Arthur Holitscher
Adela Bourkes Begegnung
Arthur Holitscher

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Richter Rangers schellte und Garrat trat ein, gefolgt von zwei Gerichtsbeamten.

»Darf ich mich setzen?«

»Bitte. Geben Sie Doktor Garrat einen Stuhl, Mason.«

»Danke.«

»Es sind zwei Telegramme für Sie eingetroffen. Ich will Ihnen Kenntnis von beiden geben. Das eine ist aus Philadelphia, von der ›Gesellschaft der Wahrheitssucher‹, unterschrieben Everard Lomax und Albert Wissenberger. Es lautet: ›Doktor Garrat, wir beschwören Sie im Namen dessen, der über der irdischen Gerechtigkeit steht und dessen Urteil jeglicher zu fürchten hat, sei er reinen Herzens oder falschen Herzens. Legen Sie in voller Öffentlichkeit und vor allen Ihren Mitmenschen ein freimütiges Bekenntnis ab. Wir beten für Sie und sind Ihre treuen und ergebnen Freunde und Brüder.‹ Was haben Sie hierzu zu sagen, Doktor Garrat?«

»Nichts.«

»Gut. Ich gebe Ihnen Kenntnis vom zweiten Telegramm. Es ist an meine Adresse gerichtet, aber für Sie 241 bestimmt. Es lautet: ›Bitten Doktor Garrat mitzuteilen, daß Mr. Parker de Vries beauftragt haben, Verteidigung zu übernehmen. Sind froh zu melden, daß Mr. de Vries zugesagt hat. Stellen Doktor Garrat tausend Dollar zur Deckung etwaiger Ausgaben, Bedürfnisse zur Verfügung. O'Gorman. Doktor Willoughby. Evell.‹«

Garrat sagte: »Danke.« Er setzte sich aufrecht und hob den Kopf. Richter Rangers bemerkte: »Das sind gute Freunde. Eine Seltenheit heutzutage.«

Garrat antwortete: »Jawohl.«

Richter Rangers suchte zwischen den Papieren, die auf seinem Tische in einem gelben Convolut gehäuft lagen. Er hob den Deckel des Convoluts und Garrat las seinen Namen auf dem Deckel. »Ja hier. Die Formalitäten der Ausweisung gehen ihren Gang. In fünfzehn Tagen dürften wir so weit sein. Sie haben hierzu nichts zu bemerken?«

»Ich möchte Sie bitten, Sir, mir zu sagen, ob Miß Stratton den Wunsch geäußert hat . . . ob sie irgendeines Gegenstandes bedarf . . . ob sie alles hat, was zu ihrer Bequemlichkeit nötig ist?«

»Soviel ich weiß, kam ein gleichlautendes Telegramm für Miß Stratton an, ich meine, Verteidiger, Geld.«

»Von wem? Ihre Familie ist arm, soviel ich weiß.«

»Von Freunden.«

»Von wem?«

Diese Frage schien Richter Rangers zu überhören. Garrat sagte, indem er die Stimme senkte: »Ich bitte Sie, Sir, mir die Frage nicht als Zudringlichkeit anzurechnen: werden wir auf demselben Schiff zurückbefördert, Miß Stratton und ich?«

»Das ist allerdings wahrscheinlich,« antwortete der Richter, »es vereinfacht das Verfahren. Aber Sie werden die Dame selbstverständlich weder sehen noch sprechen dürfen unterwegs.«

242 »Jawohl. Das ist ja selbstverständlich. Das erwarte ich auch gar nicht anders,« beeilte sich Garrat zu erwidern. Er war entlassen.

Der Weg zu seiner Zelle führte durch zwei Höfe. Auf den ersten der beiden Höfe mündeten Fenster von Ämtern, aus denen neugierige Herren und Damen dem Gefangenen auf seinem Transport nachblickten.

»Gibt es keinen andern Weg?« frug Garrat seine Begleiter.

Wärter Mason sagte: »Es ist der kürzeste.«

Garrat verbarg seine Hände in den Ärmeln. Sie kamen durch den zweiten Hof.

»Das vierte Fenster im zweiten Stockwerk, von der Ecke aus gerechnet,« brummte Wärter Mason Garrat ins Ohr, während sie vorübergingen.

Garrat blickte hinauf. Eine weiße Gardine hinter dem Gitter. Die Gardine hing unbeweglich, rührte sich nicht. Dort also war sie.

*

Im West-House herrschte Bestürzung, Betrübnis, fast Zorn. Adela war fort, mit ihrem süßen Baby, mit Feuer, der Katze. Bei Nacht und Nebel fort. Sie, die Zartfühlende, Freundliche, Gütige, die feine und vornehme Adela war fort, ohne sich von den Mitbewohnern, deren Leben sie seit fast einem halben Jahr teilte, zu verabschieden. Sie hatte ihre Wochenrechnung beglichen, unauffällig ihre Koffer gepackt, war dann zu Fuß aus dem Hause gegangen, mit Kind und Tier und am Abend war ein Brief an Miß West eingetroffen, das heißt ein Rollkutscher hatte ihn mitgebracht und Miß West hatte die Koffer ausgefolgt.

Niemand wußte, wohin Adela ihre Schritte gelenkt hatte. Es war wohl ihre Absicht gewesen, daß niemand es wisse. –

243 Nach dem Abendessen stand Miß Dalmayne rasch auf, am andern Ende der Tafel Mr. Escoffier. Die beiden Clerks, Mr. Hallibut und Mr. Bradshaw, verständigten sich durch Blicke mit beiden.

Sie trafen sich draußen, auf dem kleinen Flur unter der Treppe und warteten.

Herr Lucas kam, im Mantel und Schlapphut, die Treppe herunter. Es war Hochsommer, ein heißer Abend, aber er trug seinen Mantel und schweren Hut, »wie ein Verschwörer«, sagte die Sängerin.

Er ging aus dem Hause, quer über den Nachtigallenplatz, an dem Platanenrondell vorüber.

Die Vier folgten ihm unauffällig.

Allabendlich, nach dem Essen, verschwand er auf diese Weise. Wo trieb sich dieser Mensch herum?

Es war nicht anzunehmen, daß er auf Liebesabenteuer aus sei. Aber Mr. Escoffier wollte hundert gegen eins wetten, Herr Lucas stehe im Einverständnis mit Mrs. Malone, der jäh Verschwundenen.

Sie wollten doch ergründen, wo die Frau sich jetzt aufhielt, was die beiden trieben. Mr. Bradshaw, der jüngste und flinkste der Gesellschaft, wurde vorausgeschickt. Auf leichten Sohlen schlich er, die andre Seite der Straße benutzend, eng an die Häuser gedrückt, dahin und verständigte sich mit den in größerem Abstand Folgenden durch Stehenbleiben und andre Zeichen.

Herr Lucas sah weder hinter sich noch um sich. Auch war sein Weg nicht weit. Er schritt die kleine Straße hinab, die zur breiten Tottenham Chaussee führte, durchquerte diese und ließ sich in das Gewirr der jenseitigen Gassen und Gäßchen ein. In einer engen Straße, der Windmühlenstraße, trat er in einen Laden ein.

Mr. Bradshaw, der vorsichtig sich in die Nähe des Ladens herangepirscht hatte, las über der bescheidenen Eingangstür 244 die Inschrift: »Gottfried Tillmann, Tailor.« Im engen Schaufenster lagen Futterstoffe, eine Pyramide aus Papptafeln mit Knöpfen, eine gebügelte Hose hing auf einem Kleiderbügel, an der Scheibe war innen eine ziemlich große Lithographie befestigt. Was sie darstellte, war aus der Entfernung nicht deutlich wahrzunehmen. Es schien ein großer Karren zu sein, auf dem Menschengestalten saßen und vor den Menschengestalten eingespannt waren. Eine Inschrift zog sich an drei Seiten um das Blatt herum.

An der nächsten Straßenecke trafen sich die Beobachter und tauschten ihre Eindrücke aus. Es war ein übelbeleumdetes Viertel, das Haus ärmlich, unmöglich ein Schlupfwinkel, ja kaum ein Anhaltspunkt für den Aufenthalt von Mrs. Malone.

Aus dem ersten Stock baumelten nasse Kinderstrümpfe an einer Schnur heraus, zwei Fenster des zweiten Stockwerks standen offen, in einem lehnte ein hemdärmliger Mann und rauchte eine Seemannspfeife. »Er hat uns angeführt, der Mönch! Er läßt seine Kutte bügeln, und wir strengen unsre Phantasie an!«

»Das Bild im Schaufenster sehe ich mir morgen bei Tag an.«

»Da kommt er!«

Herr Lucas trat aus dem Laden und kam gerade auf die Vier zugeschritten. Die verschwanden um die Ecke. Herr Lucas ging ins West-House zurück. Bis spät in die Nacht brannte Licht in seinem Zimmer. Er ging auf und ab, man konnte es vom Square aus sehen. Was rezitierte er? Hie und da drang ein Laut aus dem geöffneten Fenster.

