Arthur Holitscher
Adela Bourkes Begegnung
Arthur Holitscher

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Bei Tisch sprach man von Adelas Krankheit, ihrer schweren Ohnmacht, aus der sie erst am späten Vormittag erwacht war, vom Fieber, das sie seither hatte, und vom Ausspruch des Arztes: daß er nichts finden könne, was ihm eine Erklärung für den Zustand der Kranken böte.

Mr. Escoffier und die Clerks schickten ihr einen großen Kamelienstock ins Zimmer, Escoffier rühmte sich bei Tische, er sende Kranken immer Kamelien, die Blumen seien ohne Duft und sögen die Krankheit in sich, ob es nun körperliche oder seelische Leiden wären, die die Kranken ausstrahlten.

Adela ließ die Blumen aus dem Zimmer fortbringen, sie ertrug ihren Anblick nicht. Der Stock stand nun auf 91 dem Speisetisch unten, und Mr. Escoffier ging nach dem Abendessen mit Kamelien im Knopfloch auf Abenteuer aus.

Am Sonnabend, da Adela mit den jungen Leuten und Miß Dalmayne den Themseausflug hätte machen sollen – sie waren nun ohne Adela ausgegangen – fuhr eine Dame in einem eleganten Brougham vor dem Hause vor und erkundigte sich nach Mrs. Malone. Sie schien aufrichtig bestürzt und bekümmert über Adelas Krankheit.

»Jetzt erkläre ich mir auch ihr rätselhaftes Verschwinden von meinem Gartenfest!« sprach sie zu Miß West. »Die Teure hat sich während des Tanzes erhitzt, es war aber zu nett, sie tanzte wirklich recht gut. Kann ich das Kindchen sehn?«

Sheila kam, mit drei Puppen im Arm, die sie in eine kleine seidene Decke gewickelt hatte. Miß Falkoner blickte mit Entsetzen auf die drei Puppen hin; mit ihren magern, langen, von Ringen übersäten Händen löste sie die Decke von den Puppen, fuhr zurück: eine war häßlicher als die andre.

»Kind, wer hat dir diese Ungeheuer geschenkt?«

»Nein! Nein, sie soll sie mir nicht wegnehmen!«

Sheila griff nach den Beinen der Skelettpuppe, die die Dame zu ihren kurzsichtigen Augen geführt hatte.

»Nein, Kind, ich nehme sie dir ja nicht! Gott sei davor, daß ich solche Puppe in meiner Umgebung dulde!« Sie blickte zum Kinde hin, als sähe sie auf ein unheimliches Fabelwesen, bat, sie zu verständigen, wenn Adela wieder wohlauf wäre und Besuche empfangen könnte und fuhr mit beleidigter Miene und vollkommen aus der Fassung gebracht, von dannen.

Miß West saß oben bei Herrn und Frau Winterod, die sie mit Tee, Kuchen, Marmelade und Ingwer bewirteten. Der Tee, den sie ihren Pensionären gab, war 92 nicht so reichhaltig. Aber Miß West verübelte es dem alten Ehepaar nicht, daß es sich freigiebiger beköstigte, als sie es imstande war. Sie drückte sogar ein Auge zu, wenn sie erfuhr, daß andre Pensionäre den Tee bei Winterods einnahmen, oder nach dem Diner zu ihnen hinaufgingen und dort Kuchen und Obst erhielten. Es stand zu allen Tageszeiten ein Tischchen voll schöner Sachen in den Zimmern des Ehepaars, und an ihren Schätzen durfte, wer dessen begehrte, teilhaben.

Die beiden alten Leute saßen in bequemen Korbsesseln und Frau Winterod strich ihrem Mann Butter auf eine Scheibe gerösteten Brots. Sie sahen sich, nach einer vier Jahrzehnte alten, ungetrübt glücklichen Ehe ähnlich wie nahe Verwandte, der Mann mit seinem rosigen, glattrasierten und zahnlosen Gesicht, die Frau mit ihrem zahnlosen, glatten Gesicht und dem schlicht aus der Stirn gekämmten Haar. Sie trugen sogar gleiche Hausgewänder, gelbgraue, kuttenförmig geschnittene warme und bequeme Mäntel aus einem hausgewebten Stoff, den sie aus ihrer Heimat Kanada bezogen hatten.

»Puß hatte sich verlaufen,« berichtete Frau Winterod. »Sie saß dort in der Ecke beim Spiegelschrank und sah abwechselnd auf mich und meinen Mann, mit ihren großen grünen Augen. Ihr Fell war gesträubt. Sie rührte sich nicht. Sie war nicht zum Verlassen des Zimmers zu bewegen.«

»Ich liebe Tiere,« sagte Herr Winterod. »Bei diesem aber fühle ich ein Unbehagen. Ich kann mir's nicht erklären, weshalb, ich kann es auch nicht bekämpfen. Es überfällt mich, so oft ich der Katze ansichtig werde.«

»Aber es ist ein schönes Tier,« sagte Miß West. »Und es ist gut, wenn Gäste Katzen mitbringen. Feuer hat manche Maus gefangen, seit Mrs. Malone hier wohnt.«

»Es gibt Tiere, die Feinde der Menschen sind, 93 Haustiere,« fuhr Herr Winterod fort. »So wie es wilde, sogenannte wilde Tiere gibt, die Freunde der Menschen genannt zu werden verdienen. Als wir in Manitoba auf der Prärie wohnten, kam ein Koyote oft ganz nah an unsre Farm heran. Die Mägde warfen Scheite und Erde nach ihm, er war aber nicht zu vertreiben. Auch nicht durch die Schüsse der Knechte. Eines Nachts fanden wir einen andern Koyoten mit durchbissener Kehle vor dem Hühnerstall liegen, unser Hund war angekettet, es konnte nur jener, unser Freund gewesen sein, der den Räuber hingerichtet hatte. Unglücklicherweise traf ihn ein junger, eben eingestellter Knecht, ein Schwede, der von ihm noch nichts wußte, bei einem Streifzug und erschoß das brave Tier. Wir haben den Balg ausstopfen lassen, er wurde mit allem andern verkauft, als wir unser Heim auflösten!« schloß Herr Winterod mit einem Seufzer.

»Feuer kam vielleicht, um Ihnen eine Botschaft von der Kranken zu bestellen –« sagte Miß West und dann im selben Atem, »wie gut diese Biskuits sind, teure Mrs. Winterod. Sie müssen mir sagen, wo Sie sie herbekommen. Sie sind besser als Huntleys.«

»Es sind die von Cruikshank, teure Miß West. Sie nennen sich Cruikshank Goodies. Ich bin so froh, daß Sie sie lieben. Ich liebe Biskuits. Ich habe diese schon seit langem; sie halten sich auch gut. Kapitän Rogers verlangt sie immer, wenn er zum Tee bei uns ist. Er liebt sie auch. Wie geht es Herrn Stanley Hunt?«

»Gut, ich denke so, Mrs. Winterod. Er erscheint wieder bei Tisch, er scheint jetzt wieder in bessern Verhältnissen zu leben . . .«

»Hat er seine Miete bezahlt, teure Miß West?«

»Ja, das hat er.«

»Ich bin so froh, es zu hören!« sagten die beiden Alten fast zur gleichen Zeit.

