Hans Hoffmann
Das Gymnasium zu Stolpenburg
Hans Hoffmann

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Publius.

Heute Morgens 7 Uhr 26 Minuten 30 Sekunden wurde mir ein Sohn geboren.

Quod dii bene vertant.

Stolpenburgii Kal. Maj. a. u. 25605 (Ol. 655,2) a. Chr. 1850

Dr. Martin Löwe,
Gymnasial-Oberlehrer.
       

Diese überraschende Kunde brachte das Wochenblättchen am 2. Mai 1850 den Bürgern der tüchtigen Stadt Stolpenburg in Hinterpommern. Es war wirklich eine Ueberraschung; Niemand hätte dem stillen Philologen die menschliche Schwachheit zugetraut, Vater zu werden. Und doch war er nun Vater, und zwar, wie es fast den Anschein hatte, in mehr als gewöhnlichem Sinne. Wenigstens erschien in der nächsten Nummer desselben Blattes ein lateinisches Gedicht aus seiner Feder, dessen streng gemessene Distichen den Vorgang unter völligem Verschweigen der dazu gehörigen Mutter in 68 umständlicher und plastischer Schilderung so darstellten, daß jeder Unbefangene annehmen mußte, das Kind sei fertig aus dem Haupte des Vaters entsprungen wie einst Pallas Athene. Den Schluß des Poems, das von den Schülern bis zur Tertia hinab natürlich wahrhaft verschlungen wurde und ihnen in metrischer wie stilistischer Hinsicht zu dauerndem Nutzen gereichte, bildete eine schwungvolle Verkündigung von dem künftigen philologischen Ruhme des Neugeborenen. Es war kein Zweifel, dieses Kind hatten die Götter, die gnädigen, vor der Geburt schon geliebt, ihm Phöbus die Augen, die Lippen Hermes gelöset.

Es erhielt in der heiligen Taufe den Namen Titus, zur Erinnerung an eine ruhmreiche Fehde seines Vaters, in welcher dieser dem großen Komödiendichter Plautus seinen echten Namen Titus Maccius vor den hämischen Angriffen eines entarteten Jüngers der Wissenschaft gerettet hatte, der ihn blödsinniger Weise Marcus Accius hatte nennen wollen.

Dr. Löwe war ein Philologe nicht gewöhnlichen Schlages. Er hing mit ganzer Seele an seiner Wissenschaft, und an ihr allein; die übrigen Dinge der Welt kümmerten ihn wenig. Sein Wahlspruch schien zu sein: Philologus sum, humana omnia me abesse puto.

69 In seiner Jugend war er einst in Folge einer glücklich gelösten Preisaufgabe zum Zwecke von Handschriftenvergleichung auf einige Monate nach Rom gesandt worden und hatte daselbst das Kunststück fertig gebracht, nicht nur den Papst, sondern auch die ewige Stadt selbst nicht zu sehen – mit einziger Ausnahme der vatikanischen Bibliothek oder noch genauer der Buchstaben ihrer Manuscripte und Palimpseste. Einmal freilich war er auch zur Sixtinischen Kapelle gekommen, jedoch nur bis vor die Thür; er hatte ein paar aus seiner Heimath stammende Damen dorthin begleitet und verabschiedete sich von ihnen mit der Bemerkung: da drinnen seien berühmte bunte Bilder von Michelangelo Buonarotti, geb. 1478, gest. 1564, das sei etwas für Frauen. Mit eiserner Gewissenhaftigkeit wies er auch sonst jede Versuchung zum Rasten und Schauen ab. »Ich bin hier, um zu arbeiten, nicht um spazieren zu gehen,« pflegte er zu sagen, wenn seine Collegen ihn zu einem Ausfluge in die Campagna oder ins Albanergebirge zu verlocken suchten. Von den Wundern antiker Plastik, den Geistesoffenbarungen der großen italienischen Maler, dem Reize römischer Landschaft oder gar römischer Frauenschönheit blieb seine Seele unberührt: dahingegen gerieth er in eine helle und andauernde Begeisterung, als er eines Tages in einem alten Glossar 70 eine nach seiner Aussage bis dahin unbekannte lateinische Vokabel entdeckt hatte: sie hieß mura, die Mausefalle. Hic dies anno redeunte festus! rief er damals aufrichtigen Herzens. Seit diesem Ereigniß erhielt er von seinen Freunden den Spitznamen Mus, die Maus, auch Publius Decius Mus oder kurzweg Publius, ein Name, der später von seinen Schülern mit Begeisterung angenommen und pietätvoll erhalten wurde, nachdem die Geschichte sogar bis in seine Heimat gedrungen war.

So war Publius oder Dr. Martin Löwe, ein Mann aus einem Guß, wie leicht es auch der stets flugbereite Witz seiner Collegen und Schüler hatte, aus seinen Thaten sich unerschöpfliche Nahrung zu saugen.

Nach seiner Rückkehr ins Vaterland übernahm er ein Lehramt, nicht so sehr aus innerem Drange, als weil er doch neben der Wissenschaft auch für seines Leibes Nahrung sorgen mußte, und verwaltete dasselbe ohne Leidenschaft und ohne Murren, ruhig, ordentlich, gewissenhaft. Zu dieser Zeit nahm er gelegentlich auch ein Weib. Die Ereignisse der Außenwelt berührten ihn nicht; die Kunde von Krieg und Frieden, Revolution und Reaktion drang kaum wie ein fernes Wehen in den windstillen Frieden seiner wissenschaftlichen Klause. Als einst die Schüler seiner Klasse ihm die Alarmnachricht 71 entgegenschrieen: »In Berlin ist die Revolution ausgebrochen! Das Volk hat das Zeughaus gestürmt!« da entgegnete er gelassen: »Hat es? . . . Also die Kriegführung der Spartaner war, wie wir in der vorigen Stunde sahen, auch jetzt eine methodische und zögernde . . .« und er konnte nicht begreifen, warum die Knaben heute seinem ruhigen Vortrage so wenig Aufmerksamkeit schenkten, da es doch sonst für sie nichts Fesselnderes gab als das leidenschaftliche Ringen des Peloponnesischen Krieges.

