Hugo von Hofmannsthal
Die Frau ohne Schatten
Hugo von Hofmannsthal

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Reflexion aus dem Nachlaß (1919)

Nicht das leuchtende durch Furcht verdunkeln, nicht dem wunderbaren Vogel die Flügel binden!

Mut ist das innere Licht in jedem Märchen, darum ist die Kaiserin so leuchtend und mutig – und wirft sich, wo ihr schaudert, mit  erhobenen Flügeln, wie ein Schwan, dem Fremden und Geheimnisvollen entgegen.

Fremd und geheimnisvoll sind solche Nächte, wie alle Geschenke des Himmels, aber darum sind sie heilig, und sie durchleben ist ein heiliger Dienst – in dem darf man nicht zittern. Das Erschütternde ist da, der dunkle schauerlich süße Abgrund ist da – aber du darfst nicht hineinstürzen – seine Nähe ist nur eine Heiligung mehr.

Alles ist heilig und schön – jede Sekunde: küsse die Augen und heilige sie und dann laß sie alles in sich trinken, das Oben und das unten und die wunderbare Mitte, die süßen bewegten Arme und die süßen ruhenden Brüste, die Lippen und das Haar.

Verbirg nichts – wo das Verbergen ist, da ist die Hast und die Glut der Jagd, da ist der Kaiser und der tödliche Pfeil und die Gazelle; wo alles sich darbringt, da ist die nächtliche Feier, der Tempel und die Sterne.

Gib dich sanft und festlich, du Süße, und erschüttere den, der selig wird durch dich, mit deinen zarten Händen – wie du eine Harfe erschütterst –, dann ist die Erschütterung von dir genommen, und was du empfängst, ist die Musik. – Zittere nicht, denn was wird aus dem Tempel, wenn die Priesterin zittert! Wirf dich in den Abgrund, aber nur weil unten die goldene Treppe ist, die zu den Sternen führt.

Sei die süße Herrin und nicht das scheue Mädchen, – gieß dich aus in Augen, Hände und Mund, behalte nichts von dir in dir, dann wirst du leicht sein und schweben, Zauberin auf ihrem Zauberbette – Verwandlerin, selber verwandelt, unfindbar allen außer dem einen, den du verzauberst.

den 27. X. 19



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