Hans Hoffmann
Das Gymnasium zu Stolpenburg
Hans Hoffmann

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Munks Madonna.

Zu Stolpenburg lebten und an seinem Gymnasium wirkten zwei jüngere Lehrer, welche in ihrem außerdienstlichen Lebenswandel von so eigenthümlichen Sitten waren, daß ihr College Munk, der Religionslehrer der Anstalt, sie einst halb scherzend halb ernst mit Hophni und Pinehas verglichen hatte: und diese Beinamen, die sie selbst mit lockerer Freudigkeit auf sich nahmen, waren im Volksmunde an ihnen haften geblieben. Es sind das, wie jeder Christ weiß, die beiden Söhne Eli, des Hohenpriesters, welche nicht in des Vaters Wegen wandelten, sondern von denen geschrieben steht: »Sie waren böse Buben, die fragten nicht nach dem Herrn, noch nach dem Recht der Priester an das Volk.« Der Vergleich war schlagend; auch diese neuen Söhne Eli stammten beide aus ehrbaren Pfarrhäusern, und wenn das Sprichwort sagt:

Pastors Kind und Müllers Vieh
Gedeihen selten oder nie,

154 so bildeten sie keine Ausnahme von der düsteren Regel; doch wenn es leise tröstend hinzufügt:

Wenn's geräth, wird's gutes Vieh,

so konnte dies auf sie ganz gewißlich keine Anwendung finden.

Sie hatten sich, obgleich nicht verwandt, zusammengefunden durch eine gemeinsame Tante, die sie um ihrer Wohlhabenheit willen ungemein verehrten und der sie ihre letzten Lebenstage durch ihr scherzhaftes Wesen zu vergolden wußten. Die daraus sich ergebende Erbschaft, die ihnen gemeinsam zufiel, hatte verwunderlicher Weise ihr einträchtiges Verhältniß nicht erschüttert, sondern im Gegentheil erst eine dauerhafte Freundschaft begründet: fast der einzige nachweisbare Zug in ihrem Charakter, der ganz zu ihren Gunsten spricht. Ursprünglich hatten sie, und zwar vierzehn Semester hindurch, mit mehr Glanz als Erfolg Medicin studirt; als sie auf dieser Bahn zu keinem Ziele kamen, gaben sie vor, sich mit den Naturwissenschaften beschäftigt zu haben (woran schließlich ein Fünkchen Wahrheit war, soweit es sich um allerhand experimentelle Schnurrpfeifereien und Kunststückchen handelte), machten schleunigst in dieser Disciplin ein kleines Examen für das höhere Lehrfach, empfingen laut Zeugniß die Lehrbefähigung bis Untertertia einschließlich und hatten durch dieses Kunstmittel nach einigem Suchen 155 zu Stolpenburg ein pädagogisches Aemtchen erlangt. Merkwürdigerweise erwiesen sie sich in ihren Grenzen als recht brauchbare Lehrer, indem sie mit der beweglichen Schülerschar besser als mancher sittenstrenge College umzuspringen verstanden.

Desto trübseliger stand es um ihr Privatleben. In der Kette ihrer Laster stach eines besonders hervor, welches der Religionslehrer dahin ausdrückte, daß ihre beiderseitigen Eltern bei der Geburt eines Jeden von ihnen versäumt hätten, das Gelübde zu thun: »Kein Schermesser soll über sein Haupt kommen. Und soll keinen Wein noch starke Getränke trinken.« Jedenfalls, wenn dies Gelübde etwa doch für sie gethan war, so brachen sie es auf eigene Hand in seinem ersten Theile monatlich einmal, in seinem zweiten dreißig- bis sechzigmal. Und weil ihr Einkommen trotz der fetten Erbschaft zu solchen Neigungen und ihrer Leistungsfähigkeit doch nicht im glücklichsten Verhältniß stand, so hatten sie die Gewohnheit angenommen, sehr häufige Sonntagsausflüge in die Städtchen und Dörfer der Umgebung zu machen und die dortige Geistlichkeit in so nachdrücklicher Weise zu besuchen, daß im Lande die Rede ging, ein dreimaliger Besuch der Söhne Eli sei einem einmaligen Abbrennen gleich zu achten. Auch das getreu dem Wort der Schrift: »Sie fragten nicht nach dem Herrn, noch nach dem Recht der 156 Priester an das Volk.« Sie selbst aber pflegten, von solcher Brandschatzung heimkehrend, in der Redeweise des Collegen Munk zu sagen: »Wir haben Tribut erhoben von den Städten der Ammoniter.«

So war ihr Ruf denn nach allen Richtungen der schlechteste und wäre ganz für sie vernichtend gewesen, wenn sie nicht selbst ein Mittel gefunden hätten, dem gerechten Tadel durch eine geschickte Machenschaft ein Schnippchen zu schlagen. Sie erzählten nämlich von Zeit zu Zeit irgend einem züchtigen und glaubensreichen Bürger ein Märchen von einer ganz ausschweifenden Schlechtigkeit, die sie verübt haben wollten, und wenn die Kunde dann wie ein Lauffeuer die Stadt durchbraust und erschüttert hatte, lachten sie alle Welt aus und bewiesen zugleich ihre Unschuld und die Quelle des Gerüchtes. So brachten sie es zu Wege, daß bald Niemand mehr recht wagte, auch an ihre wirklich begangenen Streiche zu glauben, aus Furcht, sich durch eine derartige unvermuthete Aufklärung der Lächerlichkeit ausgesetzt zu sehen.

Auf diese Weise machten sie es möglich, sich trotz alledem in ihrer Stellung zu behaupten, an der ihnen übrigens in Wahrheit schon nicht einmal viel gelegen war. Sie hatten nur den sonderbaren Ehrgeiz, ihren Posten nicht freiwillig zu verlassen, als ob sie sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen fühlten: 157 wurden sie jedoch um außeramtlicher Vorgänge willen von demselben entfernt, so meinten sie ihre Ehre gewahrt zu haben; denn der Uebermacht zu weichen, sei keine Schmach. Auch hatten sie für alle Fälle schon vorgesorgt, sich ein Hinterthürchen zu andern Berufsarten zu öffnen. So hatten sie sich im Stillen mit ziemlich reichen Vorkenntnissen für die Ausübung des Brauereigewerbes versehen; oder sie dachten daran, eine belletristische Zeitschrift zu gründen, oder sich auf das Schankgeschäft, die Kunstkritik, oder den Cigarrenhandel zu verlegen. Ganz neuerlich aber hatten sie begonnen, sich mit der Photographie zu befassen, und diese Kunst ist später wirklich ihr Beruf geworden; ihre Firma gehört heute zu den angesehenen der Reichshauptstadt, aus welchem Grunde es richtig erscheint, ihre bürgerlichen Namen zu verschweigen und sich mit den wohlklingenden und schriftgemäßen Hophni und Pinehas zu begnügen.

Einstweilen betrieben sie damals die neue Kunst, unbeschadet des ernsteren Hintergedankens, mit eben der Possenhaftigkeit, Spielerei und Nichtsnutzigkeit, wie alle anderen Dinge. Ihr Hauptspaß war, ihre Mitmenschen aus dem Hinterhalt zu photographiren, wobei sie eine abscheuliche Gewandtheit entwickelten, sie in den ungünstigsten und lächerlichsten Stellungen oder Mienenspielen zu belauern. 158 Das thaten sie theils von ihren Fenstern aus, wo sie einen großen und trefflich arbeitenden Apparat geschickt hinter Vorhängen zu verbergen wußten und lange Stunden täglich schußbereit auf dem Anstand lagen, theils auch auf ambulanten oder peripathetischem Wege, wie sie sich ausdrückten, mittels eines kleinen teuflischen Maschinchens, das unter dem Rocke verborgen durch das Knopfloch seine tückischen Wirkungen übte.

So hatten sie bald eine höchst merkwürdige Sammlung von Stolpenburger Charaktertypen erbeutet. Sie begnügten sich jedoch keineswegs mit solcher Ansammlung von rohem Stoff, sondern pflegten denselben in einem eigenartig satirischen Sinne künstlerisch zu verarbeiten. So setzten sie einmal den stattlichen Oberleib der Frau Gymnasialdirectorin auf die Beine und Hosen des Herrn Directors, den Uebergang mit Geschicklichkeit zurechtschneidend und vermittelnd; das so gewonnene Ganze übertrugen sie auf eine neue Platte, retouchirten es fleißig und brachten solcher Art ein eigenes und untheilbares Bildniß zu Stande: Kenner der häuslichen Verhältnisse des Gymnasiums konnten nicht umhin, darin eine Andeutung zu erblicken, daß die Frau Directorin in irdischen Dingen die weitaus größere Willenskraft zu offenbaren pflege. Oder sie hatten einmal den Bürgermeister der Stadt 159 bei einem Schlummerchen erwischt, das ihn nicht selten beim Glase Grog befiel: sie setzten das ehrwürdige Haupt auf die Schultern eines Seydlitz, der bei Roßbach vor dem Angriff die Tabakspfeife in die Luft wirft. Der Bürgermeister wurde von seinem Volke mehr um seines schlafliebenden Charakters, als um irgend welcher persönlichen Tapferkeit willen geschätzt. Einen jungen Husarenofficier, der ein schneidiger Reiter, aber sonst auch gar nichts war, versetzten sie mit einem Gesichtsausdruck hülfloser Verworrenheit, der bei ihm leicht zu erlangen war, zu Pferde mitten in den geweihten Raum der Gymnasialbibliothek. Auch Gruppen verstanden sie zu componiren: so ließen sie den Schuldiener Eichler, einen energischen und pflichttreuen Menschen, mit dem Rohrstabe auf dem Lehrstuhl sitzen, vor ihm aber auf dem Bänkchen den gelehrten Professor Röber, der mit den Schülern, wie Jeder wußte, nicht fertig zu werden vermochte. Und so fort ins Unendliche. Kurz, sie übten eine Kunst, welche hart an der Grenze des strafgesetzlich noch Unverbotenen hinlief, diejenige des sittlich Schönen aber auf der ganzen Linie überschritt.

Einzig die hübscheren Mädchen und Frauen des Ortes kamen gelinder fort, und in deren Auswahl zeigten sie allerdings einen ebenso sicheren Geschmack wie in ihrer sinnbildlichen Zurichtung nicht 160 selten die feinsten Griffe der Schmeichelei, indem sie die eine als Jungfrau von Orleans ausstaffirten, die Andere als Aschenbrödel mit dem zierlichen Schuh, die Dritte als Sappho, die Vierte, welche den beispiellosen Ruhm hatte, nicht Clavier zu spielen, als heilige Cäcilie, alle irdischen Instrumente von sich werfend; noch eine Andere ward durch die Begleitung eines Mohren (eines herrschaftlichen Dieners: so etwas gab es in Stolpenburg!) als Desdemona gekennzeichnet, und Eine endlich als Titania neben einem Eselskopf: man versteht, die letzten Beiden waren verheirathet. So wußten sie das weite Gebiet der Sage, Geschichte und Dichtung für ihre wunderlichen Zwecke zu verwerthen.

So waren Hophni und Pinehas.

Daß diese zwei Abenteurer so ziemlich in allen Kneipen der Stadt, deren nicht zu wenige sind, bewandert und gleichsam zu Hause waren, ist fast selbstverständlich; sie fühlten jedoch bisweilen auch den Trieb, sich auf sich selbst zu ernsterer Beschauung zurückzuziehen, und da ihnen hierfür ihre eigene Häuslichkeit als ein sehr ungeeigneter Ort erschien, so hatten sie sich in einem Hinterzimmer eines sonst anständigen Gasthofes ein eigenes Kneipchen eingerichtet und mit Schlägern, Säbeln, zahllosen Trinkgefäßen und einer Auswahl ihrer besten photographischen Aufnahmen genügend bunt und lustig 161 ausgeschmückt. In dieser Klause verbrachten sie selbander geruhsam zechend viele Stunden, indem sie in stiller Gedankenarbeit einander anblickten und schwiegen. Denn ihre Vertraulichkeit war durch das langjährige Beisammenleben eine so große geworden, wie sie vielleicht unter besseren Menschen überhaupt nicht möglich ist; es war längst schon etwas Ueberflüssiges für sie, ihre Gedanken vor einander bis zu Ende auszusprechen oder gar breiter zu begründen und zu entwickeln; vielmehr begnügte sich Jeder von beiden mit einer flüchtigen Andeutung dessen, was er zu sagen hatte, und der Andere setzte den abgebrochenen Satz entweder stillschweigend oder bei sehr redseliger Stimmung auch in ausdrücklicher Rede fort. Wenn zum Beispiel Hophni einen Blick aus dem Fenster that und anfing: »Heute –«, so genügte das vollkommen; Pinehas verstand und fuhr stumm oder hörbar fort: »– ist recht leidliches Wetter, wir können daher unseren Vesperschoppen im Freien trinken,« oder so etwas. Ja, selbst wenn sie stundenlang geschwiegen hatten, wußte Jeder ziemlich genau, an welchem Punkte die Gedanken des Anderen in jedem Augenblick gerade angelangt waren.

—   —

Um eben diese Zeit saß auf Schloß Vogelsang bei Stolpenburg in Ehren und Wohlstand der 162 Baron Henning von Schindelwick, noch jung, seit wenigen Jahren verheirathet. Die Ehe war nach Aussage aller Zeugen die glücklichste; die junge Baronin Wiltrud, geborene Freiin von Damnitz, galt als ein Muster von Sanftmuth, und man sagte scherzend von ihr, sie habe nur den einen Fehler, keinen Fehler zu haben.

Der Baron hatte seine Jugend genossen, wie es einem ritterlichen Manne geziemt; sobald ihn die Pflichten eigenen Hausstandes heimberiefen, ward er unverzüglich das vollendete Bild eines gesetzten Hausvaters und Staatsbürgers. Er wirkte untadelig als Verwalter seiner ererbten und erheiratheten Güter, als Mitglied wohlthätiger und gemeinnütziger Vereine, als Meister edlerer Sitten in der guten Gesellschaft. Standesvorurtheilen unterlag er wenig; er war gleicherweise beliebt unter dem Adel der Umgegend, unter den Offizieren der Garnison und in den bürgerlichen Kreisen, mit denen Geschäfte oder Geselligkeit ihn zusammenführten. Unter seinen Standesgenossen besaß er den festen Ruf eines ungewöhnlich, ja unnatürlich geistreichen Mannes, eines glänzenden und unglaublich unterrichteten Plauderers; in wissenschaftlichen Kreisen wußte man ihm die seltnere Kunst eines liebenswürdigen Zuhörens nachzurühmen. Kurz, ein Mann, der überall 163 auf seinem Posten war und sich mit Anstand auf seinem Posten zu zeigen wußte.

Daß er etwelche sogenannte Jugendsünden auf dem Kerbholz hatte, mühte er sich niemals heuchlerisch zu verbergen; im Gegentheil, er benutzte freiwillig manche Gelegenheit, in geeigneter Gesellschaft einen weise bedauernden Rückblick in allgemeinen und andeutenden Ausdrücken darauf fallen zu lassen; mehr verlangte Niemand, und er blieb dafür von flüsterndem Nachzischen fast völlig verschont. Er liebte die Wahrheit, Heucheln und Lügen erachtete er für unschön, für würdelos, ja sogar für nicht standesgemäß.

Einzig vor seiner Gemahlin war er nicht glücklich mit seiner Aufrichtigkeit: er fand schlechthin keinen Glauben. Wenn er je in aller Schüchternheit auch nur von einem Champagnerräuschchen, einer Begrüßung des Morgenroths beim Kartenspiel, einem abendlichen Ständchen und ähnlichen Abirrungen leichteren Kalibers schüchtern zu erzählen versuchte, dann lächelte sie ebenso sanft als ungläubig, indeß ihre runden Taubenaugen den Ausdruck einer leisen persönlichen Kränkung zeigten, und sagte mit einer gewissen kirchlichen Klangfarbe in der Stimme:

»Scherze nicht mit solchen Dingen, lieber Henning: es berührt mich peinlich, Dich auch nur 164 im Spaß auf gleicher Linie denken zu sollen etwa mit Deinem wüsten Vetter Otto, der vor vier Jahren sich durch einen förmlichen Rausch geschändet haben soll, oder mit dem erbärmlichen Lieutenant von Braunstein, der einer gemeinen Kunstreiterin den Hof gemacht hat. Das ist unwürdig.«

»Liebes Weibchen,« bemerkte dann wohl der Baron bescheiden, »das ist ein bißchen sehr hart geurtheilt, ein bißchen einseitig; man muß berücksichtigen –«

»Unwürdig und erbärmlich,« betonte sie nur desto nachdrücklicher, »und Ernst von Saling hat Schulden gemacht. Das ist ehrlos.«

»Er hat sie pünktlich bis auf den letzten Heller bezahlt,« wandte der Baron hier ernsthaft ein.

»Damit wirst Du den Flecken auf seiner Ehre nicht auslöschen wollen,« entgegnete die Gemahlin sanft, »Du darfst auch nicht den Schein erwecken, als ob Du die Frivolität solcher Gesinnung theiltest. Traurig genug, daß es überhaupt so entartete Menschen in unserem Stande gibt. Ich bitte Dich, lieber Henning, nenne Dich nicht in einem Athem mit so niedrigen Schwächlingen.«

Vor der vernichtenden Kraft so ernster Urtheile pflegte der Baron aufseufzend das Haupt zu neigen und tiefere Beichtergüsse einstweilen noch zu verschieben. Nur zu verschieben: sie wird einst tiefer 165 sehen, gerechter richten lernen; es würde ein schwerer Mangel an Lebensklugheit sein, in den Augen der Geliebten sich selbst als einen niedrigen Schwächling, als unwürdig, frivol, erbärmlich darzustellen.

