahllose Anekdoten es bestätigen, meist unentschlossene Neulinge. Der Spieler wird die Frauen dieses Ortes im besten Falle benutzen, wie er die chemischen Verbindungen bestimmter Naturprodukte, die mathematischen Verbindungen seines kombinierenden Verstandes benutzt. Wäre es nicht zu grauenhaft, wahrhaftig es würde sich lohnen, der Erotik dieser Menschen nachzuspüren. Aus verdrängten Instinkten, verschleierten Zwecken, Erkenntnissucht und Schicksalsspionage braut sich ein Gemisch von Seelenzusammenhängen, in denen unergründlich all die Ahnungen, Furcht und Tollheit leben, aus denen das Unterbewußtsein dieser Menschengattung beschaffen ist.

Anekdoten! wollte man erst mit den Episoden, Auftritten, eigenen und fremden Erlebnissen anfangen, die Schilderung von Menschen unternehmen, denen man eine Viertelstunde lang zugesehen hat, und denen man sich für Wochen, für Monate an die Fersen heften möchte, nicht nur von der eigenen Phantasie dazu verleitet, sondern von der baren Sicherheit im voraus belohnt, daß unerhörtes Material über das Rätsel »Mensch« aus solcher Beobachtung einzuheimsen wäre. Hat man nicht diesen dort einen Augenblick lang aus dem Auge verloren, weil sein regungslos unbeteiligtes Verhalten der Beobachtung kein Angriffsfeld bieten wollte? Auf einmal geraten ein paar Gegenstände, die wie zufällig neben seinem Geldstapel und einer kleinen Karte lagen, in Bewegung. Mit blitzähnlich raschen Gebärden wird die Garderobennummer mit einem Fünffrankstück vertauscht. Eine Nadel durchbohrt die Karte an drei Stellen zwischen aufgedruckten Ziffern, die dürre Rechte dreht einen Siegelring der linken Hand einmal herum, streckt sich dann mit einem Stapel von Gold beladen über die grüne Decke und setzt den Stapel sicher und unwiderruflich auf eine Zahl hin. Bald ruft der Croupier sein monotones »rien ne va plus«, und einige Sekunden später hat das Einzelschicksal mit dem unerforschten Naturgesetz seine Zwiesprache beendet.

 