Ueber die Art, wie er zu seiner Frau gekommen war, gab es sehr verschiedene Meinungen, denn Sicheres wußte Niemand. Daß sein eigenes Verdienst dabei ein möglichst geringes gewesen, betrachtete man allgemein als selbstverständlich. Ebenso wenig freilich schien die bescheidene und anspruchslose Frau dazu angethan, einen Mann mit Gewalt und List sich zu erobern, obzwar Leute, die sie näher kannten, manchen Zug stiller Entschlossenheit und Thatkraft von ihr zu berichten wußten, so daß sie möglicherweise größerer Dinge fähig war, als man ihr zutraute. Und schließlich einen Mann vom Schlage des Dr. Löwe sich anzuverloben, war noch nicht einmal ein so gar großes Ding für ein nur einigermaßen zielbewußtes Mädchen. Vielleicht war doch etwas an der Erzählung, sie habe ihm einst aus seinen eigenen Büchern nachgewiesen, daß es 72 weder für einen athenischen noch für einen spartanischen Staatsbürger ehrenvoll gewesen sei, unbeweibt durchs Leben zu gehen, worauf er sich nach kurzem Kampf zur Heirath entschlossen habe. Etwas unwahrscheinlich blieb dabei nur die intime historische Kenntniß der sonst nicht eben gelehrten Frau, indessen gibt es für ein findiges Weib ja tausend Quellen, die leeren Gefäße der Schulweisheit zu füllen, und welches Weib wäre nicht findig und wißbegierig, wo es sich um Heirathssachen handelt. Vollkommen sicher bezeugt hingegen war die Thatsache, daß der Dr. Löwe nur unter Anwendung mäßiger Gewaltmittel hatte zum Altar geschleppt werden können, nicht weil er aus Grundsätzen der schönen christlichen Feier widerstrebt hätte, sondern aus einer ganz andern Ursache. Gleichwie nämlich einst Sokrates gedankenvertieft und selbstvergessen in einer Hausthür stehend gefunden wurde, so entdeckte man den Dr. Löwe an seinem Hochzeitsmorgen nach langem angstvollen Suchen und Rufen über einer bedeutsamen Konjektur (ein at statt et) brütend in einer abgelegenen Fliederlaube.

Die Mausefalle der Ehe, in der er nun unleugbar festsaß, war jedoch keineswegs beengend für ihn; sein Leben blieb genau dasselbe, wie es früher gewesen war, nur daß er besseres Essen bekam, und auch diese Veränderung merkten mehr die Andern 73 an seinem gediegeneren Aussehen als er selber. Er lebte nach wie vor für seine Wissenschaft und, soweit es die Pflicht erforderte, für die Schule; daneben konnte für die Frau in seinen Gedanken kein Raum sich finden. Nicht, daß er ein Haustyrann geworden wäre; beileibe nicht, er blieb die gutmüthigste, schüchternste Seele von der Welt, machte nie ein böses Gesicht, verlangte von ihr nicht den geringsten Dienst, den sie ihm nicht geradezu aufdrängte, gerieth niemals in Zorn über abgerissene Hemdenknöpfe, verlor nie ein Wort über ein ungewöhnliches Hinschwinden des Wirthschaftsgeldes, verschwendete auch selbst kein Geld außer für Bücher, ging nicht ins Wirthshaus, betrank sich auch in häuslicher Gesellschaft nicht, kurz, er war nach gerechter Auffassung als das Muster eines guten Ehemanns zu bezeichnen, und vielleicht wären die meisten Frauen mit ihm zufrieden gewesen und hätten sich ihrer Freiheit und häuslichen Herrschaft in allem Behagen erfreut.

Nicht ganz so Frau Dorothea. Zwar öffnete sie nie den Mund zu irgend einer Klage, auch nicht vor der vertrautesten Freundin; worüber auch sollte sie klagen? Er gewährte ihr ja Alles, was sie je verlangte, keine große noch kleine Bitte blieb unerfüllt – dafern er sie überhaupt vernahm und verstand. Aber freilich es gab eine gewisse Art, 74 mit stummen, leisen Augen zu bitten, die er noch niemals bemerkt hatte, und eine gewisse Art, mit abgewandten Blicken und unhörbaren Seufzern zu klagen, davon er nichts ahnte: denn er wiederum hatte seine Art, bei Tisch und sonst bei jeder überflüssigen Unterredung an ihr vorüber nach seinen Büchern und seinem Schreibpult zu blicken, die ein Wahrnehmen nutzloser weiblicher Gemüthsregungen vollkommen verhinderte. Und wenn er es auch bemerkt hätte, begriffen haben würde er es schwerlich, was für ein Sehnen in ihr sich regte. Sie hatte ja Alles, was eine moderne Frau in mittlerer Lebenslage vernünftigerweise verlangen kann.

Uebrigens war er für Frauenwerth und Frauentugend in der Theorie nicht unempfänglich: von der Hoheit und dem Seelenadel spartanischer, römischer Frauen wußte er vor seinen Schülern viel Rühmens zu machen, er konnte sogar in eine gewisse bescheidene Schwärmerei hineingerathen, wenn er von der Mutter des Pausanias oder des Coriolan oder von der Lucrezia oder Cornelia erzählte – und das war die einzige Untreue, deren er sich gegen seine angetraute Gattin zu schulden kommen ließ. Denn mit solchen Größen konnte sich die gute Dorothea natürlich nicht vergleichen, sowenig der Dr. Löwe geleugnet haben würde, wenn es Jemand ihm ins Gesicht behauptet hätte, daß sie ein wahres Ideal 75 einer Gelehrtenfrau sei, sparsam, fürsorglich und still, dabei voll Ehrfurcht vor der Wissenschaft, wenn auch ohne rechtes Verständniß und ohne Herz für die himmlische Göttin.

So lebten sie mit einander ein paar Jahre in Frieden ohne rechtes Leid und ohne rechtes Glück dahin, als jener erste Mai des Jahres 1850 erschien und mit ihm eine ungeheure Veränderung in dem ganzen Wesen des gelehrten Dr. M. Löwe. Was kein Rom und kein Rafael, keine Campagna und keine Römerin, keine Braut selbst auch nur auf Stunden erreicht hatte, das brachte ein winziges, hülfloses, zappelndes, quäkendes, höchst froschähnliches Menschenkind im Handumdrehen zu Stande: Publius vergaß Pflicht und Wissenschaft und stand stundenlang in stumme, träge Betrachtung versunken vor einem Geschöpfe, das nicht den allergeringsten wissenschaftlichen Werth beanspruchen konnte – ja, stundenlang, es ist keine Uebertreibung. Dazu rührte er kein Buch mehr an, die Hefte der Schüler verstaubten zur unsäglichen Freude derselben unkorrigirt auf seinem Pult, die Manen des Horaz vollführten einen Freudentanz auf den Brettern des Bücherregals, weil Carmina, saturae und epistolae eine geraume Zeit hindurch von den Konjekturen eines ihrer gefährlichsten Peiniger völlig verschont blieben, und die sämmtlichen Lexika und Glossarien 76 hätten ohne wesentlichen Schaden für die Wissenschaft auf Sommerfrische gehen können. Der Philologe schlief, der Mensch war aufgewacht. So gewaltsam rächte sich die lange verhöhnte Natur.