Dies seltsame Hemmniß auf der reinlichen Bahn seiner Wahrheitsliebe verdroß ihn lebhaft; ja noch mehr: die ungebeichteten Jugendsünden begannen in seiner Brust den unbegrabenen friedlosen Seelen gleich gespensterhaft so lange nach ihrem Tode noch heimlich umzugehen.

Baronin Wiltrud, geborene von Damnitz, war nicht allein eine treue Gattin, sondern auch eine liebevolle Tochter. Alle vierzehn Tage fuhr sie in gewissenhafter Stetigkeit auf einen Tag zu Besuch bei ihren Eltern, deren Gut eine Eisenbahnstunde von der nächsten Station entfernt lag. Sie fuhr regelmäßig Sonnabends mit dem Mittagszuge ab und kehrte Sonntag gegen Abend zurück. Der Baron hätte sie jedesmal für sein Leben gern begleitet; zum Unglück traf fast jedesmal ein unvorhergesehenes Ereigniß ein, das ihn im letzten Augenblicke zwang, der schönen Hoffnung zu entsagen und den Mantel wieder auszuziehen. Der Viehhändler erschien plötzlich mit der Behauptung, grade auf diese Stunde bestellt zu sein: ein seltsamer Irrthum; oder die Dreschmaschine zeigte eine Unordnung: da war das Auge des Herrn selber nöthig; oder ein 166 Wölkchen stieg eben drohend am Himmelsrande auf: die Heuernte mußte beschleunigt werden; oder das kostbare Reitpferd zeigte Symptome von Unwohlsein – oder was sonst ein tückischer Kobold mit nimmer müder Erfindungskraft ihm in den Weg zu werfen wußte.

Das Aergerlichste war, daß stets sehr bald nach der Abfahrt der Baronin die Hindernisse sich als nur scheinbare oder flüchtige zu erweisen pflegten. Der Viehhändler hatte es nur auf ein einziges Ferkelchen abgesehen, der Fehler an der Dreschmaschine war nichts als eine Dummheit des Knechtes, das Wölkchen verschwamm hinduftend im reinen Azur, das Pferdchen hub an vor stürmischem Lebensmuth im Stalle zu schnauben und zu tänzeln: der Baron würde seine Gemahlin ganz gut haben begleiten können, wenn sie nur ein klein wenig hätte warten wollen. Freilich der Zug wartete ja auch nicht.

In der unthätigen Einsamkeit verfiel der Baron alsbald in eine unbestimmte Schwermuth, darnach in eine Sehnsucht nach Menschen; zuletzt in ein gewisses friedloses Heimweh nach leisen Jugendsünden. Verzweifelnd fuhr er endlich in die Stadt.

Wann er heimkam, erfuhr Niemand, denn er hatte den Ehrgeiz, das Pferd grade diesmal eigenhändig wieder in den Stall zu bringen, um zu zeigen, 167 daß er dergleichen kleine Verrichtungen noch nicht verlernt habe, und übrigens auch aus humaner Rücksicht auf das starke Schlafbedürfniß des Stallknechts. Dieser Letztere hatte jedoch am andern Morgen nicht selten schwere Arbeit mit dem Putzen des Thieres.

An diesen Sonntagen pflegte der Baron bis gegen Mittag in seinen inneren Gemächern zu verweilen; auf dem Hofe verbreitete sich dann mit dunklem Raunen das Gerücht: »Der Herr Baron arbeitet geistig.« Er bestätigte dasselbe nachher durch ein abgespanntes Aussehen, unsicheres Schreiten und ein häufiges Streichen oder Pressen der Stirn mit der flachen Hand.

Abends, wenn die Baronin heimkam, empfand er dann jedesmal ein erneutes und besonders starkes Bedürfniß, seinem wahrheitsliebenden Herzen durch eine volle Beichte endlich Luft zu machen; allein sie vereitelte das stets: nicht einmal die harmlosesten und heitersten Seitensprünge vom Pfade conventioneller Sitten glaubte sie ihm; sie lächelte sanft und versicherte, so Unwürdiges vermöge sie sich von ihrem Gatten nicht einmal vorzustellen.

Unwürdig – erbärmlich – ehrlos – ein Schwächling – – nein! Das doch nicht. Der Baron ergab sich in Schweigen, und die Gespenster in seinem Busen spukten unbegraben weiter. – –

168 An einem Sonnabend, dem 15. October Abends 11 Uhr 20 Minuten saßen Hophni und Pinehas in ihre gewohnte schweigsame Unterhaltung vertieft in jener ihrer Stammkneipe, als sich die Thür aufthat und der Baron Henning von Schindelwick hereintrat; er trug bereits leichte Spuren von innerer Erheiterung im Gesicht.

»Bravo, meine Herren!« rief er fröhlich, »immer bei der Denkarbeit! Jetzt aber gönnen Sie sich ein Stündchen der Erholung und erzählen Sie mir das Neueste aus dem Reiche des Witzes.«

Er schüttelte ihnen die Hände, setzte sich zu ihnen und ließ sich willig einen umfangreichen Humpen mit Rheinwein füllen. Hophni und Pinehas begannen ohne weitere Umstände zu erzählen, städtische Klatschgeschichten, Dummheiten Anderer und tolle Streiche, die sie selbst im Laufe der letzten Wochen verübt hatten. Der Baron lauschte mit der sehnsuchtsvollen Theilnahme eines Verbannten, der von seinem fernen Vaterlande erzählen hört.

Nachdem die wichtigsten Fälle so erledigt waren, nahm Hophni aus einer großen verschließbaren Mappe, die sie dort stehen hatten, ein ansehnliches Blatt heraus, befestigte es mittels einiger Stiftchen an der Wand und sagte:

»Und nun, Baron, betrachten Sie unser neuestes Werk – Sie sehen, wir sind auf dem Wege zum 169 höchsten Kunststile: Heilige Familie auf der Flucht nach Aegypten. Was sagen Sie dazu?«

Der Baron stieß in der That einen Ruf der Ueberraschung aus.

»Sie erkennen hier,« erklärte Pinehas mit Würde, »in dem weiten Hintergrunde ohne Schwierigkeit die große syrische Wüste. Todmüde hat die reisende Familie Joseph um die Mittagszeit in dieser greulichen Sandöde Rast gemacht; was geschah? Eine reizende Weinlaube ist unverzüglich auf höheren Befehl aus dem starren Boden emporgesproßt. Papa Joseph hält sich natürlich bescheiden außerhalb derselben; vorsichtig lehnt er sich an einen ihrer Seitenpfosten, vielleicht, daß er ihrer photographischen Realität nicht völlig traut; doch darin würde er Unrecht haben. Die jungfräuliche Mutter aber –«

»– ist im Innern der Laube sogleich in tiefen Schlaf versunken,« nahm Hophni in gleichem Tone die Erklärung auf, »vor ihr auf dem Tische liegt das Jesuskind, auch von der Schlummernden noch mit ausgestreckten Armen sorglich festgehalten. Das Kindchen selber jedoch ist inzwischen erwacht und guckt halb aufgerichtet mit großen Augen in die Runde; und, hast du nicht gesehen, da ist schon ein viertel Dutzend Engel vom Himmel herabgeschwirrt und bemüht sich, den göttlichen Kronprinzen 170 anständig zu unterhalten. Sehen Sie wohl, der Eine spielt mit seinen Händchen, der Zweite zupft ihm die Strümpfe glatt, und der Dritte riskirt es sogar, ihm gemüthlich auf den Speckhals zu klopfen. So etwas dürfte natürlich vor irdischen Augen nicht vorkommen, auch nicht vor denen der Madonna höchstselbst; doch da sie schläft, braucht sich ein Engel nicht zu geniren, denn Joseph ist natürlich wie wir anderen Sterblichen von Hause aus vollkommen engelblind. – Nun, was sagen Sie? Wie finden Sie die Composition? Hübsch, originell, geistreich – nicht? Und Alles Stück für Stück getreu nach der Natur photographirt!«

»Reizend! Ganz reizend!« rief der Baron schnell, »ja, mehr als das – Sie sehen mich wahrhaft verblüfft –«

In seinem Gesicht lag wirklich etwas Verblüfftes, ja, ein Zug von Schrecken und ernstlicher Verwirrung; und er that jetzt einen hastig forschenden, fast scheuen Blick nach den Augen der seltsamen Künstler; doch da hier keine besondere Arglist zu entdecken war, so fragte er ein wenig beruhigt und doch noch mit Zeichen einer unterdrückten Aufregung:

»Aber sagen Sie, meine Herren, wie ist das möglich? Woher haben Sie diese Modelle? Ich begreife nicht – ganz und gar nicht – – ich meine 171 vor Allem diese Wüste; wie kommen Sie zu dieser großartigen Wüstenlandschaft?«

»Sehr einfach, Baron, mit der Post kommt man dahin. Man fährt vier Stunden von hier, dann noch ein paar Stündchen zu Fuß und dann hat man's. Nach Afrika oder Asien brauchen Sie sich nicht zu bemühen.«

Pinehas nahm ein neues Blatt aus der Mappe und nagelte es an die Wand.

»Sehen Sie,« sagte er, »da haben Sie unsern Hintergrund im Naturzustande, noch ohne Staffage. Nicht wahr? Die prachtvollste Wüstenlandschaft von der Welt; kein Baum, kein Strauch, kaum ein ärmlichster Grashalm; aufgethürmte hohe Hügel, mächtig von Formen, groß geschwungen, wild hingeworfen, gezackt und zerfließend, zart und gewaltig, furchtbar und schön. Und von Hügel zu Hügel durch die tiefe Mulde des stummen Thales gelagert der ewige Sand, nichts als Sand, schwerer, gelber Sand und immer nur Sand, über breite Gehänge hingesprengt, zu Kegeln zusammengewirbelt, in langen Wogen hinrollend. Ein wildes Meer von Sand, mitten im Sturmaufruhr urplötzlich erstarrt, nun glühend in mächtigem Sonnenglanz unter dem lastend blauen, wolkenlosen Himmel – so sieht es wirklich aus da hinten in den Dünen! Sie merken, 172 Baron, daß die Natur auch in Hinterpommern Effectstücke vollbringen kann.«

»Sie sind wahrhaftig Tausendkünstler!« rief der Baron erstaunt und bewundernd, »so etwas zu entdecken, wovon wir andern Eingebornen keine Ahnung haben!«

»Sie werden sich noch zu weiterem Verwundern rüsten müssen,« meinte Hophni gelassen. »Wir gehen jetzt zur Erklärung der Staffage über. Sie wissen, wir sind ehrliche Taschenspieler und keine Spiritisten, wir gönnen dem Publicum gerne den Einblick in unsere Technik. Hier ist zuvörderst noch ein kleiner Seitensprung; es war ein erster Versuch, unsere leere Wüste zu bevölkern.«

Der überraschte Beschauer erblickte im Vordergrunde eines dritten Wüstenbildes einen mächtigen Löwen, welcher auf dem Körper eines Menschen lag, dessen Kopf die wohlgetroffenen Züge Hophnis zeigte. Neben dem Thiere aber stand Pinehas in äußerst wirkungsvoller Stellung, eben im Begriff, dem Ungethüm ein langes Dolchmesser in die Seite zu bohren.

Der Baron brach in ein helles Gelächter aus.

»Köstlich!« rief er, »ganz köstlich! Pinehas, der Löwentödter!«

»Natürlich,« sprach dieser mit der ernsthaftesten Miene, »was wollen Sie? In den 173 Hundstagsferien haben wir bekanntlich einen Ausflug in die Sahara gemacht und erlebten dies Abenteuer außer vielen andern. Welcher Stolpenburger Philister darf zu zweifeln wagen vor solchem Beweise?«

»Und wenn nun der Philister fragt,« bemerkte der Baron noch immer lachend, »wer von Ihnen beiden die vorliegende Momentaufnahme gemacht hat?«

Hophni maß ihn mit einem überlegenen Blicke.

»Sehen Sie her,« sagte er, ein neues Blatt hervorziehend, »wir haben natürlich einen Neger abgerichtet, der uns mit dem Apparat begleiten und unsere bedeutsamsten Thaten auf die Platte werfen mußte. Damit nun die Stolpenburger erkennen, wie es zugegangen, haben wir auf diesem Abzuge den photographirenden Mohren mit auf dem Bilde behalten, – sehen Sie da!«

»Halt,« rief Pinehas, »der Baron merkt, daß da irgend etwas nicht in Ordnung ist; dieses dritte Bild erst gibt Ihnen die volle Erklärung des Herganges. Da sehen Sie zu jeder Seite unserer Gruppe einen photographirenden Neger; es ist ganz klar: Jeder von ihnen nimmt außer uns auch seinen Collegen auf, und bei dieser Gegenseitigkeit der Fixirung müssen selbstverständlich auch beide auf dem Bilde zu sehen sein. Ja, ja, auch die Kunst hat ihre Logik.«

174 »Und wo haben Sie diesen ausgezeichnet schönen Löwen aufgestöbert?« fragte der Baron, sich schüttelnd vor Lachen.

»In einer Danziger Menagerie erlegten wir ihn,« berichtete Hophni, »doch halten wir uns nicht länger mit Nebendingen und Vorstudien auf. – Also die Wüste haben wir; folgt die Weinlaube mit Inhalt als Vordergrund. Vernehmen Sie ihre Geschichte. Vor etwa vierzehn Tagen kommen wir von einer Studienfahrt zurück, den Apparat auf dem Rücken. Wir haben Durst; doch das ist selbstverständlich, ich meine aber gemeinen bürgerlichen Durst, im Garten hinter Köhlers Gasthaus gibt es eine schattige Laube; wir wollen eintreten und entdecken – das hier.«

Ein neues Blatt, das sie hervorlangten, zeigte dieselbe Gruppe wie das zuerst betrachtete,. nur ohne den heiligen Joseph, und alle anderen Figuren in sehr profaner Gewandung: die Engel, durchaus flügellos, waren drei kleine Mädchen, die wohl nicht einmal auf Erden den höheren Töchtern zuzurechnen wären, hübsche Dinger allerdings, der Jesusknabe ein munterer Säugling im gewöhnlichen Tragekleidchen; am auffallendsten unterschied sich das Urbild der früheren Madonna von dieser: ein kokettes Strohhütchen, das Haar in lockeren Fransen darunter hervorquellend, ein lustiges, so elegantes 175 wie modernes Kleid mit einer graziös herausfordernden Schulterschleife, sogar ein Paar reizvoller Halbstiefelchen sichtbar werdend und darüber ein sich andeutendes Stück eines durchbrochenen Strumpfes; das Alles war wirklich nicht von sehr madonnenmäßigem Zuschnitt. Dagegen das liebliche, zarte, mädchenhafte Gesicht der jungen Schläferin war ohne Abzug und Zusatz eben das der Madonna.

»Sehen Sie, so war es,« fuhr Pinehas fort, »so fanden wir die Situation: die junge Dame, dilettantische Kinderfreundin wie alle jungen Damen, hat das jüngste Wurm der Frau Wirthin in ihre Obhut genommen, ist jedoch über der ungewohnten Arbeit ein wenig eingenickt; die scheuen Schwestern des Kleinen benutzten die Gelegenheit, sich heranzuschleichen und in lautloser Heiterkeit mit dem zappelnden Dinge zu spielen; so war's, und so haben wir's eingefangen – die Stilisirung der Gewänder hat reichliche Mühe gemacht, doch immer setzten vor das Gelingen die Götter den Schweiß – ein genialer Wurf, nicht wahr? Und doch nichts Wunderbares; denn es ist eine alte Sache: in jeder Straßenrange steckt ein regelrechter Engel mit Flügeln und allem Zubehör, nur oft ein bißchen sehr tief drinnen, aber wer den Blick hat und vor Allem den rechten Augenblick zu fassen weiß, der spürt es schon auf und holt es heraus, daß dann auch die 176 Kurzsichtigen und Blinden es sehen können. Es gibt zwar auch Leute, die glauben, was ein Engel sein soll, das müßte aus der Luft gegriffen werden; aber das hat nur einen kleinen Haken: herumflattern mögen sie ja wohl da oben, aber greifen lassen sie sich nicht. Und mit den Madonnen ist's gerade so: in jedem Weibe sitzt eine Madonna verborgen, die freilich meist entsetzlich schwer zu finden; aber der verstorbene Rafael fand sie sogar in der unangenehmen Fornarina und wir in der Soubrette einer kleinstädtischen Schmiere. – Was haben Sie, verehrter Baron? Es scheint fast, unsere Sanctissima erweckt Ihnen besondere Gefühle – oder Sie kennen unsere Fornarina?«

Hophni und Pinehas warfen einander einen kurzen Blick der Ueberraschung zu, in welchem ein condensirtes Aha! zu lesen stand.

