Hans Hoffmann
Aus der Sommerfrische
Hans Hoffmann

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Auf nie erstiegenem Gipfel.

Nahrn in Tirol, wo ich meine Sommerfrische hielt, schlief, trank und Gedichte machte, ist nur eine Haltestelle der Südbahn, und man darf mit dem Auswählen einer Wagenabtheilung nicht allzuviel Zeit verlieren. Das ist unangenehm, wenn der Zug sehr voll ist, wie es heute wieder der Fall war, als ich meinen Ausflug in die Dolomiten unternahm. Es schien wahrhaftig kein Plätzchen mehr frei zu sein, auch Niemand hier auszusteigen. Ich spähte unruhig von Wagen zu Wagen.

Da kam mir eine unerwartete Hülfe oder doch ein Wink, wie ich selbst mir helfen könne. Aus einem Fenster flog in großem Bogen ein Koffer heraus und plumpste in den Sand; gleich darauf ward die Thür aufgerissen, und ein junger Mensch sprang mit einem Zetergeschrei hinter ihm her.

»Ich werde mich beschweren! Ich werde mich beschweren!« hörte ich ihn jammern und drohen.

Ich aber, durch den Kampf ums Dasitzen 2 verroht, dachte an nichts, als mich des leer gewordenen Platzes zu bemächtigen, und strebte nach der offenen Wagenthür. Da trat mir in deren Rahmen ein Schreckbild entgegen, das wohl einen Muthigeren hätte verscheuchen können als mich, der ich der Leier zarte Saiten mehr, als ich verantworten kann, doch nie des Bogens Kraft gespannt: eine beleibte Dame in mittlerem Lebensalter mit einem hochgerötheten Antlitz voll so zusammengedrängten Ingrimms, daß ich erschrocken zurückfuhr. Ich habe selten so etwas gesehen; mein Freund Liborius, der Kunstkenner, würde dies Gesicht einem Gorgonenhaupte der ältesten Stilrichtung – Metopen von Selinunt – verglichen haben; ich aber dachte schlichteren Sinnes: das Urbild einer Schwiegermutter!

Zur Entschuldigung dieses pietätlosen Gedankens kann ich nur anführen, daß die einzige Lektüre meiner letzten Wochen einige Jahrgänge der »Fliegenden Blätter« gewesen waren.

Trotz der drängenden Eile zauderte ich einen Augenblick. Doch siehe, die Schreckliche selbst sprach zu mir nach einer kurzen Musterung meiner Person: »Bitte, kommen Sie nur herein. Sie sehen ja so nicht aus.«

Natürlich wagte ich nicht, sie durch eine Weigerung zu reizen; ich stieg daher ein, obzwar nicht 3 ohne ein dunkles Bangen. Sie mochte mir das ansehen.

»Ich bin nicht so schlimm, wie ich aussehe,« sprach sie ermuthigend, »wenigstens nicht gegen jeden. Aber sehen Sie den Laffen da! Ja, der hat's gekriegt.«

Ich blickte aus dem Fenster und sah den jungen Menschen, der mir unfreiwillig den Platz geräumt hatte, mit seinem aufgerafften Handkoffer an dem Zuge entlang trippeln und hastig hineinspähen. Jetzt begriff ich einiges: nach seiner Kleidung war er ein Modegeck widerwärtigster Sorte, so ein richtiges Gigerl nach der neuen Manier. Ich begann ein leises Vertrauen zu meiner Gestrengen zu fassen.

Das zeternde Geschöpf fand endlich noch einen Platz, und der Zug ging weiter.

Mit angenehmer Verwunderung bemerkte ich, daß in unserer Abtheilung ausgiebiger Raum war; außer uns beiden war nur noch ein junges Mädchen darin.

»Ja, ja,« sagte die Grimme, abermals meine Gedanken errathend, »hier drin bleibt's leer. Wenn ich an der Thür stehe, traut sich keiner herein, den ich nicht haben will. – So ein vermißquiemter Jammerlappen und will den Schwerenöther spielen und das in meiner Gegenwart!« fügte sie stillwüthig hinzu.

4 »Der Mensch scheint sich unartig benommen zu haben?« fragte ich schüchtern.

»Unartig? – Frech!« berichtigte sie mit funkelnden Blicken. »Sehen Sie sich dies nette, kleine Mädchen hier an; ein unschuldiges Wurm – siebzehn Jahre, wie, Fräulein? – ein bißchen reichlich unbedarft, das merkt man ja gleich: na, der fremde Zierbengel hat's auch gemerkt und macht sich an sie mit Scharwenzeln und Wedeln und Süßholzraspeln, daß mir schon ganz seekrank davon wurde. Aber angehen that's mich ja nichts, ich kenne die Kleine nicht, und sie saß in der andern Ecke.

»Jetzt fing das arme Ding aber an, in seiner Angst mir näher und näher zu rücken; der Ekel immer unverfroren hinter ihr her. Ich plusterte nun schon so sachte meine Federn auf. Sie müssen nämlich wissen, ich bin aus Rügen, und da ist das nicht Mode, anständigen Mädchen so aufzurücken, und man kann so was nicht mit ansehen. Das arme Gör! Es bibbert ja noch ordentlich. – Jetzt fing eben der Zug an langsam zu gehen, weil diese Station kam, und ich konnte besser hören. Da hört' ich ein paar Redensarten – der Lümmel kann von Glück sagen, daß er nicht selbst mit einer Maulschelle aus dem Fenster geflogen ist. Na, mit dem Koffer ging's bequemer, nach mußte er ja doch, er konnte sein besseres Theil nicht im 5 Stiche lassen; es war nämlich sein Musterkoffer. – So, kleines Fräulein, und jetzt können Sie ruhig sein. Und haben Sie sich nicht mehr so. Der kommt nicht wieder; und ich bleib' bei Ihnen.«

Das junge Mädchen that einen dankbaren Aufblick; doch glaubte ich zu bemerken, daß ihr die Beschützerin auch nicht ganz geheuer schien; jedenfalls rückte sie allmählich wieder weiter von ihr ab. Und übrigens verließ sie den Zug schon in Franzensfeste, der nächsten Station. Fortan blieb ich allein mit der thatkräftigen Dame.