Der Besessene, der Spieler, geht von Tisch zu Tisch. Hier bleibt er stehen und dort. Dieselbe Zahl erscheint überall, wo er vorübergeht. Er fühlt in einer Art Inspiration den Rapport zwischen sich und den Geschehnissen dieser Stunde. Wird er zum nächsten Tisch gehen, die Zahl zum Erscheinen zwingen, sein Gold auf die Zahl setzen, die ihm wie ein Augenzwinkern erschienen ist, womit das Glück sein Einverständnis kundgegeben hat? Er hat nun die Aufgabe, seine Überlegenheit aus dem Kraftgefühl zu entwickeln, das ihm die Wahrnehmung geschenkt hat: dies sei seine Stunde. Während die Megäre nebenan sich jauchzend und überströmend dem Bewußtsein, die sichere Glückswendung getroffen zu haben, überläßt, blickt er nur mit halbem Auge auf das gnadenverheißende Gesicht seiner Glücksstunde hinüber. Um seinen Schutzengel nicht allzusehr anzustrengen, läßt er gern noch eine Weile verstreichen, ehe er mit Spielen beginnt. Es gilt zu ergründen, in Stillschweigen und Sammlung zu ergründen, ob dies der Tag der simplen Chance, d. h. der Farbe, Paar oder Unpaar, Manque oder Passe sein wird, oder ob der Tag stark genug sich anläßt, um die Chance der einzigen Ziffer zu erproben. Der wahrhafte Spieler, so glaube ich, der seinem Schicksal gehorcht und nicht der mesquinen Begierde, möglichst sicher zu fahren, wird nicht die allgemein übliche Methode verfolgen, die Hälfte der Tafel mit Einsätzen zu belegen, er wird vielmehr seinen Erfolg zusammengedrängt an einer Stelle der Tafel herausfordern, auf einer einzigen Ziffer oder auch auf wenigen Ziffern, die vor seiner allmählich stärker werdenden Erkenntnis heute in einem Zusammenhang, einer gewissen Verwandtschaft zueinander, zu ihm selbst und zu der Stunde, die sie vereint, stehen. Allmählich gewinnt diese Erkenntnis an Plastik des Umrisses, nimmt die Form eines Gebotes an, wird ungeheuer wie ein Alp, verdichtet sich zu einer fixen Idee, wie andere Besessene sie spüren, wenn sie morden sollen oder zu unbekannten Zielen führende verhängnisvolle Aufgaben eingeflüstert bekommen. Der Spieler folgt seiner Eingebung mit der klaren Einsicht, daß er gar nicht anders könne, mit voller Zustimmung seiner Vernunft, seines Gewissens, vor dem er es gar nicht verantworten könnte, wenn er z. B. jetzt dieses täte und jenes unterließe. Es kann ihm nichts anhaben, daß er maßlos gewinnt oder maßlos verliert. Solange er in seinem Nervensystem, in seinem ganzen, leicht, hell und durchsichtig gewordenen Organismus die ihn vollkommen ausfüllende Anwesenheit seines Schutzgeistes, seines Dämons spürt, wird ihm sein Schicksal immer Gelingen bedeuten, mag sein Goldstapel sich vervielfältigen oder dahinschwinden. Er wird dem Augenblick jene über alles endgültige, d. h. jene über alles wichtige, über alles nichtige Bedeutung zuerkennen, die dem Augenblick von einem solch hohen Herrn, wie der Geist es ist, zugeteilt worden ist. Ist ihm heute eine Niederlage beschieden, so wird in dieser Niederlage eine Gewähr dafür sein, daß sie in der Kette der ihm auferlegten Erlebnisse ein Fingerzeig ist zu dem morgigen Triumph. Bewegt sich die Kugel in einer logisch scheinenden Folge von Zahlen bestimmter Art oder der gleichen Farbe, so wird der wahrhaft besessene Spieler lieber im Gegenspiel beharren, als zu der von der Erfahrung diktierten Taktik übergehen, die den oberflächlichen, gewinngierigen Pöbel vielleicht mit Chance überschüttet, während er in seinem unbeirrbaren sicheren Trieb nebenan verblutet. Erst wenn sein Trieb zu wanken beginnt, wenn sich in ihm die Vernunft einzustellen, überhandzunehmen beginnt, wenn er gar nicht mehr so sicher zu entscheiden weiß, ob es im Grunde vielleicht nicht doch klüger wäre, den offenkundig an diesem Tage sich bietenden Formationen des Spieles gehorsam zu folgen, erst dann ist Gefahr da, und den Nachtwandler erfaßt Schwindel. Es wäre besser für ihn, er stünde auf und ginge heim, als daß er fortfährt zu spielen. Gewinnt er aber in diesem Zustand unüberzeugten Mittuns, wo sich Minuten vorher im Trancezustand Mißgeschick auf Mißgeschick gehäuft hat, so wird er diesen Zufall doch gewiß nicht als Beweis gegen seinen inneren Beruf gelten lassen. Vielleicht wird er sogar in einer aufsteigenden Reihe von Gewinn das Spiel gleichmütiger verlassen und aufgeben, als er es vorher vermocht hätte, da ihn der Geist immer tiefer und tiefer in den Verlust hineingetrieben hat.

Es gibt Übergänge aus dem Systematischen ins Vage und aus dem Bestimmten ins Zufällige, die gefährlicher sind und eine größere Waghalsigkeit erfordern, als die Tat Blondins, der auf einem Drahtseil über den Niagara gegangen ist. In den Selbstmörderzimmern der Logierhäuser, in den Selbstmörderecken der Parkgebüsche findet man Menschen liegen, die sich klar geworden sind darüber, daß sie ihren Schutzgeist mißbraucht haben, auf eigne Faust Vorsehung spielen wollten und darum verdientermaßen im Stiche gelassen worden sind. Menschen, die ihre Daseinsberechtigung verloren und die einen raschen Tod wählen mußten, nicht etwa, weil sie ihr Vermögen eingebüßt hatten, sondern weil sie ihres unveräußerlichen Habes verlustig gegangen waren.

