Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[Vorworte]

In diesem Band sind Aufsätze gesammelt, die über einige meiner im ersten Viertel des Jahrhunderts unternommenen Reisen Bericht geben. Sie bilden die Ergänzung zu meinen Büchern über größere Reisen im selben Zeitraum, die mich nach den Vereinigten Staaten, nach Kanada, Sowjetrußland, Palästina und Ostasien geführt haben. Die vorliegenden Aufsätze sind nicht chronologisch geordnet. Doch bilden sie, vom ersten bis zum letzten, eine organische Einheit. Der Auftakt ist eine programmatische Glosse zum Thema Reisen, Weltgefühl, Drang nach der Ferne. Diese Glosse erschien 1896 in der Wiener Zeitschrift »Die Zeit«. In den dreißig Jahren, die seither verflossen sind, hat sich das Gefühl vertieft, der Drang gewandelt, die Nadel des Kompasses weist nach einem veränderten, magnetischen Pol. Die gewaltigen, ewig bedeutsamen Umwälzungen der politischen, ökonomischen, sozialen und moralischen Struktur der Welt haben den Trieb zum Erkunden der Ferne machtvoll angefacht. Gegenden, Völker, Sitten, Führung und Weltanschauung sind in engere Beziehung zum Lebensinstinkt des fremden Betrachters, Kundschafters der Entwicklung geraten, weil eine mit unvergleichlichem Impetus vorwärts treibende Zeitströmung, diese unvergleichliche Zeit, die wir durchmachen, Menschen entlegenster Zonen einander näher gebracht hat, als das die im höchsten Grad vervollkommneten Verkehrsmittel der alles besiegenden Technik zuwege bringen könnten. Von der Wandlung und Vertiefung, die das erste Viertel des Jahrhunderts in dem Weltgefühl des Reisenden bewirkt hat, gibt dieses Buch Kunde. Es schreitet vom Pittoresken zum Tragischen, von der Wißbegierde zur Aktion vorwärts. Unter diesem Gesichtspunkt gesehen, einen sich die Fragmente, zeigt das Kaleidoskop des Dargestellten Symmetrie.

Berlin, Winter 1928.
Arthur Holitscher

Vorwort

Reisen

Jetzt bricht die Zeit heran, da man beginnt, auf gewohnten Wegen gewohnte Gestalten zu vermissen, da man, genötigt, in der Stadt zu verweilen, sie seltsam verändert und fremd findet, da einzelne Gassen, Straßenzüge, ganze Viertel das Bild sonnebeschienener Nekropolen bieten und am lichten Tage einen Hauch von Verlassenheit, wie vom Tod ausströmen.

Man geht verwundert und befremdet durch die stillen Zeilen, die Häuser mit den geschlossenen Fenstern, den verfärbten und lichtdichten Vorhängen hinter den Scheiben erinnern durch ihre einförmigstillen Fassaden fast an jene altlykischen Grabmäler, in denen, zu parallelen Reihen auf hohen, glattgehauenen Felsenwänden, gleichförmige Steinplatten dunkle Totenkammern umschlossen. Und mehr noch als diese rein äußerliche Ruhe beschleicht den Schauenden das Empfinden, daß die Kammern und Zimmer und Säle hinter jenen verschlossenen Fenstern wirklich etwas Kaltes und Totes bergen, denn ein verlassenes Zimmer ist wie ein Grab zwischen dem Tod und einer Wiedergeburt. Und dieses fast beängstigende Empfinden verschärft sich im Maße wie sich das Gefühl vertieft und verzweigt: man erinnert sich, verschwommen erst, dann umrißhaft und klarer, wie man beim Wiedersehen eines Zimmers im Herbst unbewußt die Wahrnehmung gemacht hat, daß es ganz anders sei, als es vom Frühjahr her in der Erinnerung gestanden, daß etwas, das da war und dem Auge oder dem Behagen sich eingeprägt hatte, seinen Platz verlassen oder verändert hat, daß neues hinzugekommen sei, auf dessen Ton man sich das alte Bild nun erst stimmen müsse. Daß Menschen, die man fern wußte und die zurückgekehrt sind, nicht mehr in derselben Distanz verharren, wie vor der Reise; daß sie etwas Fernes mitgebracht oder etwas Nahes in der Ferne gelassen haben und durch dieses Minus oder Plus uns nähergerückt sind oder sich von uns entfernt haben, vorausgesetzt, daß wir unsere Stabilität bewahrten, während ihres Ferneseins. Wir entsinnen uns, wie wir Menschen, die wir in ihrer Behausung, an ihrem ständigen Aufenthaltsorte gekannt und dann in einem fremden Milieu wiedergetroffen haben, anders fanden, daß sich die Beziehung zwischen uns und diesen Menschen verschoben hat, sei's, daß wir selbst uns verändert haben, oder daß sie durch irgendeine Metamorphose gegangen sind.