Doch war ich nicht mehr ängstlich: sie hatte offenbar auch ihre menschlichen Seiten. Selbst ihr Gesicht hatte durchaus nichts Abschreckendes mehr; es war ein derbes, rundes und rothes, tapferes, ehrliches vorpommersches Antlitz, mit hellblauen, klugen und behäbigen Augen. Unser Gespräch wurde recht lebhaft. Sie kam noch öfter mit großer Genugthuung auf ihre Heldenthat zurück und schilderte ganz besonders vergnügt das unsäglich dumm erschrockene Gesicht, das jener Geck beim Anblick ihres stumm handelnden Zornes gemacht habe.

»Na, Sie haben auch einen Schreck gekriegt, als Sie mich so sahen,« fügte sie mit einem schlauen Lächeln hinzu. »Ja, ja, ich kann nach was aussehen. Kucken Sie mal her: erkennen Sie dies wieder?«

6 Sie griff in die geräumige Ledertasche, die sie unentwegt auf dem Schoße trug, und zog eine Photographie großen Formates heraus, nichts Geringeres darstellend als ihr eigenes Antlitz in einem Augenblicke des furchtbarsten Ingrimms. Es war sprechend ähnlich, ein Bild von grausamem Realismus; ich war froh, daß meine Kinder es nicht sahen, sie würden nächtelang schlimme Träume davon gehabt haben. Ich schrieb in Gedanken einen Aufsatz »Zur Aesthetik des Häßlichen«, in dem ich die Frage aufwarf, doch unbeantwortet ließ, ob so etwas in der bildenden Kunst wohl noch zulässig sein würde! Als Erinnye – vielleicht: aber doch nur im tiefen Hintergrunde und mit dem Gegengewicht einer ganz holdseligen Gottheit; sonst müßte der Beschauer sich völlig zermalmt und gar nicht erhoben fühlen.

»Nicht wahr, es ist gut?« fragte sie wohlgefällig. »So ein nichtsnutziger, neumodischer Momentphotograph hat's hinterlistig aufgenommen, ohne daß ich etwas davon ahnte. Bloß zu seinem Spaß; denken Sie nur, solch ein Spitzbube! Na, wir sind nachher gute Freunde geworden, und als er mich genau kannte, hat er den Muth gekriegt, es mir endlich zu zeigen. Und da hab' ich ihm gezeigt, daß er mich richtig gekannt hat und daß sein Muth keine Tollkühnheit war. Ja, hab' ich gesagt, so 7 muß man aussehen können, sonst kommt man im Leben nicht richtig durch. So kann man was ausrichten und auch andern was nützen. Denn dem Menschen ist alles gesund, wovor er 'nen Grugel hat, sagt unser Onkel Bräsig. So ist es mit mir auch: ich bin schon manchem Menschen gesund damit gewesen, nicht bloß dem Zieraffen heute. – Und mir selbst hab' ich noch was anders gesagt: So muß man manchmal aussehen können, aber nicht zu oft; und man soll sich nicht über Kleinigkeiten ärgern und nicht so schön wüthig werden, wenn's gar nicht nöthig ist; sonst ist man nichts weiter als eine ganz gewöhnliche böse Schwiegermutter, wie sie so abgemalt werden. Und das darf man sich nicht nachsagen lassen, wenn man wirklich Schwiegermutter ist und hat einen braven Schwiegersohn.«

Ich erschrak ein wenig; hatte sie auch meinen ersten pietätlosen Gedanken in meiner Seele gelesen? Doch zugleich reinigte ich mich tragisch in Furcht und uneigennützigem Mitleid mit einem Unbekannten. Denn ich fragte mich heimlich, ob ich bei aller Achtung vor ihrer menschlichen Tüchtigkeit wohl den Löwenmuth gehabt haben würde, ihr Eidam zu werden; und ich mußte die Frage leise verneinen.

Ich murmelte aber etwas von takt- und herzlosen Witzen, wie sie neuerdings Mode geworden, über die armen Schwiegermütter mit ihrem liebreichen 8 Herzen, ihrer zärtlichen Fürsorge für das innere Glück auch ihrer erwachsenen Kinder – –

Ich weiß nicht mehr genau, ob mir die Bemerkung so ganz ungeheuchelt aus der Seele geflossen ist; möglich immerhin, daß die schreckliche Frau auch da wieder eine richtige Witterung hatte, als sie mir ins Wort fiel: »Ach, lassen Sie's gut sein, Sie meinen's ja doch nicht so. Und es ist auch wirklich nicht mal wahr, die Witze sind manchmal sehr gut und sind ganz in der Ordnung: so, wie die meisten Schwiegermütter sind, verdienen sie's nicht besser. Mal zudringlich und ungeschickt, mal zimperlich und wehleidig, und jede verliebt in die eigene Brut, daß es ein Greuel zu sehen ist; jede bildet sich ein, ihrem süßen Töchterchen geschehe das himmelschreiendste Unrecht von ihrem Manne, wenn der nicht vom Morgen bis zum Abend vor ihr auf den Knieen liegt. Und die Mannsmütter sind noch schlimmer, die sind auch noch eifersüchtig; Teufels Unterfutter nennt man sie darum bei uns zu Lande.«

Ich athmete ein wenig auf im Gedanken an den Unbekannten, der ihr Schwiegersohn war. Geradezu beneiden konnte ich ihn aber doch noch nicht, denn sie fing schon wieder an ziemlich strenge dreinzublicken.

»Zum Glück gibt's aber doch auch liebenswürdige Schwiegermütter,« bemerkte ich eifrig, »die so klug sind, ihren Kindern die eigenen Wege gehen zu 9 lassen und sich jeder unerbetenen Einmischung zu enthalten –«

»Was?« unterbrach sie mich ganz heftig, »und solche nennen Sie klug? Natürlich gibt's solche Susen, die nicht Zipp sagen mögen, wenn sie die Kinder in ihr Unglück rennen sehen, sondern mit dämlichem Seufzen den Himmel anstarren: aber die nenn' ich eben dämlich und zimperlich und pflichtvergessen. Was? Wozu sind wir Schwiegermütter denn überhaupt noch auf der Welt, wenn wir uns nicht einmischen sollen? Wozu haben wir unsre Erfahrung?«

Ein Schauder überlief mich. Mit wie heiligem Erbarmen wollte ich dem Unbekannten die Hand drücken, wenn ich ihn je kennen lernte! Und wie pries ich meinen Schöpfer, der mich mildere Wege geführt hatte!