 

Der Mensch aus dem Pöbel der Spieler verachtet den Spieler von Schicksals wegen, wie könnte er auch anders. Er verachtet ihn, wie der mangelhaft Gesittete, der sich nur für wenige Stunden seines Lebens von der auferlegten Form befreit, den seiner Meinung nach absolut Unsittlichen verachtet, den Outcast, der sein ganzes Leben außerhalb der bürgerlichen Lebensform verbringt. Er tut das natürlich im Widerspruch mit sich selber, denn es ist ja offenkundig, daß er sich auf dieser Außenseite entschieden wohler fühlt, als innen, daß die wenigen auf jener Außenseite verlebten Stunden ihm einen starken und dauernden Genuß bedeuten, von dessen Erinnerung sein bürgerlich gefestigter Alltag noch lange zehrt.

Der Mensch des Pöbels aber wie der Besessene, beide gehen an einer Kategorie von Individuen vorüber, die hier und dort verstreut spärlich, aber vorhanden sind in dem bunten Vielerlei der Spielerstadt, in dem Gewirr, dem Auf und Nieder der Spielsäle. Individuen von einer Beschaffenheit, die es erklärlich macht, daß der Pöbel sie gar nicht zu sehen vermag, daß der Besessene sie instinktiv meidet, und daß sie selber beide erwähnten Klassen, wenn auch nicht verachten, doch abtun, wie der Vollendete den Unentwickelten, keiner Entwicklung fähigen Menschen abtut, um unbeirrt auf seiner unbegreiflichen Bahn vorwärtszuschreiten.

Diese Individuen, von denen hier nur kurz und andeutungsweise (wie es sich geziemt) gesprochen werden soll, besitzen auch ihre Mimikry, so wie die Spieler im allgemeinen sich der Mimikry befleißigen. Der Spieler assimiliert sich seinesgleichen aus einer Art Notwehr; das sonderbare Individuum aber, das der Kürze halber hier » der Heilige« genannt werden soll, assimiliert sich nicht seinesgleichen, sondern einem so entfernten, unfaßbaren Begriff, daß es gar nicht wunderzunehmen braucht, wenn der Heilige mit einer Art Tarnkappe angetan, unsichtbar und gemieden herumgeht, nur dem sichtbar, der sich aus ähnlichen Gründen wie er dem Treiben aus voller Seele abgewendet hat. –

Ein galonierter Diener kommt mit einem Tuch an den Tisch heran, wischt mit dem Tuch ein-, zweimal über das Roulette, säubert die kleinen Zahlenställe, die gewölbte Scheibe, die Nickelkurbel in der Mitte, die von der Hand des Croupiers glanzlos geworden ist. Der Croupier zieht ein kleines Schubfach in dem Tisch vor seinem Platze auf, tut die gebrauchte Elfenbeinkugel hinein, nimmt eine neue heraus. Darauf beginnt ein neues Spiel.

Hier und dort stehen Spieler, Spielerinnen von den Tischen auf, begeben sich zu einem anderen Tisch, in einen anderen Saal. Der Kontakt ist durch die Handhabung des Dieners unterbrochen worden. Eine profane Substanz hat den Schutzengel in Person berührt, befleckt, verunreinigt. Die große Menge bleibt auf ihren Plätzen sitzen, als wäre nichts geschehen, der berufene Spieler aber, der Wissende, absentiert sich. (Niemals wird der Spielleiter dem Diener einen Wink geben, den Tisch zu säubern, wenn gerade eine Serie eingesetzt hat, wenn einer von den bekannten Berufsspielern seiner aufsteigenden Linie folgt.) Unter den Leuten, die ringsum das neue Spiel erwarten, als wäre nichts geschehen, sitzt indes hier und dort ein Mensch, dem diese Unterbrechung etwas ganz anderes bedeutet als seinem sitzengebliebenen Nachbarn zur Rechten und jenem zur Linken, der eben aufgestanden und davongegangen ist,

Es soll der schüchterne Versuch gewagt werden, ein Bild aus wenigen Zügen von dem Menschen herzustellen, der der »Heilige« genannt worden ist, dies ist das Individuum zwischen dem Sitzengebliebenen und dem, der sich fortbegeben hat.

