Hans Hoffmann
Das Gymnasium zu Stolpenburg
Hans Hoffmann

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Die Reise nach Athen

Die Sonne ging auf über Hinterpommern; oder sie versuchte es doch: entweder war sie nicht stark genug, den frostigen Herbstnebel ganz zu durchdringen, oder sie verzichtete freiwillig darauf, wohl wissend, daß sie doch nicht viel Sehenswerthes darunter finden werde. Wenigstens nicht in der Gegend von Stolpenburg; was es dort zu sehen gab, waren Chausseen von Pappeln wie von aufmarschirten Gensdarmen begleitet und Landwege, an denen die Weidenstümpfe gleich buckligen Bettlern herumkrochen, und dazwischen in langen, langweiligen Streifen Kartoffelfelder und Roggenfelder und Haferfelder und Kartoffelfelder; und alle diese Felder sahen aus, als habe man hier aus Versehen statt der Frucht zum größeren Theile Sand gesäet. Diese Landschaft schien den Nebel recht mit Vergnügen festzuhalten wie einen grauen Mantel, der doch ein wenig ihre Blöße bedeckte.

108 Der Oberlehrer Kanold war eben dem Bett entstiegen und blickte durchs Fenster hinaus in die zähen Dünste und die Schmutzlachen des schlechten Straßenpflasters darunter.

»Grau – grau – grau!« – murmelte er fröstelnd. »Und das habe ich ausgehalten sechsunddreißig Jahre lang! Sechsunddreißig Jahre im Nebel gepilgert!«

Er kehrte sich schnell herum, und ein merkwürdiges Leuchten verklärte sein faltenreiches Antlitz.

»Strahl des Helios, schönstes Licht,
Wie's der siebenthorigen Stadt
Theben nimmer zuvor erschien –«

declamirte er laut mit freudig bewegter Stimme und schaute dabei zur Decke empor, als ob aus deren kahlem Felde ihm dieses Licht beglückend entgegenglänzte.

Dann glitt sein Auge mit gesteigertem Ausdruck stillen Entzückens an den Wänden hin: sie waren geschmückt mit zahlreichen verkleinerten Nachbildungen antiker Marmorwerke, theils Zeichnungen oder Stichen, theils kleinen Relieftafeln in Gips; auch einige Standbilder waren angebracht. Das alles nicht eben Arbeiten kostbarer Art, zumeist wohl Trödelwaare von fahrenden Händlern erstanden, oder sonst in zufälligem Ankauf zusammengerafft, viele Stücke angestoßen, fleckig, halb vernichtet, 109 Fragmente noch einmal zu Fragmenten geworden.

Sein Blick blieb haften an der sandalenbindenden Nike von der Akropolis.

»Siegesgöttin, du geflügelte!« rief er mit feierlichem Ton. »Sei du meine Führerin! Geleite du mich aus dem Nebellande ans sonnige Ufer der Adria – Thalatta! Thalatta! – und weiter durch die ionische Fluth, an Maleas Klippe vorüber, an Felseninseln vorüber, bis endlich das hohe Gestade sich heb –

O könnt' ich hin, wo waldig des Berges Haupt,
Von Meerwogen umspült, sich hebt,
Unter Sunions hohen Fels,
Heilige Stadt Athenas, dir
Grüße zu senden!

Ja, ich komme, heilige Stadt! Sechsunddreißig Jahre der Sehnsucht sinken unter in dem einen großen Tag der Erfüllung!«

Er hob beide Arme begeistert empor, als wollte er sogleich auffliegen mit der anmuthumflossenen Göttin; und die Schöße und Aermel seines abgerissenen Schlafrocks schlotterten sonderbar um seine hageren und ungelenken Glieder.

Er selbst empfand dieses gefühlvolle Mitthun des unklassischen Kleidungsstückes als etwas Störendes und Verdrießliches; fast zornig zerrte er es herunter und warf es von sich mit der großen 110 Gebärde eines Prometheus, der seine Fesseln sprengt; und so, in Unterhosen und auf groben Socken schreitend, begann er ein räthselhaftes Thun.

Er öffnete vorsichtig ein wohlverschlossenes Schubfach seiner altfränkischen Wäschekommode, holte aus dem Hintergrunde ein großes Stück Zeug hervor, weiß, mit purpurnem Saum, entfaltete es bedachtsam und mit einer gewissen stillen Feierlichkeit und legte es nicht ohne Beschwerde und mühevolle Verrenkungen säuberlich um seinen Leib, daß der eine Zipfel mit zierlicher Troddel kunstgerecht über die Schulter herüberfiel. Solcherart mit dem hellenischen Chiton bekleidet, wandelte er stattlich und verklärten Angesichts im Zimmer auf und nieder, zuweilen mit feierlich verschämtem Blick am Spiegel vorüberstreifend.

Sehr bald jedoch empfand er wieder etwas Störendes: diesmal war es die eigene Person, die sich der klassischen Veredlung nicht fügen wollte. Sein Gang blieb schleppend, unsicher, wunderlich undulirend, die Haltung gebückt wie unter einer dauernden Rückenlast, jede Bewegung gebunden und dennoch haltlos: bei jedem Schritte fühlte er diese Unbeholfenheit, strebte sich aus ihr herauszuwickeln wie aus einem schlecht angepaßten Gewande und ward nur schwerer gezwängt von dem vergeblichen Bemühen.

111 Endlich that er den Chiton wehmüthig in die Lade zurück und stand in seiner skythischen Beingewandung still vor dem Gipsbilde eines Jünglings edelster Gestalt, der beschäftigt ist, die feinen, starken Glieder vom Staube des Ringplatzes zu reinigen; die Archäologen nennen ihn Apoxyomenos.

»Ich habe es freilich nicht erreicht,« seufzte er zu dem Bilde hin, »aus mir einen Menschen zu machen, einen schönen und guten nach hellenischem Sinne; die germanische Schwere hängt wie Blei in meinen Gliedern; aber dich, mein Wolfgang, Sohn meines Geistes, mein Alkibiades, dich habe ich mir heraufgebildet; du bist in meiner Hand geworden, was mehr als ein großes Kunstwerk gilt, ein ganzer Mensch, ein echter, unverkrümmter, der, selber schön an Leib und Seele, ein Herr im Geiste ist über alles Schöne der reichen Welt und ein Bildner des Schönen, ein echter Hellene aus deutschem Blute, ein edler Zeuge für die wundervolle Kraft der nordischen Natur, mit heißer Arbeit zu erringen, was doch die Götter nur als mühelose Gabe zu schenken scheinen, und die eigene derbe Tugend mit fremdem Adel zu durchdringen, zu verklären und glänzend zu erhöhen. Du bist es, der mir besiegelt, daß mein einsames Wirken im Dienste der Schönheit kein verlorenes war: und wenn ich in sechsunddreißigjähriger Arbeit nichts gewann als deine Seele, so 112 ist's genug, und ich bin zufrieden mit meinem Werke.«

Er warf noch einen Blick begeisterter Zärtlichkeit auf die stumme Gipsgestalt und fuhr dann fort, sich regelrecht anzukleiden, indem er zwischendurch an dem Packen eines großen und unförmlichen Koffers sich versuchte. Nach kurzer Zeit hatte er mit dieser Arbeit sowohl im Koffer selbst als auch im ganzen Zimmer eine so vollkommene Unordnung erzielt, daß er schaudernd stillstand, als ob er das orphische Urchaos vor sich sähe, und entmuthigt die Arme sinken ließ.

»Der Schuldiener muß es machen,« sprach er betrübt, »ich kann es nicht, und die Schwestern thun es nicht. Die armen Geschöpfe mißgönnen mir diese Reise.«

Er zog nun den Rock an, verließ das Schlafgemach und begab sich nach dem Frühstückszimmer.