Sie aber, die Furchtbare, fuhr gelassener fort: »Nein, mitreden müssen wir, das ist unsre Pflicht, helfen müssen wir den Kindern, dafür sind wir da. Aber merken Sie wohl, lieber Herr: auf die richtige Art! Auf die richtige Art! Darauf kommt alles allein an.«

Voll zweifelnder Erwartung blickte ich sie an, in der That sehr zweifelnden Herzens. Natürlich merkte die alte Hexe auch das wieder ohne Schwierigkeit.

»Ich verlange ja gar nicht, daß Sie mir glauben, 10 ich mache es richtig,« sagte sie mit einem ganz spitzbübischen Lächeln, »bloß weil ich merke, daß Sie neugierig geworden sind, will ich Ihnen erklären, wie ich's so ungefähr mache. Sehen Sie zum Beispiel, meine Kinder wohnen in Greifswald und ich in Putbus auf Rügen; da ist bloß der Bodden dazwischen, und ich kann jeden Tag bei ihnen sein, so in zwei Stunden. Sie denken nun wohl, das thu' ich, komm' mal heut und mal morgen? Oder leg' mich auch vor Anker da für ein paar Wochen, um das Hin- und Herreisen zu sparen? Prosit die Mahlzeit, fällt mir nicht im Traum ein, weder das eine noch das andre. Das ist eben mein Pfiff. In solcher Nähe muß ich bleiben, erstens daß ich auf dem Posten sein kann, wenn sie mich mal nöthig haben, und zweitens damit sie nie ganz aus der Angst vor mir herauskommen. Aber sehen lassen thue ich mich sehr selten, meist nur wenn Noth an den Mann geht, und ich bleibe nie länger als vierundzwanzig Stunden. Auf die Art nutzt man sich nicht ab, und das ist im Leben immer 'ne Hauptsache. Verstehen Sie, wie ich's meine? So sind die Kinder jetzt in Tirol seit einigen Wochen und ich desgleichen, immer dicht in der Nähe, aber gesehen haben wir uns noch nicht. Bloß kommen konnt' ich jeden Tag, und heut komm' ich wirklich. Es geht nämlich Noth an den Mann.«

11 »Aha, Sie müssen Frieden stiften?« fragte ich boshaft.

»Das natürlich, aber noch etwas andres,« versetzte sie ruhig, »und das andre ist schlimmer. Das Friedenstiften allein, das ist bald gemacht.«

»Wirklich?« fragte ich in stark ironischem Ton; ich begann sie für eine Aufschneiderin zu halten. »Die Versöhnung zwischen erzürnten Eheleuten pflegt sonst ein verzweifeltes Unternehmen zu sein – wenn ein dritter sich damit befaßt.«

»Bei mir ist es eben etwas anders,« entgegnete sie mit kühler Bestimmtheit, »man muß es nur richtig anfassen und muß seine Bedeutung als Schwiegermutter kennen. Ich hab' meine Mittel. Ich komme plötzlich an, wenn so was in der Luft liegt – Sie müssen aber nicht denken, daß meine Tochter mir davon schreibt; das thut eine ordentliche Frau nicht; ich wittere es bloß aus dem Ton ihrer Briefe, aber meine Witterung ist scharf: sie schreibt dann immer so sanft und gemüthvoll und ein bißchen christlich. Also ich komm' und thu', als ob ich nichts ahnte. Kinder, sag' ich mal bloß so beiher, das find' ich zu nett, daß ihr jetzt nicht mehr so schauderhaft zärtlich zusammen seid, ich kann das labbrige Gethue für den Tod nicht ausstehen; damit kann man mich jagen, und ihr jagt mich sonst wirklich. Aber wenn ihr weiter so vernünftig seid wie jetzt, mach' ich mal 12 eine Ausnahme und bleibe gern vier Wochen bei euch, wenn ihr mich recht schön bittet. – Das sag' ich ganz unbefangen und mache nur nachher so bei Gelegenheit mal mein ganz borstiges Gesicht wie das hier auf dem Bilde.

»Natürlich bitten sie mich nun beide recht schön, mein Schwiegersohn voran, und ich lasse mich schon so leise erweichen. Aber nun sollen Sie sehen und können Gift drauf nehmen: eh' eine Viertelstunde herum ist, geht er hin und thut Abbitte bei meiner Tochter, und die Versöhnung ist fertig; sie liegen sich in den Armen und schnäbeln sich wie die Turteltauben. Und ich reise ab, denn so was kann mich ja jagen. Sehen Sie, das ist's, was ich meine: man muß seine Bedeutung als Schwiegermutter kennen.«

Sie schwieg und blickte mir mit stillem Triumph ins Gesicht. Und in der That, meine Zweifel waren geschlagen und beschämt, ich war ganz voller Bewunderung.

»Sie sind eine großartige Frau!« rief ich ehrlich begeistert. »Gäb' es in der Politik doch so glückliche Friedenstifter!«

»Ja, warum läßt man uns Frauen in der Politik nicht mitreden?« meinte sie stolz lächelnd. »Eher wird es nie besser.«

Das wollte mir nun doch so völlig nicht einleuchten; und ich fragte ablenkend: »Aber wird es 13 Ihnen nicht schwer, Ihre Kinder so selten und so flüchtig zu sehen?«

Fast bereute ich die thörichte Frage, denn auf einmal zog ein tief wehmüthiges Zucken über ihr derbes Gesicht und durchschauerte mich seltsam. Doch sie zwang das schnell nieder und antwortete nur kurz: »Ja, was kann's darauf ankommen? – Das ist aber nur ein Mittel,« fuhr sie rasch fort und lachte schon wieder listig, »ich hab' auch noch andre, je nach dem Falle. Wenn zum Beispiel mein Schwiegersohn mal sehr offenkundig im Unrecht ist, dann stell' ich mich auf seine Seite und geb' ihm stramm recht und tadle meine Tochter: da schämt er sich so, daß er's gar nicht aushält und auch wieder abbittet.«

»Sie sind eine Meisterschwiegermutter!« rief ich entzückt und drückte ihr die Hand mit freudiger Hochachtung.