Ja, da stand er, Publius, der Philologe, andächtig an dem Wägelchen seines Knaben, wachte über den Schlaf desselben und lauerte erregt auf den Augenblick, da er die blauen Aeuglein aufschlagen würde – denn da lag es, diese Augen, die großen Kinderaugen hatten es ihm angethan: es waren vom ersten Tage an ganz besondere Augen, es waren klare, scharfe, stille, unbeirrte, gesammelte, forschende, wägende, mit einem Wort: es waren philologische Augen. Ein junger Philologe war geboren, als solcher geboren. Wenn das Kind unmittelbar nach der Geburt statt des bei dieser Gelegenheit üblichen unartikulirten Kätzchenschreies den Mund zu einem vernehmlichen Mura, murae, murae, muram, mura, mura... aufgethan hätte, er möchte sich schwerlich gewundert haben, obzwar er sich auch so zufrieden gab und einsah, daß dergleichen ein wenig gegen die Natur gewesen wäre. Die philologischen Augen aber blieben sein Glaube und sein Glück – mochten da immerhin die Gevatterinnen kommen und schwatzen, es seien der Mutter klare, lebensfreudige Augen. Ueberhaupt die Mutter – was hatte die Mutter für ein 77 Verdienst an diesem, diesem Knaben! Wenn sie, die unwissenschaftliche, banausische Frau, mit einem solchen Kinde begnadet wurde, so hatte sie alle Ursache, den Göttern zu danken und weiter nichts für sich zu begehren. Daß sie eine gute Mutter sein mußte, war eine selbstverständliche Forderung, welche ja auch in gleichem Maße an die athenischen Frauen gestellt und von ihnen erfüllt wurde, ohne daß deren Männern einfiel, davon viel Rühmens zu machen. Wer hat je von den Müttern der zahllosen berühmten Athener reden hören? Sie hatten ihre Pflicht gethan und geistreichen Männern geistreiche Söhne geboren und verpflegt; sie verdienten eine Anerkennung, aber keine Auszeichnung – Zeugniß Nr. 2, wie der Pädagoge in Dr. Löwe sich ausdrückte; Nr. 1 blieb den Vätern vorbehalten.

So kam es, daß auch die gemeinsame Liebe zu dem Kinde, sonst so oft ein edles Heilmittel für kranke Ehen, die Gatten einander nicht näher brachte; vergebens suchte Frau Dorothea leise tastend den Weg zum Herzen ihres Mannes: er sah an ihr vorüber, wie zuvor, und ahnte nichts von den vielen stillen Thränen, die in das innere Jauchzen des jungen Mutterglückes fielen wie der Reif in einen Frühlingsmorgen.

Die Liebe zu seinem Knaben aber währte und wuchs in der Brust des Vaters und vereinigte sich 78 auf das Schönste mit seiner ersten Leidenschaft, der Liebe zur philologischen Muse. Seine im Anblick der großen Kinderaugen plötzlich kühn, ja frech gewordene Phantasie ergriff die bis dahin demüthig von unten her verehrten Namen Gottfried Hermann, Lachmann, Böckh, Ritschl und manchen andern, mengte sie in dem großen Topfe des Vaterstolzes kräftig durcheinander und formte daraus das Idealbild des großen Philologen der Zukunft, seines Sohnes. Diesem väterlichen Hochmuth, der sich bis zur stillen Verachtung seiner Collegen und seiner Vorgesetzten verstieg – denn hatten sein Director, selbst sein Schulrath solche Söhne aufzuweisen? – mengte sich eine rührende Bescheidenheit bei: seine eigene wissenschaftliche Thätigkeit erschien ihm jetzt verächtlich gering, sie behielt nur den Werth einer redlichen Vorarbeit für die künftigen Großthaten seines Sohnes Titus. Manchmal nur stieg ihm eine Art von Furcht auf, er könnte etwa zufällig – nicht nach seinem Verdienst und Gaben – doch einmal eine bedeutende Leistung zu Wege bringen, eine unverständliche wichtige Textstelle durch eine umstürzende Konjektur überzeugend in Ordnung bringen oder dergleichen, und damit vorweg einen Raub an dem künftigen Ruhme des Titus begehen. Der junge Alexander weinte einst über einen neuen Sieg seines Vaters Philipp, der ihm nichts zu 79 thun übrig lassen werde: wie traurig,. wenn auch sein Sohn Titus solche Thränen vergießen müßte! Zum Glück gelang es ihm, eine derartige gefährliche Leistung zu vermeiden.

Auch warf er sich für die nächsten Jahre ganz überwiegend auf eine ihm ursprünglich fremde Wissenschaft, die Erziehungslehre, und das Ergebniß dieser Forschungen war das gemeine Loos fast aller philosophisch geschulten Pädagogen, daß er den Jungen nach den Regeln des Lykurgos, des Solon, des Plato und Cato und aller nachfolgenden weisen Männer bis auf Herbart und dessen Schüler und Gegner zugleich auf das gründlichste verzog, nur daß zum Glück die stille Mutter im Hintergrunde stand, den gut gearteten Knaben mit ihren treuen Augen lenkend und ihm aufmerksam bei rechter Zeit einen gesunden Klapps verabreichend. So kam es, daß er allen pädagogischen Künsten zum Trotz ein unverdorbenes und unverkrümmtes Bäumchen blieb.

Im sechsten Jahre kam Titus auf die Schule und hatte bald, wie ihm officiell bescheinigt ward, im Lesen, Schreiben und Rechnen einen guten Anfang gemacht, seine Aufmerksamkeit war »gespannt«, sein Fleiß »bewiesen«, kurz, der Keim zum berühmten Philologen war vorhanden.

Da kam die Versetzung nach der Sexta des 80 Gymnasiums und mit ihr etwas Ungeahntes, Unerhörtes, Unglaubliches. Der kleine Löwe vermochte durchaus kein Latein zu lernen.

Schon auf der Schwelle der Grammatik, dem mensa, mensae stolperte er lange, in den Dornenhecken der zweiten Declination verhakte er sich ohne Ende, und in der dritten ward ihm jedes Wort zum Neutrum, »das man nicht decliniren kann«. Die Endungen der vier Conjugationen bohrten sich gleich spitzigen Pfeilen in sein Gehirn, und nun erst die Regeln! Sie umschnürten seinen armen Geist wie mit schneidenden Stricken, und es verrieth noch keinen bösartigen Charakter, wenn er aus Rache ganz in das Lager ihrer natürlichen Feinde, der Ausnahmen, überging. Oder vielmehr, er behandelte einfach Alles als Ausnahme, das war seine Methode. Dieselbe hatte ihre Vorzüge, nämlich für ihn; den Beifall der Lehrer fand sie leider nicht.

Vergebens suchte der alte Löwe dem Löwchen aufzuhelfen, vergebens klagte er seine Collegen der Nachlässigkeit, der Unfähigkeit, der Parteilichkeit an, vergebens setzte er es durch, daß ihm selbst der lateinische Unterricht in der Sexta – statt wie sonst in der Secunda; man weiß, welches Opfer! – übertragen wurde, vergebens rang er mit der Erfindung einer neuen Lehrmethode, welche den alten kindischen Regeln den Krieg erklärte und dem 81 offenbar allzuraschen Geistesschwunge seines Titus edlere Flügel zu geben suchte – Alles vergebens, Alles!

