Arthur Holitscher
Adela Bourkes Begegnung
Arthur Holitscher

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275 Der August war heiß und trocken in der Umgebung Londons. Die Gärten und Wiesen von Kew und Richmond strömten Blumen und Heuduft herüber in die offenen Fenster des Häuschens, darin Adela seit Wochen einsam mit Sheila und Feuer hauste.

Sie verlag halbe Tage unten im Schatten der hohen Wickenstauden, die in zarten Farben, von der Sonne durchschienen, bis zur Höhe des Daches emporgerankt waren. Adelas Hände lagen durchsichtig und müde auf ihrem Schoß; Blut und Adern schimmerten durch die Haut in den Farben der feinen und rasch verwelkenden Blüten. Sie ruhte mit geschlossenen Augen in dem bequemen Stuhl und ließ ihre Gedanken vorbeiziehen. Ein Buch nahm sie nur selten zur Hand, Zeitungen hatte sie, seit sie in Mrs. Newalls Haus weilte, überhaupt nicht mehr gesehen. Zuweilen nahm sie das kleine Onyxkreuz vom Schreibtisch mit sich hinunter und behielt es stundenlang zwischen den Händen. War Sheila bei ihr, so versteckte sie es in ihrem Ärmel oder den Falten ihres Kleides. Aber wenn das Kind dann in den Garten lief, zur Grotte, die es seinen Puppen gebaut hatte, zur Schneckenkolonie bei der Mauer, dann holte sie das steinerne Zeichen wieder hervor und umklammerte es mit ihren Händen.

Sie litt darunter, daß Herr Lucas lange nicht mehr bei ihr gewesen war. Sie konnte es sich nicht erklären, was die Ursache dieser langen Abwesenheit sein mochte. Das letztemal war er bei ihr gewesen, als Feuer zu ihrem Schreck mit versengtem Fell und großen blutenden Striemen plötzlich im Zimmer aufgetaucht war. Das hatte Herrn Lucas wohl erschreckt. Sie wußte ja: in seiner Seele gingen sonderbare Ereignisse und Gefühle durcheinander und führten ihn ihren unergründlichen Weg. Sie hätte sich gern von dem Tier getrennt, hätte sie nur gewußt, daß sie dadurch den Freund wiedergewinnen könnte.

276 Denn sie brauchte ihn. Er hatte ihr schon oft geholfen. Noch zuletzt hatte er sich mit ihr über den schrecklichen Abgrund ihrer Träume gebeugt, die sie zu überwältigen drohten. Jetzt brauchte sie ihn dringender als je. Denn aus ihrem Traum war mit einemmal eine Vorstellung, eine Folge von Worten, eine Verszeile aufgetaucht, deren Ursprung sie nicht zu finden vermochte. Wo standen diese Worte? Wo hatte sie sie gehört? Gelesen? Nein – gehört! Vielleicht selber gesprochen. Seltsam war es, sie konnte sich an die Worte nur erinnern, wenn sie sich an einen Tonfall, einen klagenden, wogenden Klang mit erinnerte. Der kam unbedingt aus dem Traum in ihr Bewußtsein und beängstigte ihren wachen Tag, da sie sich nicht zu entsinnen vermochte. Diese krankhafte Qual verfolgte sie seit Tagen beständig, sie verlebte ihren Tag unter den Wickenblüten mit unerklärlichem Mißmut, in einer langen Melancholie, aus der sie nur für Minuten auftauchte.

Waren die Worte vom Dichter der Annabel Lee? Sie hatte sich die Gedichte Edgar Poes gekauft, um das Gedicht, von dem Herr Lucas oft sprach, lesen zu können. Sie durchforschte das feine, in Wildleder gebundene Büchlein nach den Worten, deren Ursprung sie quälte, fand sie nicht.

Sheila fand ihre Mutter jetzt am Abend oft vor ihrem Schreibtisch sitzend, den Kopf in die Hand gelegt, einen Briefbogen vor sich im Schein der Lampe. Wenn das Kind dann näher kam und frug: »Mammy, an wen schreibst du?« dann konnte es vorkommen, daß Adela rasch, als wäre sie ertappt, das Blatt mit beiden Händen verdeckte. Aber Sheila hatte ja doch gesehen: das Blatt war immer leer. Warum schrieb Mammy nicht, wenn sie so lange vor dem Briefbogen saß?

Sheila sprach mit ihren Puppen über diese sonderbare Entdeckung. Sie tat dies, ohne die Lippen zu bewegen, 277 die Puppen verstanden sie. Oft sah sie auch, wie die Mutter, ohne eine Feder zur Hand zu nehmen, leise mit dem Finger die Konturen von Buchstaben auf das Papier strich, dann aufhörte und hierauf dieselbe Zeile wieder mit dem Schatten des Fingers auf das blanke Papier zeichnete. Sheila unterhielt sich mit Rubidack und Joan über dieses seltsame Gebaren und kam mit den Geschöpfen überein, daß es Herr Lucas sein müsse, an den sie schrieb, ohne es zu wagen – an den einzigen Freund, den sie besaß, und der ihr den Rücken gekehrt hatte.

Auch Mrs. Newall fand ihre Mieterin zuweilen so vor dem leeren Blatt sitzend, das dann, wenn sie die Stuben aufräumte, genau und durchs Licht besehen nicht das geringste Zeichen einer Schrift an sich trug.

Mrs. Newall drehte und wendete das Blatt nach allen Seiten und legte es auf seinen Platz zurück. Sie sprach sogar mit dem Professor im Erdgeschoß über diese Absonderlichkeit ihrer Mieterin. Aber der murmelte etwas von berechtigter Vorsicht gegen die Neugierde von unbeschäftigten Personen, worauf Mrs. Newall die Glastür zum Atelier zuwarf, so daß das Klirren im ganzen Hause zu hören war.

Leidend und matt schleppte sich Adela die Treppen hinauf, in den Garten zurück.

Die Dürre hielt nun schon seit Wochen an, oft schien es ihr, als müsse ihr Herz unter dem Stocken des Atems, das ihren Körper erschütterte, aufhören zu schlagen. An den Sonntagen raffte sie sich auf und fuhr nach Hampstead in die kleine Kirche zu St. John.

Sie lag noch auf den Knien, als die Gemeinde schon aus der Andacht erwacht war. Es tat ihr wohl; oft vergaß sie vollends, wo sie war und in welcher Umgebung. Auch die Orgel vermochte sie nicht aufzuwecken. Im Vorübergehen hatte sie einen Blick auf die Fenster im ersten Stockwerk des Hauses in Church Row geworfen, und jetzt, während 278 sie kniete, lag der Glanz der Scheiben noch unter ihren geschlossenen Lidern.