In diesem größten Raume der bescheidenen Wohnung erwarteten ihn seine drei Schwestern. Sie saßen wohlgeordnet vor ihren Kaffeetassen, stippten, schlürften und bewahrten dazu ein unheimlich feierliches Schweigen. Von Zeit zu Zeit griff eine oder die andere nach dem Strickzeug, das auf ihrem Schoße lag, und strickte mit übellaunigem Nadelwippen zwischen der dritten und der vierten Tasse schnell einmal herum. Dabei warfen sie alle 113 sehr häufige siegesgewisse, doch nicht siegesfrohe Blicke nach der Thüre hin mit dem lauernden Ausdruck: »Ja, komm du nur!« Erinnyen an der Pforte des Tempelhaines lauernd. Ein Paris hätte Arbeit gehabt zu entscheiden, welche von den dreien die älteste, häßlichste und verdrießlichste sei.

Auch in diesem Zimmer fehlte es nicht an plastischen Bildwerken, doch sie waren alle mit dichten Gazeschleiern überzogen, daß von ihren Formen nichts mehr zu sehen war, theils zum Schutze gegen Staub und Fliegen, theils aus Rücksichten der Sittlichkeit. Vielleicht auch, daß die hellenischen Fremdlinge selbst gebeten hatten, ihnen den täglichen Anblick der Herrinnen und mancher anderen kaum minder unschönen Hausgeräthe zu entziehen oder doch abdämpfend zu mildern.

Der Oberlehrer trat herein mit ungeschickten, jetzt hastig anfahrenden, jetzt wieder zaudernden Schritten; doch auf dem faltigen Antlitz lag noch der Widerschein eines tiefen inneren Glückes.

Er bot verlegen-freundlichen Morgengruß, nahm Platz und tappte mit unsicheren Fingern an seiner Tasse herum. Das Schweigen dauerte fort, vertiefte sich, lastete schwüler; keine Nadel mehr klapperte, kein Löffel klirrte;. ein eisiger Hauch schien durch den Raum zu wehen und den molligen Kaffeeduft langsam würgend abzutödten.

114 Die Haltung des Hausherrn ward unsicherer, gequälter mit jeder Secunde; die olympische Heiterkeit schwand spurlos von seiner Stirn. Er warf einen heimlich betenden Blick in die Zimmerecke, wo Athena Proxenos, die Schirmerin des umgetriebenen Orest, eine schüchterne Aufstellung, Lanze bei Fuß, genommen hatte: allein auch sie vermochte den blauen Fliegenschleier weder Hülfe gewährend noch Hülfe winkend zu durchdringen. Der Oberlehrer Kanold fühlte sich ganz allein.

Er bemerkte jetzt, daß irgend ein unbequemer Zufall ihn gegen alle Gewohnheit ganz einsam an die eine Langseite des großen Tisches verwiesen hatte, während die Schwestern in einer, ihm schien unabsehbaren Linie ihm gegenübersaßen. Hier der Angeklagte, dort der Areopag, doch dieser wider alles menschliche Recht aus Erinnyen zusammengesetzt. Athena Proxenos verhielt sich schweigend.

Er ließ einen rührenden Blick voll zusammengedrängter Unbefangenheit über die drei stummen Gesichter gleiten: er fand keine Spur eines Zornes, einzig den Ausdruck eines tiefen, stillen, allgemeinen Leidens.

»Es ist doch ein sonderbares Ding um jedes Abschiednehmen,« bemerkte er schüchtern im Anschluß an diese Beobachtung; er entfesselte einen schweren Windhauch von Seufzern.

115 »Mir scheint, er weiß sich kaum zu lassen vor Freude, daß er uns los wird!« sprach die Erste düster, mehr zu sich selbst als zu den Schwestern redend. Sie glich dabei auffallend einer altniederländischen Schmerzensmutter furchtbar unklassischer Stilrichtung.

»Daß er seinen Lüsten nachgehen kann und uns hier im Elend läßt!« fügte die Zweite in verschärfter Tonart hinzu mit einem sanften Verziehen des Mundes, als ob sie eben ein Chininpulver auf der Zunge hätte und dazu glauben machen wollte, es schmecke köstlich.

»Sechsunddreißig Jahre haben wir mütterlich für ihn gesorgt!« klagte die Dritte, indem sie mit dem Strickstrumpf eine Thräne in den winzigen grünen Aeuglein zu zerdrücken vorgab.

»Und nun treibt er feigen Selbstmord und stürzt sich unter die griechischen Räuber!« brummelte die Erste wieder. Ihre Nase war lang und spitz wie ein türkisches Minaret.

»Warum haben wir auch diese albernen Spielereien mit den nackenden Götterpuppen immer geduldet!« rief die Zweite mit einem giftigen Blick auf eine verwundete Amazone, die hinter ihrem blauen Gewölk sogleich noch tiefer zusammenzuknicken schien.

»Alle Menschen machen sich lustig über diese quackeligen Abgöttereien«, ging der Klaggesang weiter 116 aus dem Munde der Dritten. Sie hüpfte dabei ein wenig auf ihrem Stuhle in einer eigenen Art, ungefähr als wenn eine strenge Hofetiquette sie veranlaßt hätte, auf einer Aloe Platz zu nehmen.

»Seine Herren Collegen am allermeisten,« tönte die Gegenstrophe.

»Der Herr Director sagt, das Zeug zerstreut die Jungen nur und stört den Ernst der Wissenschaft. Ich aber sage, es verderbt die Jugend bis ins Mark.«

»Man sieht es an unserm Herrn Bruder. Was ist das Ende vom Liede? Daß er zu den Griechen und Türken geht, das bißchen Geld verquast und natürlich mit einem Harem wiederkommt!«

»Geschlachtet werden wir auf dem Altar dieser Kindereien. Ich habe es aber immer geahnt, daß unser Unglück von daher kommen müßte, schon als Kind, wo diese türkisch-griechische Halbinsel immer so zackig und verderblich aussah. Wie eine Geierkralle, richtig wie eine Geierkralle. Und dann diese greulichen Namen, ordentlich unanständig. Philippopel und so was – da wird er natürlich auch hingehen!«

Ein Schweigen des Schauderns oder der Entrüstung trat ein. Fünfzehn Stricknadeln klimperten krampfhaft gegen einander wie zerborstene Armesünderglöcklein in trüber Ferne.

Auch Kanold saß eine Weile schweigend und blickte starr die grollenden Gesichter eines nach dem 117 andern an. Ihm war zu Muth, als sähe er eine vernebelte Sumpflandschaft.

»Und das habe ich ausgehalten sechsunddreißig Jahre lang!« wollten seine Lippen hauchen; er verschluckte das laute Wort, doch eine tiefe Bitterkeit durchzuckte seine scharfgeschnittenen hageren Züge. Langsam stand er auf, durchmaß ein paarmal das Zimmer heftig undulirenden Ganges, die Hände in den Hosentaschen, mit augenscheinlich dringender Zertrümmerungsgefahr entweder für seine gespreizten Ellenbogen oder für alle andern schwächeren Gegenstände. Vorläufig fiel ihm zum Glück nur ein Wandleuchter zum Opfer. Plötzlich hastete er, von einem neuen Gedanken ergriffen, mit langen Schritten, man könnte fast sagen kopfüber, aus der Thür.

Er trat in seine Arbeitsstube. Dem Eintretenden gegenüber stand auf dem ärmlichen Schreibpult das große Bild der Juno Ludovisi. Er hemmte seinen Schritt und staunte mehrere Minuten lang stumm in die eherne Seligkeit dieses Antlitzes. Und dann war in seinen eigenen Zügen Friede geworden.