Aus einem fremden Lande heimgekehrt, vermag man nur schwer sich »zurechtzufinden«, und was in diesem Ausdruck liegt, weckt fast die Vorstellung eines Gegenstandes, der seinen knapp umgrenzten peripherischen Ausschnitt verlassen hat und sich nun nicht mehr recht in ihn fügen will. Der Raum, der unser tägliches Leben umgibt und mit haarscharfer Deutlichkeit dieses Leben und den, der es führt, widerspiegelt, hat, nun da wir zurückgekehrt sind, ein neues Gepräge erhalten, durch die Gegenstände, die wir von der Reise heimbrachten: sie sind sichtbare Zeichen dafür, daß wir Fremdes empfangen und aufgenommen, und daß wir das Bedürfnis empfunden haben, es nach Können auch äußerlich festzuhalten, wenn es uns eben dazu geeignet schien. –

Es liegt ein tieferer Sinn in dem Reisen und der Sehnsucht nach Veränderung, als sich im ersten Augenblick enthüllen will. Sei es nun Bedürfnis nach Zerstreuung, Reisetrieb, Wißbegierde, Sehnsucht oder Unruhe – es sind dies nur instinktive Gesten einer verborgenen Gewalt, die in uns lebt, und für die wir in unserer stammelnden Unwissenheit Erklärung suchen, indem wir sie mit landläufigen Bezeichnungen belegen. Es ist der tiefste und ursprünglichste Trieb im Menschen, der Urquell allen Intellekts, die Sehnsucht nach dem Zug. Er läßt Völker ihren Stammort verlassen, Weltteile entdecken, Elemente finden, er spornt Millionen tiefschlummernder Imaginationen in unerhörter Weise an, alle Fasern des Seins hängen an diesem Einen großen Knoten. Die Sehnsucht nach der Ferne bezeichnet den Anfang des Mittelalters, der neuen Geschichte, der Pfiff der ersten Lokomotive hat den letzten Block gesprengt, der hemmend in dem Engpaß der Kulturbahnen lag. Man wird sich dessen entsinnen, daß eines der Hauptmerkmale genialisch angelegter Naturen das Unstäte ist. Im Mittelalter ziehen sie von Burg zu Burg, von Hof zu Hof, oder als Landstreicher mit fliegenden Haaren und glühendem Auge durch die Länder, über Berge und Täler, durch Städte und Wüsten, oder sie schließen sich großen Heeren an, die in überseeisch märchenhafte Reiche ziehen … heute sind's Globetrotter und Kosmopoliten. Hat man nicht beobachten können, daß, je geringer die Intelligenz, je unkomplizierter das Ideenleben eines Menschen, desto größer seine Liebe und Anhänglichkeit an die Scholle? Desto geringer das Bedürfnis nach Fremdem und Ungeschautem, desto quälender das Heimweh, desto tiefer das Behagen an dem gewohnten Milieu, an dem abgezirkelten »train-train« des kleinen Lebens?

Menschen dieser Art haben »nur eine Seele in ihrer Brust« und diese wurzelt tief und unwandelbar an dem Orte, der ihre Heimat ist. Es sind dies die Menschen, die man »glücklich« nennen darf, denn das absolute Glück ist in der absoluten Ruhe oder im beständigen Wechsel, ihrem Gegenpol; was dazwischen liegt, ist Schmerz: die Unbefriedigung, Unruhe, zehrende Sehnsucht.

Wie angedeutet, scheint mir die Kraft des Reisetriebes allein in der Komplexion der Seele zu ruhen. Alle seltsamen Erscheinungen und scheinbar verworrenen Züge entfließen diesem Quellpunkte.

