Hans Hoffmann
Aus der Sommerfrische
Hans Hoffmann

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Zaunrübe.

Ein guter Mensch sollte sich von Rechts wegen überhaupt mit Niemandem zanken; wenn er durchaus muß, so sei es mit seinen Feinden, die doch jedenfalls schlechte Menschen sind, aber nicht mit seinen Freunden und guten Nachbarn, am allerwenigsten aber mit seiner eigenen Frau. Und doch geschieht dies, wie wir alle wissen, so merkwürdig oft, besonders in den ersten Zeiten der Ehe, wo es eigentlich die Regel ist, daher man diese Zeiten auch Flitterwochen oder Honigmonde nennt wegen der ungemeinen Süßigkeit der auf den Zank folgenden Versöhnung. Es soll geriebene Feinschmecker geben, die den Streit absichtlich herbeiführen, um nachher diese Süßigkeit zu kosten, wie mancher einem edlen Weine einen Schluck bösen Krätzer vorausschickt, um recht auf den Geschmack zu kommen.

So weit habe ich es nie getrieben. Aber doch hatte ich mich einmal wieder mit meiner Frau gezankt; unser Aeltester war damals erst sechs Jahre alt, wir saßen also noch tief in den Flitterjahren. 192 Der Gegenstand des Streites war diesmal ein Rechtsfall, und dies kam so.

Wir empfanden, wie andere Leute auch, das Bedürfniß einer Sommerfrische, und da es bei uns nicht wie bei anderen Leuten zu einem Bade- oder Luftkurorte langte, so mietheten wir uns vor der Stadt in einem Obstgarten eine Laube zugleich mit dem Vorrecht, in deren näherer Umgebung spaziren zu gehen. Diese Laube gewährte im Vorfrühling, wo wir den Vertrag schlossen, den schlichten Anblick einer Anzahl von Bohnenstangen, die oben durch einige Querhölzer verbunden waren, und es war sehr angenehm gewesen, sich darinnen zu sonnen.

Als nun aber der wirkliche Frühling kam und vorrückte, bemerkten wir, daß unser Vergnügen an dem Sonnenbade zusehends geringer wurde, und wir erkundigten uns eines Tages bei dem Vermiether, wie es denn mit der Begrünung unseres Stangentempelchens stünde.

»Es ist eine Epheulaube,« beschied er uns kurz und kehrte uns den Rücken.

Wir spähten nach, und richtig, wir entdeckten eine Anzahl solcher Pflänzchen, die von dem Mutterboden zur Höhe strebten und sich etwa um zwei Handbreiten dem Himmel schon genähert hatten. Wir berechneten uns, daß wir binnen zehn Jahren wohl allenfalls schon auf eine leichte Beschattung 193 hoffen durften, und daß unsere Enkel vielleicht unter diesen Ranken eine feuchtkühle Moderluft beklagen möchten. Da wir nun aber das Recht auf diese Epheupflanzung nur für diesen einen Sommer erworben hatten, so halfen uns die Zukunftsbetrachtungen nicht aus den Strahlen der heurigen Julisonne.

Ich gedachte nun zunächst, mich mit dem angenehmen Herrn Garten- und Laubenbesitzer über diesen Punkt etwas ernsthaft auseinanderzusetzen, doch meine Frau zitterte vor dem zu erwartenden schweren Zusammenprall, indem sie richtig bemerkte, daß dadurch die Hitze nur noch vermehrt werden würde, und überhaupt zöge man mit solchem ungebildeten Menschen immer den Kürzeren, da man mit logischen und juristischen Beweisgründen gegen die schlichte hanebüchene Grobheit doch niemals aufkomme. Die letztere Bemerkung überzeugte mich, schon weil ich mich allemal geschmeichelt fühlte, wenn sie mein logisches Uebergewicht irgendwie, wenn auch nur auf einem Umwege, anerkannte, und da ich nicht Jurist bin, so war ich nur doppelt stolz, daß sie mir auch auf diesem Gebiete Einsichten zutraute. Leider lag in diesem Stolze, der zunächst unsere Einigkeit förderte, auch schon der verborgene Keim zu unserem späteren Zerwürfniß.

Vorläufig also gab ich nach und fiel sogar 194 bereitwillig ihrem Vorschlag bei, einen Gärtner zu befragen, ob man nicht jetzt noch ein schneller wachsendes Schlinggewächs neben den trägen Epheu setzen könne. Wir dachten zunächst an Erbsen oder Bohnen, ich auch an Hopfen, doch es konnte ja möglicherweise noch etwas Besseres geben.