»Er studiert,« sagten die Clerks. – –

Miß Dalmayne war unglücklich. »Ich muß, ich muß es ergründen, wo sie ist!« Sie wiederholte diese Worte seit Adelas Verschwinden vielemal jeden Tag, allen Bewohnern des Hauses gegenüber. Jetzt, da Adela nicht mehr zugegen 245 war, kam es ihr recht zum Bewußtsein, daß sie ihre Vertraute, eine treue, aufrichtige Freundin verloren habe, der sie nur in letzter Zeit ihr Herz zu sehr verschlossen hatte.

Ach, sie war ja der einzige Mensch, dem sie nun ihre Zweifel, ihren Kummer, ihre beginnende Ernüchterung hätte klagen können.

Sie stand oft, mit Tränen in den Augen, am Abend vor dem Piano, auf dem Miß Alvanley sie jetzt begleitete und sang die traurigen Arien aus »Lucia von Lammermoor«, aus »Margarethe« und aus der »Zigeunerin« von Balfe. Die Damen, die nicht verstanden, noch ahnten, was in ihr vorging, klatschten entzückt und riefen: »Encore!«

Mr. Escoffier hatte sich, da sie ja jetzt einen Ersatz für ihn, ja, eine ganz vorzügliche Begleiterin hatte, absentiert. Er hatte ein besonderes Vergnügen an den Musik-Hallen des Ostens gefunden. Er wollte eine vergleichende Studie über Pariser und Londoner Humor schreiben und veröffentlichen. Er und die Clerks kamen oft tief in der Nacht von ihren Streifzügen heim. Sie polterten die Treppen hinauf und Miß Dalmayne, die wach in ihrem Bette lag und auf die Schritte des Liebsten lauerte, konstatierte mit Schmerz und in Verzweiflung, daß er seine Stimme vor ihrer Tür nicht nur nicht dämpfte, sondern Vergnügen daran zu finden schien, recht laut zu lachen und ihr auf diese Weise zu zeigen, daß zwischen ihnen alles aus sei.

Ja – alles aus!

Und Miß Dalmayne erschien nach solchen Nächten mit trostlosen Augen und total verpudertem Gesicht als letzte an der Frühstückstafel.

*

»Es ist alles in Ordnung, liebe Frau Newall, ich brauche nichts!«

Adela lächelte und streckte die Hand nach dem Schemel aus, der auf dem Kies neben ihrem Liegestuhl stand und auf den die alte Frau soeben ein Tablett mit den Frühstückssachen gestellt hatte.

Die Malven blühten in großen violetten Stauden. Nicht weit von ihnen standen die hohen Stangen gekreuzt, an denen sich Wickenblüten emporrankten. Der Himmel war hellblau, Hummeln und Grillen summten in der Sommerluft. Es war herrlich ruhig und friedlich hier.

Adela zog langsam die Hand zurück und lauschte auf die Stille um sie. Endlich hatte sie gefunden, was not tat!!

Wie sie so im Stuhl lag, ragten die Blumenbüsche alle so hoch auf um ihre Ruhestätte, daß sogar das nahe Häuschen von ihnen verdeckt wurde. Sie wandte den Kopf, mit schwachem Lächeln, das Häuschen war nicht zu sehen, sie lehnte sich zurück und schloß die Augen.

Wie war sie Lucas dankbar. Als verknüpfte ihn mit ihrer Seele Wesen eine Ahnung, hatte er diesen Ort für sie ausfindig gemacht, an dem sie geborgen war. Gleich als sie durch das kleine Gartentor getreten war und das Häuschen im Hintergrund erblickt hatte, war dieser freudige Schreck ihr in die Glieder gefahren: hier gehörte sie hin, dies war ein Ort, ihr vom Schicksal auf irgendeine Weise bestimmt. Das Erdgeschoß mit den Atelierscheiben erinnerte sie an das Erdgeschoß des Hauses ihrer Mutter, das eine Voliere, ein Glaskäfig für die gefiederten Schützlinge der alten Dame war. Und die beiden Räume im oberen Stockwerk, die sie bewohnte, gefielen ihr über die Maßen.

Sheilas kleines Zimmer hatte Sonne vom frühen Morgen bis zum Mittag, ihr eignes, großes aber lag im Schatten der hohen Bäume, die ihre Kronen durch das Fenster in die Stube reckten, so daß es immer einen Kampf zwischen Fenster und Ästen gab, wenn sie die Scheiben aufstemmte.

247 Aber das Merkwürdigste war: daß Garten und Bäumepracht sich sozusagen in ihrem Zimmer fortsetzten. Eine bunte Tapete bedeckte die Wände, Gardinen wallten über Fenster und Türen nieder und beide, Tapeten wie Gardinen waren mit unregelmäßigen Flecken, Mustern, Ornamenten verziert, die Blumensträuße, Baumgruppen, durch die Ferne herüberschimmernde Seegestade und Berglandschaften vorstellten. Eine bunte, ewig wechselnde Fülle von Farben, Abschattungen zarter Nuancen, bewegte Flächen und Mosaik webte sich so seltsam durcheinander, daß sie in den drei Tagen, die sie hier verlebt, bereits über ein Dutzend verborgener Gesichter in den Tapeten und der Gardine gegenüber ihrem Bette erkannt und festgehalten hatte.

Im Hause lebte ein ältlicher stiller Sonderling, ein Bildhauer, griesgrämiger Herr in grauem Bart, mit Indianer-Mocassins an den Füßen und einem Purpurkäppchen auf dem kahlen Schädel, sein Name war Professor Hanslow, er kam nur selten aus dem Glasatelier heraus, in dem er seine Tage zwischen altem verstaubten Gips verbrachte. Das Häuschen selbst gehörte Mrs. Newall, einer bescheidenen alten Frau, die in einem verschlagähnlichen Raum hinter dem Atelier hauste, halb Wohnzimmer, halb Speicher, mit einer sauberen Küche daran, in der sie für sich, für den Professor, für Adela und Sheila die Mahlzeiten herrichtete. Sie lebte vom Ertrage der Miete, die ihr Häuschen ihr einbrachte. Vor Adela hatte eine fremde Dame, Finnländerin, die Etage innegehabt, eine melancholische Person, die den ganzen Tag las. Jeden zweiten Tag war sie mit dem Omnibus, der draußen an der Mauer des Parks von Kew vorbeifuhr, nach der Stadt gefahren, in die Leihbibliothek von Mudie, um sich ein neues Buch zu holen. Besuch oder Briefe hatte sie nie empfangen; eines Tages war sie fort, beweint von Mrs. Newall, der 248 sie eine treue Mieterin gewesen war. In dem Zeitraum, der zwischen ihrem Abgang und Adelas Einzug vergangen war, hatten die beiden Räume im oberen Stockwerk eine große Zahl oft wechselnder Gäste beherbergt, Männer und Frauen, sie waren zumeist von denselben Freunden gesandt, die die Finnländerin und jetzt die Australierin an Mrs. Newall empfohlen hatten. Manche unter ihnen hatten sich nur eine Nacht hier aufgehalten, und Mrs. Newall wußte gut, daß sie sie nicht nach Nam' und Art zu fragen hatte. Es waren vielleicht Menschen, die verfolgt waren von der Regierung ihrer Heimat, politische Flüchtlinge, müdgehetzte Menschen, die hier vorübergehend ein Asyl fanden und deren Aufenthalt von wohlmeinenden Leuten bezahlt wurde.

Adela lag mit geschlossenen Augen auf ihrem Stuhl im Garten und sog den Frieden in ihr Herz ein, wie Rosenduft. Seit sie hier lebte, war ihr Leben vertieft. So wie ihre Nächte in der Stille, die sie umgab, Schlaf erst jetzt zu erkennen vermeinten, war es ihr, als habe ihr Tag eine neue Bedeutung gewonnen, die erste wahre seit Jahren.

Zuweilen schlug nachts in einem fernen Stall ein Pferd an die Krippe mit dem Huf, zuweilen tönte ein ziehender Pfiff der Windsor-Bahn durch die finstere Lautlosigkeit, zuweilen tönte von der Seite her, wo Richmond lag, ferner Gesang herüber, das war alles.

Adela konnte nun lauschen, sich besinnen, leben und sein.

Sie las nichts, weder Zeitung noch Buch. Auf ihrem Schreibtisch standen die Onyxsächelchen, das Petschaftkreuz, der Wachthund, die Photographie ihrer Mutter inmitten ihrer Lieblinge. Adela ging im Zimmer auf und ab, Sheila spielte im Garten, Feuer lag auf dem Fensterbrett und blinzelte. Sie sah auf ihre Hände nieder, schob die Ringe über die Finger, bedeckte ihre Augen mit beiden 249 Händen und stand oft minutenlang in der Mitte des großen halbdunklen Raumes auf dem schweren schwarzroten Teppich still.

Sie träumte viel.

In der Stille blühten ihre Träume wild wie phantastischer Mohn auf und ihre Morgenstunden, die von den auf den Tapeten der Wände sich durcheinander wühlenden Gesichtern und Gestalten belebt waren, bewahrten die Nachtgesichte noch lange für den Tag auf. Sie lebte von ihnen, aber sie lebten auch von ihr ein Leben weiter, das nicht ganz von dieser Welt war, ebensowenig von der andern.

Deutlich entsann sie sich des ersten Traumes in dem neuen Hause. Zuerst hatte sie Ruderschläge gehört, dann ein Schiff gesehen, ähnlich einem Wikingerschiff mit Schaufeln, die aus dem Schiffsrumpf ins Wasser stachen. Sie stand am Ufer, aber plötzlich war sie selbst auf dem Schiff, das in eine Bucht lenkte – nein, es war ein Haus, ein wirkliches Haus, mit Galerien und Zimmern rings um die Galerien, und das Schiff fuhr einfach mitten ins Haus hinein, obzwar es ein Ozeandampfer war, viele Stockwerke hoch, und blieb mitten zwischen den Pfeilern stehn, auf denen die Galerien des Hauses ruhten. Aus allen Zimmern des Hauses starrten Gesichter sie an. Sie aber stand allein auf dem Schiff, und erkannte dieses und jenes: Rebecca aus West-House, Mme. d'Endore, die ihren Kopf auf die Schulter von Mr. Michael Malone gelegt hatte – beide waren aus verschiedenen Zimmern herausgetreten, jetzt sahen sie sie an und lachten boshaft, denn ihr flossen die Tränen aus den Augen auf das Kopfkissen. Vor Unmut über ihre Schwäche wachte sie auf – herrlichster Sonnenschein vor dem Fenster. Im Nebenzimmer hörte sie Sheila leise mit bloßen Füßchen über die gelinde knarrende Diele gehn. Dies war ein Traum, dem viele folgten.

250 Die Post kam am Morgen, sie fand einen Brief vor, in dem ihr Rechtsanwalt die Mitteilung machte: Herr Malone habe die Beschleunigung des Verfahrens beantragt, da er sich gern wieder verheiraten wolle. In Klammern: mit einer Operettendiva, die mit ihrer Truppe in Australien gastiere. Er habe Adela und dem Kind eine beträchtliche Summe ausgesetzt, sie sichergestellt, es handle sich um einen jährlichen Betrag von tausend Guineen, wovon ein Viertel als Erziehungsbeitrag für Sheila zu betrachten sei und nach ihrer Großjährigkeit als Beitrag zur Aussteuer zu gelten habe. Die Möbel usw. seien verpackt und zur Verfügung von Mrs. Bourke gestellt.

Adela war zufrieden; am Nachmittag schon dachte sie nicht mehr an alle diese Dinge. Sie bemerkte: daß sie dies in sich ja schon längst abgeschlossen hatte!

Wie war es nur damit: gab's einen Weg, ein Mittel, führte ein Wille dahin, daß die Träume sich ins Wachsein hinüberpflanzten? Konnte man seinen Tag so leben, daß das Zubettgehn und Einschlafen nur eine Funktion waren, die die Einheit des Daseins unterbrachen, ohne sie zu sprengen, abzulenken?

Adela öffnete das Fenster, blickte auf die Blumen im Garten, sah einem Falterpaar zu, das vor dem Fenster gaukelte. Vor dem Hause, jenseits der Chaussee dehnten sich die herrlichen Rasenhügel der Gärten von Kew. Zwischen den Bäumen, weit, blitzten die niederen Glaswände und Dächer der Treibhäuser auf. Links wölbte sich über den Kronen die Kuppel des Observatoriums. Dahinter stieg Rauch aus den Schornsteinen einer kleinen Stadt auf.

Sie gingen in den Garten hinunter, der Liegestuhl war bereit, Feuer kauerte schlafend auf dem Strohgeflecht. Beim Knirschen des Kieses setzte das Tier mit großem Sprung über den schmalen Pfad weg und verschwand 251 zwischen den Blumenrabatten. Das Summen des Sommerwindes durchdrang die Stille!

Professor Hanslow war tagelang nicht sichtbar. Kreuzte sein Weg einmal den Adelas, so dauerte es eine Weile, ehe er, aus einer Lethargie erwachend, die Frau wahrnahm. Dann zog er das Käppchen vom Kopfe, sein kahler schöner Schädel, wie Marmor antiker Philosophenbüsten, kam zum Vorschein. Die Atelierscheiben waren mit verblaßten, vom Sonnenlicht verschossenen Tüchern dicht verhangen. Es mußte um diese Sommerzeit sehr heiß darinnen sein.

Adela versank tief in jeden Augenblick ihrer Tage. Freude bereitete ihr's, zu sehen, wie sich Sheila in ihrem Element fand, das Ruhe, Sonne über Blumen, Summen und Traum hieß. Zuweilen, wenn sie ganz stille unter den Blumen gespielt hatte und zur Mutter kam, kauerte sie sich nieder zu ihren Füßen und preßte eine halbe Stunde lang ihre Wange an Adelas Kleid. Hob Adela dann das Köpfchen, so blickte sie in das kleine Gesicht, das vor Glück zu strahlen schien. Ihre Puppen, das Kamel Miggy lagen im Schrank, sie befaßte sich mit den Blumen, hatte eine Legion Schnecken gesammelt, die sie mit Salatblättern fütterte und von Zeit zu Zeit beaufsichtigte. Ihr Lager befand sich in der Nähe der Mauer an der Straße, einem wohldurchwärmten Ort, wo die Ziegelsteine bloß lagen.

Nach einer Woche des Lebens dieser Art begann Adela den Einfluß der Veränderung zu verspüren. Der Vorwurf, den sie sich ehemals unter Menschen gemacht hatte, über ein Zuwenig oder Zuviel in der Neigung und dem Verkehr mit diesen und jenen, vermochte ihr Gleichgewicht nicht mehr zu stören. Alles kam jetzt von innen; aus unergründlichen Quellen gespeist, strömte es über die Stunden weg und verlief in den nämlichen Tiefen, woher es gekommen war. Helle Träume erzeugten helle 252 Stunden und trübe verflossen im Halbschlummer unter dem Sonnenlicht ohne Beängstigung und Nachhall. Der Tag hatte Stunden gewonnen, mag sein verloren, im Heben und Sinken der Wellen, die die Stunden aufwärts führten, abwärts dämmten, verschmolz Licht und Dunkel zu einem einzigen Dämmern, von klaren Blitzen der gestärkten Empfindung durchzuckt.

Sie setzte sich an den Schreibtisch, stützte das Kinn in die Hand und sprach: »Ich leide nicht!«

Mußte sie nicht erschrecken über die Worte, die sie hier ausgesprochen hatte? War sie deshalb in diese Einsamkeit geflohen, bei Nacht und Nebel auf und davon aus allen Zusammenhängen, um eine Woche nach ihrer Flucht mit gutem Gewissen diese Worte aussprechen zu können: »Ich leide nicht?«

Aber ihr Gewissen blieb ruhig. Es war so ruhig, wie es gewesen war, als sie ehemals, in dem Bewußtsein, etwas Gutes getan, etwas, wozu sie nicht verpflichtet gewesen, aus eignem Antrieb geleistet zu haben, sich Rechenschaft über die Haltung der Umwelt zu ihren Taten und Entschlüssen gegeben hatte. Die Ereignisse traten günstiger ein, die Stunden waren klarer und des Lebens Antlitz spiegelte sich freundlicher aus den Gesichtern der Menschen ihr entgegen, wenn sie aus eignem Willen, nach gutem Entschluß und mit Absicht gut gewesen war. So wie im Gegenteil ihre mürrisch verschlossene Seele Ungemach und Bosheit der Umwelt auf sich gezogen hatte. Aber jetzt, in dem wiegenden Gleichmaß der Tage und Nächte, waren diese Zweifel verstummt und Gegensätze ausgeglichen. Sie lebte, wartete, besann sich, lauschte auf den unhörbaren Vorgang, wie die veränderten Stimmen der Zeit ihr Festigung und Anhalt boten, sie aufrichteten, kräftigten zu einem Zwecke, über den sie sich im Traum deutlicher als im Wachen Rechenschaft zu geben vermochte.

253 Sie wußte den Zweck, kannte ihn, aber dieses Wissen und diese Erkenntnis überschritten kaum die Schwelle, sie wirkten und webten nur wie Instinkt und Schicksal in den Tiefen fort.

*

Herr Lucas hatte Sheila bei der Hand genommen. Sie gingen über die weiten, in der Morgensonne sich badenden Wiesenwege der Gärten von Kew. Es war der »Märchen-Spaziergang«, den Herr Lucas Sheila vor Wochen versprochen hatte; nun hielt er sein Versprechen.

»Ich habe mich aber nicht vorbereitet,« sagte Herr Lucas und schien verwirrt. »Ich weiß auch gar nicht, wie man Märchen erzählt!«

»Das tut nichts,« sagte Sheila. »Erzähle mir, wie du Mammy erzählt hast, was du gesehen. Das ist dann ein Märchen.«

»Ich kann dir nichts erzählen, Sheila, denn ich habe nichts erlebt. Wovon soll ich denn sprechen?«

»Ach,« sagte Sheila, »wenn ich es mir wünschen muß, dann kann es ja nie ein Märchen werden, denn dann weiß ich es ja schon!«

»Soll ich dir von Riesen oder von Elfen erzählen?«

»Nein, nicht von Riesen oder Elfen.«

»Von Kindern oder von Alten?«

»Nein, auch nicht.«

»Von Blumen? von Tieren? von Menschen?«

»Von Tieren!«

»Von Feuer?«

»Nein, auch nicht.«

»O, dann weiß ich: von den Schnecken!«

»Ja!« jubelte das Kind. »Erzähle von den Schnecken!«

»Also die weißen und die schwarzen Schnecken lebten einträchtig beisammen am Fuße eines großen pfeilgeraden 254 Berges, der unten rot war, oben weiß wurde und über dem der Himmel lag. Die weißen Schnecken wohnten in Häusern, die schwarzen aber hatten keine. Die schwarzen beneideten die weißen um ihre Häuser, die weißen aber wünschten sich, sie wären schwarze, denn dann müßten sie sich nicht ewig mit ihren schweren Häusern und mit allem, was drin war, abschleppen. Die schwarzen waren oft den Berg hinaufgeklettert, aber nie über das rote Feld hinaufgekommen, die weißen aber hatten ihnen derweil die Salatblätter weggefressen – nein, ich kann dir das nicht weiter erzählen, Sheila. Ich weiß nicht, wie es weiter geht. Es wird nicht gut.«

»Glaubst du, Herr Lucas, daß die Tiere Herzen haben, wie die Menschen? Daß sie fühlen, wenn ihnen jemand leid tut und daß sie weinen können, und daß sie Träume haben?!«

»Ja, das glaube ich.«

»Feuer tut es, ich weiß es bestimmt. Erzähle davon, Herr Lucas.«

»Also Gott der Herr schuf den Menschen Seelen, damit sie Gutes tun sollen auf Erden, aber die meisten Menschen wußten mit dem Geschenk nichts anzufangen und verwendeten es falsch. Da nahm Gott der Herr ihnen ihre Seelen fort –«

»Kann denn ein Mensch ohne Seele leben, Herr Lucas?«

»Nein, wenn sie starben, nahm er sie ihnen fort –«

»Es sterben aber doch auch gute Menschen –«

»Unterbrich mich nicht, Kind. Als sie starben, da gingen die Seelen der Menschen, die nicht richtig gelebt hatten, in unschuldige Tiere und blieben in ihnen so lange, bis Gott sie berief und sie einem neugebornen Menschen einverleibte und dieser Mensch wurde nun gut.«

»Mußten die Tiere erst geschlachtet und aufgegessen werden, damit Gott ihre Seelen von ihnen nehmen konnte?«

255 »Gewiß, sie mußten den Tod erleiden durch Menschenhand.«

»Aber wenn ein Tier mit einer schlimmen Menschenseele sehr alt wurde, da wurde die Seele sehr gut, weil sie Zeit hatte, nicht wahr?«

»Ja, vielleicht ist es so.«

»Großma' Bourke, Herr Lucas, hat einen Ara, der ist so alt wie sie, siebzig Jahre. Sie pflegt die Tiere, damit sie sehr alt werden in ihrer Nähe. Großma' Bourke ist gewiß von Gott bestellt, damit sie es tue!«

»Das ist möglich. Denn nur solche Menschen lieben Tiere, die es erlebt haben, wie böse die Menschen sein können. Da lieben sie die unschuldigen Tiere.«

»Feuer ist nicht unschuldig, Herr Lucas, ich habe gesehen, wie sie mit einer Maus spielte! Ich habe ihr das Halsband angelegt und sie einen ganzen Nachmittag lang an das Bett gebunden.«

»O – das darf man nicht, Sheila. Tieren und Menschen darf man nicht die Freiheit nehmen.«

»Werden die Seelen dann noch böser, wenn sie wieder zu Gott kommen?«

»Das ist sicher.«

»Herr Lucas, warum läßt Gott denn böse Seelen in die Menschen hinein? Warum behält er sie nicht bei sich? Warum müssen Menschen geboren werden, die schlechte Seelen haben? Können ganz kleine Kinder schon schlechte Seelen haben? Und müssen sie sterben, wenn ihre Seelen nicht gut und fromm werden können in ihnen? Wo wohnt die Seele, Freund? Im Herzen? Wenn ein kleines Kind stirbt und es wird ein Engel, hat dann Gott es zu sich genommen, weil seine Seele zu gut war? Freund, muß ein Kind erst gestorben sein, damit die andern Menschen es merken, daß es eine gute Seele gehabt hat? Und warum machen dann die Menschen andere Menschen tot und schicken 256 ihre Seelen zu Gott, wenn sie finden, daß sie Böses getan haben?«

»Kind, hier ist das Tor, wir wollen jetzt die Richmondstraße hinunter zu Mammys Haus gehn. Sie wartet auf dich!«

»Herr Lucas! Herr Lucas! Warum antwortest du mir nicht?« sagte Sheila und schluchzte fast.

Aber Herr Lucas drückte statt einer Antwort nur des Kindes Hand stärker in seiner fest und schritt so rasch aus, daß sein Mantel flatterte und das Kind die Schritte bis zum Laufen beschleunigen mußte. Er war rot und verlegen, er schämte sich vor dem Kind und vor sich selber. Ich kann kein Märchen zu Ende erzählen, ich kann keinen Gedanken zu Ende denken, kein Gefühl will in mir länger verweilen, als bis ein andres es verdrängt, ihm in die Quere kommt, es vernichtet. Was soll ich unter Menschen? Sie alle müßten ja Mitleid mit mir haben!

Plötzlich blieb er stehn. »Oh, ich bin so rasch gelaufen, Sheila. Du bist gewiß müde!« Er ergriff das Kind, hob es auf und trug es in seinen Armen vorwärts.

Sheila war erst erstaunt, ließ ihn aber gewähren und blickte mit großen, aufmerksamen Augen von unten hinauf in das bärtige Gesicht des Freundes, das geradeaus gewandt in die Weite sah. So kamen sie vor dem Gartentor an.

*

»Es ist so gut, daß Sie hier sind, Herr Lucas, Sie werden mir Aufschluß geben. Ich bin etwas beunruhigt, ich träume viel. Ich weiß nicht, kommt es davon, daß es hier so sehr still ist, oder weil ich so wenig Äußeres erlebe, genug, oft träume ich so stark, daß ich fürchte, es könnte etwas mit meinem Herzen oder Hirn nicht in Ordnung sein – Sie müssen mir helfen. Es beunruhigt mich.«

257 »Ja, ja, gewiß geht der Schlaf und entstehen die Träume vom Herzen aus,« sagte Herr Lucas eifrig und begann Adela einen Vortrag über das mechanische Phänomen des Schlafes, sogar des Schlafs in der Hypnose, in der Narkose und des kataleptischen Schlafes der geborenen Medien zu halten. Aber sie wurde ungeduldig, meinte anderes. Ob man seine Träume lenken könne, ja benutzen gewissermaßen, für einen bestimmten Zweck – so wie Menschen ihre Muskeln benutzen, um etwas zu heben, oder ihren Verstand anstrengen, um etwas Schwieriges zu vollbringen, einen wichtigen Brief zu schreiben, eine mathematische Aufgabe zu lösen?

Er war ein wenig erstaunt, befangen, er hatte von ihr solch einen Gang der Ideen nicht erwartet. Auch mißtraute er sich, war noch über seinen Märchenspaziergang unglücklich. Aber als er Adelas flackernden, intensiven, wie aus der Tiefe kommenden Blick bemerkte, als er sah, aus welcher Unruhe herauf, nicht aus Neugierde, sondern aus Not, nicht aus Wißbegierde, sondern aus Anklammerungsbedürfnis an eine Hoffnung inmitten Beängstigungen tieferer Art ihre Frage stammte, wurde er betroffen, still, bat Adela, sich zurückziehen zu dürfen für eine Weile – und er ging dann tatsächlich ins Nebenzimmer, dessen Tür er hinter sich zuzog.

Adela hörte ihn drin eine Weile aufgeregt hin und her gehen, hörte ihn auch sprechen, wie er es im West-House hinter der Wand seines Zimmers zu tun pflegte. Nach einer halbstündigen Frist etwa trat Herr Lucas aus seiner Klause und bat Adela, sich zu setzen. Vor ihr herumgehend, indem er ihrem Blick auswich, sprach er in die Stille des Zimmers hinein. Aus Einbildung, Erfahrung, Ahnung der eignen und der andern Seele fand er Worte, die nicht immer so gefügt waren, daß sie einen klaren Zusammenhang und deutliche Beziehung ausdrückten.

258 »Es ist nicht wahr, daß das, was am Tage geschehen ist, sich im Traume wiederholt. Was im Traum auftaucht, das wird am Tag geschehn. Ich glaube daran, weil ich es erfahren habe. Aber ich habe es nicht geübt, weil ich glaube . . . mein Leben ist so . . . Oft ist mein Traum hell wie von Blitzen, Meteore fallen, ich stürze tief – dann ereignet sich in meinem Leben etwas – so war erst in diesen Tagen, jüngst. Es ist Mut zum Leben in den Träumen. Oft wäre es gar nicht möglich, weiterzuleben, ohne die Träume.«

Adela nickte. Herr Lucas meinte, sie wollte etwas sagen. Aber sie nickte nur leidenschaftlich ihm zu, er möge fortfahren. Ermutigt redete er weiter.

»Ja, so ist es: Mut. Ich finde Mut zum Weiterleben in den Träumen und ich kann ihn brauchen. Oft gehe ich, zu Tode betrübt über mich selbst, zu Bett und woher kommt mir die frische Morgenstunde, daß ich wieder zum Leben erwacht bin, das schön und lebenswert ist wie vom Anbeginn? Das kommt aus den Träumen der Nacht, nicht aus der Ruhe, sondern aus dem angestrengten Erleben der Seele, das weiß ich sicher. Und weil Sie mich danach fragen, weiß ich es auch zu beantworten, es ist mir klar: man braucht nur zu wünschen, der Traum braucht nur voll zu sein vom Wunsch, und der Tag und was man während des Tags erlebt, wird die Erfüllung bringen! Man kann auch gerecht sein im Traum und Widersachern verzeihen, was man wachend nicht immer zuwege bringt, und ich kann auch strafen, andre und mich und wie nach einem Bad im Meer aufwachen, das kann ich!«

Herr Lucas stellte sich ans Fenster und preßte seine Stirne gegen die Scheiben.

Adela sagte: »Oft kommt eine große Furcht im Traum, daß ich etwas versäumt habe, ich weiß nicht, was. Erst ist es, als wäre es Geld, das verloren ist – oder ein verabsäumter Besuch, aber bald erfahre ich, es muß anderes 259 sein, dann erwache ich vor Zweifeln. Was hat es damit auf sich?«

Sie fragte ihn so, als müsse er unbedingt Aufschluß geben können, und er antwortete auch, ohne sich zu besinnen:

»Wenn man etwas befürchtet, dann hilft es, daß man sehr stark daran denkt, so als wäre es schon eingetroffen. Dann verfliegt es, ja, es zerstiebt in nichts. Dagegen, wenn ein Wunsch oder eine Angst nur flüchtig an einem vorbeihuschen, und der Verstand oder das Herz vermögen sie kaum im Flug festzuhalten und sie sind vorüber – dann mag es eintreffen und ist nicht mehr abzuwenden. Sehen Sie, Mrs. Malone – sehr stark glauben oder wünschen oder abwehren, das hilft allein! Aber man kann sich nicht zwingen, natürlich kann man das nicht, alles kommt aus der ungekannten Quelle. Im Grunde wissen wir es nicht, es kommt, es geht, wir kennen kaum die Richtung. Glauben – ja, das ist es! Glauben, an Menschen, an sich, an Gott! Wer stark glauben kann, dem erfüllt sich der Traum.«

Er seufzte gequält und resigniert. Adela sah, wie seine Lippen bitter sich verschoben, so als spräche er von etwas Unerreichbarem, von etwas, das doppelt unerreichbar war, weil er es so genau erkannte, außer sich, seinem Verstand genau wahrnahm, nicht als eine Kraft, die er in sich unbewußt und nur in seinem Wirken faßbar getragen hätte. Adela ging im Zimmer auf und ab. Sie sprach:

»Eines müssen Sie mir noch sagen, dann will ich Sie nicht mehr beunruhigen. Was hat es zu bedeuten? In meinen Träumen sehe ich jetzt so oft Gesichter. Es sind Reihen, Scharen von Gesichtern. Alle sind auf mich gerichtet. Manche erkenne ich, die meisten aber sind fremd und feindselig. In allen, allen Träumen wiederholt 260 es sich: Scharen von Gesichtern. Ist es, weil ich jetzt mit Menschen kaum mehr zusammenkomme? Daß die Menschen mir nun in die Träume nachfolgen, wo ich keinen mehr zu sehen brauche?«

Herr Lucas besann sich: »Haben Sie in den Zeitungen von dem Mann gelesen, der wegen eines Mordes, den er begangen haben soll, durch den drahtlosen Apparat auf einem Schiff verfolgt wurde? Die ganze Welt wußte von ihm, nur er und seine Gefährtin wußten nichts . . .«

»Garrat.«

»Ja, ich meine ihn. Nun – vielleicht dachten Sie an den, oder träumten von diesem Mann und der Jagd, die die Welt auf ihn machte. Furchtbar muß das Leben eines Gejagten sein, der nicht weiß, wie nah ihm der Verfolger auf den Fersen ist.«

»Glauben Sie, Herr Lucas? Weil er es nicht weiß, ist sein Leben furchtbar? Ich glaubte, es müßte furchtbar sein, wenn er es weiß oder die Sicherheit hat, daß sie ihn bald haben werden . . .«

»Oh, denken Sie, wie viele unbekannte, fremde Gedanken ihn verfolgen, ihn treffen, ohne daß er es abwehren kann! Welche Beunruhigung! Furchtbar muß es sein, von vielen Millionen Menschen gekannt zu sein und gesehen zu werden, und wie furchtbar erst, wenn all die Augen auf einen gerichtet sind, der schläft und sie nur im Traume auf sich gerichtet fühlt.«

»Ja, jetzt verstehe ich Sie.«

»Sie haben wohl von dem Gehetzten geträumt.«

»Ja, es mag sein.«

Ein Kratzen an der Tür. Adela ging hin, Feuer stürzte in die Stube. Verwildert, das Fell an einer Stelle am Hals versengt. Mit einem Satz war das Tier im Nebenzimmer.

261 »Ein Dämon!« Herr Lucas war bleich unter seinem Barte geworden. »Sie hausen ja mit einem Dämon beisammen! Wie können Sie das nur!«

»Ach, es ist doch nur die Hauskatze,« sagte Adela erstaunt. Sie versuchte zu lächeln.

*

Reverend A. D. Gurgett saß eine Weile noch auf seinem Platz und blickte sein Gegenüber mit traurigen Augen an. Es fiel kein Wort mehr. Reverend Gurgett seufzte und griff nach seinen Handschuhen, die er auf den Tisch gelegt hatte. »Es ist schade, daß Sie mißtrauisch sind. Niemand schickte mich zu Ihnen. Ich wollte auch nichts aus Ihnen herausholen. Es war mir einzig und allein darum zu tun, Ihnen, falls Sie es gewünscht hätten, durch meine Sendung, meinen Beruf, eine halbe Stunde lang Ihre Seele zu erleuchten. Es war nur . . . es war mir um die Christenpflicht gegen den Nächsten zu tun, weiter um nichts, glauben Sie mir.«

Er faltete die Handschuhe und schob sie in die innere Tasche seines hochgeschlossenen Priesterrocks. Dann erhob er sich.

Auch Garrat war aufgestanden. Er sagte, indem er die Augen zum Geistlichen emporhob: »Ich hoffe, daß Sie nicht zu sehr enttäuscht sind, Sir. Ich wäre traurig, Sie ungehalten zu wissen. Auch gegen Miß Stratton bitte ich Sie aus demselben Grunde keine unfreundlichen Gefühle zu hegen. Sie hat ja Trauriges durchzumachen und ist ein froher Mensch, dem das doppelt schwer fallen muß. Es war von ihrer Seite ebenfalls nicht unfreundlich gemeint, wenn sie Ihren Zuspruch ablehnte.«

Reverend Gurgett stand mit gesenktem Kopf da. Garrat hatte den Eindruck, er murmle ein Gebet. Als er aufschaute, begegnete er Garrats Blick, diesem etwas wässrigen, 262 ermüdeten, graublauen Blick aus schlaflosen und seltsam gealterten Augen.

»Kann ich etwas für Sie tun?« Er machte ein paar Schritte. Gleich öffnete sich die Tür von außen und der Wärter trat herein. Hinter dem Spalt war die Gestalt des draußenstehenden zweiten Wärters sichtbar geworden. Garrat sagte: »Wenn ich Sie bitten dürfte, mir die Zeitung zu geben, in der das zerrissne Blatt abgebildet war, von dem Sie sprachen. Und auch um ein zweites möchte ich Sie ersuchen: vielleicht gestattet es der Kapitän auf Ihre Fürbitte, daß der Telegraphist von oben in einer freien Stunde zu mir komme. Ich möchte gern von ihm hören, d. h. ich meine die Theorie der drahtlosen Telegraphie . . .«

Reverend Gurgett versprach, sein möglichstes zu tun. Ohne den Gefangnen weiter anzublicken, verließ er sodann die Staatskabine. Garrat kehrte an den Tisch zurück, zündete seine Pfeife an und nahm das kleine in rotes Leder gebundne Buch zur Hand.

Wärter Folsom machte es sich bequem auf seinem zusammengeklappten Bett bei der Tür, das am Tage die Form eines Stuhls annahm. Er sah zu Garrat hinüber und lächelte, als er Garrat lächeln sah. Garrat sagte: »Keine Reverends für mich! Ich glaube an Gott, seit ich auf der Welt bin, das ist wahr. Ich bin ein guter Christ. Aber ich glaube nicht an die Profession des Gottesglaubens; Heuchler!«

Wärter Folsom sagte: »Ich habe einen Vetter, der ist bei der Heilsarmee; ja, alter Kerl, sage ich ihm, so oft ich ihn sehe, was machen die Prozente? Was für Prozente? fragt mein Vetter. Na, die nach den Seelen, die du zur Bußbank bringst, Seelenprozente, zahlbar im Himmel, versteht sich! Ich habe einen Gefängnisgeistlichen gekannt, das war, als ich noch im Dienst stand, in Wormwood Scrubbs . . .« Er räusperte sich, vollendete den Satz nicht.

263 Garrat suchte in dem kleinen roten Band, fand die Stelle wieder. Er kannte sie auswendig. Mit geschlossenen Augen vermochte er sie zu lesen, er hatte sie oft und oft gelesen, vor Jahren und jetzt wieder. Der Wohllaut der Verse klang ihm im Ohr wieder.

»Gattin! Schwester! Engel! Lenkerin des Schicksals Du,
Dess' Pfad so sternlos war! Zu spät Geliebte!
O, die zu früh ich angebetet habe!«

Es war die Stelle aus Shelleys Epipsychidion.

Eine Stunde später pochte es an der Türe und der Außenwärter, der im Korridor saß, reichte Wärter Folsom ein kleines Paket herein. Es enthielt das Handbuch für drahtlose Telegraphie mit dem Aufdruck: »S. S. Maple Leaf« und dem Wahrzeichen der Transcanadian Co., der das Schiff gehörte, dem Ahornblatt. Außerdem lag eine zusammengefaltete Zeitung bei, sowie ein mit einem Stempel versehener Zettel von der Hand des Reverends: ein Besuch des Drahtlosen könne leider nicht gestattet werden; das mitfolgende Buch aus der Kabine des Kapitäns dürfte dafür die gewünschte Auskunft enthalten.

Garrat entfaltete die Zeitung und sein Blick fiel sogleich auf ein großes Klischee, das die obere Hälfte der dritten Seite einnahm. Es war die Abbildung seiner Karte in natürlicher Größe. Die zerrissnen Teile waren aneinander geklebt worden und er konnte deutlich die Worte lesen, die er in jener letzten Nacht vor der Ankunft in Rimouski, nach seiner letzten Aussprache mit ihr oben auf dem Sonnendeck aufgeschrieben hatte. Die Fetzen der Karte, die er zerrissen, hatte er in eine Tasche seines Mantels gesteckt, wo sie später von den Detektivs gefunden worden waren. 264

»Ich kann die Qualen dieser letzten Nacht nicht mehr ertragen. Sehe keine Hoffnung mehr für mich. Wohl aber für Dich noch vieles Schöne und Freudige im Leben. Mit dem Gelde würden wir ja bald zu Ende sein. Ich ziehe jetzt das Fazit und springe über Bord. Mein letzter Gedanke und mein letztes Wort an Dich lautet: Liebe.

Walter.«

Er las in der Zeitung noch dies und das. Unter anderm eine großgedruckte Überschrift: Friedensrichter Rangers teilt unserm Berichterstatter mit, daß Cora Stratton »Doktor« Garrat unverbrüchlich die Treue bewahre. Garrat las das Wort Doktor vor seinem Namen in Anführungszeichen und verzog die Lippen. Dann legte er das Blatt fort und bat Wärter Folsom, es an sich zu nehmen. Er blätterte im Handbuch der drahtlosen Telegraphie und sah aufmerksam die Abbildungen an; legte es dann fort und griff aufs neue zum Band Shelley.

*

Was ihn ganz unverhältnismäßig schwer bedrückte, seit er sich auf der»Maple Leaf« befand, war: daß niemand an den beiden Fenstern seiner schönen, geräumigen Kabine vorüberging. Jener Teil des Decks war für die Mitreisenden abgesperrt. Daß er auf dem schönen großen Schiff ein Gefangener war, quälte ihn tiefer, als ihn die Gefangenschaft im Gerichtshaus zu Quebec gequält hatte, obzwar er ja dorthin aus der Freiheit kopfüber hinuntergestürzt war, wie in einen tiefen Brunnenschacht.

Niemand ging an den Scheiben vorüber. Einmal nur hatte er zwei Matrosen das Deck scheuern sehn, ganz früh am Morgen. Die stumpf neugierigen, scheuen Blicke der bärtigen Gesichter waren zwischen dem ewig unveränderten Horizont des glatten Meeres und dem Messingrahmen 265 seiner Fensterscheibe aufgetaucht – eines der Gesichter mit rasierter Oberlippe, das andre struppig und feuerrot.

Wie eine Aufgabe, die ihm, spät doch unabwendbar, mit kurzer Frist vom Schicksal gestellt worden war, wiederholte er die Worte Shelleys. Dabei ging es ihm wunderbarer mit jedem Mal. Während er noch vor einem Tage unter den Zügen der bräutlichen Schwester, der schwesterlichen Braut sie erblickt hatte – die er in einem andern Raum desselben Schiffes wußte – wo? auf diesem selben Deck? oder tiefer unter ihm? sicherlich aber mit diesem selben trostlosen Ausblick ohne Menschen vor dem Fenster, auf das unveränderliche glatte Meer – sah er nun ein andres Gesicht durch dieses vertraute hindurchscheinen: ihres, das wahre, der Schwester und der Braut.

Mit blitzartig aufflackernden Augen starrte es erschrocken aus dem Fond eines Hansoms in sein Gesicht, neben sich das kleine Antlitz eines Kindes, ein Sommerhut beschattete die Augen, dann verschwand alles. Das Gesicht war es: der Braut und der Schwester.

Und jenes, hier, näher zum seinen, Coras, das er in Leidenschaft und Verzagtheit, Liebe, heller Lust und ausgelassner Freude, in tiefem Schlaf und überhellem Aufhorchen wechselnd erblickt hatte, wurde überschattet und zog sich tiefer in sein Bewußtsein zurück, je öfter die Zeilen des Gedichts sich vor seinen Augen, die nicht mehr zu lesen brauchten, in voller Klarheit der gedruckten Worte spiegelten.

Garrat blickte zum Wächter hinüber und sagte sich: das ist der Mensch. Tag und Nacht bewacht und doch ein Geheimnis behütet, das keiner kennt und das das heimlichste und wichtigste von allen ist.

Wie das Geheimnis an die Oberfläche drang, sich in die Tiefe zurückzog, um dann in erneutem, stärkerem Vorwärtsstoßen die Eindrücke des Tages und der Nacht zu übertönen! Oft war es fast verschollen. Dann saß Garrat 266 und blickte dem Rauch seiner Pfeife nach: was stieg in die Höhe vor seinem Blick? War das die Gefangne auf dem Schiff, seine Gefährtin in Tod und Leben, in der Schande und der Freiheit? Oder aber das andre Gesicht, das im Fond des Wagens aufgeflackert war, unter einem breitkrempigen Sommerhut, und erloschen gleich darauf im vorüberrollenden Gefährt? Das jugendliche, hell und lächelnd unter Bäumen, inmitten zweier andrer, gleichgültiger, von Musik umrauscht und dann, auf dem Themseboot, um das Sonnenlichter auf japanischen Schirmen tanzten?

Man hatte ihm alles fortgenommen, bis auf die Kleider, die er am Leibe trug. Das Bild in seinem Koffer war fort.

Aber das Geheimnis kam und ging. Stärker und immer stärker prägte sich das erschrockne, fliehende, für einen Augenblick nur angeschaute Antlitz ein. Im Dröhnen und Schüttern des Schiffskörpers, im leisen, beständigen Ächzen und Knarren der Kajüte, im Rauch, der aus der warmen Pfeife schweigend quoll, aus dem Gefüge der gedruckten Worte und Zeilen des Buches, schien es sich stärker und stärker zu entwickeln. Sein Weg bahnte sich durch die Erinnerung an jene ferneren, sinnlich anziehenden Züge der jugendlich lächelnden, sonnenumspielten Adela, durch die nächste, die gegenwärtige Coras – und blieb das Letzte, war das Bleibende, dieses für einen einzigen, kurzen Augenblick nur erhaschte, gleich wieder versunkne: das Geheimnis.

Garrat sagte sich:

Dienstag, vier Uhr nachmittag. – Sonnabend früh Liverpool. – Sonnabend abend London.

Ein Eindruck, ganz frisch noch und quälend, zog wie ein ziehend grimmiger Schmerz, der nur von kurzer Dauer sein kann, an ihm vorüber: der Tender, auf dem er, und mit ihm Cora Stratton durch ein halb Dutzend Schritte nur von ihm getrennt, aber ihm unsichtbar (da Wärter, 267 Detektivs, Wärterinnen, das ganze Personal, das sie auf der »Maple Leaf« nach England zurückbegleiten sollte, zwischen ihnen standen), im heißen Nebel der Augustnacht vom verdeckten Pier hinüber nach dem schlafenden, schwach beleuchteten Schiff auf dem St. Laurenz-Strom gebracht worden war. Plötzlich, wenige Meter weit vom Tender: das jäh aufflammende Magnesiumlicht, auf einem bis dahin unsichtbar gebliebenen Nachbartender, in dem für die Dauer einer Sekunde die aufgeregte Schar der Photographen, Journalisten, des neugierigen Publikums sich gezeigt hatte. Und dann – schlimmer als dies – das nervöse Emportauchen seiner Hände, in deren Gelenke sich blitzscharf die Fesseln schnitten!

Rascher, als es sich denken ließ, war der Alp vorbei und fort. Auch der Schmerz darüber, daß in diesem Raum er noch vier Tage lang sein müsse und niemand zwischen sich und dem endlosen Gewässer sehen dürfe, aber dabei von allen, allen gesehen werde, den Augen der ganzen Welt preisgegeben, von ihnen gesichtet ohne Unterlaß – auch dieser Schmerz zog wie eine Wolke an der reglosen Unendlichkeit des Meeres hinter den Scheiben und dem leeren Verdeck vorüber und war nicht mehr. Es blieb allein das Antlitz, geheimnisvoll ineinandergeschmolzen mit den Worten des wieder auferstehenden Gedichts.

*

Zwischen den Gegenständen auf Garrats Tisch befand sich ein weißer Papierbogen.

Wärter Folsom beobachtete Garrat, wie er zuweilen eine Feder ergriff und, ohne sie in die Tinte einzutauchen, Zeichen auf das Blatt zu schreiben begann. Schreibübungen offenbar, denn er ließ sich Zeit zu dieser Betätigung. Die Feder hinterließ keine Spuren auf dem Papier.

268 Auf diese Art entstand eine Art Protokoll, an dem Garrat, die Linke an Wange, Ohr und Mund gepreßt, oft stundenlang arbeitete oder brütete in gespannter Aufmerksamkeit.

Das imaginäre Schriftstück fing mit einer Darstellung des Tatbestandes an, welcher sich ziemlich genau mit dem Anklageakt deckte, den Garrat in Quebec vom Richter Rangers vorgelesen erhalten hatte. Er hatte Geistesgegenwart genug besessen, sich den Wortlaut der Anklage genau zu merken, und in den Schreibübungen auf dem weißen Blatte war er bestrebt, ohne Abweichung die Worte aufzuzeichnen, die er im Gerichtszimmer gehört hatte.

Er trachtete sogar wörtlich die Darstellung des Befundes der Leiche und des Raumes in dem verödeten Hause für sich selber zu wiederholen und seine Verteidigung auf diesen Befund, von dem er durch die Anklage allein Kenntnis erhalten zu haben behauptete, aufzubauen. Jede noch so geringfügige Abweichung, eine Ergänzung so gut wie das Fortlassen einer Einzelheit, konnte verhängnisvolle Folgen in sich bergen. Garrat schrieb und schrieb mit trockner Feder – ein Zeitvertreib, eine Marotte, die Wärter Folsom weiter nicht ernst zu nehmen beschloß, dem Kommissär aber draußen auf dem Schiff pflichtschuldig weitergab und berichtete.

Auf dem unsichtbaren Schriftstück folgte dem Tatbestand die ausführliche, von Garrat bis in die letzten Verzweigungen entworfne Verteidigungsrede. Eine Darstellung seines Ehelebens, der Gewissensnöte, die ihn bestimmt hatten, seine Londoner Existenz ein für allemal abzubrechen und anderweitig eine neue zu beginnen: die Einsicht in die Unhaltbarkeit seiner moralischen und wirtschaftlichen Situation. Garrat gab auf dem Blatte eine Darstellung der inneren Kämpfe, die ihn verfolgten, da er die Gemeinschädlichkeit der Geheimmittel erkannt hatte, von deren Vertrieb er lebte, er, der ehemals ein 269 Mann der exakten Wissenschaft gewesen war. Auch das Geständnis beträchtlicher Verfehlungen fand hier Platz: er hatte seine Geschäfte nicht als redlicher Kaufmann geführt – und doch waren ihm die veruntreuten Summen unter den Fingern zerflossen, er wußte nicht, wie.

Antikamnia und Dr. Oldports System wurden einer eingehenden Analyse unterworfen, die Fabrikanten in Neuyork, Rochester und Chikago als die Volksverderber denunziert, die sie waren. Der ungetreue Kaufmann und Verschleißer riß seine Auftraggeber mit sich in den Abgrund. Hierdurch glaubte er eine Pflicht erfüllen zu können. Er war Doktor. Es lag kein Grund vor, an der Echtheit seines Titels zu zweifeln, für die er ein Dokument der Londoner Fakultät vorweisen konnte. Daß er bis zum Helfershelfer überführter Scharlatane und Giftmischer herunterkommen mußte, war seine Schuld, seine allein. Die Ursache lag in der Verzweiflung, die ihm der Ablauf seiner Existenz auferlegt hatte. Hätte er den moralischen Mut besessen, die Unwürdigkeit seiner häuslichen Not abzuwerfen, dann wäre es ihm wohl auch gelungen, sich von dem Makel zu befreien, der ihm durch seine Geschäfte vor der Welt aufgedrückt war. Es war die Scham über seine Schwäche, die ihn fortgetrieben hatte von allem. Und daß er Cora Stratton, die Mitwisserin seiner häuslichen Schande, die zugleich Helferin bei seinen Geschäftsmanipulationen am Kingsway war, mit sich ins Verderben ziehen mußte – das hatte ihn bis zum Gedanken an den Selbstmord vorwärts getrieben, wie die zerfetzte Karte bewies.

Garrat baute an einem System, in dem die Persönlichkeit seiner Freunde wohl berücksichtigt war. Denn Frederik O'Gorman war, ebenso wie Dr. Willoughby, ein namhaftes Mitglied des Londoner Klubs »Die Söhne Äsculapii«, Max Evell aber der sehr angesehene und 270 wohlhabende Herausgeber einer Fachzeitschrift für die Varietékünstler des Vereinigten Königreichs. Sie durften in jeder Hinsicht als Entlastungszeugen für Garrat gelten, schon durch das Gewicht ihrer Namen. Zudem nahm der von ihnen bestellte Verteidiger Mr. Parker, wie Garrat in Quebec erfuhr, unter den Kriminalisten Englands einen hohen und anerkannten Rang ein und galt keineswegs als leichtfertiger Anwalt für aufsehenerregende Fälle vor der öffentlichen Meinung Englands.

Die Darstellung der Szenen, die dem Verschwinden Belles aus dem Hause in Morton-Crescent vorangingen, nahm einen breiten Raum in Garrats schriftlicher Arbeit in Anspruch. Auf Waterton ging Garrat in geringerm Maße ein – er hatte in Quebec gehört, daß sich Waterton zu rechtfertigen und sein Alibi zu beweisen verstanden hatte.

Die Herzählung all dessen, was er von Belle wußte, aber selbst Cora verschwiegen hatte, ihrer Gewohnheiten, Gelüste, ihrer Liebhaber bildete ein schweres Gegengewicht gegen die Empfindungen, die das rote Büchlein, der Band Shelley, den er in Quebec sich hatte kaufen lassen, in ihm wachriefen.

Ein starker, bitterer Geschmack der Sünde und Schmach zog sich durch diese Gedanken in seinem Innern. Er erblickte zuweilen Belle mit verschränkten Armen vor sich, die kleinen gefärbten Locken kunstvoll um die Stirn geordnet; die groben Gelenke ihrer Hände und die zynische Form der Finger; ihre in hohen Lackschuhen steckenden Füße, die verschnürten Schäfte dieser Schuhe, eine Reminiszenz an die Zeit ihres Auftretens mit Signor Pantellari. Inmitten dieser Gedanken packte ihn oft Verzweiflung, nicht so sehr über sein gegenwärtiges Schicksal, sondern darüber, daß er und wie er Belle sich hatte anschließen können in jener ersten Zeit, so bald, nachdem er Adela Bourke aus den Augen verloren hatte . . .

271 Dann suchte er nach einem Halt in der Wirklichkeit, in dieser trostlosen, verzweifelten Wirklichkeit um ihn.

Garrat glaubte in dem Verhalten des Wärters Folsom eine Spiegelung der Stimmung zu erkennen, die die Reisenden auf der »Maple Leaf« ihm gegenüber hegen mochten. Garrats sanfte und höfliche Art zu sprechen und sich zu benehmen, die ehemals so viele Personen seines Umgangs bestochen hatte, ihm manchen Freund und das Vertrauen manches Freundes verschafft hatte, war auch dem Wärter gewiß angenehm zum Bewußtsein gekommen. Garrat fühlte Erleichterung, ja etwas wie Hoffnung bei dem Gedanken, daß Wärter Folsom dem Publikum auf dem Schiff Günstiges über seine Umgangsformen, seinen Gemütszustand, seine Beschäftigungen in der Kajüte aussagen könnte. Darüber, daß ihm dort draußen auf dem Schiff möglicherweise Sympathien erwuchsen, vielleicht sogar ernstere Empfindungen entgegengebracht wurden – die Menschen mußten doch aus den Zeitungen erfahren haben, daß er ernst und beharrlich das Verbrechen leugnete, dessen er angeklagt war!

An den Abenden des wunderbaren Sonnenuntergangs, der auch seine Kabine mit zauberhaften Farben tönte, nährte Garrat die Hoffnung in sich, der Kapitän der »Maple Leaf« werde plötzlich bei ihm eintreten und ihm den Vorschlag machen, mit ihm ein wenig über das Verdeck spazierenzugehen. Und daß er sich dann aus Blicken, vielleicht Grüßen des Publikums darüber vergewissern werde, daß seine Sache zum besten stände.

Er entsann sich einiger Leute auf der »Inverneß«, einfacher, bescheidener und freundlicher Menschen aus den westlichen Teilen der Dominion, und konstruierte sich aus diesen den Typus seiner Freunde auf der »Maple Leaf«, von denen er gegrüßt zu werden hoffte. Ja, er war 272 überzeugt davon, daß die Leute dort draußen auf dem Schiff ihm günstig gesinnt seien.

Wenn er, voll von diesen Gedanken, sich an seine Arbeit setzte, vor das leere Blatt, dann mochte es geschehen, daß in die Schilderung, die er sich von Belles Charakter gab, unerwartete Züge einflossen, die die Tote rechtfertigten; die ihr Leben, ihre Gewohnheiten, die Bedingungen ihrer Existenz aus ihren Anfängen, ihrer Herkunft und Jugend, die sie ihm immer nur andeutungsweise geoffenbart hatte und die er nur unvollkommen kannte, ableiteten und zu verklären suchten. Er horchte in sich, als wäre er selbst durch solche, in versonnenen Augenblicken aufsteigenden Gefühle der Gerechtigkeit überrascht, in sich selbst beruhigt, erquickt.

Zugleich kam es ihm zum Bewußtsein, daß er, würde er vor seinen Richtern Züge dieser Art in Belles Charakterbild einflechten, einen günstigen Eindruck auf das Gericht und die Jury machen müßte. Aber diese Erkenntnis überwog keineswegs; eine große Beruhigung und Helligkeit ruhte auf seiner seltsamen Arbeit, wenn er, nach Gerechtigkeit fahndend, an Belle und ihr Schicksal dachte.

Cora Strattons Schicksal betrübte ihn. Aber da er für sich eine günstige Lösung erhoffte, ja zuweilen mit Gewißheit kommen sah, fühlte er sich von keiner brennenden Sorge um Cora bedrängt. Er wußte, daß sie, jung, hübsch und lebensklug, wie sie war, einer Zukunft entgegenwuchs, die vielleicht alles gutmachen wird, was er mit seinem Unglück an ihrem gegenwärtigen Leben verdorben hatte. Heute waren die Blicke der Welt gierig auf sie gerichtet – eines Tages werden sie sie bewundernd umschmeicheln, das war sicher.

Ja, sie wird eines Tages frei und von ihm gegangen sein. Die Prüfung wird für sie vorbei sein – er sah sie, strahlend, wie er sie auf ihren Fahrten nach Brighton, 273 in den Restaurants nach dem Theaterbesuch, auf dem Schiff sogar während der ersten Stunden der Reise erblickt hatte. Und wenn er sie sich so vorstellte, frei, aus seinem Gesichtskreis geschwunden, von ihm getrennt, dann verzweifelte er plötzlich, die Illusion sank zusammen und die verdrängte Ahnung schoß hervor und beherrschte ihn, daß für ihn ja alles zu Ende, daß er verloren sei!

Fliehend kehrten seine Gedanken zum kleinen Buch zurück, und die göttlichen Verse, die er mit geschlossenen Augen auswendig hersagte, übertönten und verschlangen allmählich die Wirklichkeit mit ihren Schrecknissen.

Wie war nur mein Schicksal? frug sich Garrat. Bin ich vorbestimmt gewesen für das, was aus mir geworden ist? Mußte nur geschehen, was geschehen ist? Was hat mich in den Tagen, in denen mein Leben sich dem ihren genähert hatte, von ihr fortgetrieben und abseits verschlagen vom Wege, den die gerechten Menschen wandeln?

Bin ich führerlos gewesen oder ging der Führer von mir zu ihr hinüber, nahm sie unter seine Obhut und drängte sie aus meinem Wege, der notwendig und grauenhaft verhängnisvoll dort einmündete, wo ich nun angelangt bin?

Er sah Adela vor sich auf dem Bilde, das er nicht mehr besaß und das er vor Wochen, an einem Abend, aus Coras Händen gerissen hatte.

Er entsann sich, daß er sich ja eigentlich niemals genaue Rechenschaft gegeben hatte darüber, wie er und weshalb er und Adela voneinander geraten mußten? Jetzt dankte er dem Schicksal dafür, daß es ihn in die Irre gewiesen hatte, damit die Schwester, die Verlobte den Pfad nicht an der Seite des Gezeichneten zu gehen brauche . . .

In den Stunden der Nacht, während die Atemzüge des Wächters auf dem Lager bei der Türe, das Rauschen der Wellen, das Dröhnen und Knistern von Maschine und Holzwand allein um ihn lebten, geleitete er Adela durch ihre 274 Jahre. Ihr Weg lief weitab von seinem. Sie hatte einen Gatten, ein Heim, ein schönes Kind. An einem Punkte, für die Spanne eines geringen Augenblicks hatten ihre Wege sich getroffen. Zwei entsetzte Augen hatten erschrocken in seine geblickt, als ob sie sähen . . .

Vielleicht sahen sie in Wirklichkeit. Denn an jenem Tage begann es ja, von jenem Augenblick an begann ja die Erfüllung!

So verging das Leben des Gefangenen auf der »Maple Leaf«! – – –

*

»Ich muß Sie um Verzeihung bitten, Wärter!« sagte Garrat am Tage vor der Ankunft in Liverpool zu Folsom, der erstaunt aufblickte und Garrat fragte, was er denn zu verzeihen habe?

»Sie sind meinetwegen nun so lange von Ihrer Frau und ihren drei kleinen Kindern getrennt.«

»Mr. Garrat, es ist doch mein Beruf!« sagte Folsom und errötete wider Willen, so erstaunlich und überraschend schien ihm, was der Gefangene ihm eben gesagt hatte.

»Nein, nein, bitte, verzeihen Sie mir's, daß ich die Ursache bin, weshalb Sie von Frau und Kindern nun so lange getrennt sein mußten!«

Auch dies berichtete Wärter Folsom seiner Pflicht gemäß dem Kommissär in der Kabine des Kapitäns.

Der Kommissär zog die Brauen hoch und sagte: »Ein geriebener Patron. Gehen Sie doch auf solche Themen nicht ein, Folsom. Sie sind doch kein Grünhorn, Folsom. Trachten Sie mit ihm über seine eigenen Angelegenheiten zu sprechen, wenn er das Bedürfnis hat, sich mitzuteilen, und lehnen Sie alles andre Geschwätz ab.«

*


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