In fremden Milieus beobachtet, scheinen bekannte Menschen fremd. Es ist, als sähe man neue Facetten schillern, als träte Ungekanntes und Unvermutetes in ein jähes Licht und füge sich dann an die feststehende Wahrnehmung, als wichen Details, die man kennt, in den Hintergrund und ließen Züge plastischer hervortreten, mit schärferen Konturen und feineren Schatten. Man entdeckt in sich geheime Kräfte, wenn man in Rom, in Paris, in Norwegen war, man wird an fremden Orten plötzlich von etwas überrascht, das man gekannt zu haben vermutet, eine Saite erschwingt, die man nie in sich gehört, ein Akkord wird geweckt, dessen Ton voller klingt denn je, und so ist eine fremde Stadt wie das Plektron zum Saitenspiel einer neuen Seele.

Man »lebt auf«, man ist indifferent, man fühlt sich abgestoßen. Man ist nicht ganz derselbe Mensch, ist man am Nordkap, oder an der Riviera, man fühlt anders, wenn man über den Boulevard des Italiens, anders, wenn man am Ufer eines schottischen Sees wandelt – oder man fühlt überhaupt nicht. Man bemerkt plötzlich, daß man eine neue Seele in sich entdeckt hat, die unbewußt um Freiwerden gerungen und die man in Paris oder in Venedig befreit hat und die sich zu dem Stamme schlug. So ist eine Reise eine Art umgekehrter Metempsychose, in der ein und derselbe Leib verschiedene Seelen empfängt, sie aber festhält zu steter Amalgamation.

Man fühlt sich höher gelangt zu sein, wenn man aus fremden Gegenden zurückgekehrt ist, man hat das Empfinden, höher und voller geworden zu sein dadurch, daß man Fremdes gesehen und in sich aufgenommen hat; indem man an fremden Orten Menschen streift und verläßt, indem man sich um seine Beziehung zu ihnen bereichert und sie dann verläßt, fühlt man etwas, das über sie erhebt, über die kleine Welt, in der sie fortfahren zu leben, zugleich über die Sphäre, in der man bisher selbst gelebt hat.

So findet man durch jede Reise, an jedem neuen Orte, zu dem man sich gezogen fühlte, ein Stückchen seiner selbst und konstruiert sich dann aus diesen verstreuten Teilen sein Ganzes. Der Reisetrieb ist die Sammelkraft der Moleküle, aus denen eine Seele sich zusammensetzt. War das, was wir an einem Orte gefunden, so gewaltig und bedeutungsvoll für uns, daß es über unsere Kräfte ging, es uns in einem aneignen zu können, so fühlen wir uns an den Ort gebunden, oder wir werden von dem Verlangen beherrscht, ihn abermals und abermals aufzusuchen, bis wir uns voll erobert haben, was dort von uns und für uns vorhanden lag. Das ist der Quell, aus dem das Wasser der Fontana Trevi sprudelt.

Und sind wir dann von einer Reise zurückgekehrt und empfinden zugleich mit der Befriedigung durch das Erworbene deutlicher das viele sich regen, das in uns aus dem Schlummer fährt und vollends geweckt werden und sich Raum zwingen will und unser Gemüt in drängender Unruhe schwingen läßt, dann denken wir darüber nach oder lassen unsere Gedanken von unserer Sehnsucht bestimmen, was das Ziel unserer nächsten Reise sein wird.

Doch klärt sich endlich eine Seele zu runder Ruhe ab und schwindet und erlischt die Sehnsucht nach Ungesehenem, so formt sich aus den Erfahrungen und Erinnerungen die geheime Kohäsion, welche das Erworbene fest und sicher zusammenhält: ein voller Geist und eine volle Seele für ein alterndes Leben. Dann auch kommt erst Frieden in die Gedanken, in das Milieu, in die Form des äußeren Lebens, das sich in steter Assimilation stetig wandeln mußte, dann spinnen sich mählich die ersten Fäden zwischen der Seele und dem Boden: die Menschen hängen gegen das Ende ihres Lebens viel zärtlicher an dem Orte, wo sie begraben werden wollen, als an dem, wo sie geboren sind.

All diese Reflexionen drängten sich mir auf, während ich dieser Tage durch die Reihen verödeter Paläste und verlassener Miethäuser schritt. Dann bog ich in eine kleine Nebengasse ein – dort standen alle Häuser laut und bewohnt, und unter den Menschen, die mir entgegenkamen, waren etliche, von deren Gesicht ich Sehnsucht herablesen konnte, die Sehnsucht nach dem Fremden und Fernen, zugleich mit der bitteren Falte des Entsagenmüssens. Aber vielleicht war das nur ein Reflex der Ideen, die mich eben beschäftigt hatten.

(1896.)


 << zurück weiter >>