Sie lächelte befriedigt. »Das sind so die leichten Fälle,« redete sie weiter, »die kosten nicht viel Anstrengung. Aber da gibt's andre, wo man nicht so glatt durchkommt; da heißt es nachdenken. So heute zum Beispiel.«

»Nun?« fragte ich gespannt, »oder darf ich es nicht hören? Ich will Sie nicht aushorchen.«

»Sie kommen mir vor wie ein ordentlicher Mensch,« sprach sie nach kurzem Ueberlegen, »denn Sie sind verheirathet, wie Ihr Ring zeigt, und sehen doch zufrieden aus. Sie müssen eine gute Frau 14 haben, und die wird gewiß schon ein bißchen auf Sie abgefärbt haben, daß Sie auch nicht mehr so schlecht sind, wie die meisten Männer. Darum will ich's Ihnen erzählen. Vielleicht auch, daß Sie mir noch irgend einen Rath geben können in diesen männlichen Sachen.

»Also, was nämlich mein Schwiegersohn ist, der ist botanischer Professor an der Universität, Dr. Wittenbarg heißt er; und ich bin die Wittwe Päske. Darum stiefelt er im Sommer hier viel auf den Bergen umher und sucht sich botanische Kräuter und pökelt die ein. Das ist ja nun ganz schön und ist nichts gegen zu reden, denn es ist sein Geschäft. Bloß manchmal packt ihn der Raptus, und er klettert viel höher, wo längst nicht mal Gras mehr wächst, sondern bloß Eis und Steine, die ihn gar nichts angehen, denn er ist darauf nicht angestellt. Und er will auch nichts da sammeln, sondern bloß so klettern aus reinem ausgeschlagenem Uebermuth. Bloß immer höher und höher auf die zackigen Spitzen. Das ist doch nicht anders als in der Geschichte mit der Geiß, der's zu wohl im Stall ist, und sie läuft aufs Eis und bricht sich die Beine. Und er wird sich den Hals brechen, wenn er's nicht läßt. Und das soll ein Vergnügen sein! Können Sie so was begreifen? Oder sind Sie gar selbst so ein leichtsinniger Klettermensch?«

15 »Ich bin unschuldig,« rief ich, »aber begreifen kann ich's allenfalls. Wir Männer haben alle so unsern Sparren. Da kenn' ich beispielsweise einen, der sich sonst ganz redlich ernährt, sagen wir mal vom Heftekorrigieren und Vocabelabhören, aber manchmal packt ihn der Raptus, und er fängt an Gedichte zu machen. Es ist reiner Unsinn, geht ihn nichts an und bringt ihm nichts ein, denn er ist nicht dafür angestellt, aber er thut es doch und kann ihn keine Vernunft und keine Schwiegermutter davon abbringen.«

»Sie wollen mich wohl uzen?« fragte die Wittwe Päske verdrießlich.

»Behüte Gott!« rief ich nachdrücklich, »ich will nur sagen: das ist in der Hauptsache dasselbe, nämlich mit dem Raptus. So kann ich mir erklären, wie Jemand auf solche Narrheiten verfällt.«

»Aber beim Gedichtemachen bricht sich doch Niemand das Genick,« wandte sie kopfschüttelnd ein.

»Das gerade nicht,« mußte ich zugeben, »aber das Gehirn hat sich schon mancher dabei verschroben, und das ist schließlich ebenso schlimm. Doch das ist's gerade: die Gefahr hat etwas Lockendes für den einen wie für den andern.«

»Ja, das lass' ich mir alles gefallen,« versetzte Frau Päske, »solange einer jung ist und noch keine Frau hat, kann er sich zerbrechen was er will, der 16 eine den Kopf, der andre das Genick. Es gefällt mir sogar recht gut. wenn einer nicht so zimperlich mit seinem Leben umgeht und es getrost mal aufs Spiel setzt, auch zum bloßen Vergnügen. Die Muttersöhnchen und Stubenhocker sind schon gar nicht mein Fall. Dagegen aber sag' ich: wer mal verheirathet ist, der soll so was lassen und soll an seine liebe Frau denken, was die wohl sagen wird, wenn er so leichtsinnig sein Leben verspielt, und was nachher aus ihr werden soll.«

»Da bin ich völlig Ihrer Ansicht,« sprach ich mit Ueberzeugung, »ich verfahre nach diesem Grundsatz. Früher habe ich mir auch einmal gelegentlich eine kleine Gletscherfahrt gegönnt, und je steiler eine Bergwand, desto größer das Vergnügen, da hinaufzukraxeln im Schweiße meines Angesichts. Aber jetzt – wo ich Gefahr wittere, lass' ich die Hand davon. Ich kann's meiner Frau nicht anthun. Aber geht denn Ihr Herr Schwiegersohn auf so gefährliche Höhen?«

»Ja eben,« antwortete sie grimmig, »immer auf die allerhöchsten Berge mit Eis und Schnee und Gletschern sogar und all solchem Unfug, und am liebsten so steile, daß man denkt, keine Eichkatze könnte da 'raufkommen. Aber er macht sich dran. Ist ein wahres Wunder, daß er noch heile Knochen hat. Und grade jetzt will er, wie meine Tochter 17 schreibt, wieder auf so einen nichtsnutzigen Berggipfel kriechen, der so unvernünftig steil ist, daß vor ihm noch keine Seele da oben gewesen ist. Aber das grade reizt ihn, und er soll wie wild und versessen darauf sein. Und nun denken Sie, meine Tochter, das arme Wurm! Das lebt ja rein immer in Todesangst hier im Gebirge. Und das soll eine Mutter mit ansehn und dazu still schweigen? 'ne olle Suse ist sie, wenn sie das thut, kann ich bloß sagen. Ich aber fahr' jetzt hin und werd' ihm den Kopf waschen, daß er dran denken soll!«

Ich nannte mich im Herzen einen glückseligen Mann, daß ich erstens nicht so schlecht war und zweitens nicht ihr Schwiegersohn; denn sie sah in diesem Augenblicke wieder aus – nun, eben wie das Urbild der zu fürchtenden Schwiegermutter. Ich beeilte mich ihr Recht zu geben.