Jetzt saß der alte Titus wirklich in einer Mausefalle und starrte rathlos das grauenhafte Wunder dieser plötzlich zugeschlagenen Klappthür an, von der kein Nagen, Zappeln, Springen, Wüthen befreite.

Wohl soll er schon damals zuweilen in Blitzen grausamer Erkenntniß jenes entsetzlich bedauernde Achselzucken der Collegen sich richtig gedeutet haben, das da sagen wollte: »Ihr Junge ist eben dumm, guter College, dumm, geradezu dumm!« Aber noch bot er mannhaft der Verzweiflung Trotz, und mannhaft kämpfte das Kind den Riesenkampf weiter gegen die stets doppelt nachwachsenden Köpfe der grammatischen Hydra.

Und ein Schimmer der Hoffnung schien endlich zu winken: der Cursus der Sexta wurde doch zuletzt dem harten Köpfchen eingepaukt, und selbst die Fußangeln und spanischen Reiter der Quinta nach fürchterlichem Ringen genommen; aber siehe da, hinter diesen Vorwerken zeigte sich erst die eigentliche Festungsmauer, starr und unüberwindlich: das Griechische der Quarta!

Aber Vater und Sohn kämpften weiter. Damals war es, daß Publius im Streit gegen die 82 verrottete Methodik des grammatikalischen Unterrichts auf jene geniale Erfindung verfiel, die seinen Namen seinerzeit in so weite pädagogische Kreise trug; er hatte bemerkt, daß sein Titus ein sonderbares Interesse für die Geographie (eine kümmerliche Hülfswissenschaft) verrieth, ganz besonders in praktischer Anwendung auf die Topographie der näheren Umgegend, die er in luftigen Ausflügen und Spaziergängen, Turn- und Sängerfahrten fleißig durchforschte. Bei solcher Gelegenheit erfuhr der Vater zufällig, daß es in der Nachbarschaft ein Dorf Namens Passow und ein anderes Namens Plassow gab, nicht gar weit von einander entfernt. Nichts war natürlicher, als daß ihm dabei die berühmte griechische »Ausnahme« einfiel, welche eine Reihe widerspenstiger Zeitwörter listig in ein gemeinsames Joch spannend mit πάσσω, πλάσσω beginnt – und siehe, im selben Augenblick zeitigte sein Geist den großartigen Plan, die andern zunächst liegenden Dörfer amtlich umtaufen und Brassow, Eressow, Ptissow, Blittow benennen zu lassen. (Mit also lautenden Verben fährt jene Regel bekanntlich fort.) Solcher Art gedachte er eigenartigen Köpfen wie dem seines Sohnes eine sinnreiche Brücke von der praktischen Heimathkunde zur griechischen Grammatik zu schlagen. Diesen Plan arbeitete er zu einem weiten Systeme aus, das zunächst die 83 Provinz Pommern einer gründlichen Umnamsung unterwarf und die gesammte griechische Elementargrammatik umfaßte.

Allein auch so gewaltsame Hülfsmittel konnten die Widerstandskraft des Griechischen nicht brechen; das arme Kind aber war nahe daran, zu erliegen.

Und mit ihm litt die Mutter alle Tage alle Qualen durch, helfend, anfeuernd, tröstend, mitlernend, bis sie sicher wußte, es sei Alles umsonst und ihr Knabe müsse nothwendig unter der übermäßigen Last in kurzer Zeit so körperlich wie geistig verkümmern. Und sobald diese ihre Ueberzeugung fest stand, zögerte sie keinen Tag länger, sondern zog ihre besten Kleider an und machte einen feierlichen Besuch bei dem Herrn Gynmasialdirector, einem kleinen, freundlichen und nicht unverständigen Manne, der nur die kleine Schwäche hatte, daß er auch erkannten Uebelständen sehr ungern aus eigenem Entschlusse entgegentrat, vielmehr allzeit geduldig wartete, bis er von außen durch jemand Anders wie ein ruhender Pendel angestoßen wurde, worauf er dann in der That ordnungsgemäß die gewünschten Schwingungen machte, solange jene wirkende Kraft andauerte. Mit diesem Manne hatte Frau Dorothea eine lange und ernsthafte Unterredung, in welcher sie zum ersten Mal in ihrem Leben gegen den eigenen Eheherrn heimliche Ränke schmiedete. 84 Leicht ward ihr das wahrhaftig nicht; aber sie wußte ja längst nur allzu genau, was dabei herausgekommen wäre, wenn sie ihm auf geradem Wege mit einem guten Rathe hätte entgegenrücken wollen, sie, ein gänzlich unphilologisches, amusisches Weib! Nur ein gutes Wort eines Vorgesetzten hatte allenfalls einige Aussicht auf Erfolg.

Am nächsten Tage zog der Director seinen Collegen Löwe freundschaftlich bei Seite und machte ihm mit mildem Lächeln einen inhaltschweren Vorschlag:

»Lieber verehrter College,« sagte er, »mit dem armen Jungen, Ihrem Titus, kann es unmöglich lange so weiter gehen. Sie müssen das einsehen. Beim besten Willen kann er das Pensum unserer Quarta nicht leisten und muß unter dieser hoffnungslosen Ueberanstrengung nothwendig an Geist und Körper erschlaffen, Sie müssen das einsehen. Uns Lehrern aber bereitet er eine doppelte Qual, weil er ein so liebes, frisches, prächtiges Kerlchen ist, daß uns jedes unvermeidliche Wort des Tadels in der Seele weh thut. Sie wissen aus eigener Erfahrung, nicht die ungezogenen Schlingel sind es, die uns das Leben am schwersten machen, denn für die haben wir Fuchtel und Carcer, sondern diese lieben, herzensguten, aber unbegabten Kinder sind es, die den wohlgesinnten Lehrer zur Verzweiflung 85 bringen, weil er gegen sie wehrlos ist. Doch was sage ich? Unbegabt? Nicht doch! Handelt es sich ja so oft nur um einseitige Begabung, die auf zusagendem Gebiete Gutes, ja Vortreffliches leisten könnte. Lieber Herr College, daß Ihr Kleiner für Sprachen, speciell für die klassischen Sprachen nicht talentirt ist, haben Sie selbst mit Schmerzen und unendlichen Mühen erkannt: mein freundschaftlicher Rath wäre, Sie versuchten es anders und brächten den Knaben auf eine Realschule. Wer weiß, welche Freude Sie dann noch an ihm erleben können. Der Fall ist nicht hoffnungslos. Sie müssen das einsehen, lieber College.«

Der wohlmeinende Redner hatte nicht ahnen können, welchen Vernichtungsschlag er gegen das Herzensglück seines Amtsgenossen führte, welchen Sturm er in seiner Seele entfesselte. Vielleicht nur dieses einzige Mal in seinem Leben verlor der stille Philologe gänzlich die Herrschaft über sich selbst und fiel einem ungerechtfertigten Zorn zur Beute.