»Tiens, tiens!« sagte der Baron, indem er einer Erregung Herr zu werden suchte, die sich dennoch in einer gewissen Hast und dem nervösen Klange seiner Stimme noch geltend machte. »Jetzt kommt mir's! Wußte erst gar nicht, wo ich das Persönchen hinbringen sollte. Wer kann alle hübschen Schauspielerinnen gleich wieder so beim Namen fassen? Aber kenne sie, kenne sie, natürlich. Nun entsinne ich mich: bei Wallner habe ich sie gesehen. Valeska – Valeska – Zarnikow, richtig. Ganz 177 kleine Rollen. Erregte seiner Zeit ein gewisses Aufsehen, weniger in kunstkritischen als in militärischen Kreisen; viel Reiz, wenig Talent; aber bis auf Stolpenburg zu sinken, das ist hart.«

»Sie scheint nicht allzuschwer an ihrem Schicksal zu tragen,« bemerkte Pinehas, »wissen Sie, wie ihr erster Ausspruch lautete, als sie plötzlich erwachte und ihre etwas pflichtvergessene Lebenslage erkannte? ›Ach Gott‹, rief sie, ›wie ungeschickt von mir! Ich habe Kinder so gern; und nun schlafe ich hier ein. Aber das macht, wir haben vorige Nacht ein bißchen viel gekneipt.‹«

»›Wir auch,‹ konnten wir wahrheitsgetreu erwidern, und damit war die gegenseitige Vorstellung vollbracht und eine sichere Basis der Freundschaft gegeben. War das nicht reizend?«

»Echt!« sagte der Baron heftig lachend.

»Natürlich haben wir die neue Bekanntschaft eifrig gepflegt,« fuhr Hophni fort, »nicht am wenigsten, um unsere Stolpenburger Gönner zu ärgern. Denken Sie doch, zwei Lehrer ihres hochehrbaren Gymnasiums verkehren und zeigen sich auf öffentlicher Promenade mit einer lästerlich hübschen Schauspielerin; welcher Skandal! Uebrigens läßt sich in Wahrheit nicht leicht etwas Ehrbareres ausdenken, als unsere Freundschaft mit Fräulein Valeska: beschämend ehrbar muß ich sagen.«

178 »Gebührt das Verdienst der Dame oder Ihnen?« fragte der Baron mit einem etwas lauernden Lächeln.

»Zur Beantwortung dieser berechtigten Frage,« entgegnete Pinehas, »diene folgende Thatsache: die sichersten Zeugen für den Ruf einer Dame sind allerorten die Aristokratie und das Militär; die himmlischen Heerscharen aber jubiliren dann, wenn die irdischen trauern. Die Thatsache nun ist, daß seit dem ersten Auftreten unserer Freundin am hiesigen Platze das gesammte Offiziercorps in Linie, Reserve und Landwehr, besonders auch soweit es unverehelicht ist, in die tiefste Bestürzung, Trauer und Verzweiflung versetzt wurde. Was bedürfen wir weiter Zeugniß?«

In den aufmerksamen Blicken des Barons zeigte sich der schnell unterdrückte Ausdruck einer inneren Befriedigung. Dann vertiefte er sich nachdrücklich in die Betrachtung des Madonnenbildes; doch blieb seinen stark gespannten Zügen ein unruhiges und aufgeregtes Nachdenken anzusehen.

Hophni und Pinehas wechselten ein zweites stummes: Aha!

Endlich nach längerem Schweigen und Sinnen begann der Baron in einem bemüht nachlässigen Ton, ohne den Blick von dem Blatte zu erheben:

»Man sollte aufhören, von jeder Schauspielerin 179 gleich Besonderes zu denken oder doch Zweifel zu hegen. Die meisten von ihnen sind zehnmal reiner als der Ruf ihres Standes. – Der Ausdruck dieser schlummernden Züge zum Beispiel scheint mir die feinste Bürgschaft für den Charakter der Dame zu geben: in diesem lieblichen Kopfe liegt Frauensinn und geahnte Mütterlichkeit – wissen Sie was? Einer von Ihnen sollte sie heirathen; er würde nicht mit ihr betrogen sein.«

Hophni und Pinehas lachten laut.

»Wir hätten sogar alle Aussicht, von ihr genommen zu werden,« versicherte Dieser. »Wissen Sie, was sie gesagt hat? Prediger und Lehrer seien ihr furchtbar interessant. Sehr begreiflich allerdings: die interessantesten sind uns allemal die Menschen, die wir am wenigsten kennen. Aus diesem Grunde fand Fräulein Valeska sogar sich selber hochinteressant – in der Verkleidung als Madonna. Sie betrachtete sich lange verwundert und entzückt, als wir das fertige Bild ihr vorlegten, und brach zuletzt in den seltsamen Klageruf aus: »O Gott, wenn ich noch so wäre!« Aber wahrhaftig, das kam so treuherzig heraus wie bei einem Kinde, es war ordentlich rührend, und ich behaupte, eine wirkliche Thräne schimmerte in ihrem großen Auge – und das soll keine gute Schauspielerin sein?«

180 »Nein!« rief der Baron sehr lebhaft, sich dann erst mit sichtlicher Absicht zur Ruhe zwingend, »aber Sie sind schlechte Kritiker, die nicht Natur und Kunst zu sondern wissen. Glauben Sie mir, dieser Ausruf war so naturecht wie der andere, daß sie ein bißchen viel gekneipt habe – ich entnehme das Vertrauen einzig der beredten Aussage dieses Bildes.«

»Wahrhaftig – einzig?« fragte Hophni mit einem unmerklichen Lächeln, »nun ja, das Bild scheint allerdings eine starke natürliche Anlage zur Tugend und Madonnenhaftigkeit zu verrathen, keineswegs aber, wieweit diese Anlage auch praktisch entwickelt ist. Wollen Sie sich übrigens gefälligst erinnern, daß wir lange vor Ihnen für den Ruf unserer Dame Stimmung machten. Und selbst bei anderer Sachlage – Sie werden uns nicht für Moralprediger halten. Allein wir sagten schon, wir nennen Valeska unsere Freundin, und das im süßesten, in schwärmerischem Sinne; wie sollten wir nun so thöricht sein, den Duft dieses holden Namens mit dem grundprosaischen Titel Ehefrau zu vertauschen und unseren zart hinschwebenden Gefühlen in dem Sumpfboden der Ehe ein unwürdiges Grab zu graben? Die alte Garde liebt, doch sie verliebt sich nicht.«

»Ein reinlicher Grundsatz,« lachte der Baron, 181 »eines antiken Philosophen würdig. Nur eines wundert mich, daß Sie sich die Gelegenheit entgehen lassen, so Bürgerschaft als Gymnasium in eine wahrhaft lebensgefährliche Aufregung zu versetzen: stellen Sie sich das verklärte Antlitz Ihres Herrn Directors vor, wenn Sie ihm eine Komödiantin in den unbefleckten Kreis seines Collegiums einführten! – Nun, ich sehe, Sie wollen nicht; man soll Niemanden zu seinem Glücke zwingen. – Dafür dürfen Sie mir eine andere Bitte nicht versagen: schenken Sie mir einen Abzug dieses Bildes. Denn ich weiß ja, käuflich sind Ihre Werke nicht zu haben; sonst säßen Sie vielleicht schon längst im Schoße der Millionen.«

»Wenn wir das Recht der Vernichtung unserer Platten verkauften, ganz gewiß,« versicherte Pinehas, »Ihr Wunsch aber ist uns natürlich Befehl. Sie können den vorliegenden Abzug gleich behalten. Sie scheinen Freude an dem Gegenstande zu haben,« fügte er mit einem eigenthümlichen Blinzeln hinzu.

»Ein Kunstwerk! Ein volles Kunstwerk!« bestätigte der Baron sehr eifrig, »und dabei doch der kecke Reiz des unmittelbaren Lebens! Es ist einzig. Ja der Wahrheit die Ehre, ich leugne es nicht: wenn ich noch ledig wäre und ich sähe mich selbst als heiligen Joseph mit dieser Madonna so auf einem Bilde vereinigt, es würde mich eine eigenthümlich 182 warme Empfindung durchströmen – fürchte ich – fürchte ich. Man könnte diesen Joseph wahrhaftig um seine Stelle beneiden. Uebrigens gleichfalls ein vorzügliches Modell; Sie sind und bleiben Tausendkünstler. Wo haben Sie das wieder aufgefischt? Wirklich, wie geschaffen für seine Rolle: kein schönes Gesicht, gewiß nicht; ziemlich grob geschnittene Züge vielmehr, doch sehr eigenthümlich im Ausdruck – wie soll man sagen? Treuherzig und doch nicht einfältig, unglaublich ehrlich, klug zugleich und rein. Und wie pikant das schneeweiße Haar über dem männlich jungen Gesichte: ich muß bekennen, ein äußerst merkwürdiges Gesicht. Man möchte ordentlich Respect haben vor solchem Heiligen.«

»Vielleicht darf man sogar vor dem lebenden Urbild einen gewissen Respect haben, wenn man nicht zufällig Hophni oder Pinehas heißt. Jedenfalls ist es keine Uebertreibung, wenn ich behaupte, daß selbst seine eigenen Schüler veritabeln Respect vor ihm haben, und das will mehr sagen, als Sie wahrscheinlich ahnen, Herr Baron. Ich wundere mich nur, daß Sie ihn nicht kennen; als Mitglied des hohen Curatorii unserer Anstalt wären Sie eigentlich fast zu dieser Kenntniß verpflichtet. Es ist unser Religionslehrer, Nathanael Munk; er wohnt unserm Fenster gerade gegenüber; so haben wir ihn auf die denkbar bequemste Weise 183 aufgegriffen und in diesen angenehmen Käfig versetzt. Und übrigens ist nachzutragen, daß wir vielleicht erst durch den Gedanken an ihn auf unsere Composition gekommen sind; er ist nämlich ein schwärmerischer Madonnenanbeter; er besitzt eine ganz hübsche Kupferstichsammlung –«

»Wie, ein Kunstkenner?« rief der Baron. »Das ist ein Naturwunder. Ein Kunstkenner in Hinterpommern!«

»Nichts weniger als das,« entgegnete Pinehas, »denn er denkt in Mußestunden über die Kunst, ein sicheres Zeichen, daß er nichts davon versteht.«

»Dann also ein Kryptokatholik?«

»Auch das nicht. Sein Madonnencultus ist sehr menschlicher, ich möchte sagen heidnischer Natur, wenn das bei unserm frommen Nathanael Munk im Geringsten erlaubt wäre. Es ist eine Art platonischer Vielweiberei; ein Surrogat für das, was anderen Menschenkindern die Liebe ist. Denn er ist im Uebrigen entschlossener Junggeselle, freilich nicht aus Weisheit und Grundsatz. wie wir, sondern aus bitterer Thorheit, da doch sein innerstes Herz nichts in der Welt so heiß ersehnt wie die Freuden des christlichen Ehestandes. Doch weil er nicht eben schön ist, hält er sich für häßlich und darum auch für schlechthin unfähig, einem Mädchen zu gefallen. Auch sein vorzeitig ergrautes Haar 184 bestärkt ihn in dieser Meinung; er betrachtet sich als einen Jubelgreis, während er die Mitte der Dreißig noch nicht erreicht hat. Sie sehen, der wunderliche Heilige, wie er im Buche steht.«

»Er hat also nie ein weibliches Wesen kennen gelernt, das ihn vom Gegentheil zu überzeugen wußte?« fragte der Baron.

»Er kennt überhaupt kein weibliches Wesen,« sagte Hophni, »Beweis dessen: er hält sie alle in Bausch und Bogen für eingeborene Engel und Heiligenbilder.«

»Ich hörte vor Kurzem,« bemerkte der Baron ein wenig spöttisch, »zwei grimmige Skeptiker so ziemlich denselben holden Glauben bekennen. In jedem Weibe steckt eine Madonna, behauptete Jemand.«

»Oho, Verehrtester,« rief Pinehas laut, »machen Sie gefälligst keine Kartenkunststücke! Ein Anderes ist es, in einer Gans eine Göttin sehen, wie es ein Optimist und ein Verliebter thut, und ein Anderes, den Tropfen Götterblutes, der auch in jedem Gänschen fließt, zum Kunstgebrauch herauszuzapfen wissen, wie das wir gottbegnadeten Künstler leisten. Munk aber geht sogar noch um Vieles weiter in der Verblendung: er hält seine eigenen Schüler von Hause aus für unschuldsfromme Lämmerseelen, für lauter ausgepichte junge Heilige und pflegt uns mit 185 ernsten Worten zu strafen, wenn wir sie im allerbesten Falle für lauter junge Affen erklären.«

»Da scheint mir freilich seiner Art,« meinte der Baron, »nur jener denkfaule Idealismus zu Grunde zu liegen, der sich nicht erst die Mühe gibt, die Menschen zu kennen – wie aber will ein Solcher Menschen erziehen? Mir scheint, er muß nothwendig ein spottschlechter Lehrer sein. Ich möchte wohl einmal sehen, wie die munteren Jungen mit dem umspringen, der sie unbesehen für fleckenlose Englein hält und den sie gar nicht erst zu betrügen brauchen, weil er dies freiwillig schon selbst besorgt.«

»Ja, sehen Sie, Baron,« sagte Pinehas trocken, »das ist eben ganz unsere Meinung auch, ganz unsere Weisheit. Das Nichtswürdige ist bloß, daß diese unsere schöne, klare, festgefügte Theorie von der brutalen Praxis rücksichtslos auf den Sand gesetzt wird. Es ist leider eine traurige Thatsache, daß Munk besonders im Punkt der Disciplin der glücklichste Lehrer unserer Anstalt ist; kein Neid der Collegen wagt ihm das zu bestreiten. Nie ist während seines Unterrichts ein ernstes Vergehen gegen die Schulzucht vorgekommen; Ungehorsam, Trotz oder gar Widersetzlichkeit, ja selbst der sonst so beliebte Kleinbetrug sind fast unbekannte Dinge. Für keinen Lehrer auch wird so redlich gearbeitet wie für ihn. Kurzum, seine Macht über die wüste Rotte 186 ist unbeschränkt; die hoffnungslosesten Rüpel werden unter seinen Augen zu Musterknaben: es ist als wenn da hundert unentdeckte Tugenden in ihnen plötzlich zum Licht empordrängten wie die Spargel im Mistbeet. Und das Merkwürdigste ist: er bringt das alles zu Wege ohne die geringste Strafe, ja ohne Scheltwort, selbst tadelnde Zeugnisse kennt er nicht; wo wir urtheilen: ›Unter aller Kanone‹, da schreibt er: ›Ziemlich gut‹. Es ist eigentlich eine unerlaubte Methode; und läßt sich einer verleiten, sie nachzuahmen, so stürzt er in den Abgrund; die Jungen lachen ihn aus und tanzen auf Tischen und Bänken.«

»Da wird man schließlich an Wunder glauben müssen, um so mehr, als er ein Schriftgelehrter ist,« rief der Baron.

»Ja, es hilft nichts,« sagte Hophni achselzuckend, »es gehen wirklich Zeichen und Wunder von ihm aus; man wird sich an diesen Uebelstand gewöhnen müssen. Vernehmen Sie ein abenteuerliches Exempel. Kennen Sie Frau Duhr, die alte Waschfrau? Ohne Zweifel nicht. ›Du siehst geschäftig bei den Linnen‹ u. s. w. Besondere Kennzeichen: keine; denn sie gleicht allen anderen Waschfrauen darin vollkommen, daß sie es nie übers Herz bringen kann, ihren Clienten von einem Dutzend Hemden mehr als elf Stück zurückzugeben, außer 187 wenn eine ordnungswüthige Hausfrau ihr das kleine Andenken mißgönnt. Was aber geschieht der Aermsten mit unserem Nathanael Munk? Eines Tages erscheint sie in großer Verlegenheit bei dessen Zimmerwirthin und liefert ihr aus freien Stücken das zwölfte Hemde aus, das in Gedanken bei ihr liegen geblieben sei. Die Wirthin, eine weise und tapfere Frau, wittert erst recht Unrath bei einer so naturvergessenen Ehrlichkeit und nimmt die verdächtige Person in ein scharfes Kreuzverhör, bis die in den bekennenden Jammerruf ausbricht: ›Ja, wer kann denn so'n neugeborenes Kind was nehmen? Wenn das einen so ankiekt mit seine unschuldige Augen, das ist ja wohl beinah, als wenn uns' Herrgott selbst das sieht‹. So läuft sie heulend ab, und Munks Wäsche ist vollzählig geblieben bis auf den heutigen Tag. Ein andermal hat ihm ein Bettler einen silbernen Leuchter gestohlen und gleich darauf freiwillig zurückgebracht mit der denkwürdigen Begründung, er sei ihm im Hutfutter hängen geblieben. Und solcher stadtkundiger Geschichten gibt es viele.«

»Sehr merkwürdig,« sagte der Baron nachdenklich, »doch wohl zu begreifen: das unbedingte Vertrauen hat eine still beschämende Kraft. Und Sie meinen, daß seine pädagogischen Erfolge auf diesem selben Grunde ruhen?«

188 »Zu einem Theile ja,« erklärte Pinehas, »und das geht ungefähr so zu: er kommt also zutraulich wie ein junger Hund auf die sündige Rotte zugesprungen, und seine munteren Augen scheinen Jedem einzeln zuzurufen: Du bist ein reiner, treuer, grundehrlicher, edler, engelguter Junge! Das glaubt ihm natürlich Jeder gern von sich in aller Treuherzigkeit, und weil er es glaubt, bemüht er sich in der That mit unbewußtem Drange, auch wirklich ein bißchen so zu sein, so gut es geht – vielleicht auch vorläufig nur zu scheinen.«

»Heißt das aber nicht Scheinheilige und Heuchler erziehen?« warf der Baron mit einem etwas salbungsvollen Ton dazwischen.