94 »Ja, einige Tage nach dem fünfzehnten erhielt er ganz unerwartet, er sagte so, ganz unerwartet einen Betrag durch die Post zugestellt von jemand, den er gar nicht kannte, ein ganz fremder Name, er zeigte mir den Postabschnitt, er hatte Bedenken, das Geld anzunehmen, als ich ihm aber zuredete, tat er es doch. Nun hat er für einige Wochen Ruhe vorerst und kann abwarten. Er reist bald.«

»O, hoffentlich findet er eine Chance, der arme gute Mensch,« sagte Mrs. Winterod. »Nun, um auf Puß zurückzukommen: so etwas ahnte mir ja auch. Mr. Winterod sagte mir: wie wäre es, wenn du die Katze zur Kranken hinunterbrächtest, Bessie? Wir hören sie zuweilen stöhnen bei Nacht, es klingt wie Schluchzen. Sie muß einen Kummer zu tragen haben, die Ärmste, sie stöhnt; oder ist es nur diese Krankheit?«

»Kann man Mrs. Malone nicht irgendwie helfen Miß West?« frug Herr Winterod.

»Der Arzt kommt täglich zu ihr. Es geht ihr schon besser. Er meint, die Krankheit wäre leichter zu behandeln, wenn die Kranke weniger einsilbig wäre. Sie leidet an einem Fieber, es fliegt ihr vom Kopf zum Herzen, von dort zum Kopf zurück. Es ist rätselhaft. Ich habe Feuer im Verdacht; Tiere führen oft Ansteckung mit sich.«

»Ich werde zu Mrs. Malone gehn!« sagte Mrs. Winterod und sprang vor Eifer auf, als wollte sie es gleich tun. »Ich liebe ja die Kleine so sehr. Sie wird sich nicht sträuben, wenn ich an der Pflege teilnehmen will!«

Mr. Winterod haschte nach der Hand seiner alten Frau, hätschelte sie in den seinen. »Sie hat solch gute Fähigkeiten, Miß West, wissen Sie! Sie vermag Kranke ganz allein dadurch zu heilen, daß sie mit ihren guten Händen einfache Wasserumschläge bereitet und auflegt.«

»Sie werden auf Mrs. Malones Tisch eine Photographie bemerken,« sagte Miß West, »die Mrs. Bourke, 95 Mrs. Malones Mutter inmitten ihrer Tiere vorstellt. Die alte Dame lebt in ihrem Hause mit hundert Tieren aller Art beisammen, sie lebt nur für ihre Tiere! Sie war nicht glücklich in ihrer Ehe, nun hat sie den Menschen abgeschworen zugunsten dieser Kreaturen.«

»O, das ist etwas anderes!« sagte Herr Winterod. »Dann allerdings ist die Katze ein besonderes Geschöpf. Ich habe Ähnliches gekannt! Der Familiensinn geht auf die Tiere über, sie werden Schutzgeister und Kobolde der Menschen, behüten und verfolgen sie. Hoffentlich ist Mrs. Bourke ein guter und gottesfürchtiger Mensch, sonst müßte ich für Mrs. Malone fürchten. Im Blick dieser Katze ist oft etwas . . . ich traue mich nicht, es zu benennen, etwas, was nicht vom Menschen ist, Böses verheißt.«

»Ja, hoffentlich ist Mrs. Bourke gottesfürchtig!« wiederholte Miß West. »Mrs. Malone geht, ich fürchte, nicht regelmäßig zur Kirche. Ich weiß nicht – nun, jetzt haben sich unsre neuen Gäste, sie kamen gestern früh an, Sie haben Sie wohl gesehen, am Ende der Tafel, neben Herrn Stanley Hunt, die Dame mit weißem Haar, die Tochter mit so vielen Armreifen, beide schwarz gekleidet, nun Mutter und Tochter haben sich so glühend darum beworben, zu Mrs. Malone gelassen zu werden, sie sind beide von der Christlichen Wissenschaft, wissen Sie?«

Es pochte, Rebecca kam herein, mit ihr Sheila. Das Kind hatte ein Telegramm in der Hand, Rebecca blieb mit dem Tablett bei der Tür stehn. »Ein Telegramm für Mammy,« sagte Sheila, nachdem sie den Anwesenden die Hand gereicht hatte. »Ich weiß, was es ist, es ist die Kabelnachricht über Mammys Scheidung von Papa. Miß West, soll ich warten, bis der Doktor kommt? Mammy sagt, sie braucht den Doktor nicht, aber sie hat jetzt ein paar Stunden geschlafen und ist frisch. Vielleicht ist es gut zu warten mit dem Telegramm!«

96 »O, komme doch her, mein Dearie!« sagte Mrs. Winterod. »Welch ein artiges, kluges Kind. Hier Sheila, Biskuits, Knackmandeln, Malagatrauben!« Und sie nahm eine Hand voll aus der Schale.

»Mammy hat es seit ein paar Tagen gar nicht mehr erwähnt,« sagte Sheila, »vielleicht ist sie gar nicht so begierig, es zu bekommen!«

»Danke, Mrs. Winterod!« Sheila nahm einige Stückchen Dessert aus Mrs. Winterods Hand. »Darf ich ein Biskuit auch für Feuer mitnehmen? Ein paar Mandeln für Golly, Joan und Rubidak?« Es waren ihre Puppen.

Miß West nahm das Kind bei der Hand, Mrs. Winterod bei der andern; sie gingen, von Rebecca gefolgt, die Treppe hinunter und pochten leise bei Mrs. Malone an.

»Herein!« rief eine schwache Stimme, wie aus weiter Ferne.

*

Bis zu Adelas völliger Genesung saßen Herr und Frau Winterod oft und lange am Bett der Kranken.

Sie wurden vorgelassen, wie auch die Damen Reynolds, die Adela zur Christlichen Wissenschaft zu bekehren suchten und es ihren in ihrem eignen Zimmer vorgenommenen Gebeten für Adela zuschrieben, daß die Kranke sich zusehends wohler fühlte.

Adela hatte die gekabelte Nachricht von der Melbourner Anwaltsfirma ohne Erregung gelesen und gleichgültig beiseite gelegt. Es war so, wie das Kind es gefühlt hatte: Adela stand der Scheidung von Malone gleichgültig gegenüber. Ihre Gedanken hatten sich von dem Manne, von ihren gemeinsam erlebten, allein durchlittenen Jahren, von dem Heim dort drüben für immer entfernt. Die Krankheit hatte sie an der Schwelle eines neuen Zeitabschnitts, 97 in den ihr Leben, sie fühlte es dunkel und ungewiß, eingetreten war, überfallen.

»Wir wissen nicht, ob wir Ihnen am Ende lästig sind,« sagte Mr. Winterod, ziemlich mutlos, ja befangen, zu Adela, während seine Frau sich mit dem Kindchen Sheila zu schaffen machte. Das Ehepaar kam mit allerhand guten Sachen, zartem Hühnergelee, Beef-tea in Tablettenform, eingemachten Früchten, Herr Winterod ging täglich eigens in ein Zeitungsbureau, kaufte australische Blätter, Monatsschriften, die populäre Moderevue und legte alles auf das Tischchen vor Adelas Bett.

»O, lästig? teurer Mr. Winterod,« sagte Adela und versuchte zu lächeln. »Ich bin Ihnen und Ihrer Frau ja so dankbar!«

»Können wir Ihnen mit irgend etwas behilflich sein?« frug Mrs. Winterod und ergriff Adelas kühle Hand. »Sie haben vielleicht Angelegenheiten, nach denen wir sehen könnten?«

Adela lag mit halbgeschlossenen Augen auf ihren Kissen und streifte ihre Ringe von einer Hand auf die andre: »Sie tun ja so viel für mich, für das Kind!« sagte sie. Die Antwort schien Mrs. Winterod unbefriedigend und hartnäckig.

»Es erregt sie wohl zu sehr, von ihrer Scheidung und alledem zu sprechen,« sagte Mr. Winterod zu seiner Frau, als sie wieder auf der Treppe waren.

Aber sie kamen doch jeden Tag, versuchten der Genesenden ihre Wünsche von den Augen abzulesen.

Einmal traf das Ehepaar Miß Dalmayne bei Adela. Miß Dalmayne saß in einem Lehnstuhl und sang Adela kleine französische Volkslieder und Pariser Chansons vor. Sie hatte rote Augen, soeben hatte sie Adela einen Herzenskummer geklagt.

Als sie fort war, wollten Winterods wissen, was Dalmayne bedrückte und wie man ihr helfen könnte?

98 Um debütieren zu können, brauchte sie Kostüme, Gretchen, Frau Flut, Königin der Nacht, Gipsy Girl. Sie war arm, die Agenten unwillig. Was sie besessen hatte, war fast ganz auf Gesangsstudien, auf das kostspielige Leben in Pensionen ausgegeben. Adela wollte, sobald sie gesund sein und ihre Angelegenheiten geordnet haben würde, zusehen: wieviel sie von ihren Einkünften für die Sängerin aufwenden könnte.

Nächsten Morgen überreichte Herr Winterod Adela einen Scheck. Es war immerhin ein Betrag, der zur Anschaffung eines Kostüms hinreichte. Das Ehepaar wünschte natürlich ungenannt zu bleiben. Es war betrübt darüber, daß die Sängerin, die zuweilen zum Tee und nach dem Abendessen in den zweiten Stock hinauf kam, ihm gegenüber von ihren Nöten niemals Erwähnung getan hatte.

»Kennt sie uns denn nicht länger, als Mrs. Malone, Bessie?« sagte Winterod kopfschüttelnd zu seiner Frau. »Warum nur?«

»Fragst du: warum, John?« seufzte Frau Winterod. »Es ist so. Die Menschen sind so. Man soll sich nicht wundern über sie.«

»Halten wir nicht offne Tafel für die, die ihrer bedürfen, Bessie?«

»Doch John. Aber vielleicht ist es noch nicht genug. Vielleicht ist es zu viel. Sie stehen beide im selben Alter, Mrs. Malone und Miß Dalmayne; mit uns Alten wird die Jugend nicht so leicht vertraut. Wir verstehen vieles nicht mehr von der Jugend. Ein Glück ist es nur, daß sie an einen so guten und herzenswarmen Menschen geraten ist, wie Mrs. Malone.«

»Ja, das ist ihr Glück,« sagte Mr. Winterod, beugte sich vor und ergriff die Hand seiner Frau. Die Alten sahen sich in die Augen und lächelten sich zu.

*

99 Seit Anfang der Woche ging Adela bereits in ihrem Zimmer auf und ab.

Der Arzt hatte seine Besuche eingestellt. Wie die Krankheit aufgetreten war, war sie auch gegangen. Ohne Krise, ohne erkennbare Ursache.

Adela besah sich im Spiegel.

»Ich bin ja eine alte Frau geworden!« sagte sie sich. »Ich bin ja eine alte Frau geworden! Über Nacht!«

Die Sonne schien über den Nachtigallenplatz. Adela hatte sich die Chaiselongue an das Fenster geschoben und blickte über die Wipfel der Platanen.

Die Tür tat sich auf und Sheila kam. Sie führte Herrn Lucas an der Hand. »Dies ist mein Freund!« sagte das Kind ernst. »Du sollst dich mit ihm unterhalten.«

Herr Lucas blieb in der Mitte des Zimmers stehn.

Sheila schob einen Lehnsessel nahe an die Chaiselongue heran und sagte:

»Nehmen Sie Platz, Herr Lucas, bitte!«

Darauf ging sie in die Ecke zum Nest Feuers und verhielt sich so ruhig, als wäre sie nicht auf der Welt.

»Ich verbringe viel Zeit,« begann Herr Lucas langsam, »hinter einem Stapel von Büchern, es sind Bücher über ein Land, ein Volk, es sind mancherlei Bücher im Stapel, ich greife hinein und lese. Ich lese lange in den Büchern, die Sagen enthalten, Märchen, von Wesen, die nicht gelebt haben, es sei denn in den Seelen hinter Schleiern. Dann verirrt sich meine Hand und greift nach einem Buch und ich schlage es auf und lese – und siehe da, ich lese wieder Märchen und Geschichten, aber nach langer Zeit erst bemerke ich, daß das Buch von wirklichen Menschen und Begebenheiten handelt, die im Alltag geschehen, jedem, dem Reichsten wie dem Ärmsten. Dann lege ich das Buch fort, aber ich habe keine Lust mehr, weiter zu lesen, sondern gehe fort aus der Bibliothek.«

100 »Sie müssen mir erklären, was Sie damit meinen, ich bin einfältig, ich möchte wissen, ich glaube, Sie haben eine Absicht, weil Sie mir dies sagen.«

»Sie waren krank? Sie lagen lange im Fieber bewußtlos? Ihr Töchterchen sagte mir's so.«

»Ja.«

»Sind Sie glücklich? Jetzt, da Sie wieder wach sind? Erinnern Sie sich, was Sie sahen, im Fieber, im Traum?«

»Ich habe es vergessen. Ich müßte mich besinnen . . .«

»Ja! Ja! Tun Sie es! Versuchen Sie sehr inbrünstig, sich zu erinnern, dann wird Ihr Leben noch eine Weile so schön sein, wie es im Traum war. Sie werden einen tiefen Sinn für Ihr Leben entdecken, wenn Sie es getan haben!«

»Einen tiefen Sinn?« sagte Adela. »Muß es denn den haben?« Sie blickte Herrn Lucas überrascht an.

»Viele Menschen haben ihn in der Zeit der beginnenden Genesung erst entdeckt,« sagte Lucas, mit dem Blick noch immer draußen. »Ja, man muß ihn finden.« Er schwieg und sagte dann noch, leise, wie für sich: »Frauen besonders.«

Adela frug sich: warum sagt er mir das? Plötzlich fuhr es ihr durch den Kopf: etwa, weil ich eine alte Frau geworden bin? Sie sah Lucas aufmerksam an, konnte aber nichts an seinem Gesicht bemerken, das sie in ihrer Vermutung bestärkt hätte. Nein, es war unwahrscheinlich, daß er die Veränderung in ihren Zügen bemerkt hatte. Er war ihr ja öfters im Haus begegnet, war stehn geblieben, hatte mit ihr, mit Sheila ein paar Worte gewechselt, aber er hatte sie dabei gewiß nicht genau ins Auge gefaßt. Auch jetzt hatte er sie ja kaum angeblickt. Vielleicht war's auch gar nicht so schlimm mit ihr, und die Bemerkung Lucas' bezog sich rein auf seelische Dinge . . .

Doch änderte sie plötzlich den Ton, hob den Kopf und 101 sagte rasch: »Was Sie mir sagten, klang fast so, als neideten Sie mir die Krankheit, das Fortsein vom alltäglichen Leben!«

Er blickte sie an, schüttelte den Kopf, und sah dann auf ihre Hand nieder, die schöne, weiße Hand, die über ihr Knie niederhing, und die ihm verändert vorkam, er wußte nicht warum.

»Ich darf mit meinem Leben zufrieden sein,« sagte er, »ich erlebe so vieles, ich bin dankbar.«

Nach einer Weile sagte Adela: »Ich beginne zu erinnern. O, warten Sie doch – es waren Wellen, Berge, nein doch: Wellen, hohe grüne. Aber es will nicht viel bedeuten, denn ich hatte diese Träume oft schon früher. Träume von Wellen, weit –« sie sah zu Sheila hinüber, erinnerte sich an die Geburt des Kindes, mit einem jähen Sprung an d'Endore . . . »Ich muß nachsinnen, vielleicht war da noch anderes . . .«

Aber plötzlich stand sie von der Chaiselongue auf, ging in die Mitte des Zimmers und drehte sich nach dem Gast um:

»Nein, es hat keinen Zweck. So wie es war, soll es weiter sein. Ich habe mein Leben wach gelebt, ich will es weiter wach leben. Welch eine sonderbare Vorstellung . . .« Sie sah Lucas mit zusammengezogenen Brauen an: was wollte dieser Eindringling von ihr? »Ich war ein paar Tage krank, weil ich so unvorsichtig war, unter Bäumen zu tanzen. Wahrscheinlich war das alles. Es ist vorbei. Weshalb soll es nun anders werden? Wenn mir in meiner Krankheit irgendwelche Träume gekommen sein sollten, so habe ich sie vergessen. Es ist nicht schade um sie, nein. Ich schlafe jetzt wieder so tief und traumlos, wie man es sich nur wünschen kann. Dieser gesunde Schlaf verwischt, zerdrückt alle die Fieberträume, ja, so ist es. Ich will dem auch nicht entgegenarbeiten; mein Körper muß kräftiger 102 werden. Ich bin gewarnt worden!« Sie blickte den Fleck in ihrer Handfläche aufmerksam an.

Lucas stand auf, verneigte sich, machte einige Schritte zur Tür. Seine Blicke waren zu Boden gerichtet.

»Nein, bitte, bleiben Sie.« Sie ging zu ihm, nötigte ihn, zurückzukehren, setzte sich ihm gegenüber. »Ich höre Sie oft laut sprechen, nebenan. In welcher Sprache ist es?«

»Es sind keine Worte. Es ist nicht immer in einer Sprache. Es sind nicht immer Worte. Oft ist es ohne Sinn.«

»Sein Gesicht ist schlau!« sagte sich Adela. »Vielleicht meint er es gar nicht ernst, was er da spricht.«

»Sie haben sich ja mit Sheila angefreundet, während meiner Krankheit?« sagte sie. »Ich glaube mich zu erinnern, das Kind war früher gar nicht freundlich zu Ihnen. War's nicht so, Baby?«

Sheila sah von ihren Puppen auf und sagte: »Ich habe meinen Freund singen gehört. Es klang so schön, hinter der Tür. Da bin ich befreundet mit ihm geworden.«

»Ich kann ja gar nicht singen, Baby!« sagte Herr Lucas.

»Doch,« nickte Sheila, »Sie haben gesungen, Herr Lucas! Es war das Liebwundersturmlied.«

»Was für ein Lied?« frug Adela erstaunt.

Das Kind aber wiederholte, indem es jede Silbe betonte: »Das Wunderliebeslied im Sturm.«

»Gott, dieses Kind träumt mit offenen Augen!« sagte Adela und blickte Sheila an. Die hatte sich zu ihren Puppen gesetzt, die in weiten Abständen voneinander an die Wand gelehnt saßen.

»Nicht ich war das,« sagte Herr Lucas. »Nicht ich. Es war die Einsamkeit, die um jeden Menschen herum ist. Die macht es, daß Menschen einmal Worte einer Sprache, dann Musik von Gesang zu hören glauben. Auch ich hörte in all den vergangenen Nächten solche Laute aus Ihrem Zimmer tönen, da waren Sie einsam.«

103 »Habe ich gerufen?« sagte Adela. »Ja, es wird so gewesen sein, Herr Winterod sagte es ja auch – die beiden alten Leute, die über mir wohnen. Aber das war doch nicht dasselbe. Es geschah im Schlaf, im Fieber. Das ist doch keine Einsamkeit?«

Herr Lucas nickte: »Doch!« Und er fuhr fort: »Jede Einsamkeit ist ein Fieber. Was Menschen tun und sagen und sehen, wenn sie einsam sind, das ist das Beste und das Tiefste an ihnen. Dann, wenn sie wieder unter den andern sind, oder wach oder gesund sind, versuchen sie, sich zu erinnern daran, was sie gesagt und gefühlt und gesehen haben. Aber es gelingt ihnen nur zuweilen, nur unvollkommen.«

Adela versuchte, darüber nachzudenken, was Herr Lucas sagte. Aber sie gelangte bloß zum Gedanken: nebenan wohnte ein Mensch mit solch sonderbaren Gedanken, solch sonderbarem Leben. Ein Mensch, von dem man so wenig wußte. Im Grunde war's ihr bange vor ihm.

Sie sagte: »Wie kann man denn einsam sein, wenn man in einem Hause mit Menschen lebt, die man zu allen Tageszeiten auf den Treppen trifft, mit denen man die Mahlzeiten gemeinschaftlich einnimmt, denen man gar nicht entrinnen kann? Noch dazu in einer großen Stadt wie London!«

Darauf sagte Herr Lucas: »All das ist nichts. Sinn hat das alles nicht.« Er machte ein paar Bewegungen mit den Armen, reckte sie in die Höhe, zur Seite. »Wenn ich die Arme ausstrecke, die Finger spreize, fühle ich doch, ich bin allein, und wie allein ich bin. Ich muß dabei nur achtgeben, daß ich sie nicht zu weit hinauf oder zur Seite strecke – denn wenn ich zu weit über meine Höhe hinaus oder über das, was um mich ist, gelange, dann habe ich den Kreis durchbrochen und das ist gefährlich.«

104 Er wiederholte: »Nicht zu weit hinaus aus dem, was um mich ist. Das tut nicht gut.«

Nach Herrn Lucas' Weggang saß Adela lange in Gedanken da. Es ermüdete aber, so dazusitzen und zu grübeln. Sie legte sich auf ihr Bett und mußte die Augen schließen.

Sie rief Sheila zu sich, breitete die Decke über sich und das Kind, zog den kleinen warmen Körper nah an sich heran, den einzigen Menschen, den, der ihr der nächste war. Sie vermeinte so der Einsamkeit entrinnen zu können, die wie ein Kreis sie umgab und die sie zu fühlen wähnte, seit Lucas aus dem Zimmer gegangen war. Aber trotz der Nähe ihres Kindes erkaltete ihr Inneres. Waren es die Gedanken, die man nicht zu weit hinaus aus dem Kreise recken durfte? Um keine Gefahr heraufzubeschwören? Unwillkürlich bewegte sie ihre Arme auf diese Weise, griff hoch mit den Händen in die Luft über sich. Sheila folgte mit den Augen der Gebärde.

Da zog Adela das Köpfchen des Kindes nahe an ihr klopfendes Herz und beschloß, allein zu bleiben. Sich niemand zu vertrauen, nicht zu sagen, was in ihr vorging, da ja alles so vieldeutig, unerklärbar und drohend war. Nicht sich preisgeben – es sei denn einem, der den magischen Kreis zu durchbrechen und, wenn auch gegen ihren Willen, in ihre Einsamkeit einzudringen vermöchte.

Sheila fühlte den Druck des Mutterarmes leichter werden um ihr Köpfchen, ihre Schultern. Ohne sich zu rühren, hob sie die Augen und sah die geschlossenen Lider der Mutter.

Sie senkte dann den Blick und gewahrte Feuer, die große Katze, die gedehnten Ganges, auf leisen Sohlen vor den Puppen bei der Wand wie eine Schildwache hin und her schritt und ihre grünen Lichter unverwandt auf die Schlafende im Bett gerichtet hatte.

*

105 Nächsten Morgen erschien Adela wieder an der Frühstückstafel.

Sie hatte Miß West gebeten, ihr einen Platz möglichst weit weg von Herrn Lucas anzuweisen und diese Bitte mit einem so unwirschen Gesicht getan, daß Miß West auf schlimme Gedanken in bezug auf ihren Mieter gekommen wäre, hätte sie nicht Bescheid über sein harmlos-wunderliches Wesen gewußt.

Sie enthielt sich aus alter Gewohnheit jeder Frage um die Gründe des Wunsches. Wünschten ihre Mieter von ihr etwas, so erfüllte sie den Wunsch oder auch nicht, frug aber nie. Es raubte zu viel Zeit und verursachte nur Komplikationen.

Bei Tisch – Adela und dem Kinde war oben in der Nähe von Miß West ein Platz zwischen Mrs. Strange und den beiden neuangekommenen Damen Reynolds angewiesen worden – blickte Adela öfters zu Herrn Lucas hinüber, der am unteren Ende mit den Junggesellen, Herrn Escoffier, den Clerks und dem Kapitän saß. Sie hatte sich entschlossen, auf die Gefahr hin, als unfreundlich zu erscheinen, Herrn Lucas zu meiden. Dieser Mensch war mit seinen verrückten oder bloß albernen Ideen zu ihr eingedrungen und hatte sie um ihre Ruhe und ihr Gleichgewicht zu bringen versucht. Am liebsten hätte sie ihre Zimmer gewechselt. Hoffentlich reiste er bald ab, der Sommer war ja nah.

Herr Lucas blickte auf seinen Teller nieder, achtete nicht auf die Scherze des Kleeblattes, das ihm gegenüber saß, und stand als erster von der Tafel auf, um mit einer linkischen Verbeugung und langen Schritten aus dem Haus zu gehen.

Adela sprach mit den Damen Reynolds, als Rebecca den Tisch abräumte und die Gäste sich entfernt hatten.

Die im Speisezimmer warteten auf die Zeitung. Es 106 gab nur eine einzige, den »Telegraph«, und der war Tag für Tag vom Kapitän Rogers belegt, die andern Gäste durften geduldig warten, bis er das Blatt durchgelesen hatte.

Mr. Escoffier kam herein und las laut aus der »Daily Mail«, die er sich an der Ecke der Oxford-Street gekauft hatte. Er las mit seinem französischen Akzent ziemlich aufgeregt und umständlich eine Geschichte vor, die sich im Norden der Stadt ereignet hatte.

Adela hörte in der Pause des Gesprächs mit den wortreichen Damen Reynolds mit halbem Ohr hin und glaubte wiederholt einen vorüberflatternden Fetzen von Lauten zu vernehmen, der ihre Aufmerksamkeit zu binden suchte, aber dann erhob sich wieder das klappernde Geräusch der hölzernen Stimmen von Mutter und Tochter Reynolds vor ihrem Ohr.

»Crescent . . . ich lese immer Crescent! Aber das ist doch der Mond! Liegt denn dieses interessante Stadtviertel im Mond?« sagte plötzlich Herr Escoffier.

Miß West erklärte: Crescent bedeute auch eine halbkreisförmige Straße und somit: Morton-Crescent – die halbkreisförmige Mortonstraße.

Adela wandte den Kopf.

Im selben Augenblick las Mr. Escoffier aus der Zeitung den Namen Garrat vor. Als die Damen eine halbe Stunde später, nachdem sie all das aufgezählt hatten, was sie im Laufe des Tages zu besichtigen und einzukaufen gedachten, das Eßzimmer verließen, schickte Adela Sheila, sie möge ihr die Zeitung holen, die Herr Escoffier auf dem Stuhl bei der Tür gelassen hatte.

Sheila gehorchte.

Adela nahm das Blatt zur Hand. Ein Bild fiel ihr in die Augen: die Photographie einer schlanken Dame in Lockenperücke, mit einem breiten Federhut, die Beine 107 in Trikots, eine Pagentracht mit Puffärmeln, einen dünnen Stab zwischen den Händen – offenbar das Bild einer Schauspielerin oder Artistin. Im Text noch verstreut das Bild eines kleinen Hauses, einer typischen Londoner Vorstadtvilla, mit hoher Ziegelmauer um das Gärtchen, und weiter unten die Photographie eines bekannten Detektivs, des interessantesten Angestellten der Londoner Polizei, Mr. Evangeliste. Unter dem Bild die Zeilen:

»Mr. Evangeliste, von Scotland Yard, der mit der Verfolgung des Falles betraut worden ist.«

Die Überschrift des Artikels, der zwei ganze Spalten der Zeitung füllte, lautete:

»Mrs. Belle Garrat in einem verlassenen Hause ermordet aufgefunden.«

Und mit kleineren Buchstaben darunter:

»Dr. Walter Garrat, der Gatte, entflohen.«

Adela ließ die Zeitung einen Augenblick sinken.

Sie blickte auf das spielende Kind vor sich, dann in den Schlund des Kamins. Der Rost, ein Metallgestell, war glänzend poliert, die Zieraten glitzerten, der Rost stand auf zwei Tatzen, es waren Tiertatzen, vielleicht Löwentatzen.

»Wir wollen hinaufgehen!« sagte Adela nach einer Weile.

Auf dem Tablett im Flur lag nun auch der »Telegraph«, den der Kapitän nach der Lektüre hingelegt hatte.

Adela nahm auch diese Zeitung in ihr Zimmer mit und war bis zum Lunch für niemand zu sprechen.

*

Als sie mittags hinunterkam, war an der Tafel von nichts anderm die Rede als von dem Mord.

108 Extraausgaben waren erschienen. Von Stunde zu Stunde war es offenbarer, daß nur Dr. Garrat der Mörder seiner Frau sein konnte.

Die Nachbarn hatten ihn wohl mit einer Frau abreisen sehen, die, in Frau Belles Kleidern und verschleiert, wohl für die Gattin des Doktors gelten konnte, auch hatte man in dem Hause auf dem Tische einen offenen Zettel für die Frau aufgefunden – aber zugleich mit Garrat war ja seine Sekretärin, ein junges leichtfertiges Ding, Cora Alix Stratton, aus dem Hause ihrer Mutter, einer armen Witwe aus Hackney, verschwunden, und es war offenkundig, daß dieses Verschwinden mit der Flucht des Mörders zusammenhing.

Die Extrablätter brachten bereits Klischees von der Mordstätte, dem Hause, dem Zimmer, dem Tisch beim Bett, dem Bett, aus dem die Leiche eben fortgetragen worden war. Man sah, retuschiert und deutlich gemacht, noch die Vertiefung in dem Bett, die der Körper des Opfers hinterlassen hatte.

Die Umstände, unter denen Belle Garrat ihr Leben lassen mußte, waren recht absonderlich. In der kleinen Arding-Street, zwanzig Minuten Wegs vom Morton-Crescent, stand eine Villa, die seit einem Jahr von ihren Bewohnern verlassen war. Ein Bild in der Zeitung, eben dieses Bild aus dem Morgenblatt, zeigte die Ziegelmauer um das Gärtchen der Villa, mit der Tafel auf der Gitterpforte:

»Zu vermieten oder zu verkaufen«

und darunter die Firma der Agenten: Hobbs und Bolder, Kensington, an die man sich zu wenden hatte, wollte man sich über die näheren Bedingungen erkundigen.

Gestern, Dienstag früh, hatte nun Herr Ellery, der Bevollmächtigte der Firma, ein Ehepaar, das aus Sheffield 109 nach London übersiedeln wollte, in die leerstehende Villa geführt, um ihm die Räume zu zeigen. Und in einem der Schlafzimmer des oberen Geschosses war dabei die Leiche gefunden worden, im Zustand vorgeschrittener Verwesung.

Fußspuren im Sand des Gärtchens, auf der Treppe und im Zimmer selbst wiesen auf mehrere Personen. Es waren Abdrücke von Belles Schuhen, aber von Männerstiefeln auch. Die Spuren der letzteren wiesen verschiedene Größen auf. Mr. Evangeliste hatte inzwischen konstatiert, daß die größten von den Stiefeln Dr. Garrats herrührten. Garrat hatte seine Stiefel in der Morton-Crescent-Behausung hinterlassen. Ein anderer Mann war bei der Toten gewesen. Seine Spuren wiesen darauf hin, daß er im Laufe der Monate des öfteren mit der Frau im selben Raume zusammengekommen war. Die Spuren waren mit getrocknetem Straßenkot untermengt.

Von Garrats Schritten waren die Spuren dagegen nur ein einziges Mal vorhanden – sie führten ins Haus und aus dem Hause. Es waren die frischesten von allen.

An dem Leichnam war keinerlei Zeichen äußerer Gewaltanwendung zu bemerken. Die Verwesung ließ das Wirken eines starken ätzenden Giftstoffes erkennen. Die hellroten und bräunlichen Flecke der pustulös veränderten Haut. Aus der Flüssigkeit, die der Gerichtschemiker dem Darm entnommen hatte, ergab sich nach Beimengung von Salzsäure und einer Chlorkalklösung ein indigofarbiger Niederschlag, der sich nach Übersättigung mit Ammoniak alsbald asphaltschwarz färbte. Die Körperhöhlen verbreiteten einen bittermandelartigen Geruch. Mineralische Partikel im Magendarmkanal wiesen auf Anilinbestandteile mit starker Arsenbeimischung hin, ebenso das dunkel angelaufene Zahnfleisch, die grünliche Goldplombe, der Puder, die Schminke. Offenbar hatte das Gift, dessen Beschaffenheit zurzeit das Gerichtslaboratorium untersuchte, die 110 Nieren zerstört, die Sektion ergab rotbraune Zylinder in dem Gewebe. Die Tote mußte kurz vor dem Ableben einen stark parfümierten Likör zu sich genommen haben, der Verwesungsgeruch war daher nicht betäubend, obzwar die Leiche bereits tagelang gelegen haben mochte.

An den über einen Stuhl, auf ein Spiegelschränkchen geworfenen Kleidern, im Zimmer, im ganzen Hause war nichts, was auf die Identität der Toten hätte hinweisen können.

Mr. Evangelistes sprichwörtliches Glück allein hatte zu einer unverhofft raschen Lösung verholfen: auf seltsame und schwer erklärliche Art war dem Täter bei der Beseitigung der Erkennungszeichen ein Schlüsselchen unbemerkt geblieben, das in ein Band des Korsetts verknotet war, ein Safeschlüssel der Holloway-Filiale der Birkbeck-Bank. Da war's denn kein Wunder, daß Mr. Evangeliste die Fährte im Handumdrehen gefunden hatte.

Die Mittagsblätter veröffentlichten bereits ausführliche Steckbriefe der Flüchtlinge.

Garrats Steckbrief deckte sich ziemlich genau mit dem Bilde, das Adela von ihm in der Erinnerung bewahrt und bei ihrer Begegnung aufgefrischt hatte. Das aschblonde Haar, der über die Lippen hängende Schnurrbart von etwas rötlicher Färbung. Die Haltung nicht ganz aufrecht, ein wenig nach der linken Seite übergeneigt. Man erfuhr, daß Garrat falsche Zähne hatte; daß er beim Sprechen oft die Lippen zwischen die Zähne zu ziehen pflegte. Auch daß er zuletzt eine Kratzwunde an der Nasenwurzel aufzuweisen hatte. Dies sagte eine seiner Stenotypistinnen aus, eine Miß Milligan.

Man erfuhr ferner alles Nähere über Cora Stratton. Ihre alte Mutter hatte weinend und händeringend Auskunft gegeben. Das gute Mädchen: sie hatte ihr ihre Abreise in einem Briefe bekanntgegeben, dessen Faksimile 111 die Zeitungen brachten. Auch das Faksimile des Schecks über fünfzig Sterling, der dem Briefe beigefügt war. Dieser Zug von Kindesliebe gewann dem leichtsinnigen Geschöpf, das seiner Leidenschaft für Seidenstrümpfe, Besuche von Operettenbühnen und die Anschaffung von falschem Schmuck freien Lauf zu lassen gewohnt war, die Herzen der Menschen.

Über Belle Garrat konnte man ganze Spalten lesen. Ihre Vergangenheit. Ihre Laufbahn als Gehilfin des Zauberkünstlers Signor Pantellari, dessen Maitresse sie auch noch während der ersten Zeit ihrer Liebesehe mit Dr. Garrat geblieben war. Die Gründe der Ausstoßung Garrats aus dem Klub der Ärzte. Das Dienstmädchen Frances Powells war in Scotland Yard erschienen und hatte ihr Dienstbotenherz ausgeschüttet, das von Groll gegen die Herrschaft überfloß.

Garrats Ehehölle war von Scheinwerferlichtern erhellt. Die Damen Reynolds benutzten den Umstand, daß Garrat Agent für Kurpfuschermittel war, zu einer leidenschaftlichen Anklage gegen die Medizin und die Ärzte, von denen alles Unheil und alle Verworfenheit der Erde herstamme.

Kapitän Rogers, ein alter Kunde der Patentmedizinläden in der Oxfordstraße, fing einen Disput mit den beiden Fanatikerinnen an. Die Tafelrunde hörte mit Ergötzen zu.

Adela blieb auf ihrem Platz an der Tafel und stand gleichzeitig mit den andern auf.

*

Als sie spät abends nochmals hinunterging und ins Musikzimmer eintrat, fand sie einen Kreis von Damen um Miß Dalmayne versammelt.

Die Sängerin hatte den Tag im Vorzimmer des Agenten verbracht, hatte ihm nach sechsstündigem Warten die 112 »Schmuckarie« aus »Faust« im Kostüm vorgesungen und war für eine Operntournee vorgemerkt worden, die im Herbst die kleinen Städte Schottlands und Irlands besuchen sollte. Im Vorzimmer des Agenten hatten sich ein paar ältere Frauen, Operetten- und Varietéstars vergangener Zeit, über Belle Garrat unterhalten. Eine war mit ihr befreundet gewesen, eine andre war ihr und ihrem Mann in Gesellschaften und hinter den Kulissen begegnet.

»Sie war eine schöne Frau, aber lasterhaft! Wir von der Profession wußten es. Sie hatte wenig Verkehr, denn der Mann liebte es, in Wutausbrüche zu verfallen, sobald sie mit andern Männern sprach, oder andre auch nur ansah!« hatte eine der Frauen gesagt.

»So ganz ohne Schuld wird er doch auch nicht gewesen sein!« bemerkte Miß Reynolds spitz. »Er ist doch nicht allein auf und davon gegangen!«

»Ein Mörder!« sagte die Mutter Reynolds.

»Nun, erwiesen ist ja der Mord noch nicht,« sagte Mrs. Strange. »Es muß ja erst bewiesen werden, daß der Gatte es war!«

»Das steht doch fest!« behauptete Mrs. Reynolds. »Er ist doch entflohen und zwar in Gesellschaft!«

»Als was wird er die Stratton ausgeben?« sagte Miß West, die sich für einen Augenblick hereingesetzt hatte, mit leisem Kichern. »Seine Frau? Seine Tochter? Ich habe einmal von einem Menschen gelesen, der seine Gefährtin, ein junges Mädchen, in Knabenkleider gesteckt hat, und das hat ihn gerettet. Erst Jahre später hat die Begleiterin auf dem Totenbett gestanden, da war der Mörder schon längst hinübergegangen.«

»Sie soll groß und üppig sein, dieses Frauenzimmer Stratton, sie wird wohl als Frau reisen müssen!«

»Hoffentlich führt das auf die Spur!« sagte eine Dame aus Nottingham, die Abend für Abend sich mit kurzsichtigen 113 Augen über ihre Häkelei beugte. »Wo sollten wir hin, wenn man es nicht verstünde, Verbrecher bald habhaft zu werden!« Jeden Abend sah sie, vor dem Schlafengehen, mit dem Licht unter das Bett, in die Schränke, sogar in den Koffer, stellte Barrikaden von Möbelstücken, Gepäck und Stühlen vor der Verbindungstür ihres Zimmers auf. »Man hat ja bereits einen Preis auf die Flüchtlinge ausgeschrieben!«

»Haben Sie gelesen? Im Parlament war heute die Rede von dem Mord. Der Honorable Wimperis hat die Hafenbehörden angewiesen . . .«

»Ach, die sind wohl längst über den Kanal, treiben sich irgendwo in Frankreich, in Belgien herum – der Doktor soll ja ganz gut französisch sprechen.«

»Doktor?« sagte Miß Reynolds mit einem kleinen Hohngelächter. »Haben Sie den »Star« nicht gelesen? Er soll sich den Titel nur so, aus eigner Willkür beigelegt haben, wegen des Geschäfts.«

»Aber er war doch früher ausübender Arzt gewesen!« sagte Mrs. Strange. »Er muß doch Doktor gewesen sein. Ist es denn möglich, Arzt zu sein und dabei nicht Doktor?«

»Es gibt zwölf Methoden und eine, teure Mrs. Strange, wie man sich den Titel selbst verschafft!«

»Ist das so?« frug Mrs. Strange mit erschrockenen Augen. »Ich glaubte, wenn einer ›Doktor‹ heißt, muß er schon approbiert sein und sein Diplom haben und vom Staat die Erlaubnis, zu heilen!« Sie blickte mit versonnenem Gesicht starr vor sich hin und Wasser trat in ihre großen hellgrauen Augen.

»Nun, man wird es ja bald erfahren!« meinte Mrs. Reynolds. »Die Gerechtigkeit! Mr. Evangeliste . . .«

»Ja, er ist der Beste von allen,« sagte Miß West. »Er hat in vier Weltteilen Verbrecher gefaßt.«

»Wenn es nur bald geschieht!« sagte Miß Reynolds 114 »Denken Sie daran, wie das die Menschen verdirbt: wochenlang an nichts anderes zu denken, von nichts anderm zu reden als von Mord, von einer geschminkten Leiche, von einem Mann, der mit seiner Geliebten auf und davon geht, die er vielleicht für seine Tochter ausgibt.«

»O, Miß Dalmayne!« sagte Mrs. Strange flehentlich. »Wollen Sie uns nicht ein Lied geben?«

Die andern Damen stimmten in die Bitte ein. Die Sängerin stellte sich vor das Pianino, an dem Mrs. Strange Platz genommen hatte.

»Ich werde Ihnen die ›Schmuckarie‹ aus Faust singen!« sagte sie.

»O, singen Sie, teure Miß Dalmayne!« riefen die Damen Reynolds, die Dame aus Nottingham.

Miß Dalmayne sah Adela an. »Singen Sie, teure Miß Dalmayne!« sagte Adela.

Miß Dalmayne sang an diesem Abend sehr gut. Sie sang nicht nur, sie spielte ihre Rolle. Sie mimte. Aus einem Kästchen nahm sie Perlenschnüre, Armbänder, Spangen, Ringe, Ohrgehänge. Klar und silberhell tönten die Läufe, die Stakkati, zierlich drehte sich der Hals, spielten die Hände, die Blicke, die den Spiegel suchten und fanden.

Adela sah ein junges Geschöpf, mit falschem Schmuck behängt, üppig, mit roten Lippen und lasterhaftem Ausdruck.

Was geht mich dieser Mann an? sagte sie sich. Ein Zufall! Wäre ich ihm nicht begegnet, er wäre aus meinem Gedächtnis verschwunden gewesen auf Nimmerwiedersehen!

Aber sie sah ihn. Sie sah ihn, für einen Moment, Auge in Auge, an der Straßenecke. Sie sah ihn, mit seinem blonden Haar, rötlichen Schnurrbart, seiner ein wenig nach links vornübergebeugten Haltung. Sie sah den Mörder.

Was ist er denn? Was ist er mir? sagte sich Adela. Eine Notiz in der Zeitung. Etwas Rohes, Tierisches, 115 Schmutziges. Ich habe damit nichts zu tun. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Ich habe unter Roheit und tierischem Schmutz lange genug gelitten. Ich habe die Bestie begraben. Ich bin frei, das Leben ist leicht. Ich sehe auch wieder von Tag zu Tag jünger aus, seit ich mich erhole. Ich will fortan an nichts Schweres, Böses, Tierisches denken, es macht mich alt. Ich aber bin jung, ich habe das Leben vor mir.

Wer weiß denn, daß ich den Menschen kannte? Den Mann der Dirne und Ehebrecherin? Den Mörder? Den, der mit dem Geschöpf im falschen Straßschmuck und den Glasperlen die Flucht ergriffen hat!

Die Vorstellung von der Armseligkeit dieses Geschöpfes, das auf die Schale ihres Toilettentischs ihre Groschenringe, ihre Schillingperlenschnüre, ihre steinbesetzten Kämme aus Zelluloid niederlegt, machte sie lachen.

Sie preßte ihre Hand gegen die Wange. Der Ellbogen drückte sich in die Sessellehne. Das kühle Gold der Ringe tat ihren erhitzten Wangen wohl.

Miß Dalmayne hatte einen Triller gesungen, der die Begeisterung der Damen geweckt hatte. Jetzt schloß sie. Die Damen klatschten in die Hände: »Encore!« Adela klatschte in die Hände und rief: »Encore!« Sie lächelte der Sängerin zu, die beglückt ihren Blick erwiderte.

»Was soll ich singen?«

»Lucia von Lammermoor!« riefen die Damen.

»Was soll ich singen?« frug die Sängerin Adela.

Adela begann: »Ich . . .«

Mrs. Strange blickte sie an. So merkwürdig klang ihre Stimme, sie klang so unsicher, schwankend, wie nach Tränen . . .

Adela räusperte sich: »Ich hätte gern die Arie noch einmal gehört.«

»Bis! Bis!« riefen die Damen.

116 Mr. Escoffier trat, von Herrn Bradshaw und dem Kapitän gefolgt, in das Musikzimmer ein und stimmte in den Chor ein: »Bis! Bis!«

Dalmayne stellte sich in Positur. Mrs. Strange drehte sich auf dem Klaviersessel wieder nach den Noten um und begleitete.

Nachdem die Sängerin mit der Arie fertig geworden war, wurde die Unterhaltung im Zimmer durch die Anwesenheit der Herren neu belebt.

Mr. Escoffier hatte das letzterschienene Abendblatt gelesen. Garrat war, nebst seiner Gefährtin, in Brüssel gesehen worden. Er war vor vier Tagen mit dem Expreßzug nach Paris weitergefahren, in Begleitung des jungen Mädchens, das er für seine Frau ausgab. Die Spur wies nach dem Süden Frankreichs, nach den Pyrenäen.

»O, es muß schön sein jetzt in den Pyrenäen. Wenn man einen Mord auf dem Gewissen hat!« bemerkte Mr. Escoffier.

»O, wie können Sie nur!« riefen die Damen, ernsthaft empört, aus.

Mr. Escoffier bemühte sich, den schlechten Eindruck zu verwischen, den seine Worte gemacht hatten. »Du bist in England, mein Lieber!« sagte er zu sich, »dies ist ein drawing-room, vergiß das nicht.« Und er sprach vom Arm des Gesetzes, von der weltberühmten Tüchtigkeit der englischen Polizei, spielte den Damen, die nun wieder lächelten, die Szene vor, wie ein Pariser »Sergot«, ein »Flic« einen Betrunkenen verhaftet, an der Ecke des Faubourg Montmartre, gab den Dialog der beiden zum besten, erntete Beifall, Encore, war wieder in seinem Element, spielte für Miß Dalmayne, für Adela, setzte sich an das Pianino und sang einen englischen, dezenten Gassenhauer, wie ein Franzose, der zum erstenmal Englisch radebricht. Die Damen lachten.

117 Adela ging Arm in Arm mit Miß Dalmayne, hinter Mrs. Strange und den Damen Reynolds, die Treppe hinauf und begab sich zur Ruhe.

*


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