Er ist wahrscheinlich Slawe, ich halte ihn für einen böhmischen Lehrer, er könnte aber auch ein Arzt sein. Vielleicht ein Chemiker? Ich stehe auf der anderen Seite des Tisches ihm gegenüber und sehe ihn an. Er hat ein kleines Heft vor sich liegen und pro forma einen Stapel von Fünffrankenstücken daneben. Er spielt nicht. Er notiert Zahlen in verschieden verteilte Rubriken seines Heftes. Ich stehe zwei Stunden ihm gegenüber, genau gesagt vor der Farbe rouge, und sehe zu, was er treibt. – Oben in den Felsengassen der merkwürdigen Stadt Monaco, zu denen man durch die Condamine und über einen schräg in den Stein gehauenen Weg hinauf gelangt, sind ein paar altertümliche kleine Seitengäßchen mit seltsamen verschlossenen Häuschen gelegen. Sie erinnern mich an die Gäßchen um den Prager Hradschin mit ihren altertümlichen Alchimistenküchen, steinernen Verließen, seltsam brodelnden, in sich gekehrten Erinnerungen an das Mittelalter. Spät am Abend sehe ich den böhmischen Lehrer in seiner einsamen Felsenhöhle verschwinden, oben in einem Gäßchen von Monaco. –

Es gibt Menschen, man findet sie gerade an den Orten der Ausschweifung, Verworfenheit und Selbstaufgabe, die, einem in sie versenkten Trieb des Kontrastes gehorchend, an den diametrisch entgegengesetzten Pol ihres eigentlichen Wesens angebunden sind. Die von der Kraft leben, von der man vermuten würde, daß sie gerade die Vernichtung ihres Wesens hervorrufen müßte. Und die aus diesem, von einem Dämon ihnen auferzwungenen Standort gerade den stärkenden Saft in ihr befestigtes Naturell saugen. Mit dem Individuum aber, das ich hier zu skizzieren mich unterfange, verhält es sich anders. Es ist wohl an diesen Ort gebunden, aber nicht der Menschen wegen, die mit ihm die Atmosphäre teilen, sondern des kreisenden Rades wegen, das die Lose verteilt. Es beobachtet das Rad, ohne an seine Chance zu denken wie der Durchschnittsspieler, ohne unter der Hypnose des Inspirierten von dem Rad die Bestätigung seines Berufenseins zu erwarten. Die schlaue Regierung der Spielbank gibt (wahrscheinlich) dieser exzeptionellen Gattung zu Ehren, und um den vereinzelt auftauchenden Trieb zu heiligen, eine Zeitschrift heraus, in der nichts anderes steht als Zahlen. Die Zahlen, die von früh bis spät, jeden Tag und Woche um Woche von der kleinen Kugel an den verschiedenen Tischen getroffen worden sind. Einen »offiziellen Anzeiger« der Spielbank, der sicherlich hier und dort in der Welt gelesen wird, wie politische Neuigkeiten gelesen werden, aber auch wie astronomische Beobachtungen, Schachprobleme und Statistiken ihre Leser haben.

Systemspieler sind keine Seltenheit in Monte Carlo. Systeme können aus der blinden Eingebung ebenso wie aus einer mangelhaft bestätigten Erfahrung, aus dem Instinkt, wie aus der Berechnung erbaut und durchgeführt sein. Man kennt die Erfinder und Erprober solcher Systeme und erzählt sich ihre Geschichte, die an einem der beiden Enden der Glücksleiter von Monte Carlo aufhört: bei der Sprengung der Bank oder bei der Sprengung des Lebensnerves. Denn die mittlere Linie, das Gewimmel der vielen kleinen bescheidenen Spielerexistenzen, deren System auf das Ergattern des täglichen Pensionspreises im Logierhaus gerichtet ist, hat natürlich keine Geschichte.