Wir begaben uns also zu einem Gärtner, bei dem ich schon mehrere Veilchensträuschen erstanden hatte und dessen günstiger Gesinnung ich darum sicher war, erklärten ihm die Sachlage und stellten unsere Frage.

»Da wäre es ja das Einfachste, die Zaunrübe zu nehmen,« antwortete er bedächtig.

»Wächst die wirklich sehr schnell?« fragte meine Frau.

»Die?« beschied er sie ausdrücklich, »die wächst so schnell, daß es einfach nicht zu glauben ist. Man sagt wohl zum Spaß, Jemand höre das Gras wachsen. Die Zaunrübe aber kann man in vollem Ernst mit seinen Augen wachsen sehen; bei heißem, feuchtem Wetter schießt sie an einem einzigen Tage armlange Ranken.«

Meine Frau klatschte in die Hände. »Das ist ja köstlich,« jubelte sie, »das ist ja gerade, was wir brauchen. Natürlich nehmen wir die Zaunrübe.«

»Wenn sie nur nicht sehr theuer ist,« warf ich bedenklich ein, »bei einer so schätzbaren Eigenschaft ist das wohl zu fürchten.«

195 »Vierzig Pfennig die Wurzel,« erklärte er uns, »und eine genügt.«

Meine Frau war nun ganz aus dem Häuschen vor Freude; ich aber wurde ein bißchen mißtrauisch: ein so billiges Zeug hatte sicher einen Haken. Ich erkundigte mich also vorsichtshalber, wie es damit wäre.

»Allerdings,« gab er sogleich zu, »nimmt man die Zaunrübe in Gärten nicht gern, weil sie so übermäßig wuchert. Läßt man sie frei wachsen, so wird man ihrer bald nicht mehr Herr. Sie säet sich selbst aus und erscheint bald überall, wo man sie garnicht haben will, und ist dann kaum mehr auszurotten.«

Ich machte nun doch ein bedenkliches Gesicht, meine Frau aber rief fröhlich: »Was geht uns das an? Wir haben die Laube nur für diesen Sommer und brauchen Grün und Schatten. Dem groben Menschen ist es doch nur recht, wenn er später davon etwas Mühe hat.«

»Er wird aber auch wirklichen Schaden haben,« bemerkte ich ernst, »denn ohne Zweifel wird ihm sein Epheu erstickt und verdorben, und wer weiß, was nachher sonst noch. Und das geht denn doch nicht.«

Der Gärtner bestätigte gelassen meine Voraussetzungen, meine Frau aber nicht so den daraus gezogenen Schluß. Sie blieb dabei, das sei nicht unsere 196 Sache, der grobe Mensch habe mit der Schuld auch die Strafe zu tragen; oder ganz bei Lichte besehen, müsse er uns nur dankbar sein für die schnelle Beschattung der Laube, die dadurch ja erst brauchbar werde. Von rechtswegen müßte er die vierzig Pfennige bezahlen und nicht wir.

Das war ja nun alles recht schön, mich aber stach doch der Haber oder vornehmer gesprochen, mein juristisches Gewissen, und ich legte im Namen des geschriebenen und ungeschriebenen Rechts ernste Verwahrung gegen diese Art Selbsthülfe ein.

Meine Frau kräuselte die Lippen mit unmerklichem Spotte; das kannte ich schon, das kam gewöhnlich, wenn ich einmal etwas gewaltsam mit meiner Logik und meinem Rechtssinne auftrumpfte; und natürlich stieg mir der Aerger sachte in die Höhe. Doch ich ahnte von ihrer Seite tapferen Widerstand, und es ging doch nicht an, vor dem fremden Manne eine Scene herbeizuführen. Ich beschloß also, die vierzig Pfennige der Wohlanständigkeit zu opfern und die Wurzel zu erstehen. Es blieb mir ja unbenommen, sie nachher fortzuwerfen oder zu zerstören.

So erhielten wir denn das merkwürdige Gewächs, und während wir damit abzogen, sagte der Gärtner lachend zu unserm Jungen, den wir bei uns hatten: »Du, Kleiner, nimm Dich aber in Acht, 197 daß Du nicht einmal aus Versehen in der Zaunrübenlaube einschläfst; denn wenn Du etwas lange schläfst, hat sie Dich nachher ganz und gar umwuchert, und Du kannst nicht wieder heraus. So schnell wächst das Rackerzeug.«

Wir lachten natürlich auch, aber ich will's nicht leugnen, die wachgerufene Vorstellung, so lächerlich sie war, veranlaßte mir doch ein geheimes Grauen. Natürlich nur für einen Augenblick.