Sie sang jene heimliche Folge von Worten, jene verschleierte Verszeile wie eine Strophe des Psalms, den die Gemeinde angestimmt hatte, mit, es war ihr dabei zu Mute, als bete sie so inbrünstig wie nur irgendeiner oder eine der Gemeinde in der kleinen altmodischen Kirche. Daß das eine Blasphemie sein könnte, was sie da tat, kam ihr nicht in den Sinn, obzwar sie aus reinem Drang, zu Gott zu beten, in die Kirche gekommen war. Je stärker sie eins werden konnte mit dem Allmächtigen, um so gekräftigter würde sie den geheiligten Raum verlassen können, um ihr Werk zu tun! Es war, seit sie fern von den Menschen lebte, die einzige Quelle! Undeutlich gewahrte sie durch diesen Vorsatz ihr Verbundensein mit den Menschen in West-House, mit Cora Strattons Mutter, mit Falkoner und ihrem Kreis. Gab sie sich ihnen hin, dann eröffneten sie sich ihr, zog sie sich in ihr Inneres zurück, dann erkalteten sie, und die Kraft, die sie brauchte, wich weitab. Sie brauchte die Kraft. Die Kraft kam von Gott. Sie sammelte sich im Gebet, im Gesang, in dem Behältnis der Andacht, die die christliche Gemeinde von St. John erfüllte. Adela kam spät am Nachmittag, da die Bahnen selten fuhren und sie öfters umsteigen mußte, in dem Häuschen bei Kew an und verbrachte den Rest des Tages in einem Zustand von glücklicher Erschöpfung. Diese Stunden des Sonntags stellten ihre einzige Verbindung mit der Welt draußen her, aus der ihr auch Briefe und Nachrichten kaum mehr zuflogen.

Er mußte unterwegs sein – auf dem Meer, zurück. Sie wußte es, mehr als sie es ahnte oder aus der Erinnerung kalendermäßig berechnen konnte. Er mußte unterwegs nach England sein, dessen war sie sicher.

Sie hatte von einem Ornament, goldenen Zweigen und 279 Rosetten auf einer weißlackierten Bretterwand geträumt – sie hatte diese Wand ganz deutlich gesehen, die etwas schräge geschnitten war, nicht wie die Wand eines gemauerten Hauses, sondern eher einer Kajüte. Und sie hatte sie durch ein Fenster erblickt, hinter dem aber etwas Fließendes, Fliehendes war, etwa wie die Spiegelung der Meeresfläche in einem geschliffenen Spiegelglas. Keinen Menschen, einen Raum bloß. Das war weiter nicht wunderbar; das Schiff, die Ruderschläge, beherrschten ihre Vorstellung, zumal im Schlaf – sie erwachte oft von dem Schall der Ruderschläge, vom Spiel der glitzernden Wellen über sich – die Ruderschläge erwiesen sich als die Hufschläge des Pferdes im Stall der entfernten Villa, das Flirren der Wellen aber als das Spiel der Schatten und Lichter, das die Morgensonne durch das Laub des Gartens an die Zimmerdecke zauberte, während der Morgenschlaf sich verflüchtigte.

Sie blickte durch das Fenster und sah keinen Menschen. Aber das hieß nicht, daß im Raum, in den sie blickte, niemand anwesend war. Sie wußte, dort drin bewegten sich Menschen, wie ihre Nächte ja auch von Gesichtern, die menschenähnliche Form trugen, beängstigt und belebt waren bis zum Alpdruck.

Einmal wachte sie mit einem Schrei auf, der sogar Sheilas tiefen Kinderschlaf störte und zerriß: Michael Malone stand langsam auf von seinem Platze gegenüber ihrem Bett und trat in die tausend Figuren der Tapete zurück, während die Haustiere ihrer Mutter, mit denen er gespielt hatte, auseinanderstoben und sich mit Lauten, wie fernes Pfeifen, in die Winkel verkrochen und verflüchtigten.

Michael hatte einen langen dunklen Bart, der ihm ungepflegt und verwildert an den Backen niederhing, sie erkannte ihn kaum in solchem Aussehen! Er hatte wohl höhnisch zu ihr gesprochen, denn sie erwachte mit dem Gefühl des Zornes darüber, daß sie erwacht war, ehe sie ihm die gebührende Antwort gegeben hatte.

280 Dann war Herr Lucas erschienen, gebückt, mit schlurfenden Schritten, quer durch den weißgoldenen Raum an dem Fenster vorüberschreitend, das seine Gestalt aber wie ein Zauberspiegel verschlang und nur dem Gefühl, nicht dem Gesicht auslieferte. Er wollte sie nicht ansehen, hatte seinen Hut tief in die Augen gezogen und war vorüber, ehe sie sich's versah. Stumm hatte sie ihn gehen lassen.

Und auch ein Mensch, den sie Garrat nannte, kam durch ihre Träume geschritten. Sie konnte ihn nicht beschreiben, denn er trug nicht die wesenhaften Züge weder Herrn Lucas' noch Professor Hanslows, noch auch des Geistlichen von St. Johns, eines alten Herrn mit rasierter Oberlippe und zottigem Schifferbart unter dem Kinn.

Aber es war Garrat.

Und wenn sie es bedachte, welche Sicherheit sie denn hatte, daß gerade der Gedanke an ihn sich ihrem Traum und Wachsein mit solcher Bestimmtheit aufdrängte, so konnte sie nur mit der Stimmung, die sie den Tag über beherrschte, auf diese Frage Antwort geben. Oft gelang es ihr zwischen Morgen und Abend nicht mehr, den Gedanken an Garrat loszuwerden. Es war fast eine Besessenheit, gegen die selbst das Amulett des Onyxkreuzes nichts auszurichten vermochte.

Sie haßte dann Garrat, weil jeder Versuch, sich seiner Anwesenheit in ihren Gedanken zu erwehren, fehlschlug und sie sich von ihm gegen ihren Willen überwältigt fühlte.

Einmal mußte sie aufspringen und ging in blinder Unruhe eine Stunde lang bis zur Erschöpfung in der kleinen kurzen Allee zwischen den Blumen ihres Gartens auf und nieder. Wie in einem Ruck hatte sie das gefühlt: daß ihr Widerstreben gegen Garrat auf ihn selbst in dieser Minute, in dieser Sekunde zurückwirken mußte und daß er eine verzweifelte Handlung beging, irgend etwas, sie wußte nicht was – vielleicht nur ein Wort sprach, das seinen Prozeß 281 unheilvoll berührte, ihn in eine Sackgasse stieß, aus der es keine Errettung mehr gab!

Sie frug sich, die Hände gekreuzt über der Brust: was sie denn von ihm erwartete. Das Geständnis seiner Schuld, die er leugnete?

Sie konnte es nicht sagen, worauf sie wartete. Sie wartete auf Lösung.