»Herr!« schrie er in namenloser Entrüstung, »Sie . . . Sie . . . Solchen Rath geben Sie mir . . . Sie? Wer erlaubt Ihnen, meine Ehre zu beleidigen? Ich soll mein Kind in eine Idiotenanstalt geben?«

Hier brach ein Schluchzen tief aus der Brust 86 des Mannes heraus und hinderte ihn, weiter zu sprechen, vielleicht zum Glück, denn wer kann wissen, mit welchen Ausbrüchen der Leidenschaft er sich sonst noch an dem gutmüthigen Rathgeber vergriffen hätte. So aber überwältigte der Schmerz den Zorn, und er wandte sich hastig ab, die Thränen zu verbergen.

An diesem Tage gebrauchte er zum ersten Male, sein Kind mit nassen Augen umarmend, das Wort, das bald seine stehende Rede wurde: »Mein armer lieber dummer Junge!«

Denn so entrüstet er auch das Ansinnen seines Directors zurückgewiesen hatte, getroffen war er dennoch von der Wahrheit seiner Rede. Die Harpune saß, er fühlte sein Schicksal besiegelt, sein Sohn ward kein Philologe. Die bloße Thatsache, daß ein Mensch, ein Pädagoge, ein Gymnasialdirector ihm eine solche »Idiotenanstalt« vorschlagen konnte, genügte seinen Glauben zu erschüttern. Wohl sträubte er sich noch eine Weile gegen die Schmach dieses Schicksals, aber jetzt gelang es der langsamen, klugen Minirarbeit seiner stillen Frau, ihn zu überreden, daß er sein Kreuz endlich auf sich nehme. Titus wurde nach Danzig auf die Realschule zu Sankt Johann gethan.

»Mein liebes armes dummes Kind!« hieß das Abschiedswort des halb gebrochenen Vaters.

87 Aber wunderbar – Titus war wirklich nach der Verpflanzung in ein neues Erdreich wie umgewandelt. Er lernte! Das Griechische war er los, das Lateinische stand bescheiden im Hintergrunde, in der Mathematik aber und allen verwandten Wissenschaften war er ein Held. Er löste die Aufgaben für die halbe Klasse mit, wie das in geordneten Schulzuständen so Sitte ist, und fand dabei noch reichlich Zeit, seine peripatetischen Uebungen in der Heimathkunde mit Eifer fortzusetzen und seinen jungen Körper zu stählen. Die ganze Frische und Kraft seiner Natur trat wieder siegreich hervor.

Der alte Publius fuhr fort, seinen Sohn grenzenlos zu lieben, ja vielleicht wuchs seine Liebe noch, seit sie gewissermaßen eine unglückliche geworden war. Vor den Menschen zwar, es ist wahr, schämte er sich bitterlich seines Sohnes, der »aus Athen verbannt und unter die Böotier gestoßen war«, aber sein Herz vermochte er auch von dem banausischen Kinde nicht loszureißen. Die guten Zeugnisse über seine Fortschritte verwunderten ihn keinen Augenblick: blieb er doch immer von Abstammung ein Athener und also unter den Böotiern selbstverständlich der Erste.

Als Titus nun zum ersten Mal in die Ferien kommen sollte, strahlte Publius wochenlang vorher von heimlicher Glückseligkeit, vernachlässigte gröblich 88 seine wissenschaftlichen Arbeiten und sann stundenlang darüber nach, womit er seinem armen dummen Knaben eine tröstende Freude machen könnte, indem er besonders die Ephebenspiele der Athener einem eingehenden Studium unterzog. Und als der schöne, heitere Ephebe nun kam, umgab ihn der Vater mit all der zarten, mitleidvollen Fürsorge, mit der sonst Eltern wohl ein krankes oder verkrüppeltes Kind zu behandeln wissen. Er ließ ihn nicht von seiner Seite und begleitete ihn seiner eigenen Neigung zuwider täglich auf den beliebten Spaziergängen nach Passow, Plassow u. s. w. Er hätte ihn am liebsten getragen oder im Wagen geschoben, wenn der stattliche Bengel das irgend nöthig gehabt oder nur gewünscht hätte. Dabei war er unermüdlich, seinem Geiste das klassische Alterthum auf Umwegen doch noch näher zu bringen: er erzählte ihm immer wieder, zwar nicht mehr von der genialen Natur der Athener, aber desto mehr von den Thaten und dem Wesen der Spartaner, ihrer schlichten, derben Art, ihrer einfachen Größe, ihrer rauhen, herrlichen Tugend, ihrem entsagenden Todesmuth, der sie vom Schlachtfelde nicht anders als siegreich oder todt, mit dem Schilde oder auf dem Schilde zurückkehren ließ. Auch die spartanischen Mütter der Helden erhielten ihre Lobsprüche, nicht ohne mitleidige Seitenblicke auf moderne Mütter, wenn zufällig 89 Frau Dorothea dabei saß. Daß in solchem Falle der junge Titus seiner Mutter wohl heimlich unter dem Tische die Hand drückte oder auch küßte, durfte der Alte natürlich bei Leibe nicht merken. Das waren schöne, hoffnungsvolle Stunden für Publius, die ihm nur dadurch etwas getrübt wurden, daß der dumme Junge mit besonderer Vorliebe Seitensprünge machte zu den Dingen der späteren Barbaren, zumal zu den gewaltigen Gothenhelden, den sächsischen Kaisern, den Hohenstaufen und endlich gar zum alten Fritz und den Begeisterungsthaten der Befreiungskriege, Alles Geschichten, welche dem klassischen Philologen des höheren pädagogischen Werthes und jedenfalls des Interesses zu ermangeln schienen.

Allein er sollte noch einen tiefen Kummer erleben. Als die Jahre gingen und die Zeit kam, da Titus vor die Berufswahl gestellt war, entschied er sich mit aller Bestimmtheit für den Soldatenstand und zeigte einen so festen, vernünftigen Willen, daß der Vater bald seinen Widerstand aufgeben mußte. Aber es war ein neuer herber Schlag für ihn.