Auf dem Heimwege verhielten wir uns ziemlich schweigsam; ich wollte meinen kleinen Aerger erst verrauchen lassen, ehe ich mit meiner Meinung wieder herausrückte. Zu Hause angekommen, wickelten wir das Papier auf und betrachteten die Pflanze.

Wir stießen alle drei einen Ruf der Ueberraschung und Belustigung aus. Es war wirklich ein gar sonderbares Ding, diese Wurzel. Sie sah genau aus wie ein fußlanges Männchen, mit Kopf, Rumpf, Armen und Beinen ausgestattet. Die Beine liefen freilich nicht in Füße, sondern in dünne Fasern aus und waren also zum Gehen recht unpraktisch, die Ausläufer der Arme dagegen waren zum Greifen und zähen Festhalten sehr wohl geeignet. Auf dem dicken Schädel wuchs als Haupthaar ein lustiges Gekräusel von zusammengekrümmten hellgrünen Blättchen.

So menschenähnlich war der wunderliche kleine 198 Bursche, daß meine Frau Lust bekam, ihn mit einem Puppenanzuge zu bekleiden, während mir mit einem Schlage die Entstehung der Sagen von Wurzelmännchen und Allräunchen in ihrem Ursprunge klar wurde. Wir empfanden ordentlich eine kleine Zärtlichkeit für unseren fremdartigen Gast und waren so einig in diesem Gefühle, daß der Ausbruch eines Kriegszustandes zwischen uns so fern wie nur möglich schien. Doch das Schicksal schreitet schnell.

Meine Frau gab die Absicht kund, das Ding heute noch an der Laube einzugraben, natürlich unbekleidet; ich legte Verwahrung ein im Namen des Gesetzes und der juristischen Bildung. Weil wir uns von dem Gartenbesitzer ein bißchen hatten anführen lassen, stand uns noch nicht das Recht zu, ihm seinen Epheu und in der Folge vielleicht seinen ganzen Garten zu verwüsten. Meine Frau sagte dagegen, erstens könne er uns nicht nachweisen, daß wir die Zaunrübe gepflanzt hätten, und zweitens könnte er oder auch wir selbst sie im Herbst ja wieder ausreißen, und drittens sähen die Blättchen dem Epheu recht ähnlich, sodaß eigentlich Alles beim Alten bliebe, wenigstens in der Hauptsache.

Ich bestritt diese Logik mit Nachdruck, sie verlachte meine Logik im Allgemeinen und im Besonderen, sie äußerte sich lieblos über Recht und Gesetz, und nun war das Unheil da, das Gewitter brach los.

199 Der Ausdruck Gewitter darf natürlich nicht allzu wörtlich genommen werden, vielmehr vollzog sich unser Krieg durchaus in den gesitteten Formen einer anständigen Mensur, nicht nach Art einer lärmvollen Prügelei. Dafür trat aber auch die reinigende Wirkung eines Gewitters nicht sogleich in Kraft, sondern es blieb eine lange nachgrollende Schwüle zurück. Ein Friede wurde zwar geschlossen, aber ein sehr fauler, indem ich zuletzt erklärte, sie möge thun, was sie nicht lassen könne, ich aber wolle meine Hände in Unschuld waschen und von ihrem Thun nichts sehen noch wissen.

Und dabei blieb es. Sie machte sich richtig mit unserm Jungen und dem Wurzelmännchen selbdritt auf den Weg nach dem Garten, und ich hielt mich knurrend zu Hause trotz des lockenden Wetters.

Als sie heimkehrte, sprachen wir kein Wort mehr von dieser Sache, ich bemühte mich, über ihre still triumphirende Miene mich nicht allzu sehr zu ärgern, und im Uebrigen verkehrten mir während dieses Abends in höflichen und gleichgültigen Formen miteinander, nur die nothwendigsten Dinge redend. Es war sehr ungemüthlich.

Wir ließen nicht nur die Sonne untergehen über unserm Zorn, sondern zogen auch das Deckbett darüber.

In der Nacht fuhr plötzlich der Kleine mit einem 200 Schrei aus dem Schlaf und jammerte laut, der böse Zwerg wolle ihn fesseln und erwürgen. Meine Frau hatte Mühe genug, ihn wieder zu beruhigen. Ich aber konnte die hämische Bemerkung nicht unterdrücken: »Siehst Du wohl, da hast Du's – denn jede Schuld rächt sich auf Erden.«

»Das soll wohl Logik sein,« entgegnete sie bissig.