»Wenn er so einer ist,« bemerkte ich streng, »dann verdient er's nicht besser. Also ein richtiger Bergfex von der ganz bedenklichen Sorte. Gegen diese Leute sollte man wirklich mit Polizeistrafen einschreiten. Ich kann es ja begreifen und vertheidigen, wenn jemand um der schönen Aussicht willen so ein Wagniß unternimmt – es ist in der That etwas Wunderbares, ein ganz unvergleichlich erhebendes Gefühl, aus so weitherrschender Höhe hinabzublicken in die schönheitleuchtende Welt, die 18 unsern Blicken plötzlich so breit aufgethan daliegt; o glückselige Jugend, der so etwas vergönnt ist! – aber was kümmert jene Herren die Erhabenheit der Aussicht? Nichts treibt sie als der lächerliche Ehrgeiz, Gefahr und Schwierigkeiten zu überwinden um ihrer selbst willen, die Sucht nach dem elenden Sportruhm, der erste gewesen zu sein auf einem als gefährlich verrufenen Gipfel und nachher als Held in den Jahrbüchern des Alpenclubs zu prangen. Eine frevelhafte Eitelkeit, um die alljährlich Hekatomben blühender Menschenleben geopfert werden.«

In diesem Tone sprach ich noch lange weiter und redete mich mehr und mehr in einen dämonischen Zornmuth hinein, der mir bisher diesen Dingen gegenüber ganz fremd gewesen war. War das nur Gefälligkeit gegen die Reisegefährtin oder regte sich heimliche Reue über eigene Jugendsünden oder gar verkappter Neid wider einen, der diesen Freuden noch nicht entsagt hatte? Oder war es der stolze Selbstgenuß meiner neu errungenen Tugend? Ich lasse es dahingestellt, muß aber bemerken, daß ich mir allmählich selbst etwas verdächtig vorkam und plötzlich mein Spotten und Predigen einstellte.

»Ja, so einer ist er!« seufzte Frau Päske mit finsterer Miene.

Ich hatte einen neuen Einfall.

»Aber,« sagte ich lächelnd, »Sie haben zum 19 Glück ja das Mittel in der Hand, ihn von dem Unfug zurückzuhalten. Sie erklären einfach, sie bleiben vier Wochen da, wenn er auf den Berg geht.«

Sie warf mir einen vornehm überlegenen Blick zu.

»Was Sie klug sind!« sagte sie spöttisch. »Wenn ich das sag', ist er im Stande und nimmt sich eine Bettstelle und hundert Conservenbüchsen mit auf den Berg und bleibt vier Wochen oben. Darauf darf ich's nicht ankommen lassen. Nein, da kann nun nichts helfen, ich kenn' ihn zu gut, für diesmal muß ich ihn noch klettern lassen. – Aber,« fügte sie mit erhobener und fast feierlicher Stimme hinzu, »ich will dafür sorgen, daß es das letzte Mal ist!«

»So? Sie haben also wieder ein Mittel?« fragte ich neugierig.

»Ich denke, ich hab' eins,« erwiderte sie mit einem Ausdruck, der eine sonderbar schwankende Mitte hielt zwischen grimmigem Hohn und einem fast liebenswürdigen Schmunzeln. »Aber fragen Sie mich nicht weiter, ich verrathe es Ihnen doch nicht. Wenn Sie es erleben wollen, können Sie ja mitkommen und die Sache mit ansehen. Und ich kann Ihnen nur sagen: Sie werden etwas erleben!«

Sie legte in die letzten Worte einen tief geheimnißvollen Ton, etwas dunkel Schauerliches; es klang als wenn sie gesagt hätte: Sie werden eine elegant ausgeführte Hinrichtung erleben.

20 Sie verstand es, meine Neugier aufs höchste zu spannen. Was mochte die originelle Person für einen Streich ausgeheckt haben? Uebrigens interessirte mich auch recht lebhaft die beabsichtigte Ersteigung eines jungfräulichen Gipfels; bei aller Lächerlichkeit des mißleiteten Ehrgeizes ist so etwas doch immer in seiner Art ein kleines historisches Ereigniß, dem beizuwohnen einen unleugbaren Reiz hat. Es ist immer so hübsch, erzählen zu können: ich bin mit dabei gewesen, wenn es auch nur ein Eisenbahnunglück war oder eine verderbliche Ueberschwemmung oder ein Attentat auf den Kaiser oder auch ein Absturz im Hochgebirge – ich will damit nicht sagen, daß ich ein Ereigniß der letzten Art mit klarem Bewußtsein erhofft hätte; ich will mich nicht zu schlecht machen.

Ich erkundigte mich bei Frau Päske nach dem Namen des Ortes, an dem ihre Kinder sich aufhielten, und von dem aus die Bergbesteigung unternommen werden sollte. Sie nannte ein Dorf im Herzen der Dolomiten von wohlbekanntem Rufe.

Vortrefflich! Es lag gerade auf meinem Wege. Morgen sollte ich es auf meiner Fußwanderung berühren; dem Plane nach nur ganz flüchtig, allein was hinderte mich, den Plan ein wenig abzuändern und einen oder mehrere Tage daselbst zu verweilen? Die Landschaft sollte prächtig sein, das Gasthaus 21 behaglich und die Verpflegung gediegen, das erforschte ich aus dem Bädeker.

Ich machte der Gefährtin den Vorschlag, einen gemeinsamen Wagen zu nehmen und also noch heute miteinander jene Ortschaft zu erreichen. Sie war sehr einverstanden: denn so theilten sich die Kosten, und sie würde Schutz und angenehme Gesellschaft haben. Ich war ganz stolz über diese schmeichelhafte Bemerkung.

Wir verließen also zusammen die Eisenbahn, mietheten einen flotten Zweispänner und fuhren hinein in die gewaltige Welt der wilden Dolomiten. Eine bezaubernde Fahrt im herrlichsten Sonnenschein; auch Frau Päske ward ergriffen.