»Sie wissen es nicht anders, die Armen,« sagte er leise, »sie haben keine Götter.«

Ruhig entnahm er aus einem verschlossenen Fache des Pultes ein großes Wirthschaftsbuch nebst verschiedenen andern umfangreichen Papieren und 118 begab sich gebändigten Schrittes in das Kaffeezimmer zurück.

Jetzt stand er hochaufgerichtet an der leeren Langseite des Tisches wie ein mild zürnender Lehrer vor Schülerinnen, die aus Unbedacht, nicht aus Schlechtigkeit gesündigt haben. Als er zu reden begann, geschah es im Tone eines freundlichen Berathers.

»Ihr habt Recht,« sagte er, »ich bin Euch Rechenschaft schuldig. Als Scipio der Veruntreuung von Staatsgeldern angeklagt ward, verbrannte er seine Bücher vor allem Volke, und das Volk jauchzte ihm zu. Ich aber bin kein siegreicher Held: hier sind meine Bücher. Vor sechsunddreißig Jahren trat ich mein Amt hier an; Ihr zoget in mein Haus; mein Gehalt betrug fünfhundert Thaler; von diesem Einkommen haben wir vier Menschen gelebt; Ihr verstandet es einzurichten. Aber doch war es ein klägliches Dasein, lichtlos, dumpf und zerdrückend; ein knechtisches Leben, ohne Würde und ohne Glück; für mich unerträglich. Auch ein zäher Baum vermag nicht lange zu grünen ohne einen Schimmer von Sonne: und ich habe vor tausend Andern all mein Leben lang nach Sonne und Schönheit gedürstet. Ich wäre zusammengebrochen ohne einen Schimmer von Hoffnung. Doch ich wußte mich zu wahren. Unter dem trüben Himmel 119 jener Tage erzeugte ich mir zuerst die große Hoffnung, die mein rettender Anker ward, mein Leitstern, mein einziges Glück: die Hoffnung, dereinst an meinem Lebensabend das Land der Hellenen mit eigenem Fuße zu betreten, vor den Tempeln Athens und ihren Marmorgöttern meine Augen beten zu lassen. So habe ich ausgehalten. Kein leeres Spielwerk war es, daß ich den Vers in Goldschrift über meinen Arbeitstisch hängte:

O könnt' ich hin, wo waldig des Berges Haupt,
Von Meerwogen umspült, sich hebt,
Unter Sunions hohen Fels,
Heilige Stadt Athenas, dir
Grüße zu senden.

Mein Leben war ein langer, öder, mühevoller Weg auf der schroffen Kante eines unfruchtbaren Gebirges: doch von der einsamen Höhe sah ich unverdeckt vor mir beständig das goldene Ziel tief unten am Ende des Thales im Strahl der Abendsonne. Das war meine Hoffnung, mein Glaube, meine Andacht, mein Gebet; davon lebte ich und nährte ich meine Kraft; auf anderes Glück des Lebens, auf Weib und Kind und Liebe mußte ich verzichten. So habt auch Ihr wohl Grund, mir dieses Spiel der gedrückten Seele zu Gute zu halten: ich wäre ohne das nicht fest geblieben auf meinem Posten.

Mit welcher Art Verschwendung ich das Geld 120 für diese Fahrt erübrigt habe, sollt Ihr erfahren: ich trug alljährlich den hundertsten Theil meines Einkommens auf die Sparkasse und ließ die Zinsen und Zinzeszinsen stehen; in den ersten Jahren je fünf Thaler, dann sechs, dann mehr, im letzten Jahre fünfundvierzig Mark. So habe ich im Laufe der Zeit mein Reisegeld gesammelt; es brauchte sechsunddreißig Jahre, doch es ist gesammelt. Inzwischen schämte ich mich, vor Euch etwas voraus zu haben, und ich machte die gleiche Einlage jährlich für Jede von Euch; hier sind die Sparkassenbücher; durchmustert sie: es ist vier Mal die gleiche Summe. Ich hatte Euch diese stillen Maßnahmen verheimlicht; vielleicht that ich Unrecht daran: ich traute Euch die Kraft der Geduld nicht zu, dem schleichenden Wachsthum dieses Sümmchens mit Freuden zu folgen.

Ich selbst vermochte das mit meiner Hoffnung im Herzen; ich hatte die zähe Lust des Försters, der junge Eichen wachsen sieht. Mit jedem Jahre ward mein Harren fröhlicher: ich konnte die Stationen der künftigen Reise Schritt für Schritt mit meinen Zahlen erreichen. Ich überschritt die Grenze nach Oesterreich, die Grenze nach Italien, ich sah das adriatische Meer, ich schiffte mich ein und kam nach Brundusium, nach Kerkyra; nach dreizehn Jahren schon vermochte ich auch die Ueberfahrt bis 121 Athen in baarem Gelde zu bezahlen. Damals befiel mich eine erste Versuchung: Reise ab, laß Alles im Stich, dies Leben ist nicht des Lebens werth, sieh Athen und stirb! Stirb wie Faust, wenn du zum Augenblicke sagen kannst: Verweile doch, du bist so schön!

Doch ich widerstand und ließ die Eiche weiter wachsen. Nach zwanzig Jahren hatte ich das Geld auch für die Rückfahrt beisammen; jetzt, da ich des Zieles sicher war, jetzt ward mir's leicht zu warten, um mir die Zeit des Aufenthaltes zu verlängern. Noch vier Jahre weiter, und ich konnte einen Monat dort verweilen; und noch sechs Jahre, und ein halber Winter war gewonnen. Das war genug, um das zu erwerben, was ich brauchte, nur mehr, als die Neugier des kalten Reisenden verlangt, genug, mein Herz für den Rest des Lebens ganz mit hellenischer Schönheit, hellenischer Sonne zu durchtränken. Schon damals, vor nun sechs Jahren, wäre ich gereist – da lernte ich den jungen Wolfgang Freyhold kennen, der alsbald, Ihr wißt es, mein Lieblingsschüler wurde, fast könnte ich sagen, mein einziger Schüler. Ihr wißt es und habt es nicht immer gebilligt, daß ich, wie Ihr meintet, zu viel für ihn that, meine Zeit an ihn verschwendete. Doch das war die Verschwendung des Sämanns, der sein Saatkorn in einen fetten Fruchtboden wirft. Mein 122 Herz ergriff ihn mit ganzem Feuer von Anfang an. Er war ein wilder Knabe, da er in meine Klasse trat, doch seine Wildheit hatte nichts Rohes, nichts Ungebärdiges, sie war schön wie die erwachende Ueberkraft des jungen Löwen. Und eins vor Allem erkannte ich schnell an ihm, das allen andern dieser Knaben versagt war: es war ihm gegeben, schön zu staunen. Das aber ist die erste Pforte, die zur Erkenntniß des Schönen führt, und die breite Mauer, die ausschließt vom Tempel, ist jene arme Klugheit, die nicht zu staunen vermag. Das helle Auge dieses Knaben sah ich groß aufgethan den Wundern der Welt entgegenglühen; und ich fühlte, daß dieser vor Allen, die ich kannte, geschaffen war, ein schöner und guter Mann zu werden, ein Mensch, wie die Griechen ihn wollten, dem das Böse fremd bleibt, weil es häßlich ist, und der das Häßliche haßt, weil es ihm das Böse ist.