Pinehas kniff ein wenig die Augen ein und erwiderte gelassen:

»Was wollen Sie? Die Heuchelei ist eben die wahre Mutter der Tugend. Wer wenig heuchelt, wie Hophni und Pinehas, der ist wahrhaftig auch der Tugendhafteste nicht. Bei aller Erziehung der Kinder und der Menschheit kommt es zuletzt doch einzig darauf an, die Gewissen kitzlich zu machen; ist das im Gange, so reden wir uns vor, wir seien so ungefähr der Art, wie dies frisch geschliffene Gewissen uns haben will; diesen Schwindel können wir aber nicht lange aufrecht erhalten, weder vor uns selbst noch gar vor Anderen, wenn wir nicht 189 wirklich mehr und mehr so werden. So gewöhnt man sich langsam die Tugend an, und Mancher ist am Ende, was er am Anfang scheinen wollte. Das ist Freund Munks Methode, erster Theil: je unbewußter, desto consequenter. In diesem Sinne gleicht er dem Propheten, der künftige Dinge dadurch schafft, daß er im Geiste sie als fertig voraussah und verkündete. Oder auch dem Künstler, der im schwachen Keim die volle Blume sieht und durch sein Sehen selbst sie schafft. Seine gläubigen Augen erschaffen in den struppigen Seelen das Gute, das er vorahnend in ihnen sieht.«

Der Baron machte ganz verwunderte Augen. »Hophni und Pinehas,« sagte er langsam, »ich fange an zu glauben, Sie könnten um Einiges besser sein als ihr Ruf, wenn Sie wollten.«

»Das heißt, wenn wir Anlage zum Heucheln hätten,« bemerkte Hophni trocken. »Wir kommen nun zu seiner Methode zweitem Theil. Sein Glaube hat natürlich gewisse Grenzen, denn schlechthin blödsinnig ist Nathanael nicht. Die Gemeinheit und Verlogenheit tritt ihm denn doch einmal so plump entgegen, daß er sie sich beim besten Willen nicht mehr leugnen kann. Dann sieht er dies Böse, dies Unreine mit großen, verwunderten Augen an wie etwas Fremdes, Unbegreifliches, und er wendet sich still davon ab als von einer Sache, zu der er keine 190 Beziehung findet, die er nicht versteht. Er bekämpft es nicht, er lehnt es ab, er schweigt es todt. Diejenigen, die sich so von ihm ertappen ließen, haben für ihn aufgehört zu leben. Er straft sie nicht, er verleugnet sie. Er vermag es nicht über sich, mit den Sündern noch eine persönliche Gemeinschaft zu pflegen. Es ist eine Art von Verlegenheit, die er solchem Unreinen gegenüber zu empfinden scheint; er weiß nicht mehr mit ihm umzugehen, da er ihm nicht mehr vertrauend ins Auge blicken kann; seiner frohen Sicherheit ist hier der Boden unter den Füßen weggezogen. Er scheut sich vor ihm, wie vor einem fremdartigen Geschöpfe, dessen Denken und Fühlen von dem seinen so verschieden ist, daß es keine gegenseitige Mittheilung ermöglicht. Sieht er sich doch genöthigt, zu ihm zu sprechen, so thut er es mit abgewandten Augen und allen Ernstes erröthend. Die so gezeichneten Schüler bleiben im Winkel straflos sitzen und werden von ihm nicht mehr beunruhigt weder durch Fragen noch durch Forderungen. Sie sind moralisch hingerichtet.«

»Aber das ist grausam!« rief der Baron lebhaft. »Das ist auch ungerecht und unchristlich; unser Herr Christus richtete die Sünder auf, und dieser stößt sie von sich.«

»Es ist noch schlimmer als das alles,« nickte Pinehas ruhig, »es ist einfach dumm. Es ist 191 psychologischer Unsinn. Als ob es von Hause aus gute und schlechte Menschen gäbe, Engel und Teufel. Als ob der gesunde Baum nicht hundert kranke und faule Früchte trüge; als ob der kränkste Stamm nicht gesunden könnte. Er ist ein Schwärmer und ein Narr. Doch siehe da, diese eine ungeheure Dummheit ist's, die dem Manne die Seelen unterwirft, sie zum Zittern zwingt, zur Besserung und – zur Liebe. Keine Strafe wird je so gefürchtet, wie jener unausgesprochene Bannstrahl; kein Lob oder Lohn vergleicht sich an Macht dem stolz treuherzigen Blick dieser glaubensvollen Augen. So groß ist die Gewalt des Unsinns auf unserm armen Planeten.«

Der Baron blickte sinnend vor sich hin.

»Ich habe wohl Aehnliches schon kennen gelernt,« sagte er nach einer Pause ein wenig zögernd, »doch nur bei Frauen, und nicht von gleicher Wirkung: es zwingt nicht zur Liebe und zur Besserung, sondern zum Achselzucken, zum Trotzen, zur Lüge.«

»Das mag wohl davon kommen,« warf Hophni hin, »daß man dieselbe Gesinnung haben kann aus Hochmuth, Beschränktheit und Froschnatur, oder aber aus Reinlichkeit. Die letztere Art ist Munks.«

»Und doch ist's bei Frauen erklärlich, die das Leben nicht kennen,« fuhr der Baron fort, ohne der 192 Zwischenrede zu achten, »wie aber kann die Schwärmerei sich behaupten, bei einem Manne, der mit täglicher Erfahrung mitten im Leben steht?«

»Das mag wohl ebenso zu Stande kommen,« meinte Pinehas, »wie er und zahllose andere Leute es machen, die aller neuen Wissenschaft ein furchtloses Ohr leihen und dennoch fest am starrsten Dogmenglauben hangen. Ganz einfach: sie halten ihren Geist als ein offenes Land mit freien Wegen und Stegen, darin sie alle fremden Gedanken als willkommene Gäste sich munter tummeln lassen; mitten drinnen aber steht eine Festung, die Keiner betreten darf, der nicht nach Landesart uniformirt ist; diese Festung ist ihnen ihr Glaube; auch sie ist bevölkert mit schönen Gedanken, aber sie tragen alle Uniform, und wer sich in Civil auf der Straße betreten läßt, wird einfach als ein Spion erschossen. – So wird auch Munk seine Festung haben, in der er sicher wohnt vor allen feindlichen Gedanken und Erfahrungen.«

»Wenn es nun aber geschähe,« sagte der Baron, »daß einmal eine gewaltige Mine spränge und eine Bresche in den Wall seiner Festung legte?«

»Dann wäre sie eben verloren,« antwortete Hophni, »und höchst wahrscheinlich der Herr der Festung auch. Gott schütze ihn vor einer so überwältigenden Erfahrung, die ihm den Glauben an 193 die ganze Reinheit der Reinen in die Luft sprengte. Kein Zweifel, der ganze Kerl würde aus den Fugen gehen und nicht mehr zu gebrauchen sein. Er ist ein Nachtwandler; wird er aufgeweckt, so bricht er das Genick. Mit Engeln versteht er umzugehen, mit sündigen Menschen aber nicht. Die Schüler zumal werden ihn nicht mehr fürchten und nicht mehr lieben, sondern ihm wie manchem anderen armen Wicht vergnüglich auf der Nase herumspielen. Für diesen wunderlichen Gesellen ist's nicht anders:

Nur der Irrthum ist das Leben,
Und das Wissen ist der Tod.«

Der Baron versenkte sich mit erneuter Theilnahme in das merkwürdige Madonnenbild.

»In der That,« bemerkte er, »es liegt in den Augen dieses Joseph etwas, davor man sich fürchten könnte wie vor einer schlummernden Naturgewalt. – Aber sagen Sie, welchen Eindruck hat auf ihn dies Bild gemacht?«

»Gar keinen,« erwiderte Pinehas, »denn er hat es nicht gesehen.«

»Was Sie sagen!« rief der Baron verwundert. »Aber warum zeigten Sie es ihm denn nicht? Ich dächte, seine Ueberraschung müßte Ihr Hauptvergnügen an dem ganzen Spaße sein.«

»Das sollte es auch; allein wir wagen es nicht,« bekannte Hophni beinahe kleinlaut, »er könnte 194 so etwas wie eine Lästerung darin erblicken. Sein armes Selbst auf frech photographischem Wege zum thätigen Mitgliede der heiligen Familie befördert zu sehen, das wird er nicht vertragen. Und in solchen Fällen kann er unangenehme Augen machen.«

»Ei, ei!« lachte der Baron, »Hophni und Pinehas in ihren kühnsten Launen von furchtsamem Zartsinn gebändigt, das ist keine alltägliche Naturerscheinung. Aber hören Sie – der Mann muß dies Kunstwerk kennen lernen, ganz unbedingt; es wäre sündhaft, es ihm vorzuenthalten. Ich meine aber auch, da er gewissermaßen doch ein Heiliger ist, wird es ihn gar nicht wundern, sich als solcher photographisch erkannt und festgehalten zu sehen. Thun Sie's mir zu Liebe, ich habe meine besonderen Gedanken dabei. Ich wiederhole, es muß ein eigenes – wie soll ich sagen? molliges, bestrickendes, durchwärmendes Gefühl sein, so unvorbereitet den Joseph dieser Madonna darzustellen. Glauben Sie mir, Sie machen einen Menschen glücklich, wenn Sie es thun. Und Sie gewinnen ein Schauspiel, wie Sie selten eins erlebt haben. Wagen Sie's; versprechen Sie es mir.«

»Wenn Sie uns versprechen, uns am nächsten Sonnabend wieder in dieser unserer Klause aufzusuchen,« sagte Hophni schnell mit einem kaum merklichen, aber sehr boshaften Blinzeln.

195 Ein verdrießliches Zucken ging über die Züge des Barons. »Ich verspreche es,« sagte er endlich mit ungemein fester Stimme.

Hiermit war die Unterredung über diesen Gegenstand abgeschlossen; man ging zu leichteren Gesprächsstoffen und schwereren Getränken über. Nach vielen Stunden gelang es dem Baron sich loszureißen, den Wagen zu besteigen und die ungefähre Wegrichtung nach seinem Gute hin zu seiner tiefen Beruhigung endlich doch noch wieder aufzufinden. Hophni und Pinehas verweilten noch bei ihrer Thätigkeit.

»Du, er hat etwas –« sagte Hophni.

»– Mit der Valeska,« sagte Pinehas.

»Siehe in seinem Lebenslexikon –«

»– unter: Jugendsünden.«

»Und er hat etwas vor mit ihr und mit –«

»Nathanael Munk. Er wurde so dringend. Doch es hat keine Gefahr, denn Munk –«

»– ist und bleibt nur Fernliebhaber; wir können es darauf wagen ohne moralische Bedenken. Und jedenfalls –«

»– wird es ein Hauptspaß. Neugierig bin ich nur, ob unser Baron –«

»– sich loskämpfen wird. Gott schütze jeden Ehrenmann vor –«

»– einer tugendhaften Frau.«

196 »Amen.«

»Es lebe Valeska!«

»Prosit!«

»Wir trinken –?«

»Immer noch eins.«

»Immer noch.«

»Prosit.«

* * *

Acht Tage nach diesem saßen Hophni und Pinehas mit Zweifeln den Baron erwartend. Sie hatten eine neue photographische Teufelei ersonnen: der sanfte Kopf der Baronin Wiltrud von Schindelwick saß auf dem stattlichen Rumpfe des Stolpenburger Superintendenten in Talar und Bäffchen; neben ihm stand, demüthig seinen Befehlen lauschend, der dürre Küster Hulewenz mit dem wohlfrisirten Haupte des Barons geschmückt. Es waren die Früchte ihres jüngsten officiellen Kirchenbesuches. An diesem Bilde ergötzten sie sich eine Weile bei verschlossenen Thüren, dann versteckten sie es sorgsam in ihrem Kasten.

Der Baron kam wirklich. Seine Züge hatten einen abgespannten Ausdruck, wie nach einer starken Erregung.

»Verwundeter Krieger nach der Schlacht,« bemerkte Hophni laut zu seinem Cumpan hinüber.

»Wer?« fragte der Baron stutzend.

197 »Munk,« sagte Pinehas schnell.

»Ei, ei,« rief der Baron sogleich beruhigt und neugierig. »erzählen Sie. Wie hat sich's gemacht?«

»Wie zu erwarten war,« meldete Hophni ruhig.

»Wie war's zu erwarten?« fragte der Baron.

»Was haben Sie erwartet?«

»Daß er Feuer finge.«

»Hat er. Zunächst vergaß er, uns wegen der Blasphemie zu rüffeln. Schien sich vielmehr auf seinem Posten ehrlich zu gefallen. Im Uebrigen schwieg er sich aus. Doch seine Augen redeten in eigener Tonart.«

»Und weiter –«

»Wir beobachteten ihn dann von unserem Fenster aus. Es ist richtig, alle seine Madonnen von Fra Angelico bis van Dyk sind abgesetzt, verstoßen, zu Kebsweibern erniedrigt. Sancta Valeska ist Alleinherrscherin. Er steht stundenlang verzückt und starrt sie an. Ob auch sich selber, war nicht zu unterscheiden.«

»Und hat er nicht nach dem Modell gefragt?«

»Mit keinem Wort. Er schien ihre himmlische Abkunft keinen Augenblick anzuzweifeln.«

»Oder vielmehr,« ergänzte Pinehas, »um genau bei der Wahrheit zu bleiben, es war ihm nur zu deutlich anzusehen, wie ihm die Frage auf der Zunge brannte. Doch er verbiß sie sich dauernd: 198 und das Naturspiel war sehr drollig zu beobachten.«

»Nach etlichen Tagen aber schmolz unser Herz,« fuhr Hophni fort, »und wir beschlossen, uns seiner Leiden zu erbarmen. Wir lockten ihn ins Theater. Nicht ohne List und Mühe; doch es gelang.«

»Das war sehr unvorsichtig von Ihnen,« meinte der Baron, »der Sprung von der Madonna zur Soubrette ist ein bißchen weit auch für seine stark geflügelte Seele; und überdies präsentirt sich grade Fräulein Valeska nach meinem Erinnern niemals schlechter, als in der Ausübung ihrer sogenannten Kunst. Sie mußten so den Aermsten mit einem Schlage aus allen Himmeln reißen.«

»Das war freilich sehr genau unsere Absicht,« bemerkte Pinehas trocken, »doch leider mißlang sie vollkommen und schlug in ihr traurigstes Gegentheil zurück. Vielleicht war die Wahl des Stückes von uns nicht minder verfehlt – wie sie es vom Theaterdirector war. Doch es ließ sich nicht anders einrichten: in eine ehrliche Posse war Munk mit aller Anstrengung nicht zu verschleppen. Vernehmen Sie und staunen Sie: man gab Emilia Galotti. Es war schauderhaft, ein literarischer Königsmord. Die Titelrolle aber gab –«

»Doch nicht Valeska?«

199 »Grade sie. Die erste Liebhaberin war plötzlich krank geworden. Valeska mußte eintreten.«

»Entsetzlich! Armer Herr Munk!«

»Ja, armer Munk! Diese Emilia war nämlich – entzückend.«

»Das Unmöglichste des Unmöglichen. Man kann die Emilia doch nicht wohl als munteres Kammerkätzchen spielen.«

»That man auch nicht. Man stand auf der Höhe des tragischen Empfindens.«

»Dann um so mehr zum Lachen.«

»Um so mehr zum Entzücken. Im Anfang zwar fürchteten – hofften vielmehr auch wir das Schlimmste. Doch es ließ sich aushalten; was sie in der ersten Szene zu sagen hat, ist allenfalls unschädlich; ihre Haltung war harmlos und niedlich; das wohlerzogene Schäfchen, wie es im Buche steht. Sie hatte aber Zeit sich umzusehen und uns nebst Munk zu entdecken; wir saßen in den vordersten Reihen. Nathanael war unbeschreiblich sehenswerth; ganz Auge, ganz Andacht, ganz Anbetung. Kein Zweifel, er sah kein Schauspiel, sondern eine lebenswirkliche Emilia Galotti; und diese Emilia war seine Madonna. Es gab für ihn keinen Sprung von der Allheiligen zur Comödiantin, sondern diese Beiden schwebten sich auf einer goldenen Brücke entgegen und flossen in einander. Madonna Valeska 200 Galotti. Ein solches Quantum schwärmerischer Hingebung in einem einzigen Gesichte werden Sie sich kaum vorstellen können. Oder denken Sie an die verzücktesten Heiligen eines Murillo. So sieht sich Valeska nun angehimmelt: eine stumme Huldigung, derengleichen die kleine Soubrette wohl schwerlich schon erlebt haben kann. Und ihren Joseph natürlich erkennt sie. Und siehe da, die Neuheit eines solchen Triumphes über ein Mannesherz verwirrt sie vollkommen, sie verliert jede künstlerische und künstliche Haltung, sie ist nichts mehr als ein schüchternes, zartes, ahnungsvoll bangendes, selig erröthendes junges Mädchen, das die Augen nicht losbringen kann von einer gewissen gefürchteten Stelle, das die vorgeschriebenen Worte nur mühsam und ohne Betonung hervorstottert; kurzum, die schlechteste Darstellerin der Emilia und die denkbar reizendste Emilia selber. Dies war das ungeahnte Ergebniß dieses denkwürdigen Theaterabends. Wir waren ernstlich erschrocken.«

»Aber worüber erschrocken?« fragte der Baron, »Sie sollten stolz sein auf Ihren Erfolg. Allein ich merke – Sie sind eifersüchtig!«

Hophni und Pinehas blickten ihn von der Seite her mitleidig an, ohne ihn einer Zurückweisung solchen Verdachtes zu würdigen.