Die Legende der Heiligen hat Exempel, daß aus einem Sünder ein Erwählter des Herrn geworden ist. Es ist darum möglich, daß aus einem, der um des Gewinnes willen daherkam, einer geworden ist, der um der heiligen Mathematik willen blieb und verweilte. Aber der Heilige, der in die Sünde hinabtaucht, wird sicherlich im selben Augenblick von der Schlinge erdrosselt werden. Es ist daher nicht angebracht, von der Möglichkeit zu sprechen, daß das Individuum, von dem hier die Rede ist, seine Aufzeichnungen im Heft, seine Grübeleien über die Alchimistenformel des Gesetzes unterbricht, ein Fünffrankenstück von der pro forma neben seinem Heft, d. h. seiner Retorte, errichteten Säule nimmt, es auf das Tuch wirft und so aus eigener Kraft sein Werk zerstört. Die Kategorie der Individuen, von denen hier die Rede ist, hat ihre Sinne vielmehr nach außen hin vollkommen zugeschlossen. Ihre Sinnesfunktionen sind keiner von außen einsetzenden Erregung mehr fähig; ihr Wahn ist auf die Gesetzmäßigkeit gerichtet, durch den Nebel der augenblicklichen Veränderung strahlt ihr das Ewige ins Auge. Vor dem Unbegreiflichen, dem Schicksal, hat sie von vornherein kapituliert, soweit dieses ihre eigenen rein äußerlichen Daseinsbedingungen anbelangt. Diese Individuen sind die Verehrer der Erkenntnis, Anbeter des Geistes, eifrige und berufene Erforscher, wenn man will Entweiher der Formel, die auf dem Grunde aller Erscheinungen liegt, in den Urstoff, aus dem die Welt geschaffen worden ist, eingekerbt sein muß. –

 

Was kümmert es mich, ob der böhmische Lehrer ein lebender Mensch ist, oder bloß ein Phantom meiner Einbildung. Ich habe ihn aufgespürt, bin ihm gefolgt, habe ihn gesehen, und es ist mir gleich, ob ich ihn mit all den Schicksalsgaben bloß belehnt habe, oder ob das Erdenwesen, das er darstellt, an Unergründlichkeit meine Vermutung tausendmal übersteigt. Schließlich hat jeder Mensch, den seine Wißbegierde an einen phantastischen Ort, wie dieser hier am südlichen Meer einer ist, verschlagen hat, notwendig alle Höhen und Täler seiner Seele zu durchmessen; einen Pfad zu suchen durch das Wirrsal seiner Eindrücke; er muß sich einen Weg durch das Gestrüpp von Abneigung und Rührung, Erfolg und Versagen zu hauen versuchen. Und der sicherste Weg ist, will man ein Mensch bleiben, sich menschlich unter den am weitesten entfernten Erscheinungen zu ergehen und zurechtfinden: man konstruiert eine ideale Macht, die einen nicht etwa in eine Distanz versetzt, sondern im Gegenteil aus einem einen Bestandteil der Zusammenhänge macht. Es ist die Frage: gelingt es den Zusammenhängen, diese Idealvorstellung in dem Miterlebenden wachzurufen und aufrechtzuerhalten, oder gelingt dies nicht. Gelingt es nicht, so bleibt ein ungelöster Rest in einem übrig, ein Gefühl, das sich auf gefährliche Art in Sehnsucht nach dem Ort verwandeln kann, den man, ohne ihn auszuschöpfen, ohne ihn erkannt und durchschaut zu haben, d. h. zu früh verlassen hat. Wenn aus keinem anderen Grunde als aus diesem, will ich mich dankbar an den Bewohner des Alchimistengäßchens im oberen Monaco erinnern. Ich bin ihm dankbar dafür, daß ich in ihm einen Typus zu erblicken imstande war, der den ganzen Höllenort entschuldigt, sein Geheimstes nach oben kehrt und es mir somit ermöglicht, mit vermindertem Abscheu wieder meines Weges zu ziehen. Dafür sei er immerhin bedankt, der böhmische Lehrer, den ich hinter seiner Fünffrankenattrappe an dem grünen Tisch brüten und nachher in der dunklen Nacht in seine steinerne Höhle lautlos einkehren und verschwinden gesehen habe.


 << zurück weiter >>