Ich gewann es nicht über mich, vom Platze zu weichen, bis ich diese Seele mir gewonnen und ganz gefestigt hätte; er sollte mein Sohn werden im Geiste, in ihm sah ich meine Zukunft und zweite Jugend, er sollte dereinst erreichen und verkörpern, was mir versagt geblieben. Sechs Jahre noch habe ich ihm gewidmet. Ich zog ihn an mich und suchte den jungen Geist zu nähren mit edelster Kost, ihn ruhig wirkend bis ins Mark zu durchtränken mit 123 der geräuschlosen Begeisterung, die nicht schwankt und nicht versiegt und die der Kern eines schönen Lebens ist. Und Ihr wißt auch, ich durfte des besten Gelingens mich rühmen; der Jüngling vergalt mein Bemühen mit dem Edelsten, das er geben konnte, mit dem rückhaltlosen Hineinwachsen seines jungen Geistes in meine Gedanken. In ihn allein vermochte ich ganz den seelenlösenden Quell aus dem Sonnenlande der Hellenen hinüberzuleiten, ihn ganz zu durchklären mit dem echten Geiste der Antike, welcher ist nichts Anderes als der heilige Geist der Schönheit, der durch alle Adern des hellenischen Lebens strömt und aus allen Poren sickert, der Geist des Maßes und der Anmuth, des Adels und der Stille, der Heiterkeit und Gesundheit, des freien Handelns und des kräftigen Genießens: denn das Alles und noch viel mehr ist zusammenzufassen in dem einen holden Worte Schönheit. Er hat es gelernt in unablässiger Arbeit, was sonst die große Völkermutter, ihr Füllhorn an Gaben überreich über uns nordische Germanen ausstürzend, allein uns versagte, den Sinn für das Maß und die freie Lust an der Schönheit. Jetzt ruht auf ihm meine Hoffnung sicher aus; darf ich da klagen, wenn vielleicht an etlichen Tausenden der Andern meine Arbeit fruchtlos war? Geht es doch sogar dem Schöpfer selbst nicht anders: kaum daß auf Tausende ihm 124 einmal ein rechter Mensch gelingt! Dieser Eine bleibt mir; wer sollte seine Seele mir jetzt noch rauben, da ich sie so weit hinausgeführt denen Allen zum Trotz, die hier meine Widersacher sind, der Trägheit zum Trotz, dem Unverstande und feindlicher Meinung. Wie sollte ich also bereuen, daß ich ihm sechs Jahre gewidmet? Jetzt freilich, da er geistig versorgt und sicher gestellt ist, da er seit einem Jahre schon draußen im Leben weilt, ein wachsender Künstler voll Kraft und Hoffnung, jetzt habe ich die Arme frei, jetzt darf ich an mich selber denken. Ich bin sechzig Jahre alt; es ist spät genug, ein längeres Zögern zu verbieten, noch nicht zu spät, das Heimweh meines Lebens herrlich zu stillen. Mein Kapital ist inzwischen gewachsen; das Höchste ist erreicht, das ich mir träumen konnte, ich darf vom Herbst bis zum Frühling mich der goldenen Wintersonne des Südens erfreuen, ohne Euch das Geringste von dem früher Genossenen zu entziehen. Mein Urlaub ist bewilligt, der Vertreter bestellt: den größeren Theil meines Gehaltes bezieht Ihr weiter, ein Drittheil nur habe ich Jenem abzugeben: das genügt bequemlich, Euch ohne mein Mitzehren das gewohnte Leben weiter zu ermöglichen. Es ist kein Unrecht, nach langer trüber Pflichtarbeit ein eigenes edles Glück zu suchen, zumal wenn dies Glück die 125 sichere Kraft besitzt, die müde Brust zu neuer Last und Arbeit zu erfrischen.«

Diese Rede hielt der Oberlehrer Kanold im Tone schlichter Wahrhaftigkeit als eine fachliche Darlegung, wenn auch die Gewohnheit, von erhabener Stelle aus unwidersprochen zu Geringeren zu reden, manchem seiner Sätze ein etwas lehrerhaft gefärbtes Pathos lieh.

Als er die unter dem Sprechen gesenkten Augen nun aufhob, um den Eindruck seines Rechenschaftsberichtes festzustellen, sah er die drei Strickzeuge in gedrückter Haltung und gleichsam zerknirscht auf dem Tische liegen, die Schwestern aber hatten die ausgetheilten Sparkassenbücher mit schweigender Gier ergriffen, hielten sie scharf in gekniffenen Fingern, studirten schnüffelnd darin herum und begannen halb neidische und mißtrauische Blicke Jede nach den gleichen Heften der Anderen hinüberzublinzeln.

Bei diesem Anblick wandte sich Kanold jählings ab, riß im Vorüberschreiten mit den Rockschößen zur Rechten wie zur Linken je einen Stuhl zu Boden und entkam in sein Arbeitszimmer. Er ließ sich schwerfällig in seinen Sessel sinken und murmelte trübe vor sich hin:

»Sie ahnen nicht, daß mir der Kampf mit ihren götterlosen Seelen hier allezeit das Schwerste 126 war. Doch auch das ist überstanden; noch vor Abend bin ich erlöst zu langer Freiheit im Sonnenschein.« – Er raschelte noch ein wenig in seinen schon zehnmal geordneten Papieren herum, als ein schwerer und doch bescheiden an sich haltender Schritt auf dem Flur vernehmbar ward. Es klopfte, und der Schuldiener Eichler trat herein, ein schwerer, ernsthafter Mann in dienstlicher Haltung. Er trug eine große Mappe unter dem Arm, die er zur Erde setzte und gegen die Wand lehnte, ohne daß Kanold darauf achtete.

»Ich habe eine Bitte an Sie, lieber Eichler,« sagte dieser. »Verstehen Sie zu packen? Koffer zu packen?«

»Herr Oberlehrer, ich war doch Offiziersbursche, ehe ich Unteroffizier wurde,« versetzte der Schuldiener eifrig, »und was glauben Sie wohl, was solche Herren Lieutenants von der Cavallerie Alles einzupacken haben! Da verlassen Sie sich ganz auf mich, Herr Oberlehrer. Wollen Sie denn auf lange verreisen?«

»Für den ganzen Winter,« sagte Kanold, »und zwar mehrere Huudert Meilen weit. Wir werden also mit großer Umsicht packen müssen.«

Der Schuldiener machte ein äußerst erstauntes Gesicht.

127 »Sie, Herr Oberlehrer – das ist aber merkwürdig,« sagte er fast vorwurfsvoll und unbeschadet des strammen Respects mit einer gewissen dienstlichen Strenge, »und wir haben noch keine Meldung –! Ich und der Herr Director wenigstens mußten doch wissen –«

»Lassen Sie gut sein, lieber Eichler,« unterbrach ihn Kanold lächelnd, »diesmal ist es keine Vergeßlichkeit. Ich habe absichtlich noch geschwiegen und ersuche auch Sie, von Ihrer Kenntniß nichts verlauten zu lassen. Meine schriftliche Meldung wird unmittelbar nach meiner Abreise eintreffen; im Uebrigen habe ich meinen Urlaub und meinen Vertreter und bin frei in meinem Kommen und Gehen. Ich ließ die Collegen alle bei dem Glauben, daß ich nur Erholung und Muße zum Studiren hier am Orte suche: ich fürchtete ihre ungeschickten Rathschläge und Abmahnungen, und ich wollte ohne Abschied reisen, um keinerlei Bedauern heucheln zu müssen. Auch meinen Schwestern habe ich den Entschluß erst gestern Abend kundgethan. Es würde hier doch keiner begreifen, was mich in die Ferne treibt; sie haben Alle einen andern Geist als ich. Sie möchten die Achseln zucken und spötteln über die zwecklose und verschwenderische Fahrt; sie schlafen zu Hause ja weicher und haben ihre Grammatik bequemer zur Hand und träumen süß von 128 unregelmäßigen Verben; auch sorgen sie treuer für ihr Weib und ihre Kinder; ich bin es müde, mit ihnen zu streiten; was bedarf ich ihres Beifalls? Mögen sie immer –«

Er brach hier plötzlich ab, merkend, daß er sich an falscher Stelle von seiner stillen Bitterkeit hinreißen ließ, und fügte nur noch die kurze Frage hinzu:

»Wollen Sie mir also packen helfen?«

»Zu Befehl, Herr Oberlehrer. Wo ist der Koffer?«

»Dort im Schlafzimmer.«

Er öffnete die Thür, welche unmittelbar dahineinführte, trat mit Jenem ein und wies nicht ohne Niedergeschlagenheit auf den weiten Irrgarten hilfloser Gegenstände.

»Das mußte Alles dort hinein,« sagte er im Tone stiller Verzweiflung.

»Wird schon gehen,« meinte Eichler und begab sich sofort an die Arbeit. Mit erstaunlicher Schnelligkeit verschwand ein Stück nach dem anderen in den Tiefen des ungefügen Koffers, und vergebens bemühte sich Kanold, durch allerlei Handreichungen und Anweisungen den raschen Mann in Verwirrung zu setzen und aufzuhalten.

Als die Arbeit in der Hauptsache für vollendet gelten konnte, ließ Eichler noch einen ruhig 129 forschenden Blick im Zimmer umhergleiten und fragte auf einmal:

»Aber was wird denn aus Ihren schönen Gipspuppen, Herr Oberlehrer?«

»Ich werde dort die marmornen Körper finden statt dieser ihrer Schatten,« entgegnete Kanold heiter.

Der Schuldiener verstand die Rede nicht und schüttelte den Kopf.

»Aber es ist doch schade drum,« meinte er, »ich hab' es schon öfter gesehen, die Fräulein Schwestern stoßen doch manchmal ganz gerne ein bißchen mit dem Besen dran. Und so was gibt mir immer einen Stich ins Herz.«

»Sie haben also ein Herz für diese Kunstwerke?« fragte Kanold mit froher Verwunderung und blickte dabei den Schuldiener an.

»Ach Gott, Herr Oberlehrer,« antwortete Eichler ruhig, »sehen Sie, verstehen thue ich ja nichts davon. Aber erstens weiß ich doch, wenn Jemand mal sein Herz an solche Schnurrpfeifereien hängt, dann hängt er es ordentlich dran. Meistens ist es ja sonst was Lebendiges, wie zum Beispiel meine weißen Mäuse; die könnte ich nicht allein lassen, weil doch Niemand richtig für sie zu sorgen versteht, und darum bin ich unabkömmlich und muß alles Reisen aufstecken. Und zweitens weiß ich, daß es mit den Puppen so zu sagen eine Bewandtniß 130 hat. Ich weiß es, weil ich es geradezu in meiner Jugend selbst erfahren habe.«

»Und wie das?« fragte Kanold aufmerkend und lebhaft.

»Es war da hinten in Ostpreußen,« berichtete der Schuldiener wichtig, »nämlich auf einem Rittergut, mit den Remontepferden, die ich da abholen mußte. Das heißt mit den Pferden hat es nichts zu thun, sondern nur scheinbar. Es ist nämlich ein wunderschönes weißes Schloß mitten in einem Blumengarten mit Teichen und Laubengängen, und der liegt wieder mitten in einem dicken schönen Walde. Und in dem Schloß sind viele großmächtige weiße Säle mit lauter eben solchen wunderschönen Puppen, wie Sie hier haben, Herr Oberlehrer, bloß viel größer und zehnmal so viele. Und an demselbigen Tage, wo ich da war, kamen eine Menge Leute zum Besehen zu Wagen und zu Pferde und sogar zu Fuß, wohl über hundert Bauern und dann auch Handwerker aus den Städten da herum und sogar auch einige ganz anständige Herrschaften. Und daran merkte ich erst, daß hier eine Merkwürdigkeit vorhanden sein müßte. Denn daß diese Bauern nicht zum Pferdekaufen kamen, hatte ich mit zwei Blicken weg, denn sie sahen nicht schlau aus, sondern still und unbewußt, als wenn sie in die Kirche gingen. Und da ging ich mit ihnen zusammen und 131 kam in die weißen Säle. Und da gingen wir nun Alle langsam dazwischen herum auf Filzschuhen, die wir anziehen mußten, damit wir keinen Lärm machten mit den Stiefeln. Und nun gingen auch Alle so leise und heimlich und machten solche fromme Gesichter. Jetzt aber wirklich ganz und gar, als wenn sie in der Kirche wären. Und die Wahrheit zu sagen, geradeso war mir auch zu Muth. Aber zu predigen war nicht mehr nöthig, denn die weißen Puppen kamen uns alle vor, wie lauter überirdische Erzengel, und wer mag da noch eine Predigt hören von einem gewöhnlichen Pastor? Wenn aber Einer einen Vers aus dem Gesangbuch hätte anfangen wollen, hätten wir wohl Alle ordentlich mitgesungen. Bloß daß es vor Respect doch Keiner gewagt hat. Und wenn das Abgötterei gewesen ist, dann soll man so was nicht da so hinstellen. Und sehen Sie, Herr Oberlehrer, von dem Tage her hängt mir noch immer ein bißchen so was an für diese kunstreichen Sachen. Und Ihre hier haben mich immer gefreut; schon allein diese Reiter da: Kürassiere sind's ja nicht und nicht mal Dragoner: aber daß sie so flott ohne Steigbügel reiten, wissen Sie, das ist doch schon was für solche alte Zeiten. Richtig, Beynuhnen hieß das Gut, und ich habe mir öfter gedacht: so was müßten 132 wir hier in Hinterpommern auch haben. Ist aber nicht.«

Kanold lächelte wehmüthig. »Die Götter suchen Rosen und nicht Kartoffeln,« sagte er, »aber ich danke Ihnen, lieber Eichler, Sie haben mich erquickt. Ich habe solchen Glauben in Israel nicht gefunden. Ich stand hier allezeit allein mit meinen Freuden; um mich her sah ich Gesichter, die nichts von solcher Andacht wußten. Von Schülern ward ich selten verstanden, von Erwachsenen nie.«

»Ja wahrhaftig, Herr Oberlehrer,« unterbrach ihn der Schuldiener, »das muß eine verzweifelte Sache sein, den Jungens solche Feinheiten einzuremsen. Und glauben Sie mir, es wird doch nichts daraus. Alles weggeworfene Arbeit. Nehmen Sie mir's nicht übel, aber Sie haben mir immer leid gethan mit Ihren Mühseligkeiten. Es hilft doch Alles nichts. Ich kenne die Jungens doch besser und mehr aus der Nähe als die Herren Lehrer alle, und ich sage Ihnen: was die Menschen sind, die bleiben schließlich doch immer gerade so dumm, als sie von Anfang an gewesen sind, höchstens, daß Mancher ein bißchen klüger reden lernt als Mancher.«

»Guter Eichler,« fiel Kanold ernsthaft ein, »auf reiche Ernten darf freilich nicht rechnen, wer in diesem Lande Rosen säet. Es ist Dünensaat. 133 Gehen Sie hinaus an die Ostsee und sehen Sie, wie dort gepflanzt wird: dürre Hälmchen schleichen im Flugsande hin, Strandhafer und Dünengras, die unansehnlichsten Pflanzen, auch sie alltäglich kämpfend um ihr armes Leben, die meisten verkommend. Aber doch schieben sie in ungesehener zäher Arbeit ihre Wurzeln weiter, erobern den Boden und verwandeln das Erdreich. Nach einem Jahrzehnt vielleicht schon birgt sich eine Kiefer zwischen dem öden Gesträuch und erkämpft ihr Dasein, noch zwar verkrüppelt und sturmzerzaust, doch so auch andern ihres Geschlechtes das Feld bereitend. Und nach Menschenaltern arbeitet ein trotziger Hochwald sich recht mitten aus der stäubenden Wüste heraus. – Das war mein Vorbild und meine Hoffnung; wer Strandhafer säet, baut künftigen Wald: ich wäre zufrieden gewesen, hätte ich auch nie ein anderes Gewächs gesehen. Mir aber ist es besser geworden, unendlich viel besser. Ich habe einen Blüthenbaum im Sande erwachsen sehen mit eigenen Augen. Betrachten Sie dieses Bildwerk hier, lieber Eichler – fällt Ihnen nicht eine merkwürdige Aehnlichkeit ins Auge?«

Er deutete auf seinen Apoxyomenos, den er selbst, die Hände auf dem Rücken in einander gelegt, mit neu bewundernden Blicken betrachtete.

»Nein, Herr Oberlehrer,« sagte Eichler nach 134 gründlicher Untersuchung, »ich finde wahrhaftig keine. Aber das ist kein Wunder; wer hat die Leute denn auch alle gleich beim Baden gesehen?«

»Erinnern Sie sich deutlich unseres ehemaligen Primaners Wolfgang Freyhold? Doch ohne Zweifel. Nun, diesem scheint mir das Bild wie aus den Augen geschnitten. Betrachten Sie es noch einmal.«

Eichler schüttelte den Kopf. »Richtig wird es mit der Aehnlichkeit ja wohl sein, wenn Sie's sagen,« meinte er bescheiden, »aber sie muß wohl ein bißchen sehr tief inwendig sitzen, daß Unsereiner sie nicht finden kann. Ich muß schon sagen, eine gute Photographie würde mir lieber sein.«

»Gehen Sie mir mit dieser erbärmlichen Afterkunst!« rief Kanold ganz heftig, »diesem roh mechanischen Werkzeug einer entgötterten Zeit! Freilich auch allein das rechte Werkzeug einer Zeit, die in geistloser Selbsterniedrigung selbst in der Kunst zum gemeinen Wirklichen sich hinwirft, zu träge und zu blind, mitten durch all den Wust des schmutzig Alltäglichen die ewig lebendigen Götter schreiten zu sehen. Wohl ist es wahr, dem unbereiteten Sinne ist die wirre Fülle der Natur in der dreisten Frische ihrer Farben um Vieles leichter zu ergreifen, als die eingedämmte stille Welt der Schönheit – doch lernet schauen, Ihr Thoren, nicht wie die Kinder, die nach dem Nächsten greifen und darüber hinaus 135 nichts kennen, sondern wie Männer, die Höhen und Tiefen zugleich überschauen und tief im Wirrsal der Welt die ewige Eintracht erkennen –«

Hier stockte er, indem ihm zum Bewußtsein kam, daß er in seinem Eifer anfing, den unschuldigen Schuldiener für einen Gegner zu nehmen und mit feurigen Augen zu bedrohen. Der unerschrockene Eichler aber meinte gutmüthig:

»Ja, ja, ich verstehe schon, wen Sie meinen, Herr Oberlehrer. Der junge Herr Doctor vom physikalischen Zimmer und den andern Naturgeschichten hat Sie immer so angeärgert mit seinen Redensarten und Ihnen die Jungens abspenstig gemacht. Und so was kann Einen schon wüthend machen. Das ist gerade, als wenn man dabei ist, einen Pudel gut abzurichten, und es kommt Einer von der Seite und wirft dem Vieh eine Wurst vor die Nase, daß es von seiner Pflicht abgelenkt wird und danach schnappen muß. Und dann kriegt das arme Thier nachher die Prügel.«

Kanold lächelte und war ernüchtert.

»Ja, ja,« sagte er, »der Herr College hat mir manche Frucht zerstört. Er war mir überlegen, weil seine Arbeit leichter war: das Häßliche hat hundertmal mehr Bekenner als das Schöne. Doch Einen hat er mir nicht verderben können, der bleibt mein, den ich mir ganz erzogen habe mit allen 136 meinen Kräften: ich hatte keinen Sohn, und er hatte keinen Vater mehr: es ist uns beiden geholfen worden. Ich habe ihm mehr noch zu danken als er mir; ich wäre verkümmert in geistiger Versandung ohne ihn. Von ihm will ich noch Abschied nehmen; ich hätte schon gestern reisen können, doch ich vermochte es nicht, ehe ich ihn noch einmal gesehen. Ich erwarte den jungen Freyhold heute, er will einige Wochen bei seiner Mutter verbringen –«

»Ja so, Herr Oberlehrer,« fiel der Schuldiener lebhaft ein, »darum komme ich ja auch eigentlich eben her. Der junge Herr Freyhold ist vor einer Stunde angekommen; ich hatte zufällig auf dem Bahnhof zu thun, und er bat mich, diese Mappe zu Ihnen zu bringen; er wollte nur schnell zu seiner Mutter heranspringen und dann zu Ihnen kommen – hier steht die Mappe.«

Kanolds Augen leuchteten.

»Ich danke Ihnen, lieber Eichler,« sagte er, »und ich sehe, Sie sind fertig mit dem Packen. Sie haben mir einen großen Dienst geleistet, ich hätte es nie zu Stande gebracht. Und wenn Sie mir etwa heute Abend noch auf dem Bahnhof behilflich sein wollen, wird mein Dank sich verdoppeln. Inzwischen schweigen Sie noch, nicht wahr, gegen Jedermann. Auch der junge Freyhold weiß noch 137 nichts von meiner Reise. Ich möchte es ihm selber sagen; er ist der Einzige, der mich ganz versteht.«

»Zu Befehl, Herr Oberlehrer!« Der Schuldiener entfernte sich nach militärischem Gruß, und Kanold blieb allein.

Nach einem befriedigten Rückblick auf den reisefertigen Koffer trat er ans Fenster und schaute hinaus; noch immer derselbe Schmutz, derselbe hangende Nebel. Doch ein fast hochmüthiges Lächeln kräuselte seine Lippen.

»Jetzt bin ich Allem entronnen,« flüsterte er ganz leise, als fürchte er, ein zartes Geheimniß zu entweihen, »ich bin frei, ganz frei; die schweren Schatten eines endlos langen Menschenalters weichen der siegenden Sonne –

Strahl des Helios, schönstes Licht,
Wie's der siebenthorigen Stadt
Theben nimmer zuvor erschien –«

Er unternahm eine Wanderung durch beide verbundene Zimmer in lebhafter, fast tänzelnder Gangart, die Hände tief in den Hosentaschen, die Blicke freudig emporgerichtet zu dem gestaltenreichen Schmuck seiner Wände.

Da stolperte er über den Koffer, der mitten im Wege stand, griff in die Luft, um einen Halt zu suchen, erfaßte einen festen Gegenstand und riß die schwere Figur des Apoxyomenos von ihrem 138 Standort herunter, daß sie mit greulichem Klirren zu seinen Füßen zersplitterte, nicht ohne zuvor ihn schmerzhaft auf den Kopf zu treffen. Er stand in dumpfem Schrecken, bis draußen ein Kreischen weiblicher Stimmen ihn auffahren ließ. Hastig stieß er den Riegel vor die Thür und rief mit gepreßter Stimme hinaus:

»Es war nicht das Waschgeschirr, sondern nur eine Gipspuppe.«

Da verstummte das Klagen, und er blieb ungestört. Und mit lauter Stimme tröstete er sich selbst:

»Was thut mir das jetzt noch? Es ist kein Marmor.«

Gleichmüthig kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück, trat an die große Mappe, öffnete sie, nahm eines der zahlreichen Studienblätter, die sie enthielt, heraus, trug es sorgsam zu seinem Tische und begann mit freudig gespannten Blicken die Betrachtung.

Es war eine große, figurenreiche Skizze in Wasserfarben, von einer auffallenden, eigenartigen und etwas verwirrenden Buntheit; darstellend eine Scene aus dem bewegten Straßenleben der Hauptstadt. Der Beschauer war auf dem Oberdeck eines Pferdebahnwagens sitzend gedacht; Straßenschilder und Hausnummern hätten einem herbeigerufenen 139 Polizeibeamten keinen Zweifel gelassen, an welcher Ecke der Leipzigerstraße er sich gerade befinde. Es war ein ungemein regsames Treiben, auf das man hinuntersah. Ein störrisches Schwein wurde ganz im Vordergrund von einem entrüsteten Schlächtergesellen beim Schwanze hoch emporgezerrt und solcherart weitergeschoben; durch das Geschrei des Thieres erschüttert, suchte ein feingekleidetes junges Mädchen mit einer Musikmappe am Arm, von skrophulöser Gesichtsfarbe und rothgeschwollenen Augenlidern, sich dadurch Luft zu machen, daß es einem vorüberlaufenden kleinen Hunde einen Fußtritt versetzte. Diese Bewegung war mit einer solchen Sicherheit gegeben, daß kein Zweifel blieb, der Hund würde in eine tiefe Pfütze fliegen und ein verkrüppeltes, krankes Kind, das eben in einem niedrigen Wägelchen vorbeigefahren wurde, über und über mit Koth bespritzen. Weiterhin standen zwei Streichholzverkäufer, ein buckliger und ein pockennarbiger, der eine mit gestreiftem, der andere mit gewürfeltem Hosenstoff, und aßen gemeinsam an einer Knackwurst, der man einen abscheulichen Knoblauchsgeruch ansah; man wußte genau, sie war von Pferdefleisch. Daneben bot ein verwelktes, stülpnasiges Blumenmädchen mit schläfrigem Grinsen seine zarte Waare feil, während ein rothgedunsener betrunkener Bierkutscher von der Firma Gabriel 140 Sedlmayr (Spatenbräu) vom Wagen herabfiel und das Genick brach. Die Mitte der Composition bildete ein schöner Wurstladen, hinter dessen klarer Spiegelscheibe die Käufer sich drängten und in dessen Hintergrunde ein knochiges, altes Weib ein junges Huhn mit einem stumpfen Messer schlachtete; der Reflex des durch seitliche Butzenscheiben schräg einfallenden gebrochenen Sonnenlichts auf den zuckenden Flügeln des Thierchens war mit besonderer koloristischer Feinheit gegeben. Ein Schinkenrest war etwas madig geworden, und die Käuferin, ein sittlich schwer verwahrlostes Nähmädchen, versuchte, mit der Nase den übeln Zustand des Fleisches betonend, daraufhin fünfunddreißig Pfennige abzuhandeln. Am Fenster des Nebenhauses stand eine griesgrämige Krankenwärterin und lutschte gelangweilt an einem angefaulten Pfirsiche, in dessen triefendes Fleisch sie zwei schmutzige Finger wie eine Kneifzange gepreßt hatte. Ein berittener Schutzmann hielt die Mitte der Straße und blickte unentwegt und stumpfsinnig über die verworrene Menge hin.

Diese und viele andere ähnliche Gegenstände waren auf dem Bilde in musterhafter Naturtreue dargestellt. Kanold starrte darauf hin mit einem trüben, stumpfen, fast leeren Blicke. Endlich schloß er die Augen fest, als ob ein Schwindel ihn ergriffe; dann drehte er sich hastig herum und heftete 141 den Blick mit hilfeflehendem Ausdruck auf seine Juno, seine Nike, seine Parthenonreiter.

»Der Feind ist in Attika eingebrochen und hat die heiligen Oelbäume niedergeschlagen!« rief er ihnen laut entgegen.

Matt und langsam ließ er sich in seinen Sessel gleiten, die Augen mit der runzligen Hand bedeckend. So saß er lange ganz unbeweglich.

Aber noch einmal zog es ihn zu dem fremdartigen Bilde hin. Dieselbe mürrische Wahrhaftigkeit, Alles dumpf und frostig, wie mit erbittertem Pinsel gemalt:

»Wo aller Wesen unharmonische Menge
Verdrießlich durcheinander klingt.!«

klagte er schauernd.

Da entdeckte er eine Kleinigkeit, die ihm vorhin entgangen war: hinter einem in die Gosse gestürzten, mit widrigen Abfällen gefüllten Hundekarren guckte ein seltsam liebliches Kinderköpfchen in die Höhe; die kleinen Hände hatten einen groben Sack um das ganze Gesicht geschlungen wie eine Nonnenkapuze, und die dunkeln Augen lachten aus der Vermummung heraus schelmisch zwinkernd und sprühend von Daseinslust; die seitliche Neigung des neckisch geduckten kleinen Kopfes war von bezauberndem Liebreiz. Er sah aus, als sei dies winzige Nebenfigürchen durch all das wüste Getreibe 142 gewaltsam aus dem Bilde hinausgeschoben worden und dränge sich nun wider den Willen aller Betheiligten und zumal des argwöhnisch verdrossenen Künstlers mit schalkhafter Hartnäckigkeit wieder herein. Kanolds ernste Augen blitzten auf bei dieser Entdeckung; ja, fast wie ein kleiner Widerschein jener Schalkheit zuckte es in seinen gefurchten Zügen.

»So kann er doch noch nicht verloren sein,« murmelte er, »vielleicht –«

Er fuhr auf einmal heftig zusammen und strich mit der flachen Hand scharf pressend über die Stirn.

»Vielleicht, daß es ein Rettungsmittel gibt, ein letztes –«

Langsam durchschritt er das Zimmer und stand vor einem großen sehr vergilbten Holzschnitte still, darstellend die Akropolis von Athen mit den hohen Säulen des Parthenon und der Propyläen. Malerisch zerlumpte Hirten in Fez und Fustanella weideten im Vordergrunde ihre Ziegen.

Er hob mit einem wunderlichen Zucken beide Arme in die Höhe, als wollte er diese Säulen ergreifen und sich daran festklammern; dann ließ er sie mit ebenso hastigem Ruck wieder sinken, schob die Hände in die Hosentaschen, riß sie wieder heraus und schwenkte sie zappelnd wie in leidenschaftlicher Angst, wankte endlich zu seinem Sessel zurück und sank mit dem Kopfe schwer auf die Platte 143 seines Schreibpultes, beide Hände mit wirren Fingern gegen die Schläfe pressend. Alle diese Bewegungen waren von einer bemerkenswerthen Ungeschicklichkeit.

Nach einer beträchtlichen Weile hob Kanold den Kopf mit müder Ruhe wieder empor, schloß ein Fach des Pultes auf und nahm ein klirrendes Beutelchen heraus; er griff hinein, zog einige französische Goldmünzen hervor und ließ sie klingend wieder zurückfallen. Er lächelte zu diesem Spiel, doch seine Augen füllten sich langsam mit Thränen.

Er schob den Beutel zur Seite, nahm ein Stück Papier und einen Bleistift zur Hand und begann mit Eifer zu rechnen. Das Blatt bedeckte sich schnell mit einer wirren Fülle von Zahlen.

»Sophokles war neunzig Jahre alt und schrieb den Oedipus auf Kolonos,« sagte er, den Stift niederlegend, »und ich sollte dann nicht einmal mehr genießen können?«

Er erhob sich schnell von seinem Sessel und reckte die Glieder gewaltsam mit sonderbaren Zerrungen.

»Nein,« sagte er innehaltend und zusammengeknickt mit dumpfer Stimme, »ich bin kein Sophokles, kein Hellene, kein ganzer Mensch, der sich ausleben durfte in Lichtfülle und Heiterkeit. Ich bin ein königlich preußischer Schulmeister in Hinterpommern.«

144 Er setzte sich und rechnete abermals.

»In zehn Jahren!« sagte er endlich und machte einen kräftigen Strich unter die Rechnung, »in zehn Jahren habe ich das Geld für die Reise nach Athen und einige Wochen Aufenthalt. Für die Rückreise brauche ich mit siebzig Jahren nicht mehr zu sorgen.«

Er saß nun lange, schwieg und sah die Juno Ludovisi an. Von Zeit zu Zeit stöhnte er leise auf, drückte die Hand gegen die Stirn und wischte auch wohl eine Thräne von der Wimper. Doch mehr und mehr durchleuchtete sich sein Antlitz im Anschauen jener ehernen Seligkeit der strengen Göttin.

Ein kräftiger Tritt ward auf der Vortreppe vernehmbar. Hastig erhob sich Kanold und verschloß die Thür zum Schlafgemache, wo der gepackte Koffer stand. Als er an dem bemalten Blatte auf dem Tische vorüberging, machte er eine krampfhafte Bewegung, wie ein Raubthier, das sich mit einem jähen Seitensprunge auf ein Opfer werfen will; doch ein rascher Blick auf die Juno gab ihm die Haltung wieder, und er erwartete ruhig stehend seinen Besuch.

Der Jüngling trat mit lebhaftem Schritte herein. Seine schönen Züge waren etwas blaß und gespannt, doch festen und selbst ein wenig trotzigen Ausdrucks.

145 »Mein gütiger Vater –«, begann er mit einer gewissen Feierlichkeit, da er das Blatt auf dem Tische liegen sah. Doch Kanold machte eine heftig abwinkende Bewegung.

»Laß das, mein Junge,« sagte er im freundlichsten Ton, ihm herzlich die Hände schüttelnd, »ich weiß ja Alles, was Du mir sagen willst. Ich kenne Eure neuen Lehren zur vollen Genüge. Ihr wollt an die Stelle des schönen Scheins die strenge Wahrheit setzen. Ihr wollt Euch befreien von uralt überlieferten Satzungen, mit freien Augen der Natur ins unverhüllte Antlitz blicken. Ihr wollt Eure eigenen Wege gehen, und fern sei es von mir, Dich mit Gewalt und Tadel auf meinem Wege festzuhalten. Ihr wollt die Welt der Dinge sehen und widerspiegeln, wie sie wirklich ist; das meinten die Hellenen von Phidias bis Goethe zwar auch zu thun, nur daß sie etwas Anderes für das Wirkliche hielten: doch die neue Zeit mag andere Ziele und andere Mittel haben, als die alte; welche die besseren sind, muß die Zukunft lehren. Folge Du getrost den eigenen Gedanken; man kann auf mancher Straße zum Heil gelangen.«

Er machte eine Pause und schien die weiteren Worte mit einiger Mühe zu suchen. Eine tiefe Blässe lag auf seinen Wangen, und seine Augen 146 zeigten ein unruhiges Zucken, das ihnen sonst nicht eigen war. Endlich fuhr er fort:

»Doch nun höre einen Vorschlag, den ich Dir zu machen habe. Er ist nicht von heute oder gestern, sondern alterwogen und mit Ruhe vorbereitet. Ich habe seit Jahren ein Sümmchen erspart, das groß genug geworden ist, einem anspruchslosen Manne eine Reise in den Süden, nach Griechenland, nach Athen, und einen längeren Aufenthalt daselbst zu ermöglichen. Vielleicht hatte ich einst vor Jahren daran gedacht, diese Reise selbst zu unternehmen; doch das ist vorüber, die Umstände gestatteten es nicht: und jetzt bin ich alt geworden und scheue die Beschwerden der Reise, bedarf auch wohl der Schulung des Auges nicht mehr, zum Mindesten wäre es zu spät, sie noch zu verwerthen. Die ursprüngliche Bestimmung des Geldes aber soll auf keinen Fall geändert werden: wenn man alt wird, hat man seinen Eigensinn, der nicht mit sich handeln läßt. So habe ich Dich denn ausersehen, die große Fahrt statt meiner zu machen. Du sollst vor der Fortsetzung Deiner künstlerischen Studien ein halbes Jahr oder solange die Kasse reicht, auf attischem Boden verweilen und mir nachher berichten, was Du dort gelernt und gesehen hast. Fürchte nichts Unbilliges, das Dir etwa zugemuthet werde: Du weißt zwar, ich habe eine kleine Liebhaberei für alte 147 Säulenstümpfe und andere unbrauchbare Marmorbröckel; doch nicht dies ist die Meinung, daß Du Dich um meinetwillen in diesen veralteten Dingen verlieren sollst. Lerne vielmehr und sammle dort Alles, was Dir gefällt und Dir für Deine Zwecke nützlich scheint. Die wunderbare morgenländische Welt wird Dir genug zu schauen und zu staunen geben; es ist eine Welt der Wirklichkeit nicht minder, wie es Berlin und Hinterpommern sind. Dann wirst Du heimkehren und die vertraute heimische Welt mit neuen und geschärften Augen sehen. So wirst Du Deinen eigensten Zielen dienen, und das ist die einzige Rücksicht, die Deine Schritte dort lenken soll. – Nur zuweilen dann nach der Arbeit gedenke auch Deines väterlichen Freundes: laß Deine Augen in einer stillen Stunde an meiner Statt einmal auch zu den alten Göttern beten. Steige zuweilen um die Zeit der Abendröthe hinauf zur Akropolis, tritt durch die Propyläen, sitze nieder unter den hingesäeten Marmortrümmern und halte einsam Deine Andacht vor den goldglühenden Säulen des Parthenon und vor den stillen Jungfrauen des Erechtheion. Und wenn der Hymettos heißroth aufstrahlt im Widerschein der scheidenden Sonne, wenn das dunkle Blau des Meeres seine weichen Arme um Salamis Felsen schlingt, wenn feierlich rauschend der Abendwind durch den heiligen 148 Oelwald streicht: dann – dann gedenke Deines Freundes! Weiter ist nichts von Nöthen, und weiter verlange ich nichts von Dir.«

Der Alte schwieg und blickte mit stiller, fast schüchterner Frage auf den Jüngling. Den aber riß schnell eine überquellende Begeisterung des Glückes dahin; mit wirrer Knabenrede stammelte er wieder und wieder seinen Dank, küßte wieder und wieder die Hände des Treuen, und in herrlicher Hoffnung auf kommende Wunder strahlte sein Auge beglückt, feurig und ahnungsvoll.

Der Greis aber legte in stummer Erschütterung noch einmal die Hände auf sein Haupt und drängte ihn dann mit liebevoller Gewalt aus der Thür. »Zu Deiner Mutter!« stotterte er. Denn er vermochte die Thränen nicht länger zurückzuhalten.

Doch indem er dem freudevoll Enteilenden aus dem Fenster nachblickte und die schlanke Gestalt schön schreitend langsam im Nebel verschwinden sah, da bewegte er das graue Haupt mit einem sonderbaren, listigen und fast boshaften Lächeln, und es klang wie ein keckes Triumphiren, was er da murmelte:

»Geh hin, mein Sohn – Du bist mir noch nicht verloren! Deine Augen sind offen und froh und können nicht umsonst im Allerheiligsten der Schönheit wachen. Sieh Athen und dann lebe! Ich 149 habe Deine Seele mir wiedererobert.« Dann schluchzte er einmal auf aus tiefster Brust; doch er bändigte sich schnell und sprach mit fester und lauter Stimme das sophokleische Sehnsuchtslied seinen Göttern entgegen wie ein heißes Gebet:

O könnt' ich hin, wo waldig des Berges Haupt,
Von Meereswogen umspült, sich hebt,
Unter Sunions hohen Fels,
Heilige Stadt Athenas, Dir
Grüße zu senden! 150 151 152 153

 


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