»Was soll daraus werden?« fragte Hophni statt 201 dessen, »so etwas von Hülflosigkeit einer armen Seele kennen Sie ja gar nicht, Baron! Die einsame Schwärmerei ist ungefährlich: das frißt keinen Menschen auf. Wir hätten es dabei lassen sollen. Wo aber das Feuer auch von der anderen Seite kommt – das einsame Schwärmen dürfte kaum nach Fräulein Valeskas Geschmack sein. Was soll er nun aber mit ihr machen? Verführen kann er sie nicht, das ist nicht sein Fach. Weder als Mensch noch als Schriftgelehrter. Er müßte sie also geradezu heirathen.«

»Nun, und warum wollen Sie ihm das Glück mißgönnen?« fragte der Baron.

Hophni und Pinehas zuckten die Achseln.

»Ein köstlicher Spaß wäre es, nämlich für uns, aber ein häßlicher Ernst, nämlich für unseren Collegen. Hand aufs Herz, Baron, halten Sie es für möglich, daß dies eine glückliche Ehe gäbe?«

Der Baron lächelte. »Sie reden wie der blaue Idealismus. Junggesellenträume. Was nennen Sie eine glückliche Ehe?

Zwei Seelen und ein Gedanke,
Zwei Herzen und ein Schlag –

es sind doch nicht Hophni und Pinehas, die solche Verse machen. Jede Ehe kann glücklich werden.«

»Valeska und Nathanael – Nathanael und Valeska – nein.«

202 »Was gibt Ihnen das Recht, von dem Fräulein so niedrig zu denken?«

»Niedrig? Wir werden Sie vor die Klinge fordern müssen, Baron, wenn Sie das wiederholen. Sie wissen doch, wir sind bis über die Ohren verliebt in die Dame. Aber das kann uns nicht hindern, uns klar zu machen, daß sie jedenfalls keine Madonna ist.«

»Zugegeben; und vielleicht auch keine Emilia Galotti. Aber welcher Thor verlangt das?«

»Nathanael Munk.«

»Gestatten Sie mir, den Herrn für vernünftiger zu halten. Fräulein Valeska ist – nach Ihrer Schilderung – eine gutgeartete Person; gibt sich mit Wickelkindern ab, die sie gar nichts angehen; interessirt sich nach eigener Aussage mehr für Prediger und Schullehrer als für Seiner Majestät Offiziere; geräth in Verwirrung, wenn sie übermäßig angeschwärmt wird; ist übrigens heiter, aufrichtig und liebenswürdig; das ist so gerade der Teig, aus dem der liebe Gott die guten Hausfrauen bäckt.«

»Und obendrein,« bemerkte Pinehas mit Seelenruhe, »wird sie selbst nicht müde zu versichern, daß sie keine tiefere Sehnsucht, keinen schöneren Ehrgeiz kenne, als eine gute Hausfrau und Mutter zu 203 werden. Und das ist ihr vollkommener Ernst, sie hat in aller Ehrlichkeit die Ueberzeugung.«

»Nun also, was wollen Sie mehr?«

»Sie tanzt zu gut,« versetzte Hophni kurz.

»Ist Ihr Herr Munk ein Puritaner von dieser Sorte?«

»Durchaus nicht,« sagte Hophni, »aber ich habe neulich einen Traum gehabt.«

»Hatte Pinehas ihn auch?« fragte lachend der Baron.

»In Träumen müssen wir uns nothgedrungen von einander emancipiren,« erklärte Hophni, ohne sich stören zu lassen. »Wir hatten an dem Abend eine kleine Kneiperei mit den Schauspielern gehabt, die zuletzt in einen Ball ausartete. Unter anderm Unsinn gab Valeska einen ungarischen Czardas zum Besten. – In dieser Nacht also träumte ich von unserer berühmten Dünenwüste; aber sie war nicht photographirt, sondern aus freiem Handgelenk gemalt – Colorit unglaublich, sage ich Ihnen! Dies Gelb des Sandes und Blau des Himmels, dies Blau des Meeres und dies Gelb des Sandes – ich hätte Tizians Neid nicht sehen mögen. Dazu eine nagelneue Staffage. Mitten im weltvergessenen Sandmeer saß ein einsames schönes Weib in glühenden Purpur gekleidet, mit Epheu umkränzt und blühenden Orangenzweigen; aber sie saß nicht mehr, 204 sie war aufgesprungen, sie tanzte in jauchzendem Wirbel über die gelbe Fläche hin, den Sand aufwühlend, daß er in heißen Wolken um sie stob; sie tanzte, die purpurne Schleppe wie eine rothe Schlange nach sich schleifend, sie ganz allein in eigener Wildheit, einer sonnenbeglänzten Sturmwolke gleichend, in heißer Verzückung, dem süßesten Taumel hingegeben, in sich selbst berauscht, trunken von Einsamkeit und wirr beseligt vom dumpfen Selbstgenusse ihrer ungesehenen Schönheit – und diese brillante Person trug ganz zum Photographiren deutlich die Züge unserer neuentdeckten Madonna Valeska.«

»Nun, und – was wollen Sie damit sagen?« fragte der Baron kopfschüttelnd. »Mit der Wissenschaft der Traumdeutung habe ich mich bisher noch nicht befaßt; und auch bei Ihnen ist mir dies neu, und ich gestehe, ein wenig überraschend; ich habe Sie immer für einen klaren Kopf gehalten.«

»Ich mich auch, und gedenke, diese Ansicht gegen Jedermann zu vertheidigen. Aus jenem Traume aber habe ich für meinen Privatgebrauch die folgenden vier Streitsätze abgeleitet, welche ich hiermit in Auslage stelle. Erstens: Der geistreichste Photograph (Sie verstehen, auf wen ich anspiele) ist noch lange kein Künstler. Denn das geschilderte Traumgemälde hätte ich niemals auf photographischem Wege herstellen können, auch wenn die 205 Wiedergabe der Farben zehnmal erfunden wäre. Zweitens: Unter der Dauer dieses Traumes war ich, Hophni, in Firma Hophni & Pinehas, ein regelrechter Künstler von Gottes Gnaden. Drittens: Ein Künstler von Gottes Gnaden sieht aus den Dingen niemals etwas heraus, das nicht von Hause aus in ihnen steckt. Viertens: Eine junge Dame, von der ein Künstler solche Abenteuer träumt, ist zur Ehegattin eines christlichen Religionslehrers nur sehr vorübergehend geeignet. Ihrem Wissen, Baron, will ich gern die genauere Schätzung überlassen, binnen welcher Frist die Langeweile in ihr die Sehnsucht nach der verderbten Welt wieder aufwecken wird.«

»Große Götter!« rief der Baron, die Hände zusammenschlagend, »verehrter Hophni, in Firma Hophni & Pinehas, wer hätte so viel Voraussicht hinter Ihrem weltberühmten Leichtsinn gesucht! Wie kommt Saul unter die Propheten? Ich war allenfalls darauf gefaßt, Sie etwa die Vergangenheit der Dame mit unberechtigten Ahnungen durchleuchten zu sehen – aber die Zukunft! Das heißt doch fast noch mehr, als Gras wachsen hören! Mir scheint, es wäre klüger, weniger klug zu sein und diesen Dingen ihren Lauf zu lassen. Und übrigens, was geht Sie's an? Sie werfen spielend einen Traubenkern durch die Luft: ein zufälliger Wind 206 trägt ihn in ein gutes Erdreich, der Keim geht auf, der Weinstock wächst, die Trauben reifen, werden gekeltert – Ihr Bruder betrinkt sich an dem Wein und fällt im Rausch ins Wasser; sind Sie darum ein Brudermörder? Geben Sie es auf, Vorsehung zu spielen, Verehrtester, Sie gerathen in ein falsches Rollenfach.«

»Sie haben vollkommen Recht,« sagte Pinehas sanftmüthig. »Man spielt auf einem Heuboden mit brennenden Streichhölzern, man ist doch darum noch kein Mordbrenner. Und jedenfalls, da nun das Haus in Flammen steht, wäre es kindlich, mit Wassergläsern löschen zu wollen. – Die Dinge sind nämlich bereits sogar noch weiter gediehen. Hören Sie zu und jauchzen Sie. Verführer! Am Tage nach der Galotti-Vorstellung holen wir Valeska zu einem Spaziergange ab; man muß doch etwas thun für das Vergnügen der Einwohner und des Gymnasialdirectors. Da ertheilt das gute Geschöpf nach einigem Zögern uns ernsthaft folgenden Auftrag: ›Bitten Sie doch Ihren Herrn Collegen,‹ sagte sie, ›er solle nicht wieder ins Schauspiel kommen, wenn ich auftrete.‹ – Und warum das nicht? fragen wir verwundert. –›Ich kann es nicht aushalten, vor ihm zu spielen,‹ erklärt sie mit einem Thränchen im Auge, ›mir ist da gerade so, als ob ich ihm etwas vorlöge. O Gott, ich bin doch keine solche 207 Emilia Galotti! Und er – er macht so sonderbare, sonderbare Augen, so ganz, als ob er Alles glaubte, was ich spiele. Sie können sich nicht vorstellen, wie mich das quält. Er darf wirklich nicht wieder ins Theater kommen. Bitte, sagen Sie ihm das. Wenn er mich sehen will, kann er mich ja in meiner Wohnung besuchen, wie Sie es thun.« – – Aha! – – Was blieb uns übrig, als den Auftrag ehrlich auszurichten? Den letzten Satz allerdings erlaubten wir uns wegzulassen, der Sicherheit wegen; vielleicht, daß er sie dann gar nicht mehr wiedersähe, die Leidenschaft doch noch in Madonnenschwärmerei verpuffte. Wir hatten die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Am andern Tage, als wir zum Appell bei Valeska antraten, finden wir in ihrem Empfangszimmer höchst feierlich in bitter-ernstem Gespräch ihr gegenübersitzend – Nathanael Munk. Ich will darauf schwören, er hat in seinem Leben noch nie mit einem andern Mädchen so Auge in Auge allein gesessen. – Nun war er da und das Gespräch in flottem Gange, allerdings in Form einer Predigt oder Vorlesung von seiner Seite. Aesthetische Briefe an eine Jungfrau, in mündlichem Vortrage. Er war bemüht, ihr langen Athems klar zu machen, daß die Schauspielkunst so wenig Lüge sei wie jede andere Kunst. ›Nicht einmal schöner Schein ist sie und jede Kunst,‹ offenbarte er, 208 ›sondern ganze Wahrheit. Indem Sie die Emilia darstellen, stellen Sie einen Theil von sich selber dar, einen wirklichen Theil Ihres lebendigen Wesens. Kein Künstler kann eine andere Rolle spielen als sich selbst; versucht er es dennoch, so scheitert er und spielt schlecht, denn dann versucht er zu lügen, und die Lüge ist häßlich. Es gibt keinen schönen Schein, sondern nur schöne Wahrheit. Ein Künstler schafft Schönes, so lange er das gibt, was er in Wahrheit ist. Sie könnten niemals eine rechte Emilia weder dichten noch spielen, wenn Sie nicht eines Wesens mit ihr wären, wenn nicht ein Theil Ihrer Seele sich mit Emilias Seele deckte. Allerdings nur ein Theil. Sie müßten hundert Rollen spielen, um uns den hundertsten Theil Ihrer ganzen Seele aufzudecken, die Kunst kann immer nur einen Theil der Wirklichkeit eines Dinges herausheben und mit einem Rahmen umschließen; den winzigsten Grashalm kann der Maler nur von einer Seite, in einer Beleuchtung, in einer Stellung wiedergeben, und Shakespeares Gestalten in all ihrer Fülle sind ja nur der hundertste oder tausendste Theil eines wirklichen Menschen; aber dieser Theil genau so wie die Natur ihn schuf – als sie Shakespeare erschuf. Alle Kunst ist wahr, die uns einen Theil des Künstlers gibt. Also fürchten Sie sich nicht, mein Fräulein, Sie sind nie wahrer, als wenn Sie 209 eine rechte Rolle spielen.‹ – Sie begreifen, Baron, daß Valeska zu dieser Predigt ein ziemlich dümmliches und wir ein ziemlich schlaues Gesicht machten. Wobei bemerkt werden soll, daß Ersteres unendlich reizend anzusehen war: ein Kind, das sich abquält, das Dogma von der Dreieinigkeit in seinen Tiefen zu verstehen, kann nicht lieblicher aussehen und nicht drolliger. Kein Zweifel aber: durch eben diese Predigt ist Nathanael Munk für sie zum Range eines Halbgottes emporgestiegen. Es dauerte eine gute Zeit, bis sie selbst ein Wort der Erwiderung wagte, das dann aber recht nachdenklich und geheimnißvoll klang. ›Dann kann man also,‹ fragte sie, ›in einem Augenblicke Alles vergessen, was man sonst ist und gewesen ist, und braucht nur zu sagen, was man in diesem Augenblicke fühlt – und das ist dann keine Lüge? Und wenn man in diesem Augenblicke sich gut und rein fühlte und hätte doch früher einmal eine Sünde begangen: darf man denn die vergessen und verschweigen?‹ Ihre Augen hatten einen seltsamen Glanz bei dieser Frage wie von einer scheuen und unsicheren Freude, wie wenn sie ein plötzliches Glück heranschweben sähe, dem sie noch nicht zu trauen wagte, eine Freude mit stiller Angst vermischt – Sie haben mehr Erfahrung mit weiblichen Personen, Baron, als wir; vielleicht wissen Sie das besser zu erklären als wir.«

210 Der Baron lächelte etwas gezwungen.

»Vielleicht sahen Sie zur Abwechslung einmal das Gras wachsen,« meinte er ausweichend. »Doch was erwiderte ihr Herr Munk auf die spitzfindige Nutzanwendung seiner Weisheit?«

»Er that einen Rückzug, der sehr bezeichnend für ihn ist,« entgegnete Pinehas, »er wich unversehens hinter die Mauern seiner Festung. ›Emilia – diese Emilia, die Sie spielen,‹ erklärte er tiefsinnig, ›hat keine Sünde begangen, die sie nicht vergessen und verschweigen dürfte. Diese Emilia kann gar nicht sündigen, und wenn sie sich vor sich selber fürchtet, so irrt sie; sie kann nicht sündigen, weil ihre Seele nicht bloß gut ist, sondern schön. Das Weib, welches schön ist in diesem Sinne, kennt keine Sünde, kennt nicht einmal eine Versuchung; wie schlafwandelnd geht es seinen selbstverständlichen Weg, den sein Verstand nicht kennt; es thut immer das Rechte und Reine, indem es einzig seinem Herzen folgt. Diese Ruhe, diese unbekümmerte Sicherheit ist es, die ihr die Charis gibt, den besten Theil aller weiblichen Schönheit, die duftende Blume, die kampflos der Wurzel des reinen Naturtriebes entspringt. Dieses Weib kann nicht Recht oder Unrecht thun, es kann ewig nur schön sein, weiter nichts. Ein anderes Weib kann sündigen und bereuen, und es wird ihr siebenundsiebenzig Mal vergeben werden, 211 und man wird sie wieder gut und trefflich nennen; aber schön wie Emilia und schön wie die Madonna ist sie nicht und kann sie auch niemals werden. Die Charis der Reinheit kann nicht gegeben und nicht genommen werden.‹ – Was sagen Sie zu einer so ausbündigen Menschenkenntniß, Herr Baron? Möchten Sie so eine Wolkenschönheit nicht auch einmal mit Ihren sündigen Augen erblicken? Nathanael Munk aber, der Beglückte – er sah solch Wunderwesen vor sich in vollster Leibhaftigkeit, nicht über Wolken wandelnd, sondern ganz vernünftig auf einem etwas verblichenen Sopha sitzend. Was nicht geniale Augen Alles sehen können!«

»Und Fräulein Valeska?« fragte der Baron lebhaft. »Wie ertrug sie den Ueberschwang verliebter Huldigung?«

»Wie Sterbliche überhaupt den Duft des Weihrauchs zu ertragen pflegen. Im Anfang wehren sie den heißen Dunst mit beiden Händen ab, erröthen mit beschämtem Blick oder lachen wohl gar – bis allmählich, allmählich – – nun, der Proceß des Rausches ist uns Dreien ja geläufig. Und man kann sich bekanntlich auch in wenigen Minuten betrinken, wenn der Wein nur stark genug ist und man das nöthige Quantum einnimmt. So hat das gute Ding bald wirklich berauscht eine kurze Weile mit ganzer Seele über Wolken gethront; und Sie können 212 glauben, sie ist nie so schön gewesen wie während dieser Weile. Nur ein klein wenig länger noch, und sie hätte zwei Gläubige mehr gewonnen. Zum Glück oder Unglück aber brach sie ganz plötzlich in schwer erklärbare Thränen aus und war nun – immer noch sehr niedlich, doch nicht mehr madonnenmäßig anzusehen. So wurden wir des drohenden Zaubers ledig und schickten uns an, durch weise Flucht uns ganz in Sicherheit zu bringen, als Munk uns zuvorkam und mit stiller Feierlichkeit seinen Abschied nahm. Möglich, daß er die ansteckende Kraft der Thränen fürchtete; denn ein guter Mensch weint immer am leichtesten, wenn er gar keinen vernünftigen Grund dazu hat. Wie er jene ihre Thränen sich gedeutet haben mag, nun, das ist seine Sache: auf jeden Fall wohl unrichtig. Und Sie, Baron, welche Deutung würden Sie für die wahrscheinliche halten?«

»Ich deute weder Träume noch Thränen,« sagte dieser kurz abweisend, »das aber steht mir jetzt fest: diesen Herrn Munk muß ich kennen lernen. Das ist eine positive Bereicherung meiner Menschenkenntniß; solche Käuze findet man nicht alle Tage. Sagen Sie, meine Herren, könnten Sie den Mann nicht einmal hierher verlocken?«

»Er ist zu schade für unsere Gesellschaft,« sprach Hophni trocken.