Es mußte irgendein Wunder geschehen, das eine Beziehung zwischen ihr und Garrat, der doch von seiner Weiterexistenz in ihrem Leben keine Kenntnis haben mochte, herstellte! Irgend etwas, was ihn und sie selbst rettete. Was das sein konnte, wußte sie nicht. In der Kirche, auf den Knien, dachte sie an das Abendmahl, an die Beichte der Katholiken, an ein ernstes, mildes Wort christlicher Wahrheit, das ihr Erlösung und Ruhe gewährt hätte – aber sie dachte daran nicht im Hinblick auf den Mörder von Belle Garrat.

Saß sie am Abend, bis spät in die Nacht, unter ihrer Lampe beim Schreibtisch, dann verdichtete sich ihre Ahnung bis zur Sicherheit: daß er an sie dachte in dieser dunklen Stunde, in der die Erinnerungen an das Vergangene und Verlorene aufsteigen vor Menschen, die ihr Leben verspielt haben.

Sie war versucht, Hut und Mantel zu holen, in die Stadt zu fahren, Zeitungen zu kaufen, mit verstellter Stimme an das West-House zu telephonieren, zu fragen, ob Herr Lucas zu sprechen sei, ihn in das österreichische Kaffeehaus an der Ecke der Oxfordstraße zu bestellen, das er, wie sie wußte, oft besuchte. Aber sie hatte sich im nächsten Augenblick schon wieder in ihrer Gewalt, und nun lebte sie wieder das Leben Garrats an seiner Seite mit, verzweifelt und intensiv, wie die Gefährtin seiner Schuld; die Getötete und die Gefangene in derselben Person.

Denn wenn sie an Garrat dachte, wie er vor Jahren, 282 in den Maitagen, in denen das Leben noch nicht vertan war, ihr erschienen, dann stellte sich ihr sein ganzes Leben unter diesem unglücklichen Gestirn dar, einer Leidenschaftlichkeit, die sie in versteckten, heimlichen Augenblicken an ihm bemerkt hatte. Einmal, als er sich unbeachtet glaubte und in Maidenhead in einem Gasthause mit der Kellnerin schäkerte. Sie entsann sich der Erkältung, des mahnenden Widerwillens, der sie bestimmte, auf ihrer Hut vor diesem Mann zu sein. Und dann war der Auftritt und das Entfremden, ohne verletzende Worte, von selber in der Tiefe der Empfindung erfolgt, alldas, was nun in beiden wie eine Treulosigkeit, wie der Bruch eines Gelöbnisses weiterleben mußte; Adela fühlte es: in Garrat ebenso wie in ihr, obzwar ja kein Wort gegeben, keine Hoffnung enttäuscht worden war, sondern ihre Wege, die eine Weile im Einvernehmen nebeneinander gelaufen waren, auseinanderstrebten und sich im Nebel weit voneinander verloren.

Die beiden, die Ermordete und die Gefangene, sie waren eins, und sie, Adela, war die andre.

Zuweilen fühlte sie sich von einer jähen Welle gepackt und mitgerissen – da war es offenkundig: Garrats Gedanken waren mit voller Hingabe bei ihr!

In solchen Augenblicken der Offenbarung verließen sie fast ihre Kräfte. Die Knie wankten ihr unter dem Leibe; sie fühlte, wie ihr krauses Haar feucht wurde und sich glatt legte über der Kopfhaut, die dampfte. Sie mußte ein Lager aufsuchen vor Schwäche, ihr Bett, oder den Liegestuhl, wenn sie sich im Garten befand.

Dieses Gefühl war von keiner langen Dauer. Es verließ sie bald, aber sie konnte sich aus dem Zustand, der einer Lethargie, fast einem sinnlichen Rausch glich, nur schwer wieder erholen.

Daß er von ihr wußte, an sie dachte, war ihr zur Gewißheit geworden. Sie fürchtete die Wiederkehr des 283 Augenblicks, in dem ihr diese Gewißheit wurde, aber sie dachte andrerseits auch oft mit solcher Inbrunst an seine Wiederkehr, daß sein Ausbleiben, das Ausbleiben der Überrumpelung sie enttäuschte und mit Traurigkeit erfüllte. Denn sie wünschte und wollte ja die Verbindung – sie wartete und hoffte auf die Lösung!

Aber es kamen andre Augenblicke über sie, und diese brachten Zustände maßloser Erregung und Erschütterung mit sich, so daß sie glaubte, einer Wiederholung solch einer Prüfung nicht mehr gewachsen zu sein, ihr unterliegen zu müssen.

Bei ihrem Abscheu vor Malone hatte sie das Gefühl physischer Eifersucht nie an sich erprobt. Anders aber konnte sie die Zustände nicht benennen, noch sich erklären, die sie in jenen Augenblicken überfielen, in ihr Inneres griffen, so daß sie an ihnen zugrunde zu gehn fürchtete. Sie wußte: Eifersucht war eine ungenügende Bezeichnung, eine triviale Auslegung dafür, was sie in jenen Augenblicken der Erschütterung beherrschte: denn sie fühlte in solchen Augenblicken mit tödlicher Gewißheit Garrats Verbindung mit Belle, seine Erfülltheit von den Gedanken an die Ermordete, die so stark waren, daß sie alles, alles um seine sündige Seele herum austilgten und verbrannten.

Das erstemal traf sie solch ein Augenblick zur Zeit ihrer Unpäßlichkeit. Mrs. Newall, die das Abendessen in Adelas Zimmer brachte, fand ihre Mieterin in einem Zustand völliger Vernichtung an, sie stellte zitternd das Tablett auf den Stuhl nieder und glaubte, ihre Mieterin sei plötzlich gestorben.

Sie stürzte zu ihr, rüttelte und rieb ihre Hände, Arme, Stirne. Adelas Augen standen offen, das Herz hatte ausgesetzt.

Mrs. Newall lief schreiend die Treppe hinunter, wollte zum Arzt nach Brentfond hinüberlaufen, der sie vor Jahren 284 behandelt hatte. Aber sie getraute sich nicht, Adela mit dem Kind, das im Garten spielte, allein zu lassen, lief in Angst nochmal die Treppe hinauf und wurde von Adela mit schwacher Stimme angerufen.

Dieser Stunde entsann Adela sich lange noch. Sie hatte erraten, sie hatte Gewißheit. Zwischen solchen Erschütterungen lebte sie ihre Tage, sie kamen und gingen und sie wußte, daß sie sie dem Ziel näher führten, Stunde um Stunde, Augenblick um Augenblick.

Oft dachte sie an Cora. Sie dachte viel an Garrats Leben, seine Entwicklung, sein Schicksal, das ihn so weit vorwärtsgetrieben hatte, und wohin noch treiben wird? An Cora aber dachte sie mit Traurigkeit und Mitgefühl. War er von Sorge um das Mädchen erfüllt? War ihm die Verantwortlichkeit bewußt, die er auf sich geladen hatte, als er sie in sein Schicksal mitgerissen hatte?