Unsere Stimmung ward durch diese Wechselrede keineswegs verbessert. Wir konnten beide lange nicht wieder zum Schlafen kommen; solch angstvolles Träumen eines Kindes hat immer etwas still Unheimliches.

Während des nächsten Tages knurrten wir kühl aneinander hin. Meine Frau ging wieder zum Garten, und ich blieb wieder zu Hause und fühlte mich unbehaglich genug in der einsamen Stube. Zum einsamen Spazirengehen aber hatte ich auch keine Lust; das schien mir erst recht langweilig.

Aber ich wollte mich rächen; der Abend ist das Reich des Mannes: da sollte meine Frau diese Freuden des Alleinseins kosten. Das Abendbrod verzehrte ich noch mit tückisch unbefangener Miene, dann erklärte ich auf einmal, ich habe mit Freunden eine Bowle verabredet. Sie verbarg sehr geschickt ihre unangenehme Ueberraschung und sagte ganz gleichgültig: »Das ist wohl auch das Beste.«

201 Dies war eine kleine Niederlage, die mich recht erboste, aber ich mußte sie einstecken. Doch keimte mir daraus der weitere Racheplan, erst sehr spät nach Hause zu kommen. Wo ich Freunde fand, wußte ich, und daß es nicht schwer sein würde, sie so lange ich wollte, bei der Bowle festzuhalten, wußte ich auch. Denn es waren hartgesottene Junggesellen, die kein größeres Vergnügen kannten, als einen ehrsamen Ehemann in den Strudel ihrer Laster zurückzuzerren.

Aber auf einmal hatte ich dann keine Lust mehr, sie aufzusuchen; meine Stimmung war von Herzen ungesellig. Am liebsten blieb ich im Freien, die Luft war auffallend warm, weich, sogar schwül und drückend, und doch ein Gewitter durchaus nicht zu erwarten. Da kam mir der Gedanke: jetzt muß es gut sein in der luftigen, unberankten Laube zu verweilen. Und alsbald zog es mich mit fast dämonischer Lust in jene sichere Einsamkeit.

Aber das Wort von der Bowle mußte wahr gemacht werden, das war ich meiner Frau schuldig. Auch wußte ich wohl, daß ich ohne das nicht so lange dort aushalten würde, als dem Zwecke gemäß war.

Ich kaufte mir also in einer Weinhandlung, die meine Achtung genoß, zwei Flaschen Mosel von gutem Heimathzeugniß und einen Strauß 202 Waldmeister, etwas Zucker ließ man mir gleichfalls ab, und beförderte diese Gegenstände in meiner Rocktasche zum Thatorte. Daselbst fand ich einen Milchtopf, einen Holzlöffel und ein Wasserglas vor, die wir unter der Bank in Niederlage hielten und die ich bequem für meine Absichten benutzen konnte, nachdem ich Topf und Löffel am Brunnen noch einmal mit peinlicher Sorgfalt von allen noch etwa denkbaren Milchspuren befreit hatte.

Und so saß ich denn bald in vollkommener Nachteinsamkeit, genoß meiner selbst und einer sehr wohlgerathenen Maibowle und mußte mir gestehen, daß unsere geschmähte Laube für solchen Zweck garnicht günstiger gedacht werden konnte. Wenn der werdende Epheu sie schon früher umrankt hätte, die stickige Luft wäre kaum zu ertragen gewesen, während so jeder kühlende Hauch den freiesten Zutritt hatte. Und wie herrlich es war, wenn die schweigende Ueberpracht des Sternenhimmels durch die zarten Querstangen ungebrochen hereinschimmerte, das lernte ich auch erst heute schätzen. Ich kam wirklich bald in die glückseligste Stimmung, vergaß alles Aergers und aller Rache und freute mich zwecklos sanft quellender Empfindung.

Als ich die erste Flasche ungefähr bewältigt hatte, ging dann noch der Mond auf, schon mit stark abnehmender Scheibe, daher etwas ungewohnten, 203 etwas seltsamen Ansehens, aber noch mit voller Kraft die Weite überleuchtend. Sein Licht erst enthüllte einen feinen Nebeldunst, der über dem Boden dahinwallte, die niedrigen Sträucher sanft umhüllte und zu dem größeren Gebüsch leise emporlangend ihm fließend und verfließend sonderbar wechselnde Gestaltungen lieh.