»Das sieht ja noch viel toller als unsre Kreidefelsen aus!« rief sie bewundernd, – »und auf sowas will er 'raufklettern!« fügte sie entrüstet hinzu.

Ich tröstete sie, so schlimm wie es von unten her aussehe, sei solche Bergfahrt doch nicht; in der Nähe zeige sich oft die glatteste Wand noch ganz leidlich gangbar. Ich musterte jeden einzelnen dieser ungeheuerlichen Felsthürme auf seine Ersteigbarkeit hin und suchte ihr zu erklären, wie man ihn wohl fassen könne. Ich wurde sehr lebhaft, allerlei Jugenderinnerungen zuckten in mir auf. Sie blieb desto kühler und spottete weidlich über die zwecklose 22 Narrheit so halsbrechender Mühsal; natürlich pflichtete ich ihr auf das eifrigste bei.

Gegen Abend waren wir am Ziel. Ein entzückendes Oertchen mitten in den wildesten Berghäuptern, schreckhaft schönen Gebilden.

Das Gasthaus war stark besetzt, mehrere Dutzend Fremder genossen seiner Pflege; doch ich fand gerade noch eine Unterkunft.

Frau Päske ward von ihren Kindern mit Jubel empfangen; sie stellte mich dem Ehepaar als Reisegefährten vor. Es waren angenehme Leute: die junge Frau kernhaft, frisch und natürlich, nur daß bisweilen eine gedrückte und schmollende Stimmung leise zum Durchbruch kam, der Gatte eine kraftvolle Erscheinung von sehr lebhaftem Wesen; Thatenlust und Ehrgeiz brannten in seinen Augen. Mit seiner Schwiegermutter verkehrte er im Ton übermüthig neckenden Humors; doch verrieth sich bisweilen ein Anflug leicht reizbarer Empfindlichkeit ihr gegenüber, und ich ahnte dahinter etwas wie eine immer wachsame Furcht, mir zur Genüge begreiflich; freilich wußte er solche Schwächen allemal sehr schnell wieder zu verbergen und zu unterdrücken. Es war offenbar ein sehr gutmüthiger Kern in seiner Natur, doch ein zäher Eigensinn mochte dem die Wage halten; es saß so ein Ausdruck auf seiner Stirn. Von seiner Frau und auch von mir vertrug er jeden 23 Spaß, kein Spott über Bergfexe und deren närrisches Treiben verdarb ihm die Behaglichkeit. Wir verbrachten den heitersten Abend miteinander, des Neckens war kein Ende; ich ließ meine schlechten Witze über sein Vorhaben immer üppiger spielen.

Er ließ sich's nicht anfechten, sondern that ruhig zu wissen, daß die Besteigung auf übermorgen festgesetzt sei. Das Wetter war ganz klar und verhieß lange Beständigkeit. Der morgige Tag war noch der Ruhe und Vorbereitung gewidmet.

Das Ehepaar zog sich endlich zurück, die Schwiegermutter desgleichen. Ich bestellte noch einen Schoppen Terlaner und setzte mich damit ans Fenster, um noch ein wenig in den Mondschein zu blicken, der geisterhaft schön auf den wundersamen Bergspitzen ruhte.

Nach einiger Zeit bemerkte ich nicht ohne Verwunderung vor dem Hause die Wittwe Päske in lebhafter Verhandlung mit zwei Bergführern, die ihr aufmerksam, aber, wie es schien, etwas bedenklich zuhörten. Die drei standen entfernt genug mitten auf dem kleinen Dorfplatze, daß Niemand sie hören konnte, aber außer der Mondhelle fiel auch der Lichtschein der Hauslaternen so kräftig auf ihre Gestalten, daß ich jede ihrer Mienen und Gebärden deutlich unterscheiden konnte. Die behäbige Frau wurde ersichtlich immer eifriger in ihrem Zureden 24 und schien allmählich über das Zögern der Leute mehr und mehr zu ergrimmen.

Endlich nach längerem Hin- und Herreden war zu erkennen, daß sie denn doch einwilligten, ihr Verlangen zu erfüllen. Sie gab jedem etwas Geld: der Grund der Bedenklichkeit war also vermuthlich die Sparsamkeit der guten Dame gewesen. Darauf überreichte sie dem einen einen eingewickelten Gegenstand, den er mit ruhigem Nicken sorgsam in die Brusttasche steckte. Nun kam sie wieder auf das Haus zu und ging hinein; ihr Gesicht zeigte den Ausdruck dämonischen Triumphes.

Auf dem Hausflur hörte ich sie noch schelten über das schreckliche Kauderwelsch dieser Tiroler. »Das soll ja wohl ihr Plattdeutsch sein. Aber es ist ein falsches, sonst mußt' ich's besser verstehen.« Dann vernahm und sah ich nichts mehr von ihr. Die beiden Männer aber standen noch eine Weile an derselben Stelle und unterredeten sich miteinander unter vielem Kopfschütteln und verwunderten Gebärden, manchmal auch mit einer nur zu bezeichnenden Bewegung des Fingers nach der Stirn.

Aus allem diesem konnte ich nun ohne großen Aufwand von Scharfsinn bequemlich schließen, daß die entschlossene Frau eine verschmitzte Teufelei wider ihren Schwiegersohn ersonnen und zu deren Ausführung die Bergführer geworben hatte. Worin sie 25 bestehen sollte, darüber zerbrach ich mir freilich vergebens den Kopf; ich fand nicht einmal eine Spur. War etwa die Meinung, ihn in die Irre führen zu lassen und von dem gefährlichen Berge fern zu halten? Aber das war ja garnicht denkbar, daß er so mit sich umspringen ließ; für so einfältig konnte die schlaue Person ihn unmöglich halten. Bestach sie die Leute, daß keiner ihn begleiten sollte? Aber das hieß ihn erst recht in die Gefahr treiben, denn wie ich ihn schon jetzt kannte, würde er dann ohne jeden Zweifel führerlos gehen. So blieb alles ganz räthselhaft. Brennende Neugier wechselte in mir mit vergnüglicher Schadenfreude. Es war nun ganz selbstverständlich, daß ich die zwei Tage dablieb und abwartete, was sich ergeben würde. Nicht ohne stille Erregung ging ich schließlich zu Bette.

Am Morgen dachte ich doch an einen Versuch, die beiden beauftragten Leute ein wenig auszuholen, doch sie waren nicht zu finden: es hieß, zwei Bergführer seien zur Nachtzeit aufgebrochen; wohin, wußte man nicht, und auch nicht, mit wem. Meine Neugier ward nicht geringer.

Die Wittwe Päske ließ sich an diesem Tage sehr wenig sehen, und wenn sie auftrat, hüllte sie sich in eine unnahbare Würde. Ihre Tochter erschien höchst sorgenvoll und schweigsam. Ich entrüstete mich im stillen über den hartherzigen Gatten.

26 Gleichwohl kam ich bald mit diesem in ein lebhaftes Gespräch. Er zeigte mir jetzt die Spitze, die er zu nehmen gedachte; von der Gallerie des oberen Stockwerks konnte man sie trefflich beobachten. Es war eine jener abenteuerlichen, riesenhaften Felszacken, wie sie den Dolomiten eigenthümlich sind; sie glich fast einem von Menschenhand aufgeführten unzugänglichen Thurme.

Der Vorsatz, diesen glatten Koloß zu erklimmen, hatte unleugbar etwas Großartiges; ich konnte das Gefühl der Bewunderung für den Mann doch nicht ganz unterdrücken. Aber ist Tollkühnheit nicht das Zerrbild der Tapferkeit? Und war diese Kühnheit nicht schon halbe Tollheit? Ich entrüstete mich wieder.

Professor Wittenbarg lächelte, als ich ihm in gemilderter Form diese Doppelempfindung kundgab.

»Wenn den Auslassungen des Wirthes und der hiesigen Führer zu trauen wäre, würden Sie Recht haben,« erwiderte er gelassen, »die erklären den Berg nicht nur für unerstiegen, sondern auch für unersteiglich. Das ist so ein Aberglaube, der sich in einer Gegend festsetzt und nicht auszurotten ist, bis einmal einer kommt und dessen Ungrund durch Thaten beweist. Die Leute weigern sich geradezu, mich zu begleiten, es sei ein aussichtsloses Unternehmen. Nun, ich werde ihnen auf eigene Faust das Gegentheil beweisen.«

27 »Aber Sie wollen doch nicht führerlos gehen?« rief ich erschrocken, »das ist ja Selbstmord.«

Er zuckte etwas verächtlich die Achseln.

»Besser allein als mit mangelhaften Führern,« sagte er kühl, »und das sind die hiesigen offenbar. Zunächst kennen sie ja den Berg nicht, was sollen sie mir also nutzen? Da verlasse ich mich lieber auf meine eigenen Augen als Pfadfinder. Zudem gefallen die Leute mir überhaupt nicht; sie brauchen Redensarten, die in ihrem Munde befremdlich klingen. Beispielsweise: der Berg sei nicht lohnend, biete keine gute Fernsicht.«

»Da könnten sie aber Recht haben,« fiel ich hier ein, »seine Lage ist offenbar wenig günstig, er ist zu nahe umschlossen von noch höheren Gipfeln, die ihm die Aussicht wegnehmen. Die sind sicherlich lohnender – und zudem leichter zu ersteigen, jedenfalls gefahrloser, da man sie schon kennt.«

»Drum eben gönne ich sie andern!« rief er fast heftig. »Mich reizt nun gerade diese Spitze, eben weil sie unerforscht ist. Mich lockt es, Entdeckerwonnen zu genießen. Vielleicht auch reizt mich die Aussicht, diese albernen Führer ihres Irrthums zu überführen. Und so habe ich die Ehre ganz für mich allein. Es gibt so manchen, der andernfalls das Hauptverdienst den Führern zuzusprechen geneigt ist. Denn vom Bacillus des Neides ist auch die hohe Bergluft 28 keineswegs rein; also ist es klug, ihm jeden Nährboden zu entziehen.«

»Wenn aber die Leute hier Recht haben mit ihrer Behauptung,« wandte ich ein, »so hat ein verfehltes Unternehmen einen angenehmeren Nachgeschmack in Gemeinschaft mit Schicksalsgenossen: man kann sich dann gegenseitig besser herausreden und alles auf die Ungunst von Zufällen schieben. Das Publikum glaubt mehreren Aufschneidern immer leichter als einem.«

Er lächelte überlegen zu meinem Spotte.

»Bitte, nehmen Sie das Fernrohr,« sagte er ruhig und reichte mir das ansehnliche Instrument, das er benutzte, »ich habe den Berg seit länger als einer Woche unausgesetzt studiert, habe ihn gleichsam mit den Augen seciert, und nun weiß ich, was ich weiß. Er ist nicht nur ersteiglich, sondern er ist nicht einmal der allerschwierigsten einer. Zu begreifen ist ja, daß sich noch Niemand an ihn gewagt hat, denn sein Ansehen ist scheußlich, aber der Schein trügt hier wie so oft. Es hat sich nur noch Niemand die Mühe genommen, ihn genau zu untersuchen, sonst wüßte man längst, daß er nicht unüberwindlich ist. Natürlich ist Uebung erforderlich, gesunde Muskeln, ein fester Blick, ein bißchen Turnkunst und einige Kenntniß der Dolomiten: das ist aber auch alles. Sie werden selbst sehen, wenn Sie aufmerksam beobachten. Daß ich dies gethan habe, ist mein 29 Verdienst; alles weitere kann jeder bessere Bergsteiger auch machen. – Nun, was meinen Sie, Herr?«

Ich hatte unter diesen seinen Erklärungen das Fernrohr gerichtet und die Beobachtung begonnen. Die scheinbar glatte oder nur leicht genarbte Felswand löste sich vor meinen Blicken nun allerdings auf, wie ich das erwartet hatte, in eine verworrene Fülle von Rissen und Rippen, Löchern und Zacken oder lose lagernden Steinen. Es war ohne weiteres zu begreifen, daß an zahllosen Stellen dieser Steile ein Halt für den menschlichen Fuß zu finden sein mußte, wenn auch darum noch lange kein Weg zur Höhe.

Als ich hierüber etwas äußerte, fragte Professor Wittenbarg kurz: »Haben Sie das Felsband? Es beginnt gleich über dem großen Geröllkaar.«

Nein, noch hatte ich es nicht; doch einmal aufmerksam gemacht, fand ich es bald aus. Ja, wahrhaftig, da zog sich ein feiner dunklerer Streifen langsam aufwärts steigend an der nackten Mauer hin, bald in gerader Linie verlaufend wie eine künstliche Anlage, bald zerhackt und unterbrochen oder in launenhaftem Zickzack weiter emporführend. Dieses Band bedeutete für den kundigen Kletterer einen förmlichen Pfad, der für den Schwindelfreien als nahezu gefahrlos anzusprechen war, wenn er auch saure Arbeit genug erfordern mochte.

30 Eine sonderbare Aufregung ergriff mich bei dieser Erkenntniß; es zuckte mir etwas in den Füßen wie einem alten Tänzer beim Hören eines wohl bekannten Walzers.

»So weit geht alles zu machen, wie es scheint,« bemerkte ich eifrig, »aber dann ist's freilich zu Ende: darüber folgt eine Fläche ganz senkrechten, ungegliederten Felsens. Da kommt keine Katze hinauf.«

»Nein. aber ein Mensch,« versetzte der Professor schnell, »richten Sie das Glas, bitte, ganz nach links, dahin, wo das Felsband so plötzlich aufhört. Sehen Sie etwas?«

Ich fand in der That einen tiefen, engen Einriß, der wie ein schwarzer Strich die Felsmasse spaltete und ganz steil nach oben führte.

»Da haben Sie ein Kamin,« erläuterte er, »durch das man meines Erachtens mit einiger Anstrengung und einiger Kunst diese Wandfläche überwinden kann. Wieviel Gefahr dabei ist, läßt sich von hier aus nicht ermessen. Die Möglichkeit des Durchkommens aber muß vorhanden sein. Und ist das geglückt, so ist alles gewonnen. Die Wand rückt oben ein und bildet eine breite Terrasse.«

Jawohl, das sah ich. Die Terrasse hatte etwas wunderbar Anheimelndes für mich. Welche Wonne, da oben in Behagen zu stehen und über den 31 ungeheuren Absturz hin in die Tiefe zu blicken! Aber ich würde auch schon zufrieden sein, wenn ich nur bis zum Einstieg in das gefährliche Kamin gelangte –

»Ueberhaupt scheinen später keine erheblichen Schwierigkeiten mehr zu erwarten,« fuhr er fort, »höchstens daß eine Schneerunse wegen der Steinschläge ihre Bedenken hat. Am wenigsten zu fürchten ist die letzte Spitze, wie Sie sich leicht überzeugen werden, wenn Sie das Rohr darauf richten.«

Ich that es. Für das unbewaffnete Auge sprang sie in die Höhe wie die Kappe eines gothischen Kirchthurms; es schien undenkbar sie zu ersteigen. Das Fernglas aber zeigte diese schroffen Hänge so kräftig gerippt, zerrissen und ausgezackt, daß sie den Ersteiger fast wie auf eine Treppe heraufführen mußten. Hier war wohl noch eine letzte erhebliche Mühsal, aber keine eigentliche Schwierigkeit mehr. Der schauerliche Gipfel verlor für den Kenner seine Schrecken.

»Nun also, Sie sehen,« sagte Professor Wittenbarg, »die Sache ist zu machen. Ein Kinderspiel ist sie nicht, aber für den Ruhm einer Erstbesteigung kein hoher Einsatz.«

Seine Augen glühten vor Lust und Eifer. Und diese Gluth hatte etwas unheimlich Ansteckendes. Auch ich brannte vor Aufregung und heimlicher Begierde.

32 »Verzeihen Sie, Herr Professor,« rief ich auf einmal mit einem jähen Entschlusse, »es ist vielleicht zudringlich, aber ich möchte Sie gern morgen eine Strecke begleiten – nur soweit jenes Felsband führt; in ernstliche Gefahr darf ich mich leider nicht begeben. Ich bitte aber, sagen Sie es frei heraus, wenn ich Ihnen unbequem bin. Einen ganz blutigen Neuling haben Sie übrigens nicht an mir; ich habe so manche Gletscherfahrt hinter mir.«

Ich sah ein feines Lächeln um seine Mundwinkel spielen, doch ich ließ mich's nicht anfechten: was ich vorhatte, war denn doch etwas sehr Harmloses, gar nicht zu vergleichen mit seinem gewagten Unternehmen. Auch trieb mich nicht der lächerliche Ehrgeiz, einen Sportruhm zu erringen, sondern das rein ästhetische Verlangen, einmal wieder einen Blick aus freier, herrschender Höhe hinab in die grünen Thäler zu thun –

»Sie sind mir willkommen,« erwiderte er freundlich, »es ist mir sehr erfreulich, daß mein Plan so viel verführende Kraft hat selbst bei einem spöttischen Feinde des Bergsports. Dolomitenklettern und Gletschersteigen ist zwar zweierlei; doch bis zum Kamin wollte ich auch Jemanden mitnehmen, dessen gefährlichste Bergfahrt bisher die Brockenchaussee war. Ich setze voraus, daß Sie schwindelfrei sind; sonst lehne ich natürlich jede Verantwortung ab.«

33 »Wer wollte Ihnen die aufbürden?« versetzte ich stolz. »Ich bin alt genug, um für mich selber zu stehen.«

Wir drückten uns die Hände, und der Vertrag war geschlossen. Erleichtert athmete ich auf, daß ich nun nicht mehr zurück konnte. Der Skrupel war ich jetzt ledig! Daß ich den Schein der Feigheit auf mich lüde durch ein nachträgliches Zurücktreten, das konnte weder meine Frau noch die Wittwe Päske von mir verlangen.

Vor dieser übrigens verhehlte ich doch sorgsam mein Vorhaben; ich scheute mich immerhin vor ihren strafenden und spottenden Reden, ehe die That vollbracht war. An ihre eigenen räthselhaften Anschläge dachte ich jetzt gar nicht mehr; das alles versank in dem Strom meines aufgewühlten Bergeifers.

Der Tag verging nun in freudigem Vorgefühl künftiger Thaten und unter stillen Vorbereitungen. Die ganze im Gasthause versammelte Gