Hans Hoffmann
Das Gymnasium zu Stolpenburg
Hans Hoffmann

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Erfüllter Beruf.

Der alte Röber vom Stolpenburger Gymnasium war nun endlich am Ziel seiner Sehnsucht, in den Ruhestand treten zu können; er war des Lehrens müde, unsäglich müde. Fünfundvierzig Jahre lang hatte er sein Amt mit dauernder Treue und endloser Qual verwaltet. Denn, um es sogleich und gerade heraus zu sagen, er war kein Pädagoge von Gottes Gnaden; er hatte es niemals verstanden, die wilden Gemüther der Jugend zu zügeln, zu leiten, seinem Geist und Willen zu unterwerfen.

Er war ein Mann, der Vieles wußte und Vieles konnte; ein Mann, der schon manchen Kreis von klugen Kennern entzückt hatte durch die schlichte Kraft seiner Beredsamkeit oder ein ander Mal durch die mühelose Anmuth seines Witzes; ein Mann, den auch schon mancher beträchtliche Gelehrte beneidet hatte um die Feinheit und Fülle seiner kleinen historischen Schriften, der Früchte seiner 252 Mußestunden; dazu war er ein guter und liebevoller Mann, dem nicht leicht ein Redlicher sein Herz versagen mochte – und doch ein Mann, der das Eine ganz und gar nicht verstand, was nun zum Unglück gerade sein Beruf war. Niemals war es ihm gelungen, eine Klasse auch nur in der nothdürftigsten Zucht zu halten, weder die sittenstolze Prima noch die Gründlinge der Sexta, noch gar die rauhe Tertia, die Maienblüthe aller Flegelhaftigkeit: Alle spielten ihm mit gleicher Lust und Sicherheit tagtäglich auf der Nase herum. Nicht allein, daß während seines Unterrichtes alle Mal die eine Hälfte der Schüler sich unter dem Tische mit mannigfachen schönwissenschaftlichen Studien, von Grimms Märchen bis zu Casanovas Denkwürdigkeiten, beschäftigte, die andere Hälfte über dem Tisch ihre Unterhaltungsgabe ausbildete: es ging auch nicht leicht eine Stunde ohne irgend einen hübschen kleinen Zwischenfall vorüber, sei es, daß eine Spieldose plötzlich heitere Weisen erklingen ließ, bald aus dieser, bald aus jener Ecke, geheimnißvoll wandernd. sei es, daß eine Knallerbse explodirte oder ein Maikäfer schwirrte; oder daß durch eine wunderbare Fügung zehn Federkästen gleichzeitig zur Erde rasselten – oder was sonst das Herz der Schüler ungleich mehr vergnügt als das des Lehrers. Alles, was diese jungen Seelen an Heiterkeit und Uebermuth, Tücke, Trotz 253 und Bosheit nährten, das trat mit wahrhaft dämonischer Erfindungslust unter den Augen dieses einen Unglücklichen ans Tageslicht und verbitterte sein Leben mit nie ermüdender Grausamkeit.

Es ist durchaus nicht anzunehmen, daß diesem Treiben eine grundbösliche Absicht zu Grunde lag, etwa die, ihn systematisch todtzuärgern; vielmehr hatten sie ihn eigentlich recht gern und seinen Unterricht noch lieber wegen der reichen Erholung, die er gewährte. Wenn aber irgend ein Gutgesinnter abmahnend den Verstand oder auch wohl die Großmuth der Schlingel anrief, dann zuckten sie die Achseln und meinten, er thue ihnen ja selber leid; »aber wir können nicht anders, es kommt immer so von selbst.«

Ueber die wahre Ursache dieser eigenthümlichen Erscheinung pflegten die glücklicheren Collegen viel hin und her zu reden, bedauernd oder lächelnd. Der Eine sprach ihm die Energie ab, der Andere die Geduld; der Eine das rasche Sehen und Ergreifen, der Andere die zuwartende Milde; der Eine vermißte Feuer und Frische, der Andere fand ihn zu unruhig; der Eine rieth zu größerer Strenge, der Andere zu mehr Sanftmuth – kurz, man hätte aus dieser Vielseitigkeit der Meinungen den Schluß ziehen können, daß er, zwischen Uebertreibungen die richtige Mitte haltend, einen wahren Musterlehrer 254 darstelle; nur daß unglücklicherweise die Thatsachen allzu hart dagegen sprachen.

Tiefer griff das Urtheil des Schulraths.

»Sehr schade,« sagte dieser nach einer gründlichen Inspection, »er übertrifft an Wissen und Geist sehr Viele von uns; allein ihm fehlt die Kunst der Selbstdarstellung; er versteht sich keine Würde zu geben. Das ist's.«

Ohne Zweifel traf dieser Ausspruch den Nagel auf den Kopf. Denn es ist richtig, in diesem Punkte sind die Kinder nicht viel klüger als die Erwachsenen; auch sie schon schätzen das Geschäft nach dem Schilde und bewilligen ihren Respect auf Treue und Glauben einem Jeden genau nach seiner moralischen Selbsteinschätzung.

Röber aber zeigte schon als junger Hülfslehrer eine seltsame Anspruchslosigkeit, einen gänzlichen Mangel an der Fähigkeit, etwas aus sich zu machen und hoch auf Hacken zu wandeln, einen Hang, überall sich selbst in den Schatten zu stellen. Ueber ein ihm gespendetes Lob erröthete er noch in hohen Jahren und bemühte sich alle Mal eifrig, dasselbe auf ein tiefes Maß zurückzuschrauben und den Glauben an sein Verdienst mit den feinsten Kunstmitteln zu zerstören, ein Bestreben, das in den seltensten Fällen erfolglos blieb. Eine Pein war es ihm, sich selbst als Gegenstand der Verehrung für 255 irgend Jemand, selbst für Knaben, hingestellt zu sehen; unter Leuten, die er an Geist oder Sitte überragte, hatte er keine Ruhe, bis er sich selbst so vielfach zerzupft und geduckt hatte, daß sie ihn nothwendig für ihres Gleichen ansehen mußten. Er konnte es nicht ertragen, daß sich Jemand neben ihm klein fühlte; vor einem Bettler schämte er sich seines anständigen Kleides, vor Ungebildeten verstellte er seine Sprache gewaltsam zu ihrer Redeweise und Aussprache.

Diese Art Thorheit nun vermochte er auch vor seinen Schülern nicht abzulegen; er empfand es wie eine Anmaßung, daß er klüger und stärker war als sie, und strebte heimlich, den Unterschied nach Kräften zu verwischen und sie ja nicht merken zu lassen, wie unergründlich dumm sie waren, wie unumschränkte Gewalt ihm über sie gegeben war. Auf solche Weise erreichte er stets mit vollkommener Sicherheit das Ziel, daß sie ihn nicht als ihren Herrn und Meister, sondern wirklich als ihresgleichen oder etwas Geringeres ansahen und darnach behandelten. Und wenn nun dieser Geringe dennoch den unvermeidlichen Anspruch erhob, ihnen Befehle und Lehren ertheilen zu wollen, so nahmen sie das natürlich übel und setzten der Herausforderung ihren gerechten Trotz oder Hohn entgegen.

So ward dem trefflichen Manne seine 256 Thätigkeit eine Kette von Bitternissen, sein Amt ein Quell nimmer versiegender Leiden. Nicht, daß ihm der kleine Tagesärger, die wiederholte Kränkung seiner Person über Gebühr ans Herz gegriffen hätte: allein weit darüber hinaus empfand er mit Gram und selbsteigner Pein tiefinnerlich die Seelennoth, seiner Arbeit nicht gewachsen zu sein, auf dem eigenen Felde nichts Volles zu leisten, Tag für Tag den größeren Theil seiner Mühen ins Wasser zu schütten, ja vielleicht auch manchem haltlosen Gemüthe durch Entwöhnung von straffer Zucht handgreiflichen Schaden zu bringen.

Wenn es nur angegangen wäre, hätte er längst schon am liebsten Bücher und Bakel an die Wand geschmissen und allenfalls noch ein ehrliches Handwerk ergriffen oder ein Ehrenämtchen als städtischer Nachtwächter oder Rathsbote übernommen – zum Schuldiener oder Küster eignete er sich offenbar erst recht nicht, eben wegen jenes Mangels an Selbstdarstellung – allein es ging nun einmal nicht an: in dem ersten Hoffnungsrausch der festen Anstellung hatte er sich mit Weib und Kind belastet; wie durfte er diese in ein Loos der Armuth und Niedrigkeit herunterziehen? Ja, wenn ihm Magistrat und Schulcollegium oder welche Behörde sonst bei guter Zeit ein Ruhegehältchen, wie man es invaliden Offizieren thut, ausgesetzt und gesprochen hätte: 257 Pflege Du fortan in ungestörter Arbeit Deiner Wissenschaft, die Du verstehst, in majorem magistratus gloriam! Aber leider, das that man nicht, sondern man conservirte ihn sorgfältig im Amt bis in sein hohes Alter.

So half ihm kein Gott, er mußte bei der Stange bleiben und weiter dulden, Jahr für Jahr. Jeden Morgen, wenn er zur Klasse ging, sah man ihn vor der letzten Ecke noch einmal stillstehen und zögernd umblicken, ob nicht vielleicht doch irgend ein Wunder käme, das ihm endlich einmal den Gang zur Folterkammer ersparte. Doch es kam nichts, weder Feuer noch Wasser, noch ein ausgebrochener Löwe; er mußte hineingehen und sich zwicken lassen, Tag für Tag und Jahr für Jahr.

Die grimme Nothwendigkeit aber ließ in seiner gequälten Brust auch immer wieder neue Hoffnung erwachsen und neues Streben. Mit unverwüstlichem Ernste legte er sich immer wieder die Frage nach der wahren Ursache seiner ewigen Mißgriffe und Niederlagen vor, ohne etwas Rechtes herauszubringen. Er ging aufmerkend und nachahmend bei seinen Collegen, auch als Greis noch bei den allerjüngsten, in die Lehre und prüfte sorgsam alle Meinungen, Mittel und Methoden, nach denen sie unterrichteten. Darnach versuchte er selbst es in jedem Semester mit einer neuen der hundert 258 möglichen Methoden: das Ergebniß war immer das nämliche, daß die nichtsnutzigen Rangen nach jeder Methode gleich wenig lernten und sich gleich vortrefflich unterhielten.

Doch seltsamerweise wuchs im Laufe der Jahre mit der Zahl der Enttäuschungen nur die Zähigkeit seiner Hoffnung. Er rechnete ungefähr wie ein verrannter Lotteriespieler: auf hundert Nieten kommt ein Gewinn, folglich rücke ich mit mathematischer Sicherheit durch jeden Fehlschlag um einen Schritt tiefer in die Wahrscheinlichkeit hinein, nun endlich die richtige Methode zu erwischen. Und diese Hoffnung erzeugte und nährte immer kräftiger seinen heimlich glühenden Ehrgeiz, nicht eher vom Amte oder vom Leben zu scheiden, als bis er sich selbst bewiesen habe, daß klares Wollen und Beharren Alles in der Welt vermöge, wie so mancher Ausspruch alter und neuer Volksweisheit vorgibt. Immer qualvoller ward ihm der Gedanke, vielleicht mit dem Bewußtsein verfehlten Berufes, verfehlten Lebens sterben zu müssen. Nein, er wollte doch noch eine Leistung erzwingen, noch sich selbst bewähren in der großen Kräfteprüfung des Lebens; dann konnte er getrost in die Grube fahren, nicht eher!

So wälzte er von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr den schrecklichen Stein den Berg hinauf und 259 sah ihn jenseits immer wieder hinunterpoltern. Es gab keine Ruhe und keine Erlösung für ihn, aber auch kein Ermatten.

Zuletzt aber thaten die Jahre doch ihr Werk. Die Müdigkeit überwältigte ihn; er klappte plötzlich zusammen wie ein Taschenmesser, und kein Ehrgeiz vermochte die starre Entsagung zu überwinden. Er ward nun vollkommen unbrauchbar, ein offenkundiger Schaden für die Schule. Da endlich hatte auch der Magistrat ein Einsehen, wenn nicht gar ein menschliches Rühren, griff mit schmerzlich zuckender Hand in den Gemeindesäckel und gewährte ihm das gesetzliche Ruhegehalt, welches ihn köstlich ernähren konnte, da inzwischen auch seine Kinder alle zu eigener Versorgung gekommen waren. Er hatte das fünfundvierzigste Amtsjahr und das neunundsechzigste Lebensjahr vollendet und gerade die neunzigste Methode durchgeprobt.

Und so ergab er sich denn jetzt in die Abdankung von seiner Lebensarbeit nicht allein in Frieden, sondern in Wahrheit mit Freuden und mit Sehnsucht. Er machte seinen Plan, aufs Land zu ziehen, um dort im Stillen der Wissenschaft zu pflegen und seine Muße mit Würde zu genießen. Sein ganzes Sehnen ging nun beglückt auf die Freuden der Freiheit und nie gekannter Ruhe.

Die letzten Monate durchduldete er stumpf und 260 matt und begrüßte die Sonne des letzten Arbeitstages mit herzlicher Erquickung. Jegliche Art von Abschiedsfeier, auch die bescheidenste, hatte er sich strenge, ja mit Heftigkeit verbeten; er hätte eine solche vielleicht als herbe Ironie empfunden.

Das Eine freilich konnten sich die Collegen denn doch unmöglich versagen, vor seiner letzten Unterrichtsstunde sich mit einer gewissen Feierlichkeit im Lehrerzimmer um ihn zu versammeln, ihm ein kleines Erinnerungsgeschenk zu überreichen (es war Raumer's »Geschichte der Pädagogik« im Prachteinband) und ihm durch den Mund des Directors eine schöne Ansprache zu halten mit jenen in jahrhundertelanger Ausnutzung nie veralteten Kernworten von der Erhabenheit des Lehrberufes, der Schwere seiner Pflichten und der stärkenden Kraft des inneren Lohnes.

Allein selbst dieser einfache Act war nicht ohne Schwierigkeit ins Werk zu setzen. Der Held desselben mußte erst mit List gestellt und eingefangen werden. Man lockte ihn künstlich in das noch leere Zimmer, rottete sich draußen in aller Stille, im Sturmlauf hereilend, zusammen und drang in fest geschlossener Masse durch die Thür, ihm jeden Ausweg versperrend.

Jedoch auch dann schien das arme Opfer sich noch nicht ohne Fluchtversuch ergeben zu wollen; 261 wenigstens deutete ein angstvolles Umherspähen seiner Augen und gewisse sehr sonderbare zuckende und duckende Bewegungen seiner hageren Glieder sehr entschieden auf eine Absicht, vielleicht unter dem Arm oder gar den Beinen irgend eines unaufmerksamen Amtsgenossen hindurchzuschlüpfen; und diese Bewegungen waren so überwältigend komisch, daß sich ein mäßiges Kichern zumal in den Reihen der jüngeren Herren nicht ganz unterdrücken ließ.

Als Röber das vernahm, änderte sich seine Haltung mit überraschender Schnelligkeit. Er hob den Kopf frei empor, faltete die Hände und faßte seine Bedränger einen nach dem andern fest ins Auge.

Und dann begann er, ohne die Anrede abzuwarten, selbst einige ernste Abschiedsworte zu ihnen zu sprechen. Er redete schlicht und klar von all den Nöthen und Qualen und ewig trügenden Hoffnungen seiner langen Laufbahn; ohne Beschönigung, ohne Klage, ohne Bitterkeit ließ er sie einen ruhigen Rückblick thun auf einen öden, sonnenlosen Lebensweg.

»Und nun am Ende,« so schloß er, »darf ich mir sagen: Ich habe Gutes gewollt, ich habe gesäet mit Fleiß und frommem Sinn; ist die Ernte nicht gediehen, so fehlte der Segen des Himmels, es war nicht meine Schuld. Die Ruhe habe ich mir auch 262 so verdient. Die Ruhe! O, meine glücklicheren Freunde, Sie können nicht ahnen, was Sehnsucht nach Ruhe ist!«

Er schwieg, und im ganzen Zimmer regte sich kein Laut; durch die Reihe der Collegen ging sichtbarlich eine warme und starke Bewegung. Keiner von ihnen hat je diesen Anblick des greisen Mannes vergessen, wie er vor ihnen stand in seiner Schlichtheit, die Stirn nun wieder weit vornüber gebeugt, daß die dünnen weißen Haare lang und müde herabfielen, während er die mageren Hände noch gefaltet hielt, dabei aber die Daumen hastig um einander drehte, um nur ja die fruchtsame Würde, die er sich eben wider Willen gegeben, so schnell als möglich wieder zu verscheuchen.

Auch der Director vergaß seine Ansprache, er drückte dem alten Mitarbeiter nur leidenschaftlich die Hand und stürmte schweigend aus dem Zimmer. Dieser Director hatte die Eigenthümlichkeit, daß jede zartere Seelenanregung, der auch er zuweilen unterworfen war, ihren Ausdruck fand in einem Wuthanfall, wie bei manchem Andern wohl in einem Hustenreiz oder einem maßlosen Gebrauche des Schnupftuches. Solche Wuthanfälle waren selten, pflegten dann aber durch Vermittelung der Schüler gleich einer elektrischen Entladung in der ganzen Stadt und Umgegend nachzuzittern.

263 So stürzte er jetzt mit der frischen Ergriffenheit im Herzen unverzüglich in die ahnungslose Tertia und hielt den berüchtigten Raufgesellen dort eine Bußrede, in der er sie unter grauenvollen Drohungen aufmunterte, den alten treuen Lehrer wenigstens dieses eine Mal mit ihren Gemeinheiten zu verschonen und ihm so den schmerzlichen Abschied von den schönen, wenn auch schweren Pflichten seines erhabenen Berufes ein wenig zu erleichtern.

Die guten Jungen merkten wohl, daß mit dem Gefürchteten heute übel zu spaßen sei, und sie beschlossen, rückhaltlos zu gehorchen; die wirkliche Ausführung dieses Entschlusses freilich wurde ihnen vielleicht nur dadurch ermöglicht, daß sie heute ohnehin durch den sie umwitternden Glückshauch des Schulschlusses zur Milde gestimmt waren. Als daher der alte Röber das trübgewohnte Klassenzimmer betrat, er selbst noch ein Leuchten der Rührung im Antlitz tragend und freudiger einherschreitend, da stieß er auf eine Stille, Ordnung und schöne Sammlung, deren Möglichkeit er sich niemals hätte träumen lassen und die ihn daher nur fremdartig, ja naturwidrig und unheimlich anmuthete.

»Da ist etwas nicht in Ordnung,« dachte er erschrocken; »die haben etwas vor, sie wollen einen Hauptschlag gegen Dich führen; das kann nichts Anderes sein als die Stille vor dem Sturm.«

264 So wartete er in großer Angst auf den Ausbruch des Sturmes, immer gefaßt auf eine noch nie gesehene Nichtsnutzigkeit, jeden Augenblick bereit zu verzweifelter Gegenwehr. Je länger die Spannung dauerte, desto erregter wurden seine Nerven, desto düsterer seine Stimmung; es flimmerte ihm vor den Augen, schon wünschte er nichts Besseres, als daß es nur endlich zum Kampfe kommen möchte. Allein die seltsamen Schlingel hielten heute aus in ihrer Tugend; noch stand das Schreckbild des zornigen Directors ihrem Gedächtniß allzu nahe. So fuhren sie fort, den rastlos Lauernden wider Willen noch mehr zu peinigen als je zuvor. Er glich einem Verurtheilten, der stundenlang mit verbundenen Augen des tödtlichen Streiches harren muß. Kaum wagte er noch zu reden in diesem schauerlichen Schweigen; sein eigenes lautes Athmen ward ihm beängstigend.

Endlich ertrug er die gräßliche Ruhe nicht länger. Er selbst gab den Befehl zum Aufruhr. Er brach den Unterricht ab und ertheilte der Klasse die Erlaubniß, sich für den Rest der Stunde selbst zu beschäftigen, Jeglicher nach seinem Belieben.

Das thaten sie gehorsam; und das Belieben der Meisten ging dahin, sich mit gymnastischen Uebungen zu vergnügen, und zwar ausnahmslos mit solchen, welche auf dem Turnplatz nicht üblich 265 waren, vornehmlich Faustkampf und Bücherwurf. In ihrer Gesammtheit erzielten sie sowohl für das Auge als auch für das Ohr den sehr bestimmten Eindruck einer Völkerschlacht.

Der alte Röber aber saß nun ruhevoll und blickte unerschüttert hinein in das wallende Chaos wie ein greiser Schiffer, der, von der letzten Fahrt heimkehrend, seine Brigg durch die gewohnte Brandung gelassen in den Hafen steuert.

Mit dieser denkwürdigen Stunde endete er seine Laufbahn. Er verließ nun die Stadt und siedelte sich in dem nahen Dorfe Plassow an, woselbst er sich eines ungetrübten Lebensabends zu erfreuen gedachte.

Allein sobald die erste unruhige Neuheit des Landlebens wieder seinem nachdenklichen Wesen Zeit gab, begann etwas Seltsames in ihm vorzugehen. Die noch unerklärte Erfahrung seiner letzten Unterrichtsstunde ließ ihn nicht mehr los. Eine Reue ergriff ihn, daß er damals freiwillig den Zügel hatte fahren lassen, den ihm eine unbekannte Gottheit freundlich in die Hände gelegt. Denn es war ihm längst die Erkenntniß aufgegangen, daß die wackeren Knaben damals wirklich nichts im Sinne gehabt hatten als die ehrliche Absicht, Ruhe zu halten aus irgend welchem Grunde – ja, aus welchem Grunde? Eine sonderbare Ahnung dämmerte 266 in ihm auf: Wie, wenn ich durch einen wunderlichen Zufall gerade in jener letzten Stunde mit einer Art unbewußten Hellblicks die richtige Methode entdeckt hätte?! Dieser Gedanke nahm ihn gänzlich gefangen, und er suchte zurückschauend sich die Besonderheit seines damaligen Auftretens und Gebahrens vor der Klasse zu vergegenwärtigen. Und da kam er denn wirklich zu dem Ergebniß, daß die feierlich erhobene Stimmung jenes Augenblicks seiner Erscheinung etwas Würdevolles und Bedeutendes müsse gegeben haben, das ihm mit geheimnißvoller Macht die trotzigen Herzen unterjocht habe. Das war's! Er hatte ja von jeher ein dunkles Gefühl mit sich herumgetragen, daß gerade nur so etwas ihm mangele, eine eindrucksvolle Haltung, ein selbstbewußtes Hinschreiten, oder wie es zu benennen war. Doch er hatte kaum noch gehofft, daß es ihm gelingen werde, sich dieses ungewisse Etwas selbstthätig zu geben – jetzt aber, da der Zufall es ihm offenbart hatte, sollte es unmöglich sein, die gleiche Haltung mit Bewußtsein wieder einzunehmen und mit ihr stetig die gleiche Wirkung zu erzielen? Je weiter er dieser Vorstellung nachging, desto fester ward seine Ueberzeugung, daß ihm nach neunzig Nieten endlich der Gewinn zugefallen, daß die lebenslang gesuchte Methode gefunden sei. Und dann war ihm also das tragische Loos geworden, 267 in eben dem Augenblicke das Schwert zu verlieren, wo er es erst schwingen lernte; das gelobte Land von ferne zu schauen und niemals betreten zu dürfen! Und selbst die einzige Stunde, die voll herrschend zu genießen ihm vergönnt gewesen, hatte er versäumt in seiner Blindheit, ein Odysseus, der, endlich heimkehrend, sein ersehntes Vaterland nicht erkannte!

Schmerzliche Reue beherrschte ihn, und indem er das einmal erlebte Bild einer ruhigen Klasse sich nachkostend immer wieder ausmalte, schmückte seine Erinnerung dasselbe täglich mit glänzenderen Farben, bis es das ganze ungeheure Grau seiner früheren Leiden mit siegreicher Leuchtkraft verdrängt und überblendet hatte. Die alte Hoffnung erwachte, die Müdigkeit wich aus seiner Brust und die Ruhe zugleich; eine trüb suchende Unrast trieb ihn grüblerisch umher.

Immer häufiger führten ihn seine Wege an dem schlichten Dorfschulhause vorüber, in immer engeren Kreisen umstrich er dasselbe und stand während der Unterrichtsstunden scheu lauschend unter den Fenstern still wie ein zagender Jüngling vor der Kammer der Geliebten.

Eine räthselhafte Sehnsucht zog ihn dorthin und hielt ihn fest, als töne die heiser krächzende 268 Stimme des alten Schulmeisters wundersamen Sirenengesang.

Binnen Kurzem knüpfte er mit diesem abgelebten und recht sehr stumpfsinnigen Menschenkinde eine Freundschaft an, die freilich von seiner Seite nicht frei von stiller Tücke war, denn er strebte, unter der Maske wissenschaftlicher Harmlosigkeit, ihm lauernd seine pädagogischen Geheimnisse abzulisten.

Bald begleitete er ihn fast täglich in die Klasse und lernte hier immer von Neuem das große Räthsel der Disciplin bestaunen, welche täglich wie spielend das Ungeheure vollbrachte, den wirr herwimmelnden Schwarm ungeleckter germanischer Bärenkinder unverzüglich in eine mild lagernde Lämmerherde zu verwandeln; und das unter dem Zauberstabe eines Mannes, der von der Weisheit alter und neuer Zeit nur winzige Brosamen erhascht und von diesen die allerwenigsten wirklich verdaut hatte!

Seine Lehrweise und seine Manieren aber bestärkten den alten Röber nun ganz in der Sicherheit, daß er selbst an seinem letzten Tage wirklich die richtige Methode entdeckt habe: denn wahrhaftig, die Haltung, welche dies kümmerliche Huhn von einem Dorfschulmeister sich vor den Schülern zu geben verstand, war in ihrer Art ein mimisches und plastisches Meisterstück. Hoch aufgereckt pflegte er 269 dazustehen, freudigen Trotzes, von Würde gesättigt: das Standbein starr, lothrecht, mächtig wider den Boden gestemmt, das Spielbein steif vorgestreckt, die rechte Hand breit in den Busen geschoben, die linke ruhig, sieghaft sich hebend, als zaudere sie sorglos nur noch einen letzten Augenblick, den Dreizack zu zucken oder die Aegis zu schütteln. Es ist wahr, überkluge Leute hätten leichtlich witzeln und lachen können über die eigenartige Erhabenheit dieser Schaustellung; allein sie wirkte wie jedes Pathos mit unfehlbarer Sicherheit: große und kleine Kinder glauben, schweigen und bewundern.

Und was so ein plumpes Magisterlein vom Lande so glänzend zu Stande brachte, das sollte dem Manne reicher Wissenschaft unmöglich sein? Röber's ganzer Ehrgeiz flammte wieder auf; eine neue Angst ergriff ihn vor dem Tode mitten in einem noch verfehlten Leben. Erfülle einmal Deinen Beruf und dann stirb in Frieden! so rief es wieder und wieder in seiner Seele. Die Ruhe war ihm unerträglich geworden; er richtete alle seine Gedanken darauf, noch einmal irgendwie seine alte pädagogische Thätigkeit wieder aufzunehmen.

Allein vergeblich klopfte er an bei Magistraten, Curatorien und Schulcollegien; man bedauerte unendlich, verwies auf die wachsende Ueberfüllung auch in dieser Berufsklasse, ja, man lächelte ihm mit 270 schlecht verhülltem Spotte gerade ins Gesicht. Ein abgenutzter Karrengaul, der seine lahmen Glieder freiwillig wieder einspannen will!

Aber mit dem Widerstande wuchs seine Sehnsucht; er dürstete nach Arbeit, nach Erfolgen.

Da geschah es, daß der alte Schulmeister in Plassow selbst erkrankte und für längere Zeit vertreten werden mußte. Ohne Zaudern meldete sich Röber und erbot sich, die Vertretung für deren ganze Dauer ohne Entgelt zu übernehmen. Solchem Anerbieten vermag im Staate der Sparsamkeit keine Behörde, keine Gemeinde zu widerstehen; man erfüllte staunend sein Begehren.

So ward der gelehrte Historiker und Philologe, Oberlehrer Dr. Röber, ein Dorfmagister.

Mit jugendlich hoffendem Eifer betrat er die Stätte seiner neuen Wirksamkeit. Angethan mit Würde wie noch niemals schritt er einher, groß, stattlich, getragen, jeder Zoll ein Herrscher über die Seelen, ein wenig lächerlich sich selber zwar, doch sicher seines Eindrucks.

Und der Eindruck schien unverkennbar; eine ganze Viertelstunde lang ging Alles leidlich. Die schläfrigen Rangen waren noch nicht zum vollen Leben erwacht.

Doch freilich war's schon nicht mehr jene eherne Ruhe, jene willenlose Hingabe an die herrschende 271 Gewalt, nicht der geheimnißvolle Instinct des Gehorchens, den er so oft unter dem vorigen Scepter bewundert hatte. Hier und dort schon zuckte etwas empor wie ein unterirdisches Flämmchen, ein leiser Versuch eines lockern Sichgehenlassens, eines willkürlichen Handelns. Der Eine begann vorsichtig die Ellbogen auf den Tisch zu lümmeln; der Zweite schnäuzte sich lauter, als sonst Gebrauch gewesen; der Dritte verwechselte den Deckel seines Rechenbuches mit einer Trommel; der Vierte suchte den Tisch durch eingeschnittene Verzierungen runenähnlicher Gestalt zu verschönern; – und jetzt unternahm es ein Fünfter bereits, seinem Nachbar ein scherzendes Kläpschen zu versetzen, welches ein kleineres Thier bis etwa zur Größe eines Kaninchens unfehlbar getödtet haben würde, Jenen aber zu einem schmetternden Rachegeschrei begeisterte.

Röber goß ohne Furcht die Schale seines Zornes hierhin und dorthin aus: er scheute sich nicht, das schwanke Birkenreis weithin mit Freuden zu schwingen, denn er wußte, daß er eine solche Herzenserleichterung sich in der Dorfschule mit heiterer Sorglosigkeit vergönnen durfte. Allein die Wirkung seiner Thaten war doch verwunderlich gering: für jeden gerichteten Rebellen standen sogleich zwei kühne Rächer auf. Immer größer ward die Unruhe, immer häufiger die Störungen; rastlos mußte er 272 hin und wieder eilen und ohne Nutzen seine Kraft zersplittern. Ließ er links seine Wetter einschlagen, so erhob der Aufruhr rechts desto freudiger das Haupt. Als die Stunde sich ihrem Ende nahte, war die Klasse ganz Leben und Bewegung, vergleichbar einem Raubthierhause zur Fütterungszeit.

Röber mußte sich sagen, daß es noch langwieriger Anstrengungen und Versuche bedürfen würde, bis er seine erkannte Methode zur vollen praktischen Wirksamkeit durchgebildet haben würde. Doch er ließ sich nicht abschrecken; er wußte ja, was er wollte, er kannte sein Ziel und kannte seinen Weg.

So begann für den Siebzigjährigen nach kurzer Rast die Zeit der alten schweren Noth aufs Neue. Alle Tage die ewig gleiche Qual, Aerger, Demüthigung und hülfloser Kampf; nie eine Besserung, nie ein Ausruhen. Nur noch viel härter war der Kampf bei seinem Alter und der größeren Rohheit dieser Jugend.

Und doch glaubte er noch mehrere Wochen lang starr und zäh an den endlichen Sieg seiner Methode. Eines Tages aber machte er während einer Unterredung mit dem kranken Collegen eine ergänzende Entdeckung: mochte es Zufall oder Stimmung sein, es fiel ihm diesmal ganz besonders merkbar auf, wie unendlich tief dieser Dorfprophet von seiner 273 eigenen Würde überzeugt war, wie ganz durchdrungen von gläubig zufriedenem Stolze auf seine Person, seinen Stand, sein Wissen, sein Wirken, auf Alles, was sein war. Da ging ihm plötzlich eine neue Wahrheit auf: man muß selbst von Herzen glauben an seine Würde und Höhe – dann erst glauben daran auch die Anderen; nur der vermag die Menschen zu täuschen, der zuvor sich selber täuscht! Halte Du Dich für einen Propheten und Du bist einer; zweifle an Dir, und kein Zeichen noch Wunder wird Dir helfen; nicht einmal gläubige Kinder wird Deine Predigt finden.

Diese Erkenntniß warf ihn darnieder: dies Eine war ihm in der Welt das Unmöglichste, sich selbst für etwas Sonderliches zu halten. Die Kunst verstand er nicht, sein eigenes Bild mit einem Strahlenschein sich zu verklären. Er stand vor sich selber allezeit arm und klein, ein Stümper an Wissen und ein sündhafter Mensch vom Wirbel bis zur Zehe.

Jetzt gab er die Hoffnung auf, vor dem Tode noch seinen Beruf zu erfüllen, jemals die Herrschaft über das störrische Gemüth der Jugend zu gewinnen. Er ward nun wieder müde, bitterlich müde; all seine Sehnsucht ging entsagend nach Ruhe.

Allein der kranke College beeilte sich durchaus nicht, zu gesunden. Es gefiel ihm ausgezeichnet, sich vertreten zu lassen; auch er hatte Lust an der Ruhe, 274 und wer mochte es ihm verdenken? Alt genug war auch er und klapprig und abgetrieben erst recht. Dergleichen kommt bei Dorfschulmeistern vor.

Der alte Röber aber war nicht der Mann, eine einmal übernommene Arbeit bei Seite zu werfen; er vertrat ihn fort und fort mit gleicher Treue; er schleppte sein Elend weiter von Tag zu Tage, ein schwer verwundeter Krieger, der aus der Schlacht nicht weichen will, auch wenn er schon den Tod im Herzen fühlt.

Und er fühlte den Tod im Herzen; seine Kraft war gebrochen, sein Leben verzehrte sich. Eine Zeit lang merkte es Niemand im gewohnten Gleichmaß der Tage, wie seine Gestalt immer gebeugter, sein Gang immer mühsamer, seine Stimme immer zitteriger wurde. Eines Tages fand man ihn nach dem Unterricht ohnmächtig an der Schwelle seines Hauses.

Jetzt ward der Arzt geholt. Derselbe vermochte keine andere Krankheit zu entdecken, als marasmus senilis; er empfahl Stärkungsmittel und vor Allem unbedingte Ruhe. Uebrigens verhehlte er der Gattin nicht, daß es auch bei guter Pflege schnell genug mit ihm zu Ende gehe – nach menschlicher Berechnung. »Sicher ist, daß er nicht den kleinsten Stoß mehr verträgt,« fügte er hinzu. Als er von 275 der Lebensweise und Thätigkeit des Greises hörte, meinte er kopfschüttelnd:

»Dann haben ihn die Racker todt geärgert.«

Mit dieser klaren Diagnose entfernte er sich.

Am anderen Morgen war Röber durch keine Macht vom Schulwege zurückzuhalten, auch nicht durch die verzweifelten Thränen seiner Frau.

»Wenn ich nichts Anderes in meinem Berufe vermochte,« sagte er, »so will ich doch bis zum letzten Ende meine Pflicht thun. Ich will mir beweisen, daß es nicht meine Schuld war, wenn ich nichts leistete. Ich will mir Absolution holen für ein verfehltes Leben.«

Es war nichts gegen ihn auszurichten, er hatte heut ein so entschiedenes und stolzes Wesen, wie sie es gar nicht an ihm kannte. Mit Mühe setzte sie es durch, daß ein Knecht, den sie herbeirief, ihn begleitete und stützte.