213 »Das ist etwas Anderes,« sagte der Baron mit einem kurzen Lachen, dann werde ich freilich auf Ihre Vermittelung verzichten müssen und ihn allein genießen, um ihn in besserer Gesellschaft zu haben. Richtig, ich habe einen Neffen auf dem Gymnasium; ich werde Gelegenheit nehmen, mich nach dessen theologischen Kenntnissen und moralischen Eigenthümlichkeiten im Namen seines Vaters zu erkundigen. Ich muß zwar fürchten, ein mehrstündiges Sündenregister verlesen zu hören, doch ich werde meiner eigenen Jugend denken und auch das ertragen um einer guten Sache willen. – Meine Herren,« fügte er, sich schnell erhebend, hinzu, »Sie haben Grund zu der Besorgniß, ich könnte Sie in wenigen Tagen schon wieder hier belästigen. Ich spüre den Drang, Ihnen Rechenschaft abzulegen über meine Eindrücke; und überdies, der Fortgang dieser Liebesgeschichte interessirt mich. Für heute leben Sie wohl.«

Er ging. Hophni und Pinehas blickten einander an.

»Das ist aber –« sagte Hophni.

Pinehas nickte.

So verweilten sie noch etliche Stunden schweigend und trinkbar.

* * *

214 Es folgte wirklich in einigen Tagen der dritte Kneipabend. Der Baron erschien auffallend ernst gestimmt.

»Es ist ganz gewiß die seltsamste Erfahrung meines Lebens,« sagte er nachdenklich in sein Glas blickend, »ich kam zu ihm mit einem gewissen leichten Spott im Herzen – er war ja nicht boshaft, dieser Spott: Sie begreifen, ein mildes Lächeln behaglicher Ueberlegenheit. Unsere Unterredung dauerte ein kurzes Stündchen oder höchstens deren zwei; sie drehte sich gar nicht um der Menschheit große Gegenstände, sondern meist um harmlose Fragen des nächsten praktischen Lebens. Und als ich von ihm ging, beherrschte mich ein seltsam freudiges und dennoch – ich muß beinahe sagen demüthiges Gefühl. Mir war – ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, da ich den Mann doch nie zuvor im Leben gesehen – mir war, als hätte ich einen alten vertrauten Kameraden zufällig wiedergefunden, der es viel weiter gebracht im Leben, als ich, und doch mir redlich treu geblieben ist. Ganz wunderbar, diese Empfindung, ganz räthselhaft. Sie haben ihn gut geschildert, meine Herren, und haben doch Manches vergessen, das nicht das Schlechteste an ihm ist, so die heitere Unbefangenheit seines Wesens, die weder Hoch noch Niedrig kennt, die mit dem lieben Gott auf vertrautestem Fuße steht und mit der alten 215 Waschfrau auch. – Meine Herren, was hat der Mensch für fröhliche, siegreiche Augen!«

»Da sind Sie ganz anderer Meinung als Fräulein Valeska,« bemerkte Hophni in gewohnter Gelassenheit, »wollen Sie hören, was die gesagt hat? ›Was hat der Mensch für schreckliche, grausame Augen!‹ rief sie aus. ›Ueberhaupt, er gefällt mir schon gar nicht; man muß sich ja fürchten vor dem. Und was er alles für Unsinn redet!‹ So hat sie gesagt, buchstäblich; aber was sie für ein Gesicht dazu gemacht hat – ich möchte wirklich einmal von einem Mädel so gefürchtet werden!«

Der Baron erwiderte nichts darauf, sondern versank noch tiefer in Nachdenken. Endlich begann er wieder mit dem gleichen Ernst:

»Ich habe noch etwas Anderes mit Ihnen zu besprechen, meine Herren, einen Rath zu erbitten. Es betrifft einen Vorfall, der mir seinerzeit schmerzlich zu schaffen machte und neuerdings auf eigenthümliche Weise wieder in meinen Gesichtskreis gerückt ist. Betrachten wir es als eine rein theoretische Frage, die Sie mir beantworten sollen. Sie sind durch Vorurtheile weniger beengt als Unsereiner und kennen doch die Verhältnisse genügend, um urtheilsfähig zu sein. Sie sind Reserveoffiziere und wissen also, was uns Ehre bedeutet, und Sie haben doch zugleich den Blick in ein anderes Leben 216 frei, das weniger gebunden und von klarerer Menschlichkeit ist.«

Hophni und Pinehas vernahmen mit einiger Ueberraschung den ungewohnten Ton und lauschten mit gespannterer Aufmerksamkeit.

»Es handelt sich um zwei ehemalige Kameraden, Hugo von B. und Kurt von der M. Die Namen mag ich nicht nennen, obgleich die Sache viel besprochen ist und beide verstorben sind. Hugo von B., ein gutherziger, aber leichtsinniger Junge, lernte in einer kleinen rheinischen Stadt eine junge Dame aus leidlich guter bürgerlicher Familie kennen; beide Theile unvermögend, an eine Heirath nicht zu denken. Nun, Jugend hat keine Tugend; Noth bricht Eisen; kein Feuer, keine Kohle . . . kurz, man findet sich und weiß seine Gluthen zu kühlen. Leider kennt aber Jugend auch nicht die gebotene Vorsicht: das stille Glück des Paares wird ruchbar in dem Krähenwinkel, sehr laut ruchbar; der Ruf der Familie ist schwer bedroht – schon mehr als das; sie ist klug genug, vor einem öffentlichen Ausbruch den Platz zu räumen, nach Berlin überzusiedeln und hier in der schützenden Masse unterzutauchen. Das gelang vollkommen, weitere Folgen hatte die Sache nicht, die Reinlichkeit der Familie und des jungen Mädchens war unbezweifelt wie ehedem.

»Hugo athmete auf; was er an Vorwürfen 217 verdiente, hatte er sich zur Genüge selbst gemacht. Auch er kam bald darauf nach Berlin; er that, was er thun mußte, vermied die alte Flamme hier aufs Strengste trotz starker Zuckungen im Gemüthe und wurde überhaupt fortan vernünftiger; gebranntes Kind scheut's Feuer. Zwei Jahre danach ging er auf correcteren Freiersfüßen; die neue Erkorene war reich und überaus verliebt in ihn; er hatte also jetzt die richtige Weichenstellung.

»Eines Tages führte ihn der Zufall oder der Teufel auf der Eisbahn mit der verlassenen Rheinländerin zusammen, vielmehr wirft sie zusammen im buchstäblichen Sinne; sie erkennen einander erst beim gemeinsamen Sturze. In verlegener Freundlichkeit begrüßen sie sich als alte Bekannte; ein kurzes Gespräch ist nicht zu vermeiden: im Verlauf desselben empfinden beide mit leiser Genugthuung die zwischen ihnen eingetretene Kühle; die Vergangenheit ist unter dem Eise oder sonstwo begraben.

»Zum Unglück nun hatte Kamerad Kurt von der M. den kleinen Auftritt mit angesehen; entzückt von dem Liebreiz der jungen Dame, entschloß er sich kurz, trat zu den beiden heran und bat, ihn bekannt zu machen. Widerwillig und erschrocken that Hugo, was nicht mehr zu vermeiden war.

»Die Sache entwickelte sich mit größter 218 Schnelligkeit. Kurt war einziger Sohn aus sehr wohlhabendem Hause, ganz frei in seinen Entschlüssen. Nicht sehr viele Wochen nach jener Eistragikomödie erhielt Hugo einen Brief von Kamerad Kurt, worin dieser ihm seine bevorstehende Verlobung unter der Hand mittheilte – ihm als dem Ersten, da er doch gewissermaßen der Anstifter und Vermittler des neuen Glückes sei. Die Veröffentlichung sollte aus diesem und jenem Grunde erst in einigen Wochen erfolgen.

»Hugo war außer sich vor Schrecken. Was thun? Das arme Mädchen verrathen, zum zweiten Male unglücklich machen? Er selbst der Schuldige? Abscheulich. Unmöglich. Und gegen die Mannesehre. – Also schweigend zugeben, daß der Kamerad mit falscher Waare betrogen werde – wiederum durch seine Schuld, der ihn ungewarnt sich hat verstricken lassen? Und wenn nun vielleicht dereinst einmal Lästerungen aus der rheinischen Heimath doch bis hier herüberzischen und die Hausehre eines Offiziers und Edelmanns beflecken?

»So stand der Fall. Meine Herren, wie würden Sie entschieden haben?«

»Reden ist Silber, Schweigen ist Gold,« antwortete Hophni nach kurzem Bedenken.

»Mannesehre geht über Standesehre,« fügte Pinehas hinzu.

219 »Sie entscheiden sich kurz und leicht,« sagte der Baron, »dem armen Hugo wurde die Wahl schwerer, wie es denn wohl im Ernstfalle zu gehen pflegt. Und man muß sagen: die Folgen scheinen anders zu reden. Hätte Hugo das Mädchen geopfert, was wäre geschehen? Das Glück eines Herzens zerstört, das schließlich kein reines Herz mehr war, wenn es sein Glück mit einem Betruge zu erkaufen vermochte – vielleicht auch nicht zerstört, nur aufgeschoben bis zu einer dritten Liebe. So aber, was geschah? Hugo schwankte, und schwankend schwieg er wirklich so lange, bis es zu spät war. Die Verlobung ward gefeiert, die Ehe vollzogen; das Pärchen verlebte ein ungetrübtes Jahr in allem Glücke.

»Da ward Kurt von der M. plötzlich veranlaßt, um seinen Abschied einzukommen. Man konnte ihm auf seine Anfrage nicht verschweigen, daß es der Ruf seiner Gemahlin sei, der seine Stellung innerhalb des Offiziercorps unmöglich mache. Entrüstet forschte er weiter nach – und das Ende vom Liede war selbstverständlich das Duell mit Hugo von B. Kurt fiel, ins Herz getroffen. Der Arzt constatirte eine sonderbare Richtung des Wundkanals: schräg von oben nach unten. Es gab nur eine Erklärung – doch Hugo erfuhr sie nicht mehr; er jagte sich selbst auf dem Platze eine Kugel durch den Kopf. 220 Sie sehen, meine Herren, der Fall war doch so einfach nicht.«

»Vielmehr ein neuer Beweis für die oft beobachtete Thatsache, daß jedes Ding zwei Seiten hat,« bemerkte Hophni bedächtig. »Tretbriefe gewöhnlich ausgenommen.«

»Der einzige sichere Rath, den man Herrn Hugo geben kann,« fügte Pinehas hinzu, »ist also der, sich künftig so gearteter Jugendsünden zu enthalten und seinen Bedarf an Lastern auf andere Weise zu decken. Er könnte sich an uns ein Beispiel nehmen. Es ist wahr, das viele Weintrinken ist auch ein Laster, aber erstens ein schönes, und zweitens hinterläßt es keine Folgen, als etwas Katzenjammer und später etwas Zipperlein. Doch beides nur zum Privatgebrauch; die Mitmenschheit bleibt unbelästigt. Das ist die beste Moral der Geschichte – von Ihnen freilich, Baron, sollten wir noch eine andere erwarten. Oder war Ihr Streben bloß, Ihr Erzählertalent leuchten zu lassen?«

»Die Geschichte ist typisch,« versetzte der Gefragte, »derartige Fälle wiederholen sich leider. Ein junger Kamerad befindet sich in ähnlichem Falle, nur nicht zu gleicher Schärfe zugespitzt; der Gegenspieler hat nicht Offiziersrang und ist nicht von Adel. Doch der Kamerad, wie gesagt, ist jung und noch sehr weichmäulig; sein Gewissen rumort. Er 221 wendet sich an mich um Rath; welchen soll ich geben? Sie rathen zu schweigen und mein Gefühl im Anfang auch; und doch ist mir unheimlich dabei zu Muthe. So leicht vergißt man nicht, was man erlebte.«

In diesem Augenblicke hörte man draußen den Namen des Barons nennen; Jemand fragte nach ihm. Ein Postbote ward hereingeführt und übergab einen Brief, den der Baron mit großer Verwunderung empfing; er warf einen vorwurfsvollen Blick auf die beiden Genossen. Doch sobald er die Aufschrift betrachtet hatte, besann er sich schnell und zwang sich zur Ruhe, ohne doch eine starke Aufregung ganz verbergen zu können.

»Meine Frau vermeldet plötzlichen Besuch in meinem Hause,« sagte er mit erkünstelter Nachlässigkeit, nachdem er den Brief gelesen, »ich kann mich den Pflichten des Hausherrn nicht entziehen. Leben Sie wohl für heute und erfreuen Sie sich weiter Ihres sündlosen Lebenswandels.«

Mit diesem Versuche zu scherzen, der an dem zornigen Ausdruck seiner Züge scheiterte, entfernte er sich.

»Glaubst Du, daß die Baronin –?« fragte Hophni.

»– seine hiesige Adresse kennt?« nahm Pinehas die Rede auf. »Weder sie noch irgend ein Anderer. 222 So unvorsichtig geht er mit seinem Rufe nicht um. Und uns war Discretion noch immer Ehrensache – eine zufällige Ausnahme ohne Bedeutung nur gerade heute –«

»Valeska!«

»Also!«

»Also!«

Nach einem längeren Schweigen fragte Hophni:

»Scheint Dir der Kopf des Barons geeignet für eine Darstellung des Theseus?«

So dunkel diese Rede war, sein Pinehas verstand sie doch.

»Ariadne auf Naxos,« sprach er mit ruhigem Kopfnicken.

»Und Bacchus?«

»Munk.«

»Es soll die glücklichste Ehe von der Welt geworden sein.«

»Nun also.«

»Also.«

* * *

Der Baron begab sich zu Fuß, mit hochgeschlagenem Rockkragen in den Gasthof, in welchem der bessere Theil der Schauspielertruppe sich einquartirt hatte. Er fragte nach Fräulein Valeska und ward in ihr Empfangszimmer geführt.

Sie stand auf und ging ihm langsam entgegen.

223 Sie war sehr einfach gekleidet; doch ihre jugendliche Anmuth schien nur um so frischer hervorzutreten.

Der Baron stand steif und zurückhaltend, vielleicht verlegen.

»Baron Schindelwick,« sagte er mit einer kühlen Verbeugung. »Sie haben befohlen, mein Fräulein –«

Der Ernst in ihren Zügen ward verdrängt durch ein fast übermüthiges Lächeln.

»Aber ich will Sie ja nicht anpumpen, Herr Baron,« sagte sie mit einem neckischen Knix, »die Bitte, die ich auf dem Herzen habe, ist wirklich vollkommen anderer Art. Auch sonst haben Sie keinerlei Anspruch oder Forderung zu fürchten; Sie sind in jeder Hinsicht außer Gefahr. – Und übrigens,« setzte sie, seine steife Verbeugung nachahmend, hinzu, »ist mein Name noch immer Valeska.«

Er lachte gezwungen. »Nun also?« sagte er kurz.