Wunderbar stimmungsvoll war dieser schleichende Glanznebel, und bald kam es mir vor, als sei er ganz durchtränkt von dem Würzgeruch des Waldmeisters. Diese Erscheinung war mir ganz neu und regte mich zu angenehmem Nachdenken an, das indessen nicht zu metaphysischen Tiefen vordrang, die mir auch minder erfreulich sind, sondern sich mehr in dem schwebenden Zwischenreich allgemeiner Stimmung aufhielt.

Allgemach aber begann dieser duftige Nebel munterer zu werden und gleichsam Wellen zu schlagen, wie von kurzen Windstößen bewegt, die mir aber nicht fühlbar wurden, zu sprühen und zu springen, und der Geruch ward dabei immer stärker.

Jetzt auf einmal drang durch die Nachtstille ein feines Geräusch an mein Ohr, ein Knistern oder Rascheln oder sonst ein unbestimmbarer Ton; er kam rund um mich her vom Fußboden herauf, stieg aber allmählich immer etwas höher. Und indem ich unruhig lauschte und unwillkürlich auch die Augen 204 anstrengte, bemerkte ich ringsum in meiner nächsten Nähe ein unwägbar feines, doch unablässiges Bewegen, ein Zucken und Schwirren, dessen Art und Ursprung ich in keiner Weise zu enträthseln vermochte. Und auch das stieg allmählich immer höher und höher. Ich hätte es gerne dem Nebel zugeschrieben, allein so recht glaubte ich das selbst nicht, und auch der Einfall, daß ich es mit einer elektrischen Erscheinung zu thun habe, überzeugte mich nicht von Herzen, schon weil jedes Lichtphänomen dabei fehlte. Und darüber beschlich mich ein wunderliches Grausen, das mir fast ebenso räthselhaft war wie die Sache selbst, und das ich doch mit aller Gewalt nicht von mir abzuschütteln vermochte. Vielmehr wuchs es nur immer und legte sich mir immer peinvoller auf die Nerven, je mehr auch das Schwirren und Wirren selbst vor Augen und Ohren sich immer verstärkte und immer höher heraufdrang. Allmählich schmerzten mir die Augen, und ich schloß sie eine Weile. Doch nun ward das stille Grausen so mächtig, daß ich es garnicht aushielt und schnell die Blicke wieder aufhob. Und jetzt bemerkte ich, daß über mir die Sterne nicht mehr frei hereinschimmerten, sondern nur noch vereinzelte zitternde Lichter wie durch ein zerrissenes Gewebe blitzten.

Ich wollte aufspringen, um mir dies räthselhafte Treiben von Außen zu besehen, doch ich war wie 205 gelähmt an allen Gliedern von dem dunkeln Bangen und fand den Muth nicht, auch nur eine Hand ins Freie zu strecken.

Unterdessen ging das raschelnde und zuckende Unwesen immer so fort, und ich entdeckte nun auch mit gesteigertem Schrecken, daß es um mich her zusehends dunkler wurde und bald von oben auch nicht das feinste Blinken eines Sternes mehr hereindrang. Zugleich legte die Luft sich schwer und stickig mir auf die Brust, und kein belebender Hauch ließ sich mehr verspüren.

Jetzt endlich gab die Angst mir doch die Kraft, mich in die Höhe zu reißen und etwas zu thun. Ich griff in meine Tasche, zog die Streichholzschachtel hervor und suchte Feuer zu machen. Doch das mißlang gänzlich, kein einziges Hölzchen wollte zünden, und ich merkte denn endlich, daß sie vollkommen feucht waren. Und nun war es so dunkel geworden, daß ich ganz buchstäblich die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Ich hatte um mich her die reine, unbedingte, ideale Finsterniß.

In Schweiß gebadet sank ich auf die Bank zurück, und das Weinen war mir nahe. Doch that ich schnell einen großen Angstschluck aus meinem Glase, das ich tastend glücklich auffand, und das gab mir den Muth zu einem Versuche, mich ins Freie zu tasten. Ich tappte nach allen Seiten 206 umher, stieß aber zu meinem grenzenlosen Erstaunen an allen vier Seiten gleichmäßig auf ein dickes, zähes Rankenwerk von so fester Verschlingung, daß es unmöglich war, an irgend einer Stelle auch nur eine Hand dazwischenzuschieben; es war schlechthin undurchdringlich wie ein eiserner Kettenpanzer. Dabei konnte ich mit der fühlenden Hand ganz deutlich wahrnehmen, wie eine unaufhörlich schwirrende Bewegung diese Rankenwände durchzog; und als ich die Hand eine kurze Zeit ruhig dagegenlehnte, merkte ich, wie sie von biegsamen, weichen Körperchen hier und da berührt, langsam umsponnen und gleich darauf schon zäher umklammert wurde. Von meinem Entsetzen mich lösend, riß ich sie zurück, und es gelang mir noch gerade, doch nicht ohne Anstrengung, sie zu befreien.