Sie fühlte einen schneidenden Schmerz bei dem Gedanken, daß Garrat Cora, die, wie sie wußte, trotz ihrer Leichtfertigkeit treu zu ihm stand, nicht genug lieben und schützen könnte. Daß ein unbedachtes, böses, oder auch nur aus Angst gefälschtes Wort das Mädchen verraten könnte und er so an ihrem Untergang schuld werden müßte.

Adela versuchte zu beten, wenn sie das Kreuz in ihren Händen hielt. Sie betete zuweilen die alten Worte der Kindheit, an Jesum, Erlöser der Welt, für alle, die im Schlaf befangen, ringsum in den Häusern die Nacht verbrachtem Sie schloß in das Gebet den Namen des Mädchens Cora Alix Stratton ein. –

*

»O, ich bin so traurig – was soll ich von all diesem denken? Zuletzt war sie bei mir – lassen Sie mich nachrechnen – o, es müssen über sechs Wochen vergangen sein seither – wir hatten eine gutbesuchte Sitzung, ich erinnere, 285 sogar unsre gute alte Lady Wemyß, die Witwe des Parlamentsmitgliedes war zugegen – nächsten Morgen läutete sie bei mir an, Lady Wemyß, und frug mich über Adela aus . . . sie war konsterniert über ihr Wesen . . . Ja, es steckt irgendein Geheimnis hinter dem Leben von Mrs. Malone, ich glaube sogar, ich war ihm auf der Spur – aber warum hatte sie dann unsre Protokolle mitgenommen, unser Arbeitsmaterial?«

»Sie hat Besuche bei den Armen gemacht, ich weiß es!« sagte Mrs. Winterod.

»O, ja, erinnerst du dich, Bessie? Einmal begegneten wir ihr auf der Treppe, sie schien ganz verstört; als du sie frugst: aber gute, beste Mrs. Malone, wie befinden Sie sich? antwortete sie: sie komme soeben aus den Slums, den Roseberry-Mews, hinten in Bermondsey irgendwo, glaube ich.«

»Ja, ihre Gesundheit war nicht die beste,« sagte Miß Falkoner. »Sie war in kurzer Zeit gealtert, sah verfallen aus, aber warum übernahm sie es dann, zu arbeiten? Eines Tages erhielt ich alles, was sie mitgenommen hatte, zurück, es lagen drei Bogen, vollgeschrieben von ihrer Hand, Befundaufnahmen vor, aber ich fahndete vergeblich nach einer Zeile, die sie doch privatim an mich gerichtet dem Konvolut hätte beilegen können . . . wir waren ja Freundinnen . . . nichts, und in all diesen Wochen kein Lebenszeichen!«

»Uns geht es nicht anders. Und keinem hier in unserm lieben West-House. Sogar unsre teure Miß West weiß nichts von ihr . . . doch vielleicht einer . . . aber es steht nicht fest . . .«

»So? Wer?« frug Miß Falkoner. Ihr Kneifer funkelte.

»Es ist unrecht von der Dame«, sagte der alte Herr Winterod. »Wir hatten sie in unser Herz geschlossen.«

»Sie hatte einen Kummer, John!« sagte Frau Winterod. »Sie hatte einen Kummer. Ich fühlte es aus ihrem ganzen Gehaben heraus. Darum ging sie abseits.«

286 »Wir vermissen sie sehr. Und ihr süßes Kind auch,« sagte Herr Winterod.

»O, dieses kleine Mädchen!« seufzte Miß Falkoner. »Ich verzweifle daran, aus ihm klug zu werden. Übrigens hat sich, als sie zuletzt bei mir war, Adela vor mir und allen den Damen und Herren bezichtigt, an dem Unglück ihres Kindes Schuld zu tragen, vor der Geburt, behauptete sie, durch die mangelnde Liebe, die sie dem Kind gegeben hatte – o, sie war schwer von Gemüt, die arme Frau, ich bin in Sorge um sie, ja, wahrhaftig in banger Sorge.«

Mr. und Mrs. Winterod schwiegen und dasselbe tat Miß Falkoner.

Aber mit einemmal wurde die Türe aufgestoßen und Miß Dalmayne trat ein, in großer Aufregung, und führte Sheila an der Hand.

Das Kind hatte einen breiten Sommerhut umgebunden und hatte kleine Zwirnhandschuhe an.

»Denken Sie sich – wer mir hier im Flur auf dem ersten Stock begegnet!« rief Miß Dalmayne. Sie drückte und herzte das Kind und konnte sich kaum beruhigen.

»O, Baby!« Miß Falkoner war auf Sheila losgestürzt.

»Wo ist deine Mammy!« rief das alte Ehepaar. Sheila ging zu Herrn und Frau Winterod, zu Miß Falkoner, reichte allen schweigend die Hand und blieb dann bescheiden in schweigendem Ernst vor den Anwesenden stehn.

Dalmayne hob sie auf einen Stuhl. Alle umringten sie. »Allein?« frug Falkoner betreten. Dalmayne nickte für das Kind, den Blick fanatisch nicht von dem Gesichtlein Sheilas gewandt, Tränen in den Augenwinkeln.

»Wie ist das möglich. Wo kommst du her? Endlich werden wir erfahren. Wo hast du Mammy gelassen?«

Das Kind saß schweigend da und blickte vor sich hin.

»Warum sprichst du nicht? Hast du eine Botschaft für 287 einen von uns? Läßt Mammy was sagen? Darf nur einer von uns es hören?«

»Miß West?«

»Vielleicht Herr Lucas . . .«

»Warum spricht sie nicht?«

»Baby, so höre doch! Gott, so sprich doch.«

Sheila zupfte sich den rechten Handschuh ab: »Feuer, unsre Katze ist seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen. Ich wollte nachsehen, ob sie sich geirrt hat und hierher gelaufen ist.«

Dalmayne brach zuerst das Schweigen. »Nein, sie wird nichts mehr sagen, ich kenne dieses Kind. Wir werden nichts mehr aus ihr herausholen. So ist sie.«

»Ach, Miß Dalmayne, Sie verderben alles!« sagte Mrs. Winterod. »Komm zu mir, Baby, sage, wie geht es Mammy!« Und die alte Dame holte Konfekt, Keks, Krachmandeln aus dem Schrank, drängte alles dem Kinde auf – Sheila nahm mit spitzen Fingern eine Mandel, aß die Hälfte, legte die andere aufs Tablett zurück.

Eine halbe Stunde später ging sie, wie sie gekommen war und hatte nichts verraten, auf alle Fragen die gleiche Antwort gegeben: Feuer sei fort, sie sei Feuers wegen gekommen.

Auf dem Wege hinunter beschwor Dalmayne das Kind unter Tränen, der Mutter zu bestellen, wie sehr sie sie entbehre; sie sei unglücklich, habe niemanden, mit dem sie sich beraten könnte und sie müsse, ja sie müsse Adela sehen. Unbedingt. Sie sprach zum Kinde wie zu einer Erwachsenen. Aber Sheila ließ kein Wort mehr hören. –

Sie ging über den Nachtigallenplatz und bog dann in die Straße ab, die zum Britischen Museum führte. Sie durchquerte den Vorplatz und betrat die Säulenrampe. –

»Bitte, Sir, wo ist die Abteilung von Indien?«

288 Der Diener sagte: »– Kind, die Sammlungen sind schon gesperrt.«

»Die Bücher von Indien,« verbesserte sich Sheila.