Unterwegs erst merkte er selbst, wie schwach er war; die letzte Strecke mußte der Knecht ihn beinahe tragen.

Nun hatte er in diesen Tagen ein Enkelchen zu Besuch im Hause, ein bildhübsches kleines Mädchen; das hatte die Aussagen des Arztes unbemerkt mit angehört und sich im Stillen seine Gedanken darüber gemacht. Als es nun in der Frühe die wohlbekannten schlimmen Scharen der 276 Dorfjugend nach der Schule tölpeln sah, ward das Kind von einer zornigen Besorgniß ergriffen und faßte einen Entschluß. Mit einem kleinen Umwege den Großvater überholend, lief es vor das Schulhaus, steckte den Kopf durch das offene Fenster des Klassenzimmers und rief mit einem gellenden Stimmchen, das selbst das Morgengebrüll der rauhen Horde übertönte:

»Großpapa muß heute sterben. Und Ihr Racker habt ihn todt geärgert!«

Dieser seltsame Ruf und die unerwartete Erscheinung des goldigen Engelköpfchens am Fenster wirkte fast wie ein himmlisches Wunder. Der Lärm verstummte urplötzlich; durch alle Herzen zitterte ein schwerer Schauer, halb eine Ahnung von etwas Schrecklichem, halb ein noch dunkleres Empfinden; nicht Reue, aber ein dämmerndes Bewußtsein einer großen Sünde.

Das Schweigen dauerte fort, auch als der zornige Engel längst verschwunden war. Erst ganz allmälig begann ein Flüstern und Tuscheln sich wieder zu regen und langsam anzuschwellen. Vor dem Schall ihrer Stimmen aber wich der zarte Schauer mehr und mehr, und bald hatte der Lärm wieder eine leidliche Mittelhöhe erreicht; nur einige stillere Gemüther starrten noch andächtig dem lieblichen Kinderkopfe nach in die Lüfte.

277 Unter diesem Wechsel hatte der alte Röber mit seinem Begleiter sich langsam genähert. Als der Knecht die Stille bemerkte, sagte er verwundert:

»Wat is dat hüt mit uns' Takeltüg? Die schwigen jo rein still. Dor is wat nich in Richtigkeit. Wenn dat man wat Gods bedüd't!«

»Sie werden schon bald wieder lärmen, wenn ich nur erst drinnen bin,« versetzte Röber wehmüthig.

»Ja, dat 's ok wohr,« meinte der Knecht beruhigt, »un sie fangen nu ok so sacht all wedder an.«

Als die Beiden das Klassenzimmer betraten, ließ das Geschrei in der That nicht mehr viel zu wünschen übrig; der Knecht schleppte seine Last bis zum Katheder und machte sich dann schnell von dannen; er fühlte sich unbehaglich in dieser Umgebung.

Der alte Röber saß schwer athmend und wendete das müde Gesicht der Klasse zu; er versuchte zu reden, doch die Stimme versagte ihm noch.

Die Knaben aber blickten nach ihm hin und entsetzten sich, denn sie hatten ihn so noch nie gesehen. Ein Ausdruck feierlicher Stille erhöhte geheimnißvoll diese milden Züge; und die täppischen Seelen begriffen alle mit einem einzigen Blicke, daß er den Tod im Antlitz trug.

Da verstummten sie Alle noch tiefer als zuvor und schauten mit banger Ehrfurcht leise fragend zu 278 ihm auf. Und es ward eine Stille wie beim Vaterunser in der Kirche und blieb so lagern und ward nicht unterbrochen von dem leisesten Hauch.

Das blasse Gesicht aber verklärte sich mehr und mehr von Freude, und schien doch zugleich noch zu wachsen an Ernst und ruhiger Hoheit. Der Mann mußte wohl begreifen, daß er heute in sicheren Händen die Herrschaft über die heilig bangenden Kinderseelen hielt.

Er gewann seine Sprache nicht wieder; stumm faltete er die Hände und blickte die Kinder eines nach dem andern liebevoll an. Ein wunderbares Lächeln strahlte um seine Lippen, und manchmal rollte eine helle Thräne über seine Wange. Und die Kinder falteten auch die Hände, Alle, ohne Ausnahme, wie auf einen Befehl, und er konnte in ihren derben Zügen einen vollen Widerschein seines Lächelns und seiner Wehmuth sehen.

Lange, lange Zeit hindurch unterredete sich so der Lehrer stumm mit seinen Schülern, und es ist gewiß, daß sie einander verstanden haben. Der müde Mann hatte seine Methode gefunden.

Einmal versuchte er noch, sich höher aufzurichten und zu sprechen; doch da fiel sein Kopf schnell vornüber auf die Brust, und seine Schulter sank gegen die Ecke des Katheders. So blieb er sitzen, ohne 279 sich zu regen; sein Antlitz lächelte nicht mehr und weinte nicht mehr.

Die Knaben wußten Alle, daß er gestorben war. Und sie blieben bis zum Ende der Stunde unbeweglich mit gefalteten Händen sitzen, und nicht ein Flüstern ward laut in dieser wunderbaren Stille.

 


 


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