Jetzt packte mich starre Verzweiflung, ich sank gebrochen in mich zusammen. Denn ich erkannte nun mein Schicksal, und es gab keinen Ausweg: ich mußte in wenigen Stunden von dem wahnsinnig wuchernden Pflanzenscheusal ganz und gar umstrickt und zuletzt wie von hundert pressenden Schlangen grauenhaft, qualvoll erwürgt werden.

Wenn es nicht etwa bald Morgen wäre und dann von Außen mir Hülfe käme –

Ich befühlte mit dem Finger die Zeiger meiner Uhr und fand, daß es eben erst eine Viertelstunde 207 nach Mitternacht war. Also nicht die leiseste Aussicht auf Rettung. Lange vor dem Morgen mußte das Schreckniß vollendet sein.

Ich sprang wieder auf und warf mich mit wüthendem Anprall gegen das zähe Schlingwerk: es schlenderte mich elastisch zurück wie die Wände der Polsterzelle einen tobsüchtigen Menschen. Nicht einmal den Schädel also konnte ich mir einrennen, ich Unglückseliger, um die Qual abzukürzen.

Ich schrie wie wahnsinnig um Hülfe, merkte aber alsbald mit voller Sicherheit, daß nicht der leiseste Ton mehr nach Außen dringen könne. Da gab ich mich verloren und bin, wie ich glaube, in Ohnmacht gefallen.

Wenigstens hatte ich dann das Gefühl des Erwachens, aber welches schaudervollen Erwachens!

Da auf einmal glaubte ich durch das dumpfe gleichmäßige Knistern und Rascheln, das jetzt schon zu einem still dröhnenden Getöse geworden war, einen Ton, wie ein articulirtes Kichern zu vernehmen, das aus einer bestimmten Richtung kam, und fast gleichzeitig schien von derselben Seite her ein matter Glanz aufzuflimmern und mit leisem Sprühen hin- und herzuhüpfen, hierin und in der grünlich blassen Färbung genau einem Irrlicht gleichend.

So unheimlich das sonst gewesen wäre, hier gab es mir doch einen Schimmer von Hoffnung: 208 etwas Schlimmeres als der gräßliche Tod konnte mir ja doch jedenfalls niemals geschehen. Es wurde sogar noch unheimlicher, ohne daß ich mich darum ängstigte: das Kichern ward zu einem krächzenden oder hustenden Meckern, und der Lichtschein breitete sich weiter aus mit seltsam huschenden Strahlen, ohne doch die ungeheure Finsterniß im Geringsten zu erhellen.

Und wieder sah ich einen dunkeln Kern in der glimmernden Strahlenscheibe sich bilden, und sehr bald formte sich vor mir eine menschliche Gestalt, sehr sonderbar freilich anzusehen, vertrackt und zwergenhaft, aber doch als menschlich mit Sicherheit zu bestimmen, obgleich nur der Schattenriß sichtbar wurde und die Gesichtszüge nicht hervortraten.

Mein erster Gedanke aber war: den Kerl mußt du schon irgendwo gesehen haben. Dies wunderlich verkrauste Haar auf dem breiten Dickschädel, diese verzwickten Hände und noch verzwickteren, formlos ausgefranzten Füße des ekligen Gezwergs waren mir zweifellos bekannt, allein vergebens zermarterte ich mein Hirn in endlos qualvollem Grübeln, es herauszubringen, wo ich dem kleinen Greuel im Leben schon begegnet sei.

Dies Grübeln war entsetzlich in seinem rastlos vergeblichen Bemühen, der Angstschweiß rann mir uns allen Poren, aber ich konnte nicht davon loskommen; mein Geist war davon so umwickelt wie 209 mein Leib von dem Schlingkraut. Und dabei meckerte und wieherte das zappelnde Scheusälchen mit beständigem Hohnlachen. Mir aber liefen, die Wahrheit zu sagen, die Thränen zu beiden Seiten der Nase herunter.

Und nun fing das Ding auf einmal verständlich zu reden an, während zugleich das phosphorische Leuchten um es her sich noch verstärkte; ich bemerkte dabei, daß sein zottiges Haar in langen Strähnen sich nach oben quer über diesen Lichtkreis hinweg ringelte und sich dann im Dunkel verlor.

»Da haben wir also den großen Herrn in der Falle, der unsereinem nicht das bißchen Haarwuchs gönnt,« klang es höhnisch an mein Ohr.

»Haarwuchs?« stotterte ich ganz verblüfft, zugleich in leiser Hoffnung aufathmend, »hier muß eine Verwechselung zu Grunde liegen, ich bin nicht etwa Friseur –«

»Hat noch Niemand behauptet,« unterbrach mich das Ding, »aber der große Herr gönnte anderen das nicht, womit er selbst knapp versehen ist. Und doch ist das einzige reelle Vergnügen, das unsereinem vergönnt ist, sich das Haar wachsen zu lassen. Darin leisten wir allerdings auch etwas. Aber wer uns die Gelegenheit zu solcher Leistung abschneiden will, der kann sich nicht wundern, wenn wir ihn als Feind betrachten und danach behandeln.«

210 Ich begriff durchaus nicht, was der Bursche meinte und wollte, und versuchte noch einmal, meine Unschuld zu betheuern, obgleich mich dabei doch plötzlich ein tiefes inneres Schuldbewußtsein peinigte, ohne daß ich einen Grund dazu auffinden konnte, daher ich mir denn qualvoll dumm vorkam.

Er kümmerte sich garnicht um mein Gerede, sondern fuhr gelassen fort:

»Unversöhnlich bin ich indessen nicht, auch im gerechtesten Zorn. Doch ein Opfer muß ich haben. Will der große Herr mir das darbringen, so kann ich ihn freilassen.«

Das klang mir nun doch wie himmlische Musik, und ich war selbstverständlich bereit, ihm das Menschenmögliche zuzugestehen.

»Welches Opfer verlangst Du?« fragte ich kurz.

Er meckerte wieder. »Ein sehr kleines für Dich,« gab er zur Antwort, »nämlich ein Ding, das Dich doch bloß ärgert, sich mit Dir herumzankt, Dir für ganze Tage die Laune verdirbt und Dich endlich bis in späte Nachtzeit einsam aus dem Hause treibt. Das wirst Du sicherlich leicht entbehren. Gib mir Deine Frau.«

Ich war außer mir vor Staunen und Entrüstung.

»Du redest im Fieber,« rief ich hastig, »Du kannst doch nicht im Ernste glauben, ich werde die 211 arme Frau statt meiner diesem gräßlichen Tode ausliefern.«

»Das glaube ich in der That nicht,« versetzte er gelassen, »und das war keineswegs die Meinung. Warum sollte ich sie auch umbringen wollen, die ich doch als meine Wohlthäterin schätze; denn ihrer Fürsprache verdanke ich diese großartige Entfaltung meines Haarwuchses. Nein, ganz im Gegentheil, ich will sie heirathen. Nur zu diesem Zwecke ersuche ich Dich, sie mir abzutreten. Du bist dann frei sowohl von ihr wie von mir.«

Ein Schauder durchrann mich und zugleich eine heiße Empörung über die Unverschämtheit dieses Vorschlages. Ich mein Kleinod einem anderen abtreten – keinem Kaiser oder Könige der Welt! Und nun gar solchem schnöden Wichte! Die Frechheit war einfach bodenlos. Schon der bloße Gedanke, sie in seinen Händen zu sehen, erschütterte mich ganz und raubte mir alle Fassung. Ich sah ihre liebe Gestalt, die Anmuth ihres Ganges, den Zauber ihres Lächelns, ihre Heiterkeit und Schalkheit, die treuherzige Offenheit und über dem allen die stolze Treue ihrer großen Augen – und daneben diesen Unhold!

Ich empfand es als unwürdig, diesem überhaupt noch ein Wort auch nur der Ablehnung zu gönnen. Ja, es war mir unmöglich, das widrige Geschöpf noch fürder anzusehen; ich schloß die Augen und 212 war des Willens, jedes weitere Schreckniß schweigend zu erdulden.

Kaum saß ich so in mich gesenkt, da fühlte ich auch schon wie ein paar derbe Ranken meine Füße umschlangen und sich so schnell verknoteten, daß mir jede Bewegung benommen war. Und ebenso kroch es mir jählings zwängend um Arm und Hände.

In dieser letzten Bedrängniß sprach ich zu mir selber: du wirst dir jetzt mit aller Geistesmacht vorstellen, es sei deine liebe Frau, die dich so mit Rosenketten umwindet und fesselt, daß du ihr nimmer entfliehen kannst; und wenn die wuchernden Blätter endlich deinen Mund berühren, wirst du dir mit der gleichen Kraft einbilden, es seien ihre Lippen, die dich freundlich zu Tode küssen: und so kann es geschehen, daß du den Tod mit Freuden erduldest und auch in ihm noch Süßigkeit findest.

Und sobald ich dies beschlossen hatte, gewann ich auch die Kraft, solche Vorstellung zu erzwingen. Ich fühlte mich leibhaftig von lieben Armen umstrickt, und liebe Lippen ruhten warm und freundlich auf meinem Munde.

Und danach erklang eine liebe Stimme: »Aber so komm doch endlich zu Dir! Was stöhnst Du so ängstlich?«

Und ich that in lieblichem Schrecken die Augen auf und fand mich in der lichten Laube im ruhigen 213 Mondlicht, und neben mir saß meine Frau, mit liebevoller Sorge sich über mich beugend.

»Um Gotteswillen, wo kommst Du hierher?« stammelte ich verworren. »Der Kerl wird doch nicht –«

»Unser Gartenwirth, meinst Du?« fiel sie hastig ein. »Er kann doch noch nicht wissen – es wächst ja noch gar nicht; übrigens ist mir der Mensch auch ganz gleichgültig: seinetwegen reiße ich die Zaunrübe nicht aus.«

»Was?« rief ich überrascht und jetzt erst Herr meiner Sinne. »Das hast Du gethan? Und jetzt mitten in der Nacht?«

»Bis jetzt gerade noch nicht«, entgegnete sie, »aber ich bin darum hergekommen; ich wollte Dich morgen damit überraschen. Da fand ich Dich hier so unruhig träumend, Du riefst sogar um Hülfe, das ängstigte mich.«

»Und jetzt mitten in der Nacht?« wiederholte ich verwundert. »Um der dummen Zaunrübe willen?«

»Ja«, erklärte sie, die Augen niederschlagend, »ich konnte gar keinen Schlaf finden, es war so einsam, und mir war so bange; und da fürchtete ich, ich würde morgen die Zeit verschlafen, und Du könntest vor mir her draußen sein und das Unkraut noch finden und Dich darüber ärgern. Und dann hatte ich auch Angst, es würde bis morgen früh 214 schon so stark gewachsen sein, daß ich es nicht mehr herauskriegte. Und dann allerdings«, fügte sie mit einem verschmitzten Lächeln hinzu, »freute ich mich auch darauf, was Du für ein Gesicht machen würdest, wenn Du nach Hause kämst und mich nicht da fändest. Und es war so schöner Mondschein und garnichts zu befürchten; Räuber gibt's ja hier überhaupt nicht und auch keine Strolche wie in dem schrecklichen Berlin; übrigens ließ ich zur Vorsicht den Nachtwächter bis zur Gartenpforte mitgehen, und jetzt wird es ja gleich Morgen. Und endlich dann –« sie zögerte ein Weilchen, bis sie fortfuhr: »Ich hatte auch eine sonderbare, bestimmte Ahnung, daß ich Dich hier finden würde: für die Freunde warst Du ja gar nicht in der Stimmung; und vielleicht hatte ich auch ein bißchen Sehnsucht und noch so etwas Aehnliches, aber nur vielleicht –«

Ich schloß sie freudig in meine Arme, und wir vertrugen uns eingehend.

Und nachdem ich ihr meine schrecklichen Abenteuer umständlich erzählt hatte, bemerkte sie sehr richtig:

»Du hast wieder den Waldmeister zu sehr ausziehen lassen, der Bowlenrest riecht noch übermäßig stark, davon kommen so schwere Phantasien.«

»Da kannst Du Recht haben«, gab ich ihr zu, »doch sie hatten auch noch tiefere Gründe. Aber 215 weißt Du, eins steht jetzt fest: die Zaunrübe lassen wir wachsen, sie hat zu große Verdienste um uns. Das lasse ich mir nicht nehmen.«

Sie widersprach mir anfangs, und es gab einen kleinen Streit des Edelmuthes: doch der leitete nur eine noch gründlichere Versöhnung ein. Wir waren, wie gesagt, noch in den Flitterjahren.

Die Zaunrübe gedieh in der Folge prächtig und erfüllte gegen den Herbst vortrefflich ihren Zweck. Als es zum Winter ging, konnten wir sie ohne Beschwerde herausnehmen. Etwas Spatenarbeit gab es freilich, denn die Wurzel hatte sich fabelhaft ausgedehnt; sie war übrigens ganz unkenntlich geworden.

Ein ganz merkwürdiges Schlingkraut, diese sogenannte Zaunrübe!

 


 


 << zurück