»Wie sonderbare Arten von Wiedersehen es doch in der Welt gibt!« rief sie aufrecht vor ihm stehend, und ihre Heiterkeit schien noch zuzunehmen: »Wir hatten gehofft, einander im Leben nicht mehr zu begegnen, – und hatten gefürchtet, es würde sonst eine bewegliche Scene geben; wirklich, Herr Baron, Sie haben das von mir gefürchtet! Und 224 nun sehen wir uns doch und sind ganz vergnügt dabei. Sie wenigstens hätten allen Grund dazu, während ich allerdings nebenbei sehr ernste Sorgen habe – – nein, nein, Geldsorgen sind es nicht, ich schwöre es Ihnen.«

»Fräulein Valeska, ich weiß nicht, was ich von diesem spaßhaften Tone halten soll. Ich war gefaßt, von einem ernsten Anlaß zu hören, denn nur ein solcher vermag Ihre auffallende Maßregel zu rechtfertigen.«

»Aber warum zwingen Sie mich denn mit Ihrer Angst dazu, Sie auszulachen, Herr Baron? Sie sollten mich wirklich besser kennen; Gelegenheit hierzu habe ich Ihnen ja leider gegeben. – Es ist freilich wahr, meine Maßregel, Sie so nachdrücklich herzubitten, sieht fast wie ein Vertragsbruch aus; das dient zu Ihrer Entschuldigung. Wir hatten feierlich mit einander ausgemacht, das Stück unserer Vergangenheit, das uns gemeinsam ist, in einer tiefen, tiefen Versenkung für alle Zeiten verschwinden zu lassen. Und nun komme ich doch und will Sie wieder in meine Netze locken, ganz wie ich damals gethan –«

»Valeska!« rief der Baron heftig. »Noch einmal, was sollen die Späße? – Nein, wenn ich es denn immer wieder sagen soll, das haben Sie nicht gethan, Sie haben mich nicht mit Künsten gelockt 225 – im Gegentheil, Sie haben sich tapfer gegen mich und sich selbst gewehrt; nie werde ich Ihnen diese Wahrheit verleugnen. Allein, auch Sie haben mir keinen Vorwurf zu machen, auch ich habe Sie nie betrogen, Ihnen niemals Vorspiegelungen gemacht –«

»Nein,« sagte sie freundlich, »die machen wir dummen Mädchen uns leider selbst. Auch ich werde Ihnen nie das Zeugniß No. Ia verweigern, daß Sie sich durchaus correct benommen haben im Kommen und Gehen, immer Gentleman. Zum Lohn für unsere beiderseitige Tugend konnten wir denn auch in Frieden und Freundschaft von einander scheiden. Nun ist da aber bloß die dumme Geschichte mit der Versenkung – Ihr Männer habt gut reden, für Euch ist so ein Zwischenfall ein Zwischenfall, den todtzuschweigen wenig Gewissensmurren kostet; keine kluge Gemahlin verlangt die Dummheiten zu erfahren, die der ehrbare Gatte vielleicht einmal gemacht hat; sein Werth wird durch solche Vergangenheiten nicht verringert. Doch mit einem Mädchen ist das ganz etwas Anderes. Da ist nicht zu murren, das ist so. Wir bringen falsche Waare auf den Markt, wenn wir so etwas verschweigen. Wir betrügen. Wir verkaufen uns zu einem Curse, den wir hatten und nicht mehr haben. – – Lieber Freund, Sie müssen mich dieses 226 Vertrages entbinden. Das ist meine Bitte. – Und noch mehr: Sie müssen selbst reden. – Da ist ein Herr Munk, ein Lehrer am hiesigen Gymnasium; dem müssen sie Alles erzählen, was zwischen uns einst vorgegangen ist!«

Hastig, ruckweise stieß sie die letzten Sätze heraus; in ihren Blicken flackerte es wie eine schmerzliche Angst.

»Valeska!« rief der Baron im Tone der äußersten Ueberraschung. »Valeska, Du! – Sie selbst –?«

»Nein, Sie, Herr Baron, Sie sollen es thun,« sprach sie, sich noch zu einem halben Lächeln zwingend; aber dann brach sie in Thränen aus. »Ich kann es ja nicht! Ich kann es ja nicht!«

Der Baron trat hastig ans Fenster und blickte eine Minute lang stumm in die Dunkelheit hinaus. Dann kam er zurück, bot der Schluchzenden ritterlich den Arm und führte sie zu einem Sessel; er selbst nahm ihr gegenüber Platz.

»Liebe Freundin,« sagte er mit ernstlich bewegter Stimme, »lassen Sie uns diese Frage mit Ruhe und Sammlung besprechen. Sie haben mich völlig überrascht. In der That, das erwartete ich nicht, das konnte ich nicht erwarten. Das Gegentheil vielleicht – oder etwas Aehnliches. Ich sehe beschämt, ich habe Sie immer noch nicht hoch genug 227 geschätzt. Sie sind eine wahrhaft vornehme Natur. – Und nun will ich Ihnen meinerseits ein Bekenntniß machen. Es wird Ihnen das vielleicht angenehm sein. Sie brauchen mir nichts mehr von Ihren Beziehungen zu Herrn Munk zu erzählen. Sie machen ein verwundertes Gesicht; bedenken Sie, daß wir uns in einer kleinen Stadt befinden; in einer solchen gibt es keine Herzensgeheimnisse. Ich will sogar noch das gestehen, daß ich vielleicht ein klein wenig mitschuldig bin an der Entstehung dieser Bekanntschaft – kein Erschrecken, liebe Valeska, und keine Entrüstung! Ich habe nichts Verwerfliches und nichts Verdienstliches gethan, sondern nur in halbem Spiele einem glücklichen Zufall ein wenig Richtung gegeben.«

»Und was bewog Sie zu diesem Spiele, Herr Baron?« fragte Valeska etwas befremdet. »Wer gab Ihnen das Recht, in mein Leben und das eines Andern ungebeten eingreifen zu wollen?«

»Ein Recht auf Theilnahme an Ihrem Geschick und auf herzliches Wohlwollen werden Sie mir nicht bestreiten können, liebe Freundin,« versetzte er ruhig. »Wir haben eine kurze glückliche Zeit mit einander verlebt; halten Sie uns Männer für so ganz leichtfertig, daß wir das völlig vergessen sollten, daß uns gar keine Dankbarkeit zurückbliebe? Sehen Sie, es sollte mir eine freundliche 228 Genugthuung sein, Ihnen als heimlicher Freund zu neuem Glücke unerkannt den Weg gebahnt zu haben. Ich wußte ja, daß Sie sich ein anderes Ziel ersehnten, als die meisten Ihrer Colleginnen. Ich hoffte Ihnen Gutes zu bereiten, Valeska.«

»Indem Sie einen Mann mit mir – betrogen, Herr Baron? Es soll Sie nicht beleidigen; aber das war doch wohl mehr gutmüthig als vornehm gedacht.«

»Und wenn es nun mein Ehrgeiz wäre, einmal mehr gutmüthig als vornehm zu denken? Vielleicht, daß ich überhaupt die Vornehmheit so hoch nicht schätze. Auf jeden Fall soll mich Ihr Vorwurf nicht beleidigen. Was ging der fremde Mann mich an, mit dem ich nichts gemein hatte, nicht Stand, nicht Kameradschaft? von dem ich nichts wußte als nur von Hörensagen, daß er wahrscheinlich geeignet sei –«

»Von uns betrogen zu werden,« fiel Valeska bitter ein.

»Ich will nicht ganz widersprechen,« versetzte der Baron nach einer kurzen Pause. »Ich möchte mit Ihnen heute völlig wahrhaft sein. Ich glaubte, einen harmlosen, vertrauensvollen, herzensguten Menschen gefunden zu haben, der recht dazu geschaffen sei, nicht bloß Sie glücklich zu machen, sondern auch in unzerstörbarem Glauben an Sie 229 von Herzen glücklich zu werden. So war meine Rechnung – bis ich ihn kennen lernte. Ich suchte ihn auf, Valeska, um Ihretwillen; ich ging selbst zu ihm mit dieser einzigen Absicht: ich wollte doch sehen, wie der Mann beschaffen war, der Ihr Herz so eilig hatte gewinnen können. So sah ich ihn und sprach ihn – und begriff das nur zu genau. Von dieser Stunde an ward ich von Reue und Zweifel gequält. Es war mir abscheulich fortan, diesen Mann betrügen zu sollen; es gab Stunden, wo es mir unerträglich schien. Mir kam der Gedanke, ihm Alles zu offenbaren, Sie zu opfern, zu verrathen, Valeska – aber es war nur ein Gedanke: die Pflicht gegen Sie war dennoch älter und stärker. Und nun kommen Sie selbst und lösen diesen Zwiespalt. Sie begreifen meine Ueberraschung.«

Valeskas Augen leuchteten. »Sie kennen ihn!« rief sie freudig, »und haben das auch empfunden, daß man ihn nicht betrügen kann! Sehen Sie, Henning, als Sie hier eintraten, waren Sie mir so bitter fremd, als hätten unsere Wege sich nie getroffen, wären nie so nahe neben einander gelaufen; und jetzt auf einmal sind Sie mir wie ein vertrauter Freund aus Kindertagen, dem man gerne Alles beichten mag, was man auf dem Herzen hat. Zwar, ich habe weiter nichts zu beichten, weil ich 230 Ihnen nichts mehr zu erklären brauche. Ich habe diesen Mann geliebt – ich kann sagen, ehe ich ihn sah. Und so – Henning, so habe ich auch Sie niemals geliebt; ich lache Sie aus, wenn Sie mir's übel nehmen! Und seit ich ihn dann kennen gelernt, dachte ich an nichts mehr, als daß ich ihn liebte, und vielleicht er mich – und nichts darüber. Und er konnte verlangen von mir, was er wollte, – Alles – Alles – gegen ihn war ich widerstandslos; Henning, und gegen Sie – Sie wissen, wie ich gegen Sie einst zu kämpfen vermochte. Diesmal wäre es anders gewesen. Denn er ist anders als Ihr alle. Von allen Männern ist er der Einzige, der ganz fest in sich selber ist, der einzige Mann, der kein Schwanken und Fragen kennt, der Einzige mit vollem Glauben, mit stolzer unverbogener Seele. Ihr anderen seid alle Schwankende und Zauderer, Euer Herz ist voll Mißtrauen und Zweifel an Euch selber, Ihr trauet sogar Euch selbst nichts Gutes zu – und uns noch weniger. Es gibt Keinen sonst, der lieben könnte mit solchem Glauben. Ihr anderen kommt mit kalter Klugheit an uns heran, Ihr tastet und fragt – o, Jeden von Euch könnte ich betrügen mit lachendem Gewissen: Klugheit gegen Klugheit, List gegen List. Nur ihn nicht. Ihm sich zu verheimlichen ist unmöglich. Sobald ich zur Besinnung kam und den 231 Gedanken faßte, daß er entschlossen sei, mich zum Weibe zu begehren – denn ein Kind könnte es in seinen Augen lesen – da wußte ich auch, daß es für mich keine Rettung gab vor der furchtbaren Nothwendigkeit, ihm Alles zu sagen. Aber ich fand die Kraft noch nicht in mir zu dem grausamen Bekenntniß; ich wich ihm zitternd aus; ich vermied es, je mit dem geliebten Manne allein zu sein; es waren qualvolle Tage – und endlich erkannte ich: ich werde niemals die übermenschliche Kraft zu dieser Beichte gewinnen. Doch ich würde auch niemals ertragen, mit dieser erstickenden Lüge nur einen Tag unter seinen Augen zu leben. Und darum, Henning, in dieser Noth und Wirrniß, in dieser Verzweiflung habe ich Sie mir zu Hülfe gerufen als den Einzigen, der diesen Knoten mir lösen kann.«

»Oder wohl auch nur ihn zerhauen kann,« antwortete der Baron, nachdem er eine Weile bewegt und nachdenklich zur Erde geblickt. »Valeska – sonderbar – Ihre Worte gerade haben eine wunderliche Verwandlung in mir bewirkt. Als ich hierher kam, hätte ich mir kaum etwas Besseres gewünscht, als eben diese Worte von Ihnen zu vernehmen, mein Gewissen durch Sie von dieser Unklarheit befreien zu lassen. Und nun auf einmal, da Sie mehr thun, als bloß mir diese Freiheit zu geben, da Sie selbst es fordern und mich drängen 232 – nun auf einmal erscheint mir Alles von einer anderen Seite und in einem anderen Lichte. Sehen Sie, liebe Freundin, wir beide haben bisher nur immer an das Eine gedacht, unser eigenes Gewissen zu entlasten, uns von einem häßlichen Drucke zu erlösen; aber daran haben wir noch nicht gedacht, uns zu fragen: Welchen Eindruck wird auf diesen Mann unsere unerwartete Eröffnung machen? Und wie wird er sich verhalten nach dieser neuen Erkenntniß? – Valeska, sagen Sie ehrlich: wie, glauben Sie, wird er gegen Sie handeln, wenn er Alles weiß?«

»Verstoßen wird er mich,« entgegnete sie tonlos, »er kann ja nicht anders. Und ich – wohl mir, wenn ich dann sterben kann.«

»Valeska,« fragte der Baron mit einem scharfen und ernsten Blicke, »ist das wirklich Ihre ganze und ehrliche Ueberzeugung? Haben Sie gar keine bessere Hoffnung?«

Sie sah ihn starr an und rief plötzlich mit wild ausbrechender Leidenschaft:

»Nein, nein, ich habe gelogen – ich kann nicht sterben, ich will nicht sterben. Auch dann nicht, wenn er mich verstoßen hat. Ich dürste nach Leben, ich habe ja erst angefangen zu leben, es war Alles erst Vorspiel, es zuckt und brennt in mir nach einem volleren Dasein, nach einem 233 überfließenden Glück, meine Sehnsucht zu ersättigen. Das hätte ich hier gefunden, hier allein – und wenn ich hier zurückgestoßen werde – Henning, ich muß noch leben, ich muß, ich muß! Nein, nein, nur nicht sterben! Ich bin keine Emilia Galotti – aber ich bin ganz verloren, wie Emilia es wäre, wenn sie nicht stürbe – Herr Baron, wenn Sie wollen, dürfen Sie mir lieber den Tod wünschen.«

Sie legte die Hände über die Augen und zitterte.

»Liebe Valeska,« sagte der Baron, »ich meinte etwas Anderes, wenn ich Ihre ganze Ehrlichkeit anrief. Ich weiß es ja doch, Sie haben geheim im Herzen eine bessere Hoffnung; und diese theile ich mit Ihnen. Ich hege den festen Glauben, dieser Mann wird, wenn er Alles weiß, sich in Alles finden und Ihnen in duldsamer Großmuth die Arme öffnen: hat doch sein Meister Jesus von Nazareth auch den Ehebrecherinnen und Magdalenen verziehen.«

»Aber er hat sie doch nicht geheirathet!« rief Valeska leidenschaftlich aus, »und, o mein Gott, ich wünsche mir ja auch nichts Besseres, als mit meinen Haaren seine Füße trocknen zu dürfen; und diese Magdalena war doch viel, viel schlimmer als ich!«

Der Baron mußte lächeln und fuhr doch gleich wieder ernsthaft fort.

234 »Glauben Sie mir, grade Ihre hochsinnige Redlichkeit wird ihn zwingen, Sie dem allem zum Trotz, sich selbst zum Trotz zu heirathen. Ihr Glück verlieren Sie nicht durch Ihr Bekenntniß, und Sie werden es behaglicher genießen, von dem Drucke des Geheimnisses endlich erlöst. – Und dennoch, ehe Sie dies lockende Glück ergreifen, bedenken Sie sich noch einmal und fragen Sie prüfend: Wie wird die keusche Seele dieses Mannes eine solche Wahrheit ertragen? Oder wie wird sie durch so schroffe Erkenntniß verwandelt werden? Sie preisen selbst als das Besondere, das Einzige an ihm seinen stolzen Glauben, den festen Tritt seines unbesorgten Vertrauens – Sie kennen den seltsamen Begriff, den er kühn sich erträumt hat, von dem reinen, dem schönen, dem vollkommenen Weibe: Sie sind ihm dies schöne Weib, das nicht sündigen kann, Sie sind ihm die Madonna, in der sein Traum sich erfüllt: – und nun auf einmal wird er durch den grellsten Lichtschein aufgeweckt, der festeste Stern seines Glaubens ist ein flatternder Dunst gewesen, das Heiligste, das er verehrte, sieht er befleckt, entstellt, tief im irdischen Staube haftend – Valeska, ich fürchte, dieser eine vernichtend helle Blitzstrahl zerreißt ihm allen andern Glauben auch, zerwühlt ihm auf immer den starken Grund, auf dem er stand: wem soll er noch glauben, was für 235 rein und heilig halten, wenn dies ein Trugbild war? Seine Welt bricht um ihn zusammen, und er steht haltlos da in einem fremden, wirren, unverständlichen Leben. Und begreifen Sie, Valeska, er ist dann auch der Mann nicht mehr, der Sie zur Liebe gezwungen hat. Sie zertrümmern zugleich den Grund, auf dem Sie selber stehen mit Ihrer Liebe. Statt des glaubensvollen Helden finden Sie einen schwankenden Grübler, ein schwächeres Menschenkind, als wir alle sind, die wir statt des Glaubens die rechnende Klugheit haben, einen Menschen, den alle die vielleicht verlachen werden, die ihn jetzt verehren – Valeska, prüfen Sie sich –«

Er schwieg einige Secunden lang; sein Blick fiel auf das ihm wohlbekannte Madonnenbild, das gegen die Wand gelehnt auf einem Tischchen stand wie auf einem Altare; er führte sie an der Hand dorthin und sagte mit tieferem Nachdruck:

»Sehen Sie diese Madonna an, Ihr Ebenbild: – Valeska, retten Sie dieses Bild in seiner Seele.«

Sie rang erschüttert die Hände.

»Aber die Wahrheit,« rief sie verwirrten Blickes, »wie kann man ihm etwas Anderes sagen als die Wahrheit? Wie könnte man denn seine Augen ertragen mit solcher Lüge?«

»Was ist Wahrheit?« versetzte der Baron 236 eifrig. »Die Wahrheit ist ein vielgestaltiges Ding, das jedem Sterblichen in anderem Gewande erscheint. Oder was meinen Sie, wenn ich einem frommen Kinde, einem gläubigen Volke, das mit einfältiger Inbrunst seinen Gott anbetet in der Gestalt eines gekreuzigten Menschenkindes oder eines schönen alten Mannes mit ehrwürdigem Bart und segnenden Händen, – wenn ich diesem treuen Volke mit unerbittlicher Ehrlichkeit das predigte, was ich für Wahrheit halte: ›Was Ihr da anbetet, ist nichts als ein Gebilde Eurer kindlichen Phantasie; der wahre Gott kann nicht die Gestalt eines Menschen tragen, sondern er ist reiner Geist, Alles umfassend, Alles durchdringend, nicht über der Welt und nicht neben ihr, sondern in ihr und mit ihr, der Geist des Weltalls selber, und jeder Einzelne von uns ein Theil dieses gestaltlosen Gottes und eins mit ihm; laßt darum ab, zu Bildern und Götzen zu beten!‹ Wenn ich das den Leuten verkündigte, was mir Wahrheit ist: würden sie Wahrheit von mir empfangen? Nein, wirbelnden Unsinn, der ihr Gehirn zerrüttete; ihre Wahrheit aber würde ich mit plumpem Fuße zertreten. Was ist Wahrheit? Die Worte gehen anders aus meinem Munde und dringen anders zum Ohre dessen, zu dem ich rede. Nicht, was wir sprechen, ist Wahrheit oder Unwahrheit, nur was gehört wird, kann die eine 237 oder die andere sein. Das, liebe Freundin, bedenken Sie, ehe Sie Ihre Beichte ablegen. Sie werden zu sagen glauben: ›Ich habe einst eine Sünde begangen, erklärlich aus meinen Lebensverhältnissen, aus meiner Umgebung, verzeihlich, weil liebende Schwäche mich dazu trieb; ich fühle die Kraft in mir, hinfort an Deiner Seite so reinen Sinnes wie je das edelste Weib zu leben.‹ Aber das ist es nicht, was er hören wird, sondern in seinem Ohr wird es anders klingen: ›Ich bin ein unreines Geschöpf, gefallen, verworfen, der Frauenwürde baar, unwerth der Liebe, unfähig je wieder rein und schönen Herzens zu werden.‹ Das wird er hören, und Sie wissen genau, es ist die schnödeste Unwahrheit. Darum müssen Sie schweigen, um wahrhaft wahr zu bleiben. Die Vergangenheit ist todt, und nur Lebendiges kann eine Wahrheit sein. Begraben Sie das Todte in Ihrer Seele, wie ich es begraben habe, und es ist nicht mehr. In wahrhaft gegenwärtigem Leben aber seien Sie ihm das, was er in Ihnen sieht, seine Madonna, das vollkommene, reine, das schöne Weib; so allein vermögen Sie vor ihm und vor sich selbst die herrlichste Wahrheit zu reden. Valeska, hören Sie auf meine Warnung: zerstören Sie das Bild in seiner Seele nicht!«

Sie stand mit herabhängenden Armen starrblickend vor dem Madonnenbilde. Plötzlich hob sie 238 den Kopf und sagte mit einem sonderbaren Ausdruck schmerzlicher Schalkheit im Gesicht:

»Sie müssen wohl Recht haben mit Ihrer Lehre; denn sehen Sie, Alles, was Sie da Schönes sagen, klingt in meinen Ohren doch immer ganz anders, als Sie es sagen. Es klingt immer ganz genau wie: lügen, betrügen – lügen, betrügen. Und das haben Sie doch gewiß nicht sagen wollen. Nein, lieber Freund, ich würde es nicht ertragen können, solche Art von Wahrheit zu ihm zu reden; ich würde seine Augen nicht ertragen können. Aber das andere auch nicht; es klingt zu süß, zu wunderbar, ›das schöne Weib – das schöne Weib‹; es wäre schrecklich, wenn er dies Bild verlieren müßte. Was soll ich thun? Wie soll ich es ihm retten? Ich muß verzweifeln, ganz verzweifeln. Wenn ich sterben könnte – aber Sterben ist gräßlich, Sterben ist unsagbar schauderhaft. Lieber Freund, nun bitte ich Sie, lassen Sie mich allein; das Schwerste muß Jeder allemal doch in sich selber auskämpfen. Wir haben uns wider Erwarten noch einmal im Leben getroffen; vielleicht nicht zum letztenmal; immer ist es mir tröstlich, einen Menschen zu wissen, der im Geheimen versteht, was meinem Handeln die Richtung gab. Leben Sie wohl. Ich weiß nicht, was ich thun soll – ich muß versuchen, ihm das schöne Weib zu bleiben. Es klingt zu süß, zu wunderbar.«

239 Der Baron küßte ihr die Hand und ging. Von der Schwelle noch einmal zurückblickend, sah er sie andächtig, mit gefalteten Händen vor dem Madonnenbilde stehen. Ein sonderbares Lächeln glitt schnell über seine Lippen.

»Das schöne Weib!« murmelte er und nickte befriedigt.

* * *

Einige Tage nach diesem erhielt der Baron einen Brief des folgenden Inhaltes.

»Hochedler Freiherr, Gönner und Spießgeselle!

Es würde mir ungewöhnlich lieb sein, Sie zu sprechen – leider kann es nur auf meiner Bude geschehen, woselbst ich krumm geschlossen liege. Zwar sind noch ziemlich viele meiner Knochen ganz, doch nicht genug, um mich zum Tempel des Bacchus zu schleppen. Für Speisen und Getränke ist gesorgt. Auch lagert hier für Sie ein rosa Briefchen von unbekannter Hand; was man durch den Umschlag entziffern kann, ist gänzlich ungenügend für das Verständniß. Also erlösen Sie mich bald von dieser Tantalusqual. Zur Belohnung lese ich Ihnen auch einen und den anderen schönen Spruch des Jesus Sirach vor, z. B.:

›Wo ist Weh? Wo ist Leid? Wo ist Zank? Wo ist Klagen? Wo sind Wunden ohne Ursach? Wo sind rothe Augen? 240

Nämlich, wo man beim Wein liegt und kommt auszusaufen, was eingeschenket ist.

Siehe den Wein nicht an, daß er so roth ist und im Glase so schön stehet. Er gehet glatt ein.

Aber darnach beißet er wie eine Schlange und sticht wie eine Otter.

So werden Deine Augen nach anderen Weibern sehen, und Dein Herz wird verkehrte Dinge reden . . .‹

Und weiter:

›Ein schönes Weib ohne Zucht ist wie eine Sau mit einem goldenen Halsband . . .‹

Von dieser meiner Schriftgelehrsamkeit dürfen Sie aber beileibe Nathanael Munk nichts sagen. Oder meinetwegen thun Sie's: er versteht ja doch nichts von der Schrift. Wozu hätte er sie denn studirt?

Es grüßt Sie harrend

Ihr ergebener
Pinehas (Sic! – Ohne Hophni.)
       

Der Baron ließ sofort anspannen.

»Du bist jetzt so unruhig,« sagte seine Gemahlin. »Du fährst so viel in die Stadt.«

»Immer Gymnasialangelegenheiten,« entgegnete er freundlich, »man muß den Herren auf die Finger sehen. Wozu sind wir Curatorium?«

241 »Ich weiß, Du sagst mir die Wahrheit?« sprach sie sanft mit einem leise fragenden Ton.

»Was ist Wahrheit?« versetzte er mit einem munteren Lächeln, küßte sie auf die Stirne und ging.

Er fand Pinehas in einem großen Ohrenlehnstuhl am Fenster sitzend, den Kopf und die linke Schulter stark verbunden, einen Eimer Eis zu seiner Seite.

»Was ist denn das?« rief der Baron, »Sie sind verwundet? Und wo ist Ihr Hophni.«

»Abcommandirt,« antwortete Pinehas gemächlich. »Setzen Sie sich, Baron. Die Schmisse sind natürlich unbedenklich. Hophni wird mir doch nicht ernstlich ans Leder gehen.«

»Alle guten Geister!« rief der Baron in höchstem Erstaunen, »Sie haben sich doch nicht mit Hophni geschlagen?«

»Mit wem denn sonst?« entgegnete Pinehas. »Ich schrieb es Ihnen ja doch schon. Ich schlage mich immer nur mit dem anständigsten Menschen, den ich am Ort grade auftreiben kann. Natürlich in voller Freundschaft. Bestimmungsmensur.«

Der Baron schüttelte den Kopf. »Sie werden mir kaum einreden wollen, daß da nicht etwas Ernsteres im Spiele wäre.«

»Wie Sie es nennen wollen; ich finde es nur scherzhaft. – Es ist Ihnen doch bekannt geworden, 242 daß Fräulein Valeska Zarnikow heimlich dieser verderbten Stadt den Rücken gekehrt hat. Contractbruch selbstverständlich.«

»Nicht möglich!« rief der Baron erschrocken. »Keine Ahnung habe ich – und wie ist das denkbar – grade jetzt –«

»Und Hophni auch,« setzte Pinehas gelassen hinzu.

»Lieber Freund, ich wollte, Sie entschlössen sich, vernünftig mit mir zu reden. Oder wenn Sie Wundfieber haben –«

»Ganz ohne Bedeutung, theurer Freund. Und regen Sie sich nicht auf. Lassen Sie mich nur zu Worte kommen, die Geschichte ist ja so unendlich einfach. Nichts weiter als dies: Fräulein Valeska erklärt uns vor drei Tagen feierlich, sie sei gesonnen, durchzubrennen. Grund: übermäßige Langeweile am hiesigen Platze. Sie sehen: äußerst plausibel. – ›Ganz mutterseelenallein?‹ fragen wir mitleidsvoll. Da platzt sie heraus: ›Wenn Einer von Ihnen mein Reisemarschall sein will, habe ich nichts dagegen.‹ – Aber Sie hätten sie dabei sehen müssen. Denn eine Sehenswürdigkeit war's. Wenn sie mit demselben Tonfall und Gesichtsausdruck declamirt hätte ›den Kopf ihm ab‹, das verwöhnteste Publicum hätte stürmischen Beifall geklatscht. Aber daneben flackerte in ihren Augen etwas ganz Anderes, 243 Wildes, Tolles, Ueppiges, Zigeunerhaftes, etwas, das mich immer wieder an Hophnis verrückten Wüstentraum denken ließ – ich habe mal irgendwo eine Geschichte gelesen von einer buhlerischen Königin, die ihre Liebhaber je nach einmaligem Gebrauche köpfen ließ: so etwas hätte man ihr auch zutrauen mögen. Die Kerlchen sollen übrigens alle einverstanden gewesen sein, daß dies bißchen Köpfen gar nicht in Betracht käme gegen das genossene Vergnügen. Ich will es glauben, wenn die Person annähernd so verführerisch ausgesehen hat, wie unsere Valeska in jenem Augenblicke; so etwas sollte in einem geordneten Polizeistaate gar nicht erlaubt sein. Neugierig bin ich in der That, ob Hophni mit oder ohne Kopf zurückkommt; wundern will ich mich über gar nichts. Doch ehe ich's vergesse, es war noch eine geheime Clausel bei dem Vertrage, die auch Sie angeht: ein feierlicher Schwur; kein Mensch außer uns und Ihnen, am allerwenigsten aber College Munk, dürfe je von der Sache etwas erfahren, nämlich von der Begleitung; das Durchbrennen war natürlich nicht geheim zu halten, brauchte es auch gar nicht. Natürlich begriffen wir nun ungefähr. Entweder hat sie sich mit Munk gezankt, oder dies alte Kameel hat einfach wider Erwarten nicht anbeißen wollen. Duobus litigantibus tertius gaudet. Aber das Gaudium hat seinen 244 Haken; ein derartiges Durchbrennen war in firma nicht gut zu machen. Also Trennung von Tisch und Bett. Und da ergab sich das Ungeheure, Himmelschreiende, Lächerliche, ja vollkommen Dumme: Hophni und Pinehas waren beide zur gleichen Stunde ergriffen von der gleichen Kinderkrankheit. Solche Ansteckungsfälle sind bekanntlich festgestellt bei den erwachsensten Männern, Masern, Scharlach, Croup, Alles, was sonst bei unsern Kleinen gebräuchlich ist. Diesmal war es eine Art Drehkrankheit, scheint mir, erotische Tuberkeln im Gehirn oder Aehnliches. Solche Anfälle muß man hinnehmen als ein unverschuldetes Schicksal. Natürlich verständigten wir uns mit einem Blicke. Die Partie stand völlig gleich, also Würfel oder Waffen. Aber Würfel waren uns zuwider; die Sache saß tiefer. Pistolen sind feige und heimtückisch, Schläger kindisch, also krumme Säbel. Bis zur Entführungsunfähigkeit. Fertig. Hophni hat mich noch mit aller Sorgfalt hier eingepackt und ist dann auf Reisen gegangen. Heil ihm! Die Schulmeisterei ist er los. Sie sind nach dem Süden. Wir haben ein Viertheil unserer Erbschaft an die Sache gewandt; das gibt ein Jahr lang ein Götterleben für sie. Länger kann ich Hophni nicht entbehren. Bis dahin muß ich mich so behelfen. Vorläufig geht es auch ganz gut; so ein Krankenlager 245 hat sein Behagliches; man kommt endlich einmal zur Ruhe und inneren Sammlung. Und dann habe ich drüben den Munk; ein vortreffliches Beobachtungsobject. Leider jedoch muß ich von ihm höchst Ungünstiges aussagen: der Kerl ist herzlos im Grunde; diese Idealisten sind alle herzlos. Man sollte doch meinen, anständigerweise müßte er in Schmerz und Gram ob der verschwundenen Liebsten vergehen, müßte wüthen und toben, Selbstmordversuche anstellen und dergleichen. Aber nichts von dem allen, keine Spur von einem reell gebrochenen Herzen. Im Gegentheil; er sitzt und schwärmt mit weit entzückterem Angesicht als je zuvor seine Madonna an. Stundenlang, sage ich Ihnen. Einmal habe ich ihn sogar auf den Knieen rutschen sehen. Ein Bild vollkommenster Glückseligkeit. Hie und da einmal wischt er sich die Augen, das ist wahr. Aber das ist auch Alles und geht im Handumdrehen vorüber. Da bin ich doch eine tiefere Natur; mir ist in diesem Punkte hundserbärmlich ums Herz. Es geht allerdings auch vorüber, kommt aber in ungleich kürzeren Intervallen wieder als bei ihm. Er ist in Wahrheit mehr in das Bild verliebt als in sie selber: da liegt's. So sind die Idealisten. Und das muß man ihm freilich lassen: der Vernünftigste unter uns ist er. Hophni verthut sein Geld in der sinnlosesten Weise; ich hocke hier und 246 blase Trübsal; Nathanael aber denkt vermuthlich: ›Wenn sie schwindsüchtig ist, hätte sie mir ja doch nicht viel genützt.

Laß fahren dahin!
Sie haben's kein Gewinn,
Das Reich Gottes muß uns doch bleiben.‹

Und so ist er getröstet.«

»Schwindsüchtig?« unterbrach ihn der Baron. »Wer? Fräulein Valeska doch nicht? Das war ihr wahrhaftig nicht anzusehen.«

Pinehas lachte.

»Sie sind doch sonst ein heller Kopf, Baron. Das hat sie ihm als Grund ihrer Flucht geschrieben: unheilbare Krankheit, erblich – verstehen Sie, Baron, erblich! Gewissenhafte Menschen heirathen nicht mit solcher Krankheit im Leibe. – Uns hat sie zur Bestätigung dieser Aussage eidlich verpflichtet; und Sie, Baron, gehören als Dritter zu den Verschworenen. So werden die begeistertsten Wahrheitsfreunde zu Lügnern gemacht, bloß damit das eitle Ding in den Augen eines verliebten Schwärmers eine Heilige bleibe. – Sie hätten uns übrigens nicht zu verschweigen brauchen, Herr Baron, daß Sie mit der Dame in Briefwechsel stehen; wir hätten wahrhaftig nichts dabei gefunden. Es ist etwas so sehr Unschuldiges. In dem rosa Briefe für Sie wird wohl jene treuherzige Aufforderung zum Lügen stehen; er liegt dahinten auf dem Schreibtisch.«

247 Der Baron trat hastig dorthin, erbrach den Brief und las:

»Es ist unmöglich, ich kann nicht an seiner Seite leben. Aber das Bild soll ihm bleiben. Sterben kann ich nicht, ich kann nicht; ich dürste wie im Fieber nach Leben. Es soll in ewigem Taumel sein, aber leben muß ich. Denken Sie von mir, was Sie wollen – nur Ihn lassen Sie Gutes denken!

Ihre ergebene            
Valeska.«    

Der Baron faltete den Brief zusammen und steckte ihn schweigend in die Tasche. Pinehas beobachtete ihn scharf und sagte lächelnd:

»Nach dem Ausdruck Ihrer frommen Augen zu schließen, muß etwas sehr Rührendes in dem Briefe stehen. Ich merke, auch Sie sind so gemüthlos nicht, wie dieser Munk. Wie denken Sie im Allgemeinen über diese neueste Form seiner Heiligenverehrung?«

Der Baron zuckte die Achseln. »Ich denke, daß Munks Madonna eine äußerst wunderliche Heilige ist.«

»Ein räthselhaftes Geschöpf,« bekräftigte Pinehas, »im Schlaf eine Madonna, im Wachen eine Bacchantin. Wer will entscheiden, welches von beiden Gesichtern die Wahrheit spricht?«

248 »Glücklich der Glaubende,« sagte der Baron, »was ist Wahrheit?«

Er trat ans Fenster und starrte lange schweigend über die Straße nach dem stillen Hause hinüber, das Nathanael Munk bewohnte. 249 250 251

 


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