»Die Bibliothek ist noch offen,« sagte der Diener.

»Dann, bitte, führen Sie mich dorthin, wo man die Bücher über Indien liest.«

Der alte weißhaarige Diener lächelte und winkte einen Kollegen heran, der mit Folianten bepackt aus dem seitlichen Manuskriptsaal nach der Kuppelhalle hinüberging.

Aus der Kuppelhalle kamen zwei Herren heraus und wollten zur Garderobe. »Sheila!«

Es war Herr Lucas. Mit ihm ein junger, schmächtiger Mann von olivbrauner Hautfarbe und mit einem blauen tätowierten Stern zwischen den Augenbrauen.

Sheila drehte sich nach Herrn Lucas um und reichte ihm ohne das geringste Zeichen von Überraschung ihr Händchen.

»Sie sollen zur Mammy kommen, Herr Lucas,« sagte sie leise und indem sie sich abwandte, damit der Inder sie nicht hören könne.

»Ist deine Mutter mit dir? Ist sie im Wagen? Hier im Museum?«

»Nein, Freund,« sagte Sheila. »Sie ist nicht hier: sie weiß auch nicht, daß ich fort bin, um Sie zu holen. Sie glaubt, ich spiele mit den Kindern in Kew Gardens. Sie darf es auch nicht wissen, daß ich zu Ihnen gekommen bin, denn ich habe ein Fünfschillingstück aus der Schale genommen und bin mit dem Omnibus gefahren.«

»Sheila! Kind! Du bist allein in die große Stadt gefahren, du kleines Mädchen?«

»Ja,« sagte Sheila ruhig. »Denn Sie müssen bald zu Mammy kommen. Sie haben mit Mammy immer gesprochen, und das hat ihr wohl getan. Mammy muß mit jemand sprechen. Ich weiß es, Mammy ist krank. Sie müssen kommen, Freund, so als ob ich nicht bei Ihnen 289 gewesen wäre und Sie ganz allein wiederkämen. Sonst ist es nicht gut.«

»Deine Mutter ist krank?« sagte Herr Lucas.

»Ja, Sie müssen bald zu ihr kommen. Versprechen Sie es, Freund, Mr. Lucas!«

Herr Lucas verabschiedete sich von dem Inder, fuhr mit Sheila im Omnibus nach Kew. Er wollte wissen, was Sheilas Mutter fehle. In welcher Form sich die Krankheit äußere. Ob Adela etwas verlauten ließ, was darauf schließen lasse, daß er, Lucas, ihr Hilfe bringen könnte? Aber das Kind sprach hartnäckig an diesen Fragen vorbei. Sie überhörte sie eigensinnig und sprach von ihren Schnecken, von Golly, ihrer Puppe, die sich mit der Kolonie an der Mauer angefreundet habe, im Gegensatz zu Rubidack, der ein Bein verloren hatte und das Zimmer hüten müßte.

Schweigend fuhren die beiden die letzte weite Strecke von Hammersmith bis zum Tor der Gärten von Kew. Dort stiegen sie aus. Sheila nahm Herrn Lucas das feierliche Versprechen ab, ihre Mutter in den allernächsten Tagen zu besuchen. Dann ging Sheila nach Hause. Herr Lucas bestieg den nächsten Omnibus, der nach London zurückfuhr.

*

Sonnabend abend fand sich Adela im Laden des Schneiders ein. Sie war befangen, setzte sich auf den ihr angebotenen Stuhl, zog den Schleier tiefer über ihr Gesicht herab. Herr Lucas war noch nicht zugegen. Warum verspätete er sich? Adela sagte sich: Ach, ich hätte nicht kommen sollen. Dieser Schneiderladen! Was suchte sie hier? Wie schon einmal in ihrem neuen Quartier bei Frau Newall, kam sie sich heruntergekommen vor. Sie war doch Dame! Was hatte sie bei dem armseligen deutschen Schneider zu suchen . . .

290 Gottfried Tillmann hatte im Laufe der fünfundzwanzig Jahre, die er nun ununterbrochen in London verlebt hatte, die englische Sprache noch nicht richtig erlernt. Er unterhielt Adela auf linkische Art, mit gutmütigem Humor; erkundigte sich nach seiner alten Freundin Mrs. Newall – er schien Kenntnis davon zu besitzen, daß Adela ihre Pensionärin geworden sei – und als Adela zu allen Fragen entweder stumm nickte oder einsilbige Antwort gab, und auch Herr Lucas nicht kommen wollte, holte der alte Schneider das große, eingerahmte Bild aus dem Schaufenster und begann, es Adela zu erklären.

Er war, das war sogleich zu merken, recht stolz auf seine Komposition. Mit verstecktem Sarkasmus (den Adela aber nicht verstand,) behauptete er, der deutsche Kaiser habe etwas Ähnliches entworfen: Völker Europas, haha! Aber seine Komposition unterscheide sich doch in manchen Stücken von der des Kaisers, ha, jawohl! Und er deutete Adela umständlich den Sinn des Karrens mit den beiden Rädern: dem goldenen des Kapitalismus und dem blutigen der Heeresmacht, dann das gemeine Volk, das vor den Karren gespannt war, und auf dem Karren die hochgetürmten Schichten der parasitären Gesellschaft: Bureaukraten, Unternehmer und Spekulanten, Geistlichkeit, Adel, Prinzen, Kaiser. Alle werktätigen Berufe waren unter den Karrenschleppern vertreten. Ganz vorn sah man mit gebeugtem Rücken Schneider Tillmann mit Brille und Ziegenbärtchen, eine Elle und eine mächtige Schere in den herunterhängenden Händen, ziehen und schleppen. Bänder mit Inschriften zogen sich um das Bild: Aussprüche von Marx, Proudhon, Krapotkin und Tillmann. Adela hörte aufmerksam zu und wünschte, sie wäre nicht gekommen. Endlich tat sich die Tür auf und Herr Lucas trat herein.

Herr Lucas entschuldigte sich bei Adela und dem Schneider wegen der Verspätung. Er fürchtete, daß er Schuld 291 daran tragen werde, wenn sie von dem Vortrag seines großen Freundes im Klub nur die Hälfte hören würden.

Adela fühlte: er hatte bis zuletzt geschwankt, ob er kommen solle oder nicht. Und auch das vermerkte sie: Herr Lucas behandelte Schneider Tillmann mit einer sie in Erstaunen setzenden Ehrerbietung. Er war wohl seinetwegen gekommen, in erster Linie des Schneiders wegen! Ihr Unbehagen wuchs, aber es war ihr ja klar, daß sie, um seine Freundschaft zu bewahren, zu jedem Opfer bereit gewesen wäre.

Sie sagte Herrn Lucas sehr leise und unter dem Schleier errötend, wie sehr sie ihn vermißt habe. »Sie sind das letztemal mit einem Schreck in den Gliedern von mir fortgegangen, ich weiß es. Was kann ich machen? Meine Mutter hat mir das Tier mitgegeben. Jetzt ist es den vierten Tag verschwunden; ich glaube wirklich, es ist besser so. Wann kommen Sie wieder zu mir? Sie müssen wiederkommen! Es ist so gut von Ihnen, daß Sie sich meiner wieder erinnert haben. Ich war bereits verzweifelt.«

»Ich hoffe, daß der Vortrag im Klub Sie befriedigen wird. Ich sprach Ihnen bereits von Ochoroff, meinem großen Freund. Es ist derselbe, der sich mir so innig angeschlossen hat, damals, als ich in die unbekannte Gesellschaft in St. Johns Wood eindrang.«

Schneider Tillmann war in die hintere Stube eingetreten. Herr Lucas sagte leise: »Es ist eine wunderbare Kraft in diesem Deutschen. Er ist ein gläubiger Mensch. Er und seine Freunde leben vollständig in ihrem Glauben befangen. Sie sind von einer einzigen Idee erfüllt. Sie jagen ihrem Schicksal nicht durch die Welt nach, noch auch durch die Straßen der Stadt. Sie werden nicht von Hoffnungen gequält, z. B. in der nächsten Stunde einem Wesen zu begegnen, das Schuhe aus zusammengefaltetem Zeitungspapier an den nackten Füßen trägt, einem einst im 292 Schein der Stromlaternen für einen Augenblick erblickten menschlichen Wesen. O, diese Menschen sind glücklich. Sie haben es in sich gefunden, wonach mancher andre rennt und rennt. Eine große Kraft strömt aus ihnen herüber – und ich fühle sie. Ein warmer Golfstrom! Sie lieben die Zukunft, das ist: die Menschheit. Sie lieben die Menschen! Die unauffälligen, die alltäglichen so gut wie die außerordentlichen. Es ist Liebe, was von ihnen so stark in einen selber herüberstrahlt, eine bezwingende Idee. Oft fühlt man sich ganz überwältigt, so groß ist ihre Kraft.«

Adela sagte: »Ich freue mich auf den Vortrag Ihres Freundes im Klub. Wie gut, daß Sie an mich gedacht haben, um mich zu den liebenden Menschen mitzunehmen.«

Schneider Tillmann schloß den Laden zu. »Well, wir haben nur drei Häuser weit zu gehen.«

Der Klub war auf der andern Seite der kleinen Windmühlengasse gelegen, im geräumigen Hinterzimmer oder Versammlungssaal eines kleinen Hotels, in dem arme Leute, Schweizer Kellner und ähnliche wohnten.

Auf einer Tribüne an der Rückwand des vollbesetzten Saales saßen an einem langen Tisch fünf Männer und zwei Frauen. Einige unter ihnen schienen dem Arbeiterstand anzugehören, andre sahen wie Künstler aus. Adela fühlte sich vom Anblick einer jungen, schlicht gekleideten Frau angezogen, die mit aufgestütztem Kinn und geschlossenen Augen dem Redner zunächst am Tische saß. Ihre außerordentlich bleiche Gesichtsfarbe wurde kaum von dem über ihr brennenden rötlichen Gaslicht belebt. Neben ihr saß ein Mann mit kranken Augen und dünnem blonden Bart, der ihm in langen Strähnen auf die Brust niederfiel.

Viele Blicke hatten sich den Neuangekommenen zugewendet. Adelas Eleganz erregte keine Aufmerksamkeit, es saßen in der Zuhörerschar, die zum überwiegenden Teil aus Handwerkern bestand, versprengt Männer und Frauen in 293 guter, modischer Kleidung. Adela bemerkte eine Dame mit einem sehr einfachen, aber, wie ihr dünkte, schönen und geschmackvollen Hut, der sicher aus der Werkstatt eines guten Putzmachers stammte. Die Frau unterhielt sich mit ihrer Nachbarin, die ohne Hut dasaß und ein schlafendes Baby auf ihrem Arme wiegte.

Vor dem Tische auf der Tribüne stand ein Mann und sprach. In seinem graubraunen Velvetanzug mit Metallknöpfen sah er wie ein Landfuhrmann oder Gemüsekrämer aus der Vorstadt aus. Er stand mit gesenktem Kopf vor der Menge und sprach.

Tillmanns Nachbar flüsterte dem Schneider ein paar Worte ins Ohr. Der Schneider wandte sich zu Herrn Lucas: »Es ist einer von den Belagerten in Maroon-Street!«

»Hat Ochoroff schon gesprochen?« fragte Lucas. »Ochoroff kommt nicht,« sagte Tillmanns Nachbar. Aus der Reihe vor ihnen wandte sich ein kleiner glühäugiger Jude um und sagte leidenschaftlich rasch: »Ochoroff kommt, er hat es ja versprochen! Ganz sicher wird er herkommen!« »Nun, um so besser,« sagte der Schneider. »Unsere verehrte Freundin würde sonst einen zu schlechten Eindruck vom Verein mitnehmen!«

Der kleine Jude schoß einen giftigen Blick nach Adela ab und drehte sich mit einem Ruck um.

Der Mann auf der Tribüne sprach im schlechten Cockneyjargon der Ostseite.

»Wir haben uns zusammengetan, um der Frau und den unmündigen Kindern unsres Kameraden aufs Land zu helfen. Sie sind in Sicherheit, und die Missis schreibt, sie habe gute Nahrung und Bleibe. Ben Simmons Beerdigung war eine schöne Feier. Die Polizei hat sich nicht blicken lassen auf dem ganzen Weg. Es liegen drei Kränze auf seinem Grab. Der eine hat eine rote Schleife, auf der steht (er zog eine Zeitung aus der Tasche, auf deren Rand 294 quer eine Zeile geschrieben war): ›Sie brannten dich zu Asche. Aus deiner Asche wird der Phönix auffliegen. Ruhe sanft! Die Kämpfer.‹«

Der Redner hatte geendet und setzte sich an den Tisch. Die Frau, die bleiche, tat die Hände von den Augen, stand auf und sprach: »Kameraden, wir danken unserm Freund Matthew für seinen Vortrag und das Gute, das er und seine Freunde für die Ärmsten in Maroon-Street getan haben. Das Proletariat wird es ihnen nicht vergessen.«

»Den andern aber auch nicht!« rief jemand mit leidenschaftlicher Stimme in den Saal.

»Nein – den andern auch nicht. Es kommt der Tag!« sagte die Frau. Dann fuhr sie fort: »Und jetzt, da unser Kamerad und Lehrer Ochoroff noch nicht anwesend ist . . .« Im selben Augenblick ertönte von der Eingangstür her eine frische und helle Stimme: »Es ist nicht wahr! Hier kommt er gerade!«

Alle wendeten sich nach der Tür. Händeklatschen ertönte, ein paar kleine, entzückte Schreie. Die Stimme, die man wohl einem ganz jungen, kecken Menschen hätte zuschreiben können, gehörte einem alten, hochgewachsenen, graubärtigen Mann, der sich mit Händedrücken nach rechts und links einen Weg durch die Anwesenden nach der Tribüne zu bahnte.

»Ochoroff!« sprach Herr Lucas mit leuchtendem Gesicht. Adela sah es, wie sein Gesicht leuchtete.

Schon hatte der Russe sich auf das Podium geschwungen, hatte die an dem Tische Sitzenden mit Händedrücken begrüßt und zu sprechen begonnen. Zuerst hörte man bloß diese frohe, zuversichtlich helle Stimme, die im Nu eine gute und freudige Stimmung verbreitete unter den Menschen im Saale. Adela fühlte sich von ihrem Schall erquickt, ehe sie noch aus dem fremdartigen Englisch, das der Redner sprach, über den Sinn seiner Worte klug geworden wäre. 295 Die langen, schmalen Hände Ochoroffs, die jahrelang Ketten getragen hatten, waren gefaltet erhoben und trennten sich nur zuweilen in einer seltsamen Gebärde, als segneten sie die Zuhörer. Ja, die Gebärden des Alten glichen Gebet und Segenspenden.

Ochoroff sagte, er komme zu spät, man möge es ihm verzeihen, er hatte unfreiwillig einer Art Volksfest beiwohnen müssen. Es sei ihm schwer geworden, sich einen Weg durch das Gewühl zu bahnen, das um den Euston-Bahnhof sich gestaut habe, wo er den Nachmittag bei einem Freunde verbracht hatte. Aber da er nun Zeuge des Ereignisses geworden war, ohne es zu wollen, sei er auf dem Weg hierher in die Windmühlenstraße zum Entschluß gekommen, über ganz andres zu sprechen, als was er sich für den Abend vorgenommen hatte: nämlich von der Liebe zum letzten verfemtesten Mitmenschen und von der Schuld der Gemeinschaft an seiner Tat, um derenwillen die Welt den Sünder als den Letzten und Niedrigsten verfemt und aus den Reihen der Menschen ausgestoßen habe.

»Wenn ihr euch der Worte erinnert, die ich in den letzten Wochen zu euch sprach, so werdet ihr es besser verstehen, was ich euch heute sagen will. Wir haben davon gesprochen, daß in der Gesellschaft der Zukunft, von der wir träumen und die wir vorbereiten, das Verbrechen einen nur geringen Raum einnehmen werde. Welche Taten begeht der sündige Mensch heutzutage? Er stiehlt, betrügt, mordet. Wir wollen die Not abschaffen – es wird keinen Diebstahl geben. Wir wollen unsittliche Verträge abschaffen, und es wird keine Notwendigkeit mehr dasein, daß einer den andern betrüge. Wir wollen das Leben der Menschen freudiger gestalten, wir wollen die Grundlagen der Existenz jedes einzelnen soweit bessern, daß er seine Empörung über die Ungerechtigkeit des Schicksals nicht an seinem Nebenmenschen auszulassen brauche. Der Mann, 296 dessen Namen ich euch nicht zu nennen brauche – er hat ein Verbrechen begangen, dessen Ursachen wir nicht in die gegebenen einreihen können, an denen der Gesellschaft der Gegenwart mit all ihrem Widersinn keine Schuld beigemessen werden kann und die auch die Gesellschaft der Zukunft nicht abschaffen können wird. Die Ursprünge seiner Tat sind unerkannt, und wir, die wir die heute noch die als sündig geltenden Triebe der Menschheit wissenschaftlich zu erkennen, sie durch die Beseitigung der Not und Ungerechtigkeit, die diese Triebe hervorgerufen haben, zu mildern und umzuschalten gewillt sind, wir müssen versuchen, auf andre Art den Trieben solch eines Verbrechers beizukommen – des Mannes, dessen Namen ich nennen werde, wenn ihr begriffen haben werdet, was ich mit meinen heutigen Worten sagen will.«

Ochoroff schwieg und blickte auf seine gefalteten Hände nieder. Er begann mit gedämpfter Stimme: »Sein Verbrechen wurde nicht im Dienste einer Idee, nicht aus einem Glauben und nicht aus dem Trieb der Rache für ungerechte Last begangen. Die Not und das Elend hat ihn nicht gezwungen, weder unmittelbar, noch mittelbar gezwungen, seine Tat zu vollbringen. Auch das Unglück einer schlechten Erziehung, der arge Druck einer schlimmen Erbschaft, Vater Säufer, Mutter Dirne, kann für seine Tat nicht verantwortlich gemacht werden. Der Ausgestoßene hat aus feiler, feiger Unfähigkeit, sein Schicksal zu meistern, das ein bürgerliches Schicksal der begüterten und leichtlebigen Klasse war, gemordet. Denn der Mann, von dem ich spreche, und der vor einer halben Stunde durch die johlende Menge von dem Eustonbahnhof in einem Automobil fuhr, ist, ihr habt es wohl erraten, der soeben aus Kanada eingetroffene Dr. Garrat, der Gattenmörder. Dr. Garrat, an dessen Verbrechen wir alle, Gerechte und Ungerechte, Notleidende und im Überfluß lebende Heutigen und Zukünftigen, unsere 297 Verantwortung tragen – eben weil seine Triebe in der Tiefe der Menschennatur schlummern und keiner von uns weiß, wo die Quelle ist, aus der sie emporsprudeln. Richter werden über ihn zu Gericht sitzen und urteilen. Richter haben Gesetzbücher vor sich und urteilen nach dem Gesetz. Das Gesetz aber straft nur, was Menschen begreifen – und ihr wißt aus meinen Darstellungen wie aus euren Erfahrungen: wie die Gesetze der Heutigen . . . begreifen! Aber das Unbegriffene strafen!? – Nun werdet ihr mich fragen: soll dieser Mensch frei ausgehen, wo die Härte des Gesetzes den Armen, den Erben des Lasters trifft? So werdet ihr sprechen, wenn ihr einen Augenblick vergeßt, daß wir hier ja von dem Recht der Zukunft, von unserer zukünftigen Menschengemeinschaft allein sprechen. Seid ihr euch hierüber erst recht innig klar geworden, dann werdet ihr auch gleich eingesehen haben, daß das Gesetz mit dem Mörder Garrat nichts zu schaffen habe. Eins kann sein Verbrechen sühnen, und das ist: die Einsicht der Verantwortung aller. Das Opfer aller allein kann eine Tat sühnen, wie die seine. Wir in Rußland erleben es oft, daß ein reiner und schuldloser Mensch vor einem schuldigen, einem argen, bösen Sünder auf die Knie fällt und ihn um Verzeihung bittet wegen der Sünde, die er, der Bösewicht begangen hat. Dies ist das Opfer, das ich meine! Es beginnt lange, lange vor der Tat. Ja, die Tat selbst ist nur ein Beweis dafür, daß die Gerechten es versäumt haben, das Opfer zu bringen, als es noch Zeit war und die Tat im Keime hätte erstickt werden können. Güte, Hilfsbereitschaft, Erkenntnis der eigenen Seele – wenn ich Geistesgegenwart sage, so wird einer oder der andere unter euch vielleicht verstehen, was ich damit meine . . .«

Ochoroff schwieg, schlug sich an die Brust und verneigte sich tief vor der Zuhörerschaft. Lucas wandte sich zu Adela und flüsterte: »Ist Ihnen schlecht geworden?« Adela öffnete 298 langsam die Augen, als erwache sie. Sie artikulierte mit Mühe die Worte: »Die Luft!« Lucas sah sie an, sagte zu sich: Das Herz, ihr Herz ist es. Ich hätte es unterlassen sollen, sie hierher zu bringen. »Wollen Sie, daß wir gehen?« Adela verneinte. Sie blieben.

Einige Minuten später hatte sie sich erholt. Der Russe hatte seine Ansprache beendet und die Frau mit dem bleichen Gesicht sprach jetzt zur Versammlung.

Tun! tun! Dieses Wort hallte aus ihrer Rede. Überall hallte es Adela entgegen, so wollte es ihr dünken. Hatte nicht Florence Falkoner es von ihr gefordert? Ja – hatten die Damen Reynolds nicht von dieser Notwendigkeit gesprochen, so oft sie auf ihren Glauben zu sprechen kamen? Adela hörte den Katzenschrei von damals im Wagen in ihrem Ohr gellen. Ihr Herz schlug unerträglich. Nachholen! Versäumtes nachholen. – Die Rettung, die einzige . . .

All dies stürzte über sie herein wie ein zusammenbrechendes Kirchengewölbe über den Sünder vor dem leeren Beichtstuhl. Sie erwachte, als die Versammlung sang. Sie hörte die Worte:

»Auf, Proletariat!«

Sie wollte Lucas fragen, was das für ein Gesang sei? Aber sie sah, wie seine Lippen sich bewegten, die Augen im bärtigen Gesicht glommen.

Dann erhoben sich alle Anwesenden und die Worte lauteten jetzt:

»Völker hört die Signale
Auf zum letzten Gefecht!
Die Internationale
Erkämpft das Menschenrecht.«

»Ich begleite Sie nach Hause,« sagte Herr Lucas. »Sie sind krank, ich sah es Ihnen wohl an. Was fehlt Ihnen? 299 Als ich Sie bei Tillmann sah, waren Sie noch munter. Was ist mit Ihnen?«

»Es ist spät, der Omnibus führt mich bis an das Haus,« sagte Adela. »Ich kann auch einen Wagen nehmen. Sie brauchen nicht den weiten Weg zu machen. Es raubt Ihnen zuviel von der Nacht.«

»Ist es das Herz?« frug Herr Lucas. Adela stand und wartete auf den Omnibus. Zeitungsjungen riefen die letzte Sondernummer des »Star« aus: »Garrat in London!« Neueste Nachrichten. »Die Auftritte vor dem Eustonbahnhof!«

Adela bat Lucas, ihr die Zeitung zu kaufen. Lucas tat es; sie griff nach dem Blatt, faltete es zusammen und schob es in ihr Seidentäschchen. Lucas betrachtete die Frau, als sähe er sie zum erstenmal, als erkenne er sie . . . Im Omnibus sprachen sie lange kein Wort.

Lucas fing ein Gespräch an: »Ist es nicht gottgefälliger, uns Menschen auferlegt und unsere Bestimmung, alle Güte und Bereitschaft, die wir in uns tragen, an einen, einen Menschen zu wenden – als an die Gesamtheit? An einen einzigen, armen, irrenden, der Erlösung bedürftigen Menschen, der in unsrer Nähe zittert, leidet und untergehen muß. Und nicht an die Zukunft der Geschlechter? O, Ochoroff ist ein großer Mensch, ein Weiser. Wie soll das Gewissen je zur Ruhe kommen?« Er brach ab.

Adela lehnte mit geschlossenen Augen in ihrem Sitz. In ihr sang das Herz wie eine Glocke mit ungestümen, regellosen Schlägen. Einmal war sie nahe daran, Herrn Lucas zu bitten, er möge ihr aus dem Omnibus helfen, sie möchte gehen, sich am liebsten irgendwo, wo niemand sie sehen konnte für einen Augenblick flach auf den Boden legen. Aber dies dauerte nur kurz. Sie raffte sich auf und sprach in leisem, ruhigem Ton zu Herrn Lucas.

»Was meinte er mit Geistesgegenwart? Ich habe es 300 nicht ganz verstanden, doch ahne ich es ungefähr, so glaube ich. Man muß jeden Augenblick zum Opfer bereit sein! Man muß sich bezwingen können. Man muß sich, und wenn es den Tod gälte, in der Gewalt haben, in jedem Augenblick – nicht wahr? So ist es doch gemeint? Man muß – das Ziel – das eine, höchste, das was das Opfer genannt ist –«

Herr Lucas schwieg. Er schien tief in Gedanken versunken zu sein. Er bemerkte kaum, daß sie schon so nahe waren. Vor dem Tor der Gärten von Kew stiegen sie aus. Sie gingen die wenigen hundert Schritte bis zur Türe des Hauses. Adela bat Herrn Lucas nicht, sie aufzusuchen. Sie dachte vielleicht gar nicht mehr daran, daß sie ja einsam war, Herr Lucas ihr Freund, daß sie zum Schneider und dann in den Klub ja nur gegangen sei, um wieder mit ihm zusammen zu sein, ihn wieder zu gewinnen. Auch war es ihr wohl kaum mehr gegenwärtig, wie ihr Herz im Augenblick zu schlagen aussetzte, als der Russe den Namen Garrats ausgesprochen hatte.

Herr Lucas zog den Hut und frug Adela, ob er bald zu ihr kommen dürfe. Sie standen vor dem Tor des Gärtchens. Adela nickte und gab Herrn Lucas die Hand.

Das kleine Tor klirrte, als sie eintrat. Oben im Haus war noch Licht. Sheila erwartete die Mutter. Sie stürzte ihr entgegen und rief: »Feuer ist zurückgekehrt, Mammy! Feuer ist wieder da!« Adela legte sich angekleidet auf das Bett und blieb eine Weile liegen. Dann entkleidete sie das Kind, brachte es zu Bett und saß lange vor der Lampe an ihrem Schreibtisch.

*


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