»Er ist aus dem Stande der Philosophen in die Kriegerkaste hinabgestiegen,« klagte er. »Das arme Kind, aber es kann nicht anders. Es muß von der Faust leben, da sein Geist verkrüppelt ist. Es war mein Verbrechen, daß ich ihn in die Idiotenanstalt ließ, dort ist sein geistiges Theil erstickt.«

90 Fortan war der letzte Rest von Vaterstolz in ihm geknickt. So hoch er von den Spartanern dachte, das moderne Kriegs- und Söldnerwesen war ihm ein Greuel. Schon das viele laute Knallen der Feuerwaffe erschien ihm barbarisch und brutal; es erinnerte ihn an das wüste Angriffsgeschrei der troischen Asiaten bei Homer im Gegensatz zu dem still gefaßten Anrücken der Achäer. Und nun hatte sich sein Titus gar für die Artillerie bestimmt, wo das gemeine Knallen den Gipfelpunkt erreichte! Publius zog sich jetzt gänzlich aus der menschlichen Gesellschaft zurück; er glaubte in den Mienen aller seiner Collegen die tiefste Verachtung zu lesen für den Vater eines Söldlings, eines Landsknechts, dessen Geschäft der Massenmord aus tückischer Ferne war.

So verbitterte er sich sein Leben. Aber die Liebe zu dem Kinde blieb sich immer gleich. Seine Stimme hatte einen weichen, rührenden Klang, wenn er von seinem dummen Sohne sprach.

Sein liebstes Studium ward jetzt die Strategie und Tactik der Alten; im Geschützwesen insbesondere erwarb er die eingehendsten Kenntnisse, und wenn Titus auf Urlaub kam, schwirrte seine Rede von den Geschossen der Ballisten und Katapulten. Denn all dies Studium hatte nur den Zweck, sich mit seinem Sohne wissenschaftlich unterhalten zu können.

91 Während aller dieser Zeit lebte Frau Dorothea einsam und öde neben ihrem Gatten hin. Er achtete sie geringer denn je, war sie es doch ohne allen Zweifel, von der Titus seinen Böotismus geerbt hatte, und das ihr von Herzen zu verzeihen, ging über seine Kräfte. In der ersten Zeit des Exils in der Idiotenanstalt hätte er ihr am liebsten einen Scheidebrief gegeben und sich nach einem anderen Weibe umgethan, das im Stande wäre, ihm philologische Köpfe zu gebären; doch stand dem sein moralisches Gefühl im Wege, und so hing er ihr weiter in müder Treue an.

Die arme Frau trug ihr kaltes Loos mit schweigendem Kummer und hegte auch so ihren Mann in sorgsamer Liebe und selbst mit einem herzlichen Mitleid: war sein Herz doch schlimmer noch als das ihre verödet, da er ihren Trost nicht theilte noch kannte, den Mutterstolz und die selige Freude über den trefflichen Jüngling, der ihr Kind war.

Denn Keiner konnte es ihr leugnen, Titus war das Musterbild eines liebenswürdigen, jungen Officiers; schmuck, kräftig, gewandt, gewissenhaft und anstellig im Dienst, schneidig im Auftreten; ein Liebling von Vorgesetzten und Untergebenen, besaß er eine sorglose Heiterkeit des Gemüthes, die weder Ueberhebung noch Geckenthum oder 92 Blasirtheit aufkommen ließ und ihm alle Herzen, nicht bloß der Frauen, gewann. Seine Zukunft war nach menschlichem Ermessen eine glücklich gesicherte, sein Charakter wie seine Kenntnisse verbürgten eine gute Laufbahn.

Da kam das Jahr 1870.

Eines schönen Julimorgens bemerkte Dr. Martin Löwe, obgleich in Gedanken noch ganz vertieft in eine glänzende Monographie über die Ursachen des Krieges zwischen den Segestanern und Syrakusiern, die er beim Morgenkaffee gelesen, auf dem Schulwege – es war für die nicht verreisten Schüler ein Ferienunterricht angesetzt worden – eine eigenthümliche Bewegung in den Straßen. Wirklich, die Menschen hatten heut etwas Besonderes an sich, das selbst er nicht übersehen konnte, alle Gesichter, alle ohne Ausnahme, trugen den unverkennbaren Ausdruck einer stillen, starken Feierlichkeit, einer tiefernsten Festesfreude; die Leute sahen aus wie Gläubige auf dem Kirchgange an einem klaren Ostermorgen, und doch blitzte noch etwas Anderes, etwas feurig Weltliches aus ihren Augen, etwas, das Dr. Löwe noch nie gesehen hatte, eine freudige Lebenskraft, ein gefaßter Stolz, ein fast zur Hoheit verklärter Zorn, eine gemeinsame Sehnsucht; es war wie eine stumme Verbrüderung von Freunden, deren 93 jeder Einzelne im Begriff stünde, eine große und gute That zu begehen.

Verwundert und in leise gehobener Stimmung, gerade als ob ihn die Sache etwas anginge, betrat Publius das Gymnasialgebäude und eilte nach seiner Gewohnheit ohne Aufenthalt dem Klassenzimmer der Secunda zu.

Da traf ein schauerliches Kriegsgeheul aus dem Innern sein entsetztes Ohr, »nicht anders,« dachte er, »als es Tacitus bei den alten Germanen schildert: Sie suchen besonders einen rauhen und dumpf heulenden Ton zu erzeugen, indem sie den Schild vor den Mund halten, daß ihre Stimme durch den Wiederhall voller und mächtiger erdröhne . . . . Quo plenior et gravior vox repercussu intumescat, wiederholte er in Entrüstung laut vor sich hinsprechend, als plötzlich der kleine Director neben ihm stand, merkwürdiger Weise gleichfalls mit jenem sonderbar festlichen Zug im Gesicht, die Hand mit einem fast stolzen Lächeln auf seine Schulter legte, und auf die Thür der aufrührerischen Secunda deutend, das Citat fortsetzte.

»Nec tam voces illae, quam virtutis concentus videtur!«

Jetzt blickte Publius ganz verstört darein. Er selbst, der Director, den sonst das geringste aus dem Bauch eines Klassenzimmers dringende Geräusch 94 geradezu nervös machte, er lächelte zu diesem Höllenlärm und citirte harmlos den Tacitus:

»Das scheinen nicht bloße Menschenstimmen, sondern ein Erklingen der Tapferkeit selbst zu sein!«

Unglaublich!

Entschlossen ließ Dr. Löwe seinen Director stehen und fuhr in das Zimmer. Da geschah das Unglaublichste.

Statt wie sonst bei seinem Eintritt jäh zu verstummen und schreckenbleiche Gesichter Jeglicher hinter dem Rücken des Vordermannes zu verstecken, fuhren sämmtliche Knaben, die ungedeckte erste Bank, die Bank der Tugend nicht ausgenommen, mit leuchtenden Augen und erhitzten Wangen in ihrem furchtbaren Gesange fort:

»Fest steht, fest steht und treu die Wacht am Rhein!«

Nec tam voces illae, quam virtutis concentus videtur!

Da brach das Gewitter los.

»Herr Gott, welch ein Lärmen! Welch eine Unschicklichkeit! Was für ein Dämon ist in Sie gefahren? Welche Horden der Barbaren sehe ich vor mir? Wo ist meine attische Klasse geblieben? Entsetzlich! Ein thrakisches Geheul! Ein Toben trunkener Skythen! Entsetzlich!«

Plötzlich trat ein Schweigen ein, das nach dem 95 Sturme geradezu bänglich wirkte. Die Reihe des Erstaunens war an die Schüler gekommen.

Allmählich erst ging den Scharfsinnigsten ein Verständniß der Lage auf, und ein halb zorniges Flüstern ging durch ihre Reihen: »Er weiß noch gar nichts!«

Endlich ermannte sich der Primus und sagte in einem etwas trotzigen Ton:

»Herr Doctor, der Krieg ist erklärt!«

»Von den Segestanern?« fragte er in unklarer Verwirrung.

Ein lautes Gelächter des ganzen Gewalthaufens antwortete.

»Nein, von den Franzosen, und wir gehen alle mit!«

»Hurrah, und Ihr Sohn Titus soll unser Hauptmann sein!« rief eine übermüthige Stimme.

Nun endlich begriff er ungefähr, um was es sich handelte, und ein jäher Schreck durchzitterte ihn. Titus mußte in den Krieg gegen die Franzosen! Der Krieg der Segestaner gegen die Syrakusier war plötzlich vergessen; als ihn hingegen die Schüler aufforderten, ihnen etwas aus der preußischen Geschichte zu erzählen, gab er sich zwar nicht selbst dazu her, aber er gestattete zur Beruhigung der erregten Gemüther – auch seines eigenen – etwas Derartiges vorzulesen. Wie immer bei solcher 96 Gelegenheit, war mit unglaublicher Geschwindigkeit ein passendes Buch zur Hand. Es war eine Darstellung des Raubes von Straßburg unter Ludwig XIV.

Dr. Löwe hörte Anfangs kaum mit halbem Ohre zu; der Vorgang war ihm natürlich längst zur Genüge bekannt. Und doch wirkten allmählich die glühenden Augen der Knaben, die geballten Fäuste, die zornigen Ausrufungen mit still ansteckender Gewalt auf ihn, und seine Theilnahme ward eine erregtere. Es währte nicht lange, so empfand er die Entrüstung über die schnöde Gewaltthat kräftig mit, obgleich diese nicht an den Athenern begangen war, und er fühlte einen ehrlichen Haß gegen diese Franzosen, welche damals Straßburg gestohlen hatten und jetzt – auf sein armes, dummes Kind schießen wollten. Ja, das war's!

Zu Hause fand er seine Frau mit strömenden Thränen über ein Telegramm gebeugt.

»Kommt hierher nach Stettin zum Abschied. Mir nicht mehr möglich zu Euch. Titus.«

Auf der Stelle nahm Publius Abschied und reiste nach Stettin. Seine Frau nahm er mit, obwohl nicht ohne Widerstreben, denn er wußte aus der Kriegsgeschichte, daß ein starker Troß von 97 Weibern für die Bewegungen eines Heeres sehr hinderlich und oft gefährlich sei.

Ein paar Tage des Zusammenseins mit ihrem Sohne waren ihnen vergönnt, freilich nur die wenigen Freistunden täglich. Dann saßen sie an seiner Seite; der Vater faßte oft wie im Traum nach seiner Hand, als wollte er ihn nimmer von sich lassen, und kämpfte einen großen tapferen Kampf mit den stets widerspenstig nachtröpfelnden Thränen, indem er viele schöne Sprüche aus dem Alterthum über die Nothwendigkeit und Trefflichkeit des Sterbens für das Vaterland ins Gefecht führte. Titus aber setzte andere schöne Sprüche dagegen von der Nothwendigkeit und Gewißheit des Sieges, von König Wilhelm, Bismarck, Moltke, von der unerschütterlichen Kraft des preußischen Heeres.

Wenn Titus Dienst hatte, und das war natürlich fast den ganzen Tag, wanderte Publius in der Stadt umher und betrachtete mit großen staunenden Augen die ungeheure Bewegung. Es war in der That ein wahrhaft barbarisches, schlechthin unattisches Treiben, das ihn umwogte, ein Rasseln und Dröhnen von Kanonen auf dem Straßenpflaster, ein Zischen, Poltern und Pfeifen von Lokomotiven, ein Klappern von Pferdehufen, ein Klirren von Waffen, ein Schreien und Schimpfen von Menschenstimmen, dazwischen schmetternde 98 Trompetenstöße, Trommelwirbel und ohrenzerreißende Kommandorufe – wahrlich, man mußte die Brust mit dreifachem Erz gepanzert haben, um ganz unverworren und fest durch solchen cyclopischen Lärm zu schreiten. Und doch entging dem Blicke des Aufmerksamen Philologen nicht, daß durch all dies wilde Geschiebe etwas Festes, Starkes, Haltendes hindurch ging, ein Maß, eine Ordnung, unsichtbar und doch dem Blindesten erkennbar, eine Strammheit und Sicherheit des Schreitens, Auftretens, Hantirens, als ob eine unirdische Hand jedes einzelne Glied jedes einzelnen Mannes, Thieres und selbst Geräthes an einem straffen Faden lenkte.

»Nec tam voces illae, quam virtutis concentus videtur,« murmelte er immer wieder staunend vor sich hin.

Und dann klang ihm wohl wie eine Antwort aus den rauhen Kehlen eines vorüberziehenden Truppentheils der tyrtäisch starke Kriegsgesang:

»Fest steht und treu die Wacht am Rhein!«

In all dem gleichen Trubel aber lief die Mutter unverdrossen umher, achtete auf garnichts und machte die letzten Einkäufe für ihren scheidenden Sohn. Glücklicher Titus, wenn er all die schönen Sachen hätte mitnehmen dürfen! Nicht wie ein Spartaner, sondern wie ein Sybarit wäre er ins Feld gezogen.

99 Titus fuhr mit seinen Kanonen ab,. und das Elternpaar kehrte in die hinterpommersche Heimath zurück, vereint und doch Jeder für sich seinem eigenen Schmerze hingegeben. Dorothea tastete manchmal leise nach der Hand ihres Gatten, aber vergebens. Er hatte ihre Gegenwart vergessen.

Es kam nun eine Zeit, in welcher die philologische Bibliothek des Dr. Löwe sich über noch ärgere Vernachlässigung zu beklagen hatte, als damals nach der Geburt seines Sohnes. Klassiker, Glossare, Kommentare und Grammatiken deckte gemeinsam unwürdiger Staub. Dahingegen hielt er sich nicht nur neben dem heimischen Wochenblättchen eine Stettiner und eine Berliner Zeitung, sondern entnahm auch aus der Gymnasialbibliothek zum Staunen der Collegen Bücher über Bücher, welche allzumal die vaterländische Geschichte behandelten. Gründlich wie immer begann er ab ovo, mit der Völkerwanderung. (Denn Cäsar und Tacitus brauchte er freilich nicht mehr zu befragen.) Aber er rückte wacker vorwärts und ließ sich an Schnelligkeit von den deutschen Heeren in Frankreich nicht allzusehr beschämen. Als die Kunde von dem großen Siege bei Wörth kam, hatte Kaiser Otto soeben auf dem Lechfelde die Magyaren aufs Haupt geschlagen; als die Victoriaschüsse für Gravelotte durch das deutsche Land hallten, kehrte er bereits 100 mit dem großen Kurfürsten von Fehrbellin zurück, und am 2. September erlebte er die Schlachten von Roßbach und Leuthen an einem einzigen Freudentage. Danach aber überholte er sogar den raschen Schritt der Ereignisse, denn als man eben erst deutsche Granaten in das umlagerte Paris zu schleudern begann, war er längst mit Vater Blücher in die feindliche Hauptstadt eingezogen.

Von Titus kamen viele und freudige Nachrichten. Bei Vionville erwarb er das eiserne Kreuz, vor Metz für eine glänzende Vertheidigung seiner Batterie eine andere Auszeichnung.

Sein Vater begann unvermerkt das Haupt wieder etwas höher zu tragen, er schämte sich nicht mehr ganz so arg vor den Collegen und vermied den Verkehr weniger ängstlich; meinte er doch manchmal sogar eine Art besonderer Hochachtung von ihrer Seite zu empfinden.

Aber doch trauerte er um ihn wie um einen Verlorenen. »Meinen Titus gebe ich auf,« sagte er zu dem kleinen Director, »'s ist ein grauses Morden. Der Unglückliche versteht das Kriegführen nicht, wo sollte er es gelernt haben? Er ist zu dumm, der arme Junge, er fällt in den ersten besten Hinterhalt. Er weiß nichts von den Kriegslisten der keltischen Barbaren. Meinen Titus gebe ich auf.«

101 Seine Frau schien der gleichen Ahnung zu leben, denn kein Tag verrann ihr ganz ohne Thränen, aber sie duldete und schwieg. Wenn aber einmal ihr Auge um Trost bittend den Gatten suchte, sagte er mit kühler Milde: »Süß ist's und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben. Doch was versteht ein Weib davon?«

Und er hatte Recht, sein armes Weib verstand nichts von dieser Süßigkeit. Sie liebte das Vaterland mit treuem Herzen und jubelte mit über seine siegende Herrlichkeit: aber ihren Sohn durfte es nicht von ihr verlangen. Ihr eigenes Leben hätte sie freudig zum Opfer gebracht, aber wer verlangte das? Doch ihren Sohn? Nein, freudig nie!

Allein das Vaterland achtete ihrer Thränen nicht und verlangte ihren Sohn. Bei Le Bourget wurde er durch die Brust geschossen. Er lebte gerade noch lange genug, um das eiserne Kreuz erster Klasse sich auf das tapfere Herz legen zu lassen und einen herrlichen Brief voll heldenhafter Ergebenheit an seine Eltern zu diktiren, den er dem Gymnasialdirector zu schonender Mittheilung übersenden ließ.

So betrat denn dieser eines Tages mit dem ganzen Lehrercollegium die stille Wohnung des Löwe'schen Ehepaares, um die traurige Pflicht zu erfüllen. Beider Eltern ahnungsvolles Herz wußte auf der Stelle, welche Kunde sie hören sollten.

102 Zunächst stimmte draußen der Schülergesangverein das erschütternde Chorlied aus der Antigone des Sophokles an:

Glückselige, deren Geschick Verderben fern bleibt!

mit den schmerzlich beziehungsvollen Versen:

Eben über dem letzten Sproß
Des Hauses strahlte belebend Licht;
Und nieder mäht ihn ohn' Erbarmen
Jetzt des Hades blut'ges Beil.

Hieran schloß der Director seine Rede, mit dem antiken Spruch beginnend:

Wen Götter lieben, dem verleihn sie frühen Tod.

und an manches andere trostvolle Citat den Hinweis knüpfend, daß mit den Eltern auch die Freunde und Amtsgenossen, ja die gesammte Bürgerschaft mit Schmerz, aber auch mit hohem Stolz auf den gefallenen Helden blicke, der das Wort Hectors ruhmvoll besiegelt habe:

Ein Wahrzeichen nur gilt: das Vaterland zu erretten!

Nach dieser herzlich gemeinten Ansprache legten die Versammelten die mitgebrachten Lorbeerkränze zu einer ernsten schönen Pyramide über einander dem trauernden Paare zu Füßen, und von draußen erklangen wiederum in feierlichen Rhythmen die uralt erhabenen Weisheitsworte des athenischen Dichters.

Der unglückliche Vater aber hörte und sah nichts mehr. Er war auf seinen Stuhl 103 zusammengesunken und starrte trostlos und thränenlos vor sich hin, ein gebrochener, hilfloser Mann, der nun Alles in der Welt und der sich selbst verloren hatte. Kein Zureden der erschütterten Amtsgenossen vermochte ihm ein Wort zu entringen, nur ein leises Stöhnen aus tiefer Brust und ein krampfhaftes Zucken der Hände verrieth, daß noch Leben in dem regungslosen Körper weile.

»Seltsam,« flüsterte der Director seinem Nachbar zu, »daß es ihn doch so furchtbar trifft. Er hat doch wenig auf den Sohn gehalten, da er lebte. Ja der Tod, der Tod! Wenn nicht die Wissenschaft mit der Zeit ihm Trost gewährt –«

In diesem Augenblicke trat Frau Dorothea unvermuthet zu ihrem Manne. Es lag ein wunderbarer Ausdruck in ihren Zügen; wohl schimmerten ihre Augen feucht von zurückgehaltenen Thränen, aber ein verklärter Stolz siegte über den großen Schmerz, und sie sah aus wie eine überwindende Heilige. Sie legte still die Hand auf seine Schulter und sagte mit fester Stimme.

»Es war ihm nicht vergönnt, mit dem Schilde heimzukehren; aber er ist auf dem Schilde gekommen. Martin, das war mein Sohn.«

In dem Ton der letzten Worte lag nicht bloß ein heiliger Stolz, sondern fast etwas Trotziges, ein Fordern noch mehr als ein Bitten um Liebe.

104 Ihr Gatte aber hob sich plötzlich auf wie erschrocken und sah ihr wohl eine Minute lang staunend und suchend in die Augen. Dann legte er beide Hände heftig vor sein Angesicht gleich einem Entsetzten oder Verzweifelnden und hielt eine lange Zeit das Haupt tief gesenkt und verborgen.

Zuletzt stand er auf und sagte mit erhobener Stimme zu den Collegen: »Er ist doch einer der Unsern gewesen!«

Und dann schlang er mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit die Arme um das Weib seiner Jugend und hielt es schweigend an seinem Herzen. 105 106 107

 


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