Arthur Holitscher
Adela Bourkes Begegnung
Arthur Holitscher

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Von ferne her, die Häuserreihe des stillen Platzes entlang, kam ein Gefährt gehumpelt: eine bunt bemalt Kiste auf ungleichen Rädern. Dem Weib mit grellen Röcken und flachem weißen Deckel auf dem Kopf, das es vor sich hinschob, folgte eine kleine Schar absonderlich und schäbig gekleideter Menschen. Vor dem schmalen, drei Stockwerke hohen Haus mit blanken Fenstern im gelb gestrichenen Gemäuer hielt die Karawane. Ein Mann in kurzem schottischen Röckchen, Ziegenfellschurz, abgeschabtem Spenzer, Hahnenfeder auf der Kappe, stemmte die Arme in die Hüften. Ihm gegenüber pflanzte sich eine Frau auf, genau so gekleidet wie der Mann, nur mit etwas längerem, gefälteltem Rock, Zeisigfeder auf der Kappe, einer Brosche mit dickem Topas auf dem eingesunkenen Busen. Vier kleine Mädchen, elend und mager, in klaffenden Schuhen und zottigem Haar, setzten sich müde wie Straßensperlinge auf den Trottoirrand nieder und warteten, verprügelt und ergeben, auf ihre Nummer. Die Frau mit dem weißen Deckel auf dem Kopf, große Ohrringe schaukelten um ihr schwarzes italienisches Gesicht, machte sich an der Kiste zu schaffen, holte mit tüchtigem Schwung nach der Kurbel aus, und im Nu 10 war es um die Stille des weiten, vornehmen Square geschehen.

Stampfend kollerte eine stark betonte Melodie. Die Schotten begannen mit eisenbeschlagenen Hakenschuhen den Rhythmus auf den Asphalt zu klopfen. Ihre Beine flogen, die kleinen Röcke wallten kraus um die Knie, die Bewegung der Körper stieß heftiger und heftiger nach unten. Auf einmal reichte der Mann der Frau einen Säbel, den er hinterm Rücken verborgen hatte, und die Frau schwang das alte rostige Messer wirbelnd rasch über dem Kopf. Ihre und des Mannes Augen waren wie hypnotisiert nach oben auf die Fenster des Hauses gerichtet, in denen hier und dort die Köpfe der Bewohner erschienen.

Das Haus war von den andern Häusern des schönen, alten Platzes nur wenig verschieden. Es zeichnete sich durch ein korinthisches Säulenportal und eine wunderschöne, mattlila lackierte Haustür aus, zu der man vom Pflaster über vier blankgescheuerte Stufen emporschritt.

Der Platz hatte, das war offenkundig, einst bessere Tage gesehen. Es war die Zeit, aus der ihm sein Name Nightingale-Square übriggeblieben war, sowie ein nur wenige Meter im Durchmesser umfangender kreisrunder Hain von alten Platanen in seiner Mitte. Die herrlichen Bäume waren das Überbleibsel eines dichten Gehölzes, in dem die Londoner der Elisabethzeit die Nachtigall singen gehört hatten, und das die Stadt längst verschlungen, aufgesogen, zusammengepreßt hatte bis auf wenige Meter Durchmesser. Vor einem Jahrhundert, einem halben, einem Vierteljahrhundert etwa blickten noch einzelne vornehme, erbeingesessene Bewohner aus den schmalen, verschlossenen Häusern, exzentrische oder lebenslustige Lords, gelangweilte, aber auch recht übermütige Ladys auf die stillen Bäume ihres Platzes hinaus. Und mancher gewissenhafte Chronist der alten Stadt hatte auf dem Heimweg 11 aus diesen gastlichen und vornehmen Heimen die Nachtigallen noch im Laub schlagen gehört – oder es war ihm so in seinem lustig summenden Kopf vorgekommen – und nun stand es in seinen Erinnerungen verzeichnet, daß der Nachtigallenplatz seinen Namen nicht zu Unrecht führe.

Doch schon seit einem Menschenalter waren es Leute minderer Qualität, die aus den blankgeputzten Fenstern blickten. Der Durchschnitt der heutigen Bewohner des Nachtigallenplatzes führte quer durch den Mittelstand, die wohlhabende Bürgerklasse der ganzen bewohnten Erde. Drei Straßen weit erhob sich das massige Britische Museum, und die Häuser des Platzes waren von Durchreisenden aus aller Herren Ländern bewohnt. Ja, es gab Häuser, die farbig oder auch ganz schwarz waren, das heißt, sie beherbergten Malaien, Eurasier und Neger, mit denen der Weiße nicht gern im selben Haus wohnt. Tausende nahmen das Bild und Andenken des Platzes in alle Richtungen der Windrose mit nach Hause. –

Die schöne Tür von Nr. 11 stand jetzt weit offen. Auf den Treppenstufen saßen die Bewohner der Pension. Sie saßen da in der zufriedenen Haltung von Leuten, die soeben gut zu Abend gegessen haben. Der Maiabend war frisch, und durch die Brise vom Meer in der Weite her fühlte man schon den Sommer sich ankündigen. Herren und Damen, aus den Fenstern der unterirdischen Küche die Dienstmädchen des Hauses, sahen dem Tanz zum Spiel der Drehorgel zu.

Die Italienerin stieß die Kurbel in den Kasten zurück, riß sie wieder hervor, der Schotte und die Säbelschwingerin machten sich mit ihren Kappen an die Hausbewohner auf der Treppe heran, die vier Gassenkinder aber hatten sich zu einer Quadrille aufgestellt – ein amerikanischer Gassenhauer tobte mit wüst zerfetzten Rhythmen durch den Platz. 12 Die dünnen Glieder der Kleinen vollführten abenteuerliche, krampfhafte Zuckungen und Verrenkungen. Kleine Papierkugeln flogen mit metallischem Klang aufs Pflaster nieder. Hypnotisiert hingen die Blicke der vier in der Höhe. In den Mützen der Schotten klapperten kupferne Pennys und silberne Halbschillingmünzen. Das Paar nickte Dank, stellte sich dann abseits, die Augen starr nach oben.

Miß West kam über die Treppe gelaufen. Sie bahnte sich einen Weg durch ihre Pensionäre, beugte sich über das Kellergitter: »Mary! Rebecca! Es läutet! Keines von euch Mädchen ist zur Stelle!« Das ältere von den beiden Mädchen verschwand vom Fenster unter dem Pflaster. Nach einer Weile kam es mit einem Stück Pudding zu den vier kleinen Tänzerinnen.

»Von Herrn und Frau Winterod!« sagte sie dumm – als wüßten die Kinder, wer die wären.

Die Herren und Damen, die jungen Leute in hellen Sommerkleidern zwischen den Säulen und auf der Stiege wiederholten gerührt: »Von Herrn und Frau Winterod!«

Wenige Minuten später tönte die Musik der Orgel und das Gestampf der Eisenschuhe schon von der entferntesten Ecke des Platzes herüber. Die schöne, lilafarbene Tür des Boardinghauses war geschlossen. Über dem Türklopfer, einer Meermaid aus Bronze, leuchtete das Messingschild mit den gravierten Worten: »The West-House«.

*

Im zweiten Stockwerk standen zwei Fenster offen. Sie reichten vom Boden bis zur Decke und waren durch eine Eisenbrüstung halbiert.

Eine schlanke schneeweiße Hand mit vielen Ringen am vierten Finger hing über die Brüstung des einen Fensters.

Nebenan stand ein Mann an die Brüstung gelehnt und blickte zu den Wolken über den Platanen auf. Als 13 er den Kopf wandte, bemerkte er die Hand, die laß über die Brüstung hing. Die Hand und ein paar goldene Armreifen, die das Gelenk umschlossen, waren das einzige, was er von der Nachbarin sehen konnte.

Er hob seinen bärtigen Mönchskopf und sprach in die Luft: »Es ist wohl genug . . .«

Es ist wohl genug, eine Hand zu sehen, die aus einem Fenster leuchtet. Braucht einer mehr, um zu wissen, daß er nicht allein auf der Welt sei? Was ist denn diese Hand? Sie hat mich nicht gestreichelt. Ich hab' sie nur einmal in der meinen gehalten und ihr Druck war kühl wie der einer fremden Hand in einer fremden. Ich habe auch kein Gefühl in den feinen, unendlich empfindlichen Nerven meiner Handfläche und Fingerspitzen von ihr zurückbehalten. Ich habe sie nicht gepreßt, damit die Ringe dem mittleren und dem kleinen Finger nicht weh tun sollen. Was nützt es denn, wenn man sich noch so stark an die Hände andrer Menschen klammert? Sie werden höchstens erschrocken oder unwillig zurückgezogen, dann darfst du zuschauen, wie die Finger Turnübungen machen, weil die Seele sich von dem Zwang befreien will, den ihr die fremde antun wollte. Wie ruhig schwebt diese große schöne Hand dort über dem Eisengitter. Eine ruhige, beschauliche Seele wahrscheinlich! Aus gesichertem Versteck ein friedliches Gewissen, das die Welt mit ihrer Lust nicht zu bewegen vermag! – Einmal möchte ich wohl eine Hand eine Stunde lang in der meinen halten, vielleicht einen Tag lang, oder auch nur einen Sommerabend lang bis zum Dunkelwerden! Aber dann nicht länger. –

*

Die Frau nebenan hatte sich zum altmodischen Sekretär begeben, auf dessen schräge Platte noch genug Licht von außen fiel. Sie bog die Platte zurück: eine Menge 14 wohlgeordneter Schreibsächelchen kam zum Vorschein. Aus einem Fach holte die Frau Briefe hervor, die mit schwarzem Band umschnürt waren. Sie legte sie erst vor sich hin, stieß sie dann in das Fach zurück, stand auf und ging einigemal zwischen Fenster und Tür auf und ab. Sie setzte sich wieder an den Sekretär und räumte all die Sächelchen von der linken Seite des Tisches auf die rechte hinüber, das Onyxpetschaft, das die Form eines aufrechten Kruzifixes hatte, die Emailleschachtel mit Federn, den kleinen Wachthund aus Bronze, das Etui mit Patiencekarten. Sie holte das Päckchen abermals hervor, löste das Band und breitete das zu oberst liegende Blatt vor sich aus. Auf dem Kopf des Blattes, das in Maschinenschrift vier Zeilen enthielt, war die Firma: »Michael Malone & Co., Melbourne« zu lesen. Unter den getypten Zeilen standen mit Tinte geschriebene Worte: »Ich hoffe, Dein und Sheilas Befinden lassen nichts zu wünschen übrig. Michael.«

Sie faltete das Blatt, holte Briefpapier aus der Schieblade und begann:

»Teure Mutter.«

Sie hatte ihr Kinn in die Handfläche gelegt, den Zeigefinger stark an die Wange und gegen die Schläfe gepreßt, den gekrümmten kleinen Finger eng an die Lippen, so daß die Haut weiß wurde unter dem Druck. »Teure Mutter, ich habe hier einen recht behaglichen Winkel gefunden. Der Schreibtisch, an dem ich sitze, ist ein nettes Möbel im Chippendalestil. Alles hat hier einen guten Stil. Miß West ist freundlich und sorgt für alles. Man braucht sich nicht ausgestoßen zu fühlen. Mutter, er hat mir geschrieben. Zum erstenmal, seit ich fort bin. Es ist ein Geschäftsbrief mit einer Zeile von ihm darunter, in der er sich nach meinem und des Kindes Befinden erkundigt. Das ist alles, was dieser Mann mir zu schreiben weiß, seit ich unser Heim 15 verlassen habe und in einen andern Weltteil gezogen bin, weil er mich halb zugrunde gerichtet hat. Ich glaube, ich würde mit keiner Wimper zucken, käme morgen ein Telegramm an mit der Nachricht, er sei auf dem Fabrikhof vom Kran gestürzt und tot. – Ich war noch kaum in der Stadt. Ich habe noch keinen Brief abgegeben, niemand aufgesucht, auch Mme. d'End. nicht. Es fällt mir alles schwer; ich bin zu unschlüssig. Mit dem Geld, das er mir anweist, denke ich auszukommen. Bitte, gehe . . .« Sie hielt im Schreiben inne, zerriß das Blatt in winzige Stücke und warf sie in den Kamin.

Auf dem oberen Bord des Sekretärs stand die gerahmte Photographie einer alten Dame mit ernstem Gesicht und gefalteten Händen, in schwarzem Kleid und Witwenhaube. Sie stand in einem schmalen Wintergarten und war von einer erstaunlichen Menge Getiers umgeben. Ein Papagei saß auf ihrer rechten Schulter, auf ihrer linken ein kleiner Affe mit langem geringelten Schwanz. Vor ihren Füßen sah man fünf, sechs Zwerghündchen. In den Ranken der Weinreben, die die Scheiben des Raumes mit Arabesken überzogen, nisteten Vögel, wie kleine dunkle Punkte anzusehen. Unbegreiflich, wie der Photograph all diese unruhigen Gäste auf seine Platte bekommen hatte! Unbegreiflich auch, wie gut sie sich untereinander zu vertragen schienen. Die Ähnlichkeit der alten Dame und der Frau am Sekretär war unverkennbar. Dieselbe große, etwas knochige, fast männliche Gestalt, dasselbe Kraushaar über der hohen Stirn, dieselben großen hervorstehenden Augen; trotz aufrechter Haltung und beherrschter Miene derselbe Ausdruck von kummervollem Ernst über der ganzen Gestalt, in der Neigung des Kopfes, in der Verschränkung der Finger über dem Gürtel.

*

16 Aus dem Damenzimmer scholl Gesang zu den Tönen eines vielbenutzten Pianoforte. Die Stimme, schrill, aber gut geschult, ein lyrischer Sopran, war im ganzen Hause zu hören. Im Flur stand, an das Tischchen gelehnt, auf dem die Besucher ihre Karten abzugeben und Miß West die eingelaufene Post zu sortieren pflegte, Kapitän Rogers, der alte Kriegersmann aus den Kolonien. Seine Abendpfeife aufzugeben, dazu hätten ihn Melba und Patti zusammen nicht vermocht.

Die Türe ging auf, der Gesang schoß durch den Spalt; eine Dame trat heraus, es war Miß West, die die Pflicht wieder in Küche und Keller trieb. Sie hüstelte leise mit einem Blick auf die Pfeife des alten Gentleman. Der Kapitän aber merkte nichts, sondern fühlte sich veranlaßt, aus seinem Qualm heraus ein paar anerkennende Worte darüber zu äußern, daß Miß Dalmayne heute ja besonders gut bei Stimme sei! Miß West lächelte verbindlich und müde, wie sie zu allem zu lächeln pflegte, was ihre Pensionäre ihr sagten, und worauf sie nicht unbedingt zu antworten brauchte. –

Im Speisesaal, einem langen und sehr schmalen Raum mit Oberlicht, in dem schon die beiden Kronen über dem abgeräumten Tisch brannten, schoß eine ältliche blasse Dame aufgeregt auf Miß West zu. »Sagen Sie doch um Jesu willen, Miß West, was ist das für ein Kind! Seit einer halben Stunde rede und rede ich zu ihr, und glauben Sie, sie hat den Mund aufgetan? Oder mich nur mit einem Blick angesehen?« Sie lief ans Ende des Saales. Ein Kind hockte am Kamin vor einer großen, rötlichgelb und weiß gestreiften Katze. Die Katze labberte mit gieriger Zunge Milch aus einer flachen Schale auf dem Fußboden, das Kind sah ernst zu, ohne das Köpfchen von dem Tier zu wenden.

Miß West hatte ihr Rechnungsbuch auf den Tisch gelegt 17 und sich auf dem Platze niedergelassen, den sie bei den Mahlzeiten innehatte. »Wenn Sie erst ein paar Tage lang hier sein werden, Mrs. Strange, werden Sie sich über Sheila nicht mehr wundern. Sheila, gehe zur Dame! Ach, wenn sie nicht mag, bringt kein Gott aus ihr einen Ton heraus.«

»Du unartiges Kind! Baby! Sieh mich an!« Die Dame hielt eine Puppe mit blonden Zöpfen und üppiger hellblauer Balltoilette dem Kind vors Gesicht. Das Kind rührte sich nicht. Die Katze leckte den letzten Tropfen Milch aus der Schale und hob ihren runden Kopf mit grünen Lichtern und enormen Schnauzhaaren zur Dame mit der Puppe auf.

Sheila stand auf und ging. Die Katze folgte wie ein Tiger, mit langen Schritten ihres geschmeidigen Leibes, den buschigen Schwanz lang hinter sich her schleifend, dem Kind. Miß West streckte die Hand aus, Sheila legte ihr Händchen in die ihre, sagte: »Gute Nacht, Miß West!« und blickte erstaunt und unwillig auf, als sie nicht losgelassen wurde. »Sheila!« sagte Miß West, »du mußt artig und freundlich zu Mrs. Strange sein. Sie hat ein kleines Mädchen gehabt, das Madge hieß und so alt war wie du, als es starb.«

»Und die Puppe! Die Puppe hat ihr gehört. Du sollst sie haben, Sheila, hörst du?« sagte die Dame mit Tränen in der Stimme. »Madges Puppe! Ich schenke sie dir.«

Sheila sah zur Dame auf, blickte dann die Puppe an und schüttelte den Kopf.

»Du willst nicht?«

Sheila machte mit dem Kopf: Nein.

»Ist sie nicht schön genug? Was hast du an ihr auszusetzen? Pfui, du bist ein schlechtes Kind. Madges Puppe, und sie weist sie zurück!«

18 »Sagen Sie der Dame, Miß West,« sprach Sheila leise und mit Betonung jedes Wortes, »ich mag die Puppe nicht leiden, sie sieht aus wie ein Mensch.«

Sie ging zur Tür. Kind und Katze verschwanden. Die beiden Frauen blieben allein. »Sie hat Puppen, eine häßlicher als die andre. Diese Golliwogs, wissen Sie, aus schwarzem Tuch den Kopf und zottige Wollborsten statt der Haare, weiße Leinwandknöpfe als Augen! Eine andre mit Wasserkopf, eine Skelettpuppe. Weiß der Himmel, wo ihre Mutter sie auftreibt!«

Mrs. Strange hatte sich mit der blonden Puppe im Arm zu Miß West gesetzt, die der Büfettschieblade eine Handvoll Zettel entnommen, ins Wirtschaftsbuch einzutragen, zu addieren und auszustreichen begonnen hatte.

*

Mr. Lucas kam aus seinem Zimmer, in breitem Mantel und großem Schlapphut auf dem Kopf. Sheila stand mit der Katze vor der Nachbartür.

»Guten Abend, Sheila,« er reichte dem Kind die Hand und blieb stehen.

Das Kind sah zu ihm auf, murmelte: »Guten Abend!« zog sein Händchen rasch zurück und öffnete die Tür: »Komm, Feuer!«

Mr. Lucas stieß ein kleines Gelächter durch den Bart hervor und lief in großen Sprüngen die Treppe hinunter. Unten im Flur stand noch der Kapitän.

»Nun, Sie Nachtwanderer! Auf Abenteuer aus?«

Mr. Lucas blieb stehen und zog den Filz vom Kopf. »Ich sehe mir die Stadt an, Mr. Rogers. Gewisse Stadtteile sind nachts charakteristischer als am Tage. Zum Beispiel die Gegend um Seven Dials herum, das siebenfache Zifferblatt . . .«

19 Er sagte das in höflichem Tone und wie um sich zu entschuldigen.

»Hoho, Seven Dials! Das will ich meinen, daß man die besser bei Nacht besucht!« lachte der Kapitän. »Nun, gut Glück, Lamm!«

Mr. Lucas eilte, ohne seinen breitkrempigen Hut aufzusetzen, mit langen, komisch wirkenden Schritten zur Haustür hinaus. Der Kapitän stieß eine Rauchwolke hinter ihm her. »Schnurriger Vogel!«

Mr. Lucas verschwand um die Ecke des Nachtigallenplatzes und begab sich in der Richtung Oxfordstreet vorwärts. Das Unbehagen, das ihm die Notwendigkeit einflößte, den Leuten im Hause zu allen Tages- und Nachtzeiten Rede und Antwort stehen zu müssen, war verflogen, als er die geräuschvolle, von Lichtern funkelnde und von Omnibussen durchratterte Straße durchquert und sich in das Gewirr der kleinen, übelriechenden Gäßchen um St. Giles eingelassen hatte. Er sagte allen Menschen, wildfremden so gut wie bekannten, doch immer die Wahrheit über sein Tun und Lassen, seine Absichten. Daher das Unbehagen, aber auch dessen kurze Dauer. Die Seven Dials mochten eine verrufene Gegend sein. Was er dort suchte, erriet ja doch kein Mensch!

*

»Du wirst jetzt stillsitzen, Sheila!« sagte Frau Adela zum eintretenden Kind. »Eine Viertelstunde Ruhe, Baby, ja? Dann bringe ich dich zu Bett!«

Sheila war schon ganz still in die Ecke des breiten, bunt geblümten Sofas geklettert. Auf ihren in die Höhe gezogenen Knien hielt sie »Feuer«, die große schwere Katze. Kind und Tier sahen reglos und mit ernsten Augen, das Kind mit seinen etwas vorstehenden schwarzen, die Katze mit ihren funkelnden Laternen zur Frau 20 hinüber, die im Lampenschein vor ihrem Sekretär saß, das Kinn in die Handfläche gestützt, mit Glanzlichtern in den Wellen ihrer kurzen krausen Haare.

Sie hatte ein Buch vor sich aufgeschlagen und las in der Geschichte ihrer Ehe. Sie hielt bei der Seite, auf der sie die Geburt Sheilas aufgezeichnet hatte. Um drei Uhr nachmittags hatten die Wehen begonnen, ihr waren die Sinne geschwunden, dann war sie aufgeschreckt, weil sie in einem Kanoe über einen See voll Blut rasch hinfuhr. Um zwei Uhr nachts hatte sie, in Schmerzen, die furchtbarer waren, als es sich ausmalen läßt, und die ihr jetzt noch Schwindel und Übelkeiten verursachten, jetzt noch, nach sieben Jahren, wenn sie an sie dachte, Sheila geboren. Sheilas Vater war um vier Uhr morgens angeheitert von einem Bankett mit Berufsgenossen, Fabrikanten aus Melbourne, heimgekehrt, und hatte erst gegen Abend von Sheilas Dasein Kunde erhalten.

Adela war der weite Fabrikshof gegenwärtig, mit dem vier Stock hohen Kran, an dem vorbei die Arbeiter mit ihren Blechgeschirren aus blauer Emaille zur Kontrolluhr strömten. Sie sah dies alles so lebendig vor sich, daß sie es auf ein Stück Papier hätte zeichnen können: den Kran mit seiner feinen, schlanken Eisenarchitektur und oben die dünne Brüstung, mit einer Figur, die sich vornüber neigte. Sie zerknüllte ein Blatt Papier, das sie vor sich hatte, als Sheila eintrat, und warf es in den Papierkorb – als hätte sie die Zeichnung des Krans und des Mannes oben wirklich gemacht, nicht bloß in der Einbildung.

Sie blätterte in dem Buche vorwärts. Es enthielt, hier und dort, eine Photographie, eine Postkarte, Ausschnitte aus Zeitungen, Abschriften eines Gedichts, ein paar eingeklebte trockene Blumen, eine Ballkarte. Auf einer Seite fand sie eine Photographie, auf der sie sich selbst 21 im Kreise lachender junger Mädchen erkannte, hell und in zarte Farben gekleidet, einen breiten Florentinerhut an schwarzem Sammetband in der Hand balancierend – es war auf dem Gartenfest beim australischen Minister, im südlichen Teil Londons, nahe beim Kristallpalast. Sie sah das Bild an – komisch waren die Toiletten damals: sie hatte ein Mousselinekleid mit ganz bauschigen Ärmeln an, die Taille spitz ausgeschnitten, eine breite Schärpe mit langer Schleife, sie erinnerte sich gut, die Schärpe war amaranthenfarbig!

»Baby geht jetzt zu Bett!« sagte sie und stand auf.

»Hast du an Papa geschrieben, Mammy?« frug Sheila, ohne sich zu bewegen.

»Nein, Baby, warum fragst du?«

»Schreibe an Papa, Mammy, du hast ja einen Brief von ihm bekommen.«

»Wenn Baby schläft, will ich an Großmama schreiben,« sagte Frau Adela und ging zum Kind, das sie vom Sofa hob.

»Was willst du an Großmama schreiben, Mammy?« frug Sheila, indem sie Feuer behutsam auf den Boden gleiten ließ.

Frau Adela kniete vor dem Kind und knöpfte das Kleidchen auf dem Rücken Sheilas auf. »Nun, daß es uns beiden gut geht. Daß Feuer die Reise gut bekommen ist. Daß wir noch nicht viel aus waren, aber daß wir nächstens in den Park gehen wollen, und an einem schönen Nachmittag einmal zum Kristallpalast und so vieles mehr!«

»Was noch mehr?«

»Nun, wie es hier im Boardinghaus ist; daß es nett ist; und über Herrn Lucas, mit dem Baby Freundschaft geschlossen hat!«

»Mammy, du mußt an Papa schreiben!« sagte das Kind nach einer Weile.

»Warum, Baby, sprichst du immer dasselbe!« sagte 22 Frau Adela. Sie fing an, das dünne Haar Sheilas zu einem Zöpfchen zu flechten und brachte das Kind, das kein Wort mehr sagte, zu Bett.

Frau Adela kniete vor dem Bettchen nieder, in dem Sheila mit gefalteten Händchen aufrecht saß.

Während sie den Kopf in der Decke des Bettchens verbarg und die Worte des Gebets in die Spitzen ihrer vor dem Mund verschränkten Finger flüsterte, tat Sheila ihre Händchen auseinander und fuhr streichelnd über Feuers Fell. Die große Katze lag Nacht für Nacht auf der Daunendecke des Bettchens und behütete den Schlaf des Kindes, ohne sich zu regen, bis in den späten Morgen hinein. Erst, wenn Sheila die Augen aufgeschlagen und zur Mutter hinübergerufen hatte, die im Alkovenbett, im Hintergrund des Zimmers schlief, pflegte das Tier mit einem Satz von seiner Liegestatt herunterzuspringen, dann dehnte und reckte es seinen langen, wellig beweglichen Körper im Sonnenlicht.

*

Miß Dalmaynes Gesang war nicht mehr zu hören, doch hoffte Adela noch jemand im Drawingroom anzutreffen. Es war schon spät, zehn Uhr vorüber. Sie machte sich vor dem Spiegel ein wenig zurecht, ehe sie hinunterging zu den andern Damen ins Musikzimmer, das erstemal, seit sie im Hause wohnte.

Im Drawingroom war niemand mehr. Sie schaltete das Licht ein und sah sich in dem Raum um. Er war hübsch und behaglich, wie alles, was sie im Hause kannte. Geblümte Lehnstühle mit dünnen Armstützen, Korbsessel und Mahagonikanapees standen an den Wänden, ein altertümlicher Tisch mit frischen Blumen in einer breiten Silbervase, Bücher, Zeitschriftenhefte und eine vergessene Handarbeit, dünne, irische Spitzen mit einem Knäuel 23 Garn daneben. An der breiten Wand gegenüber den Fenstern ein Bild, eine Kopie nach Millais aus der Tate-Gallery: »Sprich! Sprich!« die Geistererscheinung der Braut vor dem Lager des sehnsüchtig aus dem Schlaf schreckenden jungen Edelmannes. Außerdem hing das Porträt eines populären Generals in Khakiuniform da, und eine große Karte von London und seinen Vororten.

Auf dem Piano stand ein offenes Notenheft. Frau Adela setzte sich vor das Instrument, schlug einen Akkord an und begann halblaut:

»Tief in meinem Herzen
Eine Laute ruht!
Einst in Lieb und Schmerzen
Klang ihr Spiel so gut!« . . .

Auf dem Titelblatt des Heftes stand zu lesen, eine beliebte Sängerin habe dieses Lied in sämtlichen Badeorten Englands mit dem größten Erfolg gesungen. Frau Adela ließ entmutigt von dem Liede ab, ihre Finger parierten ihr ebensowenig wie die Stimme.

Sie fing abermals mit größter Aufmerksamkeit an und gelobte sich nach der ersten Strophe, daß sie wieder mit Üben beginnen wolle.

Auf dem Tische in der Mitte des Zimmers lag eine amerikanische Modenzeitschrift. Frau Adela sah sie durch und fand, daß eines oder das andre Kostüm ihre Gestalt gut kleiden würde. Sie hob die Spitzenarbeit auf und sah, daß sie sehr fein und minutiös durchgeführt war. Es würde sich wahrlich lohnen, Ähnliches zu beginnen! In dem Heft waren Abbildungen eleganter Szenen von einem Londoner Gartenfest; sie sah diese Bilder genau durch und las den Artikel mit den Namen vornehmer und schöner Frauen der Gesellschaft durch. Sie sagte sich: Nichts steht dem im Wege, daß du nächstens auch hier 24 abgebildet und dein Name genannt sei; so war's damals, als du noch Miß Bourke hießest und beim australischen Minister eingeladen warst! Sie legte das Heft auf ihren Schoß und blickte auf die breiten Blätter der Palme, die in einem Porzellankübel auf einer Säule zwischen den Fenstern stand.

Sie sah auf die gezackten Blätter der Palme und erblickte sich unter den schattigen Bäumen eines schönen Gartens mit lustwandelnden Herren in schwarzen Leibröcken und Zylindern, Damen in wunderbaren Toiletten und großartigen Hüten, die zwischen den farbigen Rhododendronbüschen und Blumenbeeten hin und her gingen und von galonnierten Dienern Teetassen und Gebäck gereicht bekamen.

Nein, nichts stand im Wege; selbst wenn sie auf die Zinsen ihres eignen und Sheilas Vermögen angewiesen sein sollte, konnte sie sehr gut ihr eignes Leben leben, wie und wo es sie gut dünkte, im Kreise der Menschen, die ihr zusagten und die sie sich nicht vorzuschreiben lassen brauchte.

Das Heim – es würde ihr nicht sehr schwer fallen, das Heim zu entbehren! Sie erinnerte sich jetzt an das Heim, Mr. Malones Haus, dessen Herrin sie gewesen, am andern Ende der Welt. »Nein, mein Liebling!« sprach sie plötzlich ganz laut. Aber nicht mir ihrer eigenen Stimme, sondern mit einem ganz rauhen, wie vom Trunk schartig gewordenen Organ, dessen Klang sie erschreckte. Sie sprang auf und blickte verstohlen in den Flur hinaus. Aus dem Rauchsalon drangen Männerstimmen. Dort waren die Herren noch beisammen, spielten Bridge und rauchten. Der Flur duftete nach parfümiertem Tabak. Sie schloß die Tür und schlug, stehend, leise einen Akkord auf dem Klavier an. Sie lauschte: vielleicht wird jemand eintreten und nachsehen, wer so spät noch Musik macht? Herr Lucas 25 vielleicht? Wars nicht, als würde die Tür des Rauchzimmers geöffnet und geschlossen? Doch es kam niemand.

Schließlich drehte sie das Licht aus und ging. Im Flur kehrte sie nochmals um, machte im Drawing-room Licht, nahm die Karte von London von der Wand, rollte sie zusammen und begab sich in ihr Zimmer hinauf.

Von einem fernen Kirchturm schlug es Eins, sie saß noch über der Karte und notierte sich auf ein Blatt die Adressen und die Straßen auf, die sie aus einem Büchlein und von Briefen, die sie mitgebracht hatte, ablas.

*

Dr. Walter Garrat schloß seinen Schreibtisch ab und machte sich auf den Heimweg. Er langte seinen Hut vom Kleiderhaken, als es an die Tür zum Privatkontor klopfte und Cora Stratton eintrat.

Gleich hing Garrat seinen Hut an den Nagel zurück und setzte sich in den amerikanischen, wippenden Lehnstuhl.

»Kommen Sie, Cora, und setzen Sie sich. So.«

Das junge Mädchen setzte sich ohne Scheu auf das breite Ledersofa, strich ihren Rock mit der Hand nieder, streckte aber ihre hübschen, zierlichen Füße, die in Seidenstrümpfen und Schnallenschuhen steckten, hervor und legte sie kokett übereinander. »Ich komme im Auftrag meiner Mutter, Herr Doktor!« begann sie und blickte auf ihre Fußspitzen.

Garrat lächelte. »Haben Sie Schwierigkeiten, Cora? Ist's der Hauswirt, der Kolonialwarenhändler? Wieviel brauchen Sie?«

Cora Stratton hob ihre veilchenblauen Augen zu Garrat auf. »Diesmal ist es viel, zehn Pfund.«

Garrat zog die Lippen in den Mund ein. »Teufel!« sagte er halblaut. »Das wird so ohne weiteres nicht zu machen sein.«

26 »Wir benötigen das Geld sehr dringend,« sagte Cora und nahm den Blick nicht von Garrat. Sie lehnte die Fingerspitzen in flehender Gebärde, aber scheinbar ganz absichtslos gegeneinander und ihr Gesicht blickte ihn dazu so unschuldig und kindlich lieblich an, daß Garrat sich aufsetzte und nach seinen Schlüsseln griff.

»Sie richten mich zugrunde, Cora, Sie wissen das!« Er hatte den Rolladen des breiten Schreibtisches in die Höhe geschoben und holte aus einem Fach das Scheckbuch hervor.

»O, Mr. Garrat, Sie wissen recht gut, daß nicht ich es bin, die Sie ruiniert!«

Hierauf entgegnete Garrat nichts. Er schrieb ein paar Worte auf den Abschnitt, riß ihn aus dem Heft und legte ihn vor sich hin.

Cora stand auf und blieb vor dem Tisch stehen. Sie blieb ganz nahe bei Garrat stehn, ihr Kleid berührte sein Knie. »Ich möchte unterschreiben . . .« sagte sie. Garrat sah zu ihr auf. »Nichts zu unterschreiben,« sagte er leise. »Die Quittung,« sagte Cora, »wie üblich . . .«

»Nein,« flüsterte Garrat und streichelte mit den Fingerspitzen über ihre herunterhängende Hand.

»Keine Empfangsbestätigung?« sagte Cora.

»Nein, Cora,« sprach Garrat. »Die Summe ist zu groß, sie steht in keinem Verhältnis zu Ihrem Monatsgehalt. Ich schenke sie Ihnen, bringen Sie sie Ihrer alten Mutter. Ei, sieh da . . . ein neuer Ring, den kenne ich noch nicht.« Er hatte ihre hübsche, feste und rosig gepflegte Hand ergriffen und besah sich den Mittelfinger, auf dem ein großer Markisenring mit unechten Steinen saß. Eine Anzahl kleinerer Ringe saß auf dem vierten und dem kleinen Finger von Coras Hand, alle zierlich und unecht.

»Ja, nicht wahr, er ist hübsch!« sagte Cora und ließ den Ring in Garrats Hand im Licht glitzern. »Und er 27 war gar nicht teuer. Er kostete nicht mal ein Pfund. Bei Benson in Ludgate!«

»Da haben wir die Nöte Ihrer alten Mutter!« sagte Garrat, indem er Coras Hand fester preßte. »Ich bin froh, daß die alte Dame doch keine so große Not leidet, wie Sie es immer glauben machen wollen. Ich möchte nur wissen, wozu Sie das viele Geld brauchen, Cora!«

Cora Stratton versuchte ihre Hand zu befreien. Garrat sah zu ihr auf. Sie war noch jung, aber schon voll entwickelt. Sie war schlank und blond, ihre Gestalt zeigte Ansätze zur Üppigkeit, ihr Jungmädchengesicht aber veränderte seinen kindlich unschuldsvollen Ausdruck selbst dann nicht, wenn sie, wie eine erfahrene Lügnerin, kunstvoll ihre Worte setzte. Denn es war ja sicher, daß sie log.

»Es ist ja nicht wegen des Geldes, Cora,« sagte Garrat. »Sie sehen, ich gebe es Ihnen gern. Aber ich will doch, daß mir wenigstens dieses Geld dazu verhelfe, etwas über Ihr Tun und Lassen zu erfahren, in der Zeit, in der Sie nicht hier sind. Das würden mir Miß March oder Miß Milligan draußen im Bureau nicht abschlagen, im gleichen Falle!«

»Ich verheimliche Ihnen doch nichts,« sagte Cora und neigte den Kopf ein wenig zu Garrat nieder. »Sie wissen alles über mich und Mutter. Ich habe Ihnen alles gesagt, weil Sie mir auch alles über Ihr Leben gesagt haben. Aber ich hätte Ihnen auch alles gesagt, wenn Sie mir nichts von Ihrem Leben und von Ihrer Frau gesagt hätten. Es ist wirklich nur meine alte Mutter, für die ich bei Ihnen bettle. Wie häßlich, daß Sie mir daraus einen Vorwurf machen.«

Garrat stand auf und machte einige Schritte im Zimmer. »Es soll kein Vorwurf sein. Also gut, Cora. Wie ist es nun, haben Sie an Brooks und Ward geschrieben? Wir erwarten doch morgen den Eingang.«

28 »Ja, Herr Doktor. Auch an Clements und nach Bristol. Aber warum haben Sie das Geld an die Kompagnie in Neuyork noch nicht angewiesen? Sie müssen endlich anweisen, wissen Sie! Die Sendung, die am Montag eintreffen sollte, ist noch gar nicht da; ob es am Ende damit zusammenhängt? Wollen die vielleicht nicht schicken, weil Sie so saumselig mit dem Überweisen sind?«

»Cora, Sie haben vergessen, daß die Sendung nicht mit der ›Warwick Castle‹, sondern mit der ›Etruria‹ avisiert war, und die kommt erst nächste Woche an. Aber Neuyork wird überhaupt mit den neuen Kongreßbeschlüssen zusammenhängen. Sie haben jetzt ein Gesetz eingebracht, strengere Maßnahmen gegen den Vertrieb von Produkten dieser Art. Mir kann es jeden Tag passieren, daß ich dies Bureau hier zusperren muß – oder zugesperrt vorfinde!«

Cora steckte den Scheck ein und ergriff Garrats Hand. Sie führte sie an die Lippen, und Garrat ließ es zu.

Cora sagte leise, ohne Garrat anzublicken: »Nehmen Sie sich das mit Ihrer Frau nicht zu sehr zu Herzen. Sie wissen, daß Sie eine gute Freundin haben.«

»Gut, mein Kind,« sagte Garrat, »und nächstens machen wir uns wieder einen vergnügten Abend, wollen Sie? In die ›Gaiety‹ oder nach Brighton?«

Cora klatschte in die Hände wie ein Kind. »Ja!« Sie ging zur Tür, öffnete sie und sprach in verändertem Tone, so daß die Mädchen an den Schreibmaschinen es hören konnten: »An Brooks ist also erst morgen zu telegraphieren?«

»Ich denke, es wird nicht nötig sein,« sagte Garrat laut und rollte den Laden seines Schreibtischs geräuschvoll herunter.

»Danke, Sir,« sagte Cora und zog die Türe zu hinter sich.

Garrat nahm Hut und Ledertasche und machte sich auf den Heimweg.

29 Der Kingsway lag im vollen Sonnenschein des Mainachmittags da. Die breite Straße mit den weißen, neuen Häusern war ganz grell beleuchtet. Vom Strand aufwärts nach Holborn, und von Holborn hinunter zum Strand drängte die Menge. Geschäftsleute, Clerks, Bureaufräulein, die den Bahnen jenseits der Waterloobrücke, den Omnibussen und den Untergrundzügen zustrebten, um noch draußen, in den Vororten, wo sie wohnten, eine Stunde des Sonnenscheins zu ergattern. Garrat trat in den kühlen Schacht ein, der zur Untergrundbahn führte, fuhr vier Stockwerke tief unter das Straßenniveau. Mit saugendem Pfiff kam sein Zug heran.

Er öffnete seine Ledertasche, entnahm einer kleinen Mappe einen Zeitungsausschnitt und begann zu lesen. Ringsum lasen die Leute die Abendblätter. Er hatte vergessen, sich ein Abendblatt zu kaufen. Er legte den Ausschnitt in die Tasche zurück und blickte vor sich hin.

Ihm gegenüber saß ein junges Paar, der typische kleine Citybeamte mit seiner hübsch gekleideten jungen Frau, die ein schlafendes Baby auf dem Schoß trug.

Über dem Paar war auf die Wand des Wagens ein mit roten Blumen umränderter Bibelspruch geklebt:

»Heilige deine Tage und die Arbeit
deiner Tage, so wird dein Leben
ein Wohlgefallen sein dem Herrn.«

Die junge Frau lehnte ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes, mit einem vollkommen ruhigen, sanften und glücklichen Ausdruck in ihrem müden und abgespannten Gesicht. Der Mann hatte seine erloschene Pfeife zwischen den behandschuhten Händen und blickte blinzelnd an Garrat vorbei auf die vorübersausende Kalkwand des Tunnels.

Garrat dachte über Cora nach; in den letzten Monaten hatte das Mädchen dreimal so viel gebraucht als ihr Gehalt 30 betrug. Der Gedanke, daß sie das Geld irgendwem, vielleicht gar einem Manne, irgend jemand, von dessen Existenz Garrat keine Kenntnis hatte, geben könnte, irritierte Garrat bis zur Wut. Im Grunde war es ja absurd. Er hatte keine Verpflichtung gegen das Mädchen übernommen, nichts mit ihr erlebt, sie war so unschuldig, wie er es von seiner Tochter erwartet hätte, hätte er eine Tochter besessen.

Aber sie war jung und lebte mir ihrer Mutter, wenn auch nicht im Elend, so doch in dürftigsten Verhältnissen. Zudem in einer schlechten Gegend, oben in Hackney. Das Mädchen hatte einen Hang zum Putz und zu Vergnügungen. Die Ringe! Was war denn das für eine Mutter, die diesen Hang zum Leichtsinn unterstützte? Er hörte Cora mit Zärtlichkeit von ihr reden; aber vielleicht hätte er selbst sie von unheilvollen Einflüssen befreien sollen?

Im Bureau war sie leidlich fleißig und verriet kaufmännische Tüchtigkeit. Oft konnte er geradezu ihren Rat befolgen. Allerdings hatte er ihr die Vertrauensstelle erst eingeräumt, nachdem er einmal einen Abend in einem Theater und nachher im Restaurant in Piccadilly mit ihr verbracht hatte. Was hätte er tun sollen?

Lieber sich auf den Straßen herumtreiben, als einen Abend allein mit der Frau daheim, die sich, schlecht gekämmt und in unordentlichem Aufzug von einem Zimmer ins andre, von einem Lehnstuhl zum andern schleppte!

Starr und unverwandt blickte er auf den Bibelspruch oben an der Wand.

»Heilige deiner Tage Arbeit . . .
dein Leben ein Wohlgefallen . . .«

Die junge Mutter schlief, leise gerüttelt von dem vorwärtsziehenden Wagen, an der Schulter des Mannes, der seine Lider leise öffnete und schloß, von der Müdigkeit 31 seiner Frau angesteckt. Das Baby schlief wie ein zusammengekrümmtes kleines Tier auf dem Schoße der Frau.

Garrats Nachbar hatte eine Abendzeitung auf seinem Platze liegen lassen. Garrat nahm sie auf und las die Überschriften der Tagesereignisse.

*

»Caledonian Road!«

Die Schaffner riefen sich den Namen der Station von einem Ende des Wagens zum andern zu.

So oft Garrat die Worte an den Abenden zu hören bekam, bemächtigte sich seiner dasselbe, bitter durch die Kehle emporsteigende, rein körperliche Gefühl des Widerwillens.

Er haßte die Gegend, zu der ihn der Aufzug vom Schacht der Bahn in die Höhe führte. Er haßte sie, durch die er hindurch mußte, wie sein Heim, das sein Ziel war. Diesen monotonen, grau und rot getünchten Teil des nördlichen Londons, mit seinen armseligen Häusern, seinen Speichern, Bahnviadukten, Gefängnissen und Schlachthäusern. Um die Zeit, da er abends nach Hause ging, rumpelten die schweren, eisenbeschlagenen Automobilwaggons, mit blökenden Schafen und brüllenden Rindern vollgepfropft, durch die Straße zum Viehmarkt hin. Arbeiterscharen strömten aus den Fabriken des Islington-Distrikts, aus den Magazinen der Bahnhöfe auf der andern Seite. Vor den Schnapsläden stauten sich Gruppen. Sie führten den Geruch von Teer und Abwässern mit sich, der aus den Färbereien durch die Luft des Abends schwelte.

In den Nebengassen war's nicht besser; da wohnte eine bürgerliche Mittelklasse, die ihrem Erwerb in denselben Speichern, Viehschlachthäusern, Fabriken und Bahnmagazinen nachging. Öde und grau uniformiert durchschnitten die stillen Gassen mit ihren Reihenhäusern die 32 große Caledonische Chaussee. Er mußte durch die Mortonstraße, an deren Ende der kleine halbmondförmig gebaute, in leichter Biegung aufsteigende Morton-Crescent lag. Dort befand sich Garrats Häuschen, in der Mitte eines ebenso dürftigen und schlecht gepflegten, von Ruß und Kohlenstaub durchsetztem Nebel schmutziggrau gefärbten Gärtchens, wie alle die anderen Häuschen des »Halbmonds« auch.

Eine häßliche kleine Kirche, aus Backsteinen gebaut, mit einer niederen Mauer umgeben, auf der kirchliche Ankündigungen klebten, bezeichnete die Ecke der Mortonstraße, in die er einzubiegen hatte, um nach Hause zu kommen.

An der Ecke vor der Kirche mußte Garrat einen Hansom-Cab vorbeilassen, der in mäßigem Trab aus der Caledonianroad kommend, in eine der Seitengassen einbiegen wollte.

Einen Schritt weit vor dem Rand des Trottoirs scheute plötzlich das Pferd des Gefährts.

Aus dem Wagen schrillte Garrat, wie eine Rakete von Tönen, ein wildes Geschrei, das Gefauche einer wütenden Katze ins Gesicht.

Garrat erblickte in dem Fahrzeug ein Kind, das eine große gelbe Katze mit gesträubtem Rücken und glimmenden Augen auf dem Schoße hielt. Und neben dem Kind – das erschrockne Gesicht, die weitgeöffneten, wie in Angst hervorquellenden Augen einer großen schlanken Frau unter breitem Sommerhut. Das Gesicht blickte ihn an, und er fühlte jählings, daß sein Blick ebenso starr wurde wie der Blick aus diesem Gesicht im Wagen.

Oben auf dem Bock riß der Kutscher die Zügel an. Das Pferd bäumte sich. Die Insassen des Wagens wurden gegen die Rückwand zurückgeschleudert. Nur die Katze verharrte scheinbar reglos, die gewaltsame Bewegung des Gefährts mit dem geschmeidig federnden Gelenk parierend.

33 Während der Sekunde, die zwei Menschen brauchen, um sich in die Augen zu blicken, tönte der schrille Schrei des Tieres in unverminderter Höhe fort.

Dann zog das Pferd, das die Peitsche bekam, an und galoppierte mit dem auf seinen zwei hohen Rädern schaukelnden Gefährt davon.

Garrat blickte dem Hansom nach. Er hielt die Ledertasche mit beiden Armen an den Leib gepreßt. Als der Wagen schon um die Ecke der Mortonstraße und der kleinen Nevilgasse verschwunden war, blickte er ihm noch immer nach.

Auge in Auge. Das Tiergeschrei gellend ins Ohr gebohrt.

*


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