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Nun liegt und zuckt am fahlen Himmelsrand
      
 In sich zusammgesunken das Gewitter.
      
 Nun denkt der Kranke: »Tag! jetzt werd ich schlafen!
      
 Und drückt die heißen Lider zu. Nun streckt
      
 Die junge Kuh im Stall die starken Nüstern
      
 Nach kühlem Frühduft. Nun im stummen Wald
      
 Hebt der Landstreicher ungewaschen sich
      
 Aus weichem Bett vorjährigen Laubes auf
      
 Und wirft mit frecher Hand den nächsten Stein
      
 Nach einer Taube, die schlaftrunken fliegt,
      
 Und graust sich selber, wie der Stein so dumpf
      
 Und schwer zur Erde fällt. Nun rennt das Wasser,
      
 Als wollte es der Nacht, der fortgeschlichnen, nach
      
 Ins Dunkel stürzen, unteilnehmend, wild
      
 Und kalten Hauches hin, indessen droben
      
 Der Heiland und die Mutter leise, leise
      
 Sich unterreden auf dem Brücklein: leise,
      
 Und doch ist ihre kleine Rede ewig
      
 Und unzerstörbar wie die Sterne droben.
      
 Er trägt sein Kreuz und sagt nur: »Meine Mutter! «
      
 Und sieht sie an, und: »Ach, mein lieber Sohn!«
      
 Sagt sie. – Nun hat der Himmel mit der Erde
      
 Ein stumm beklemmend Zwiegespräch. Dann geht
      
 Ein Schauer durch den schweren, alten Leib:
      
 Sie rüstet sich, den neuen Tag zu leben.
      
 Nun steigt das geisterhafte Frühlicht. Nun
      
 Schleicht einer ohne Schuh von einem Frauenbett,
      
 Läuft. wie ein Schatten, klettert wie ein Dieb
      
 Durchs Fenster in sein eigenes Zimmer, sieht
      
 Sich im Wandspiegel und hat plötzlich Angst
      
 Vor diesem blassen, übernächtigen Fremden,
      
 Als hätte dieser selbe heute nacht
      
 Den guten Knaben, der er war, ermordet
      
 Und käme jetzt, die Hände sich zu waschen
      
 Im Krüglein seines Opfers wie zum Hohn,
      
 Und darum sei der Himmel so beklommen
      
 Und alles in der Luft so sonderbar.
      
 Nun geht die Stalltür. Und nun ist auch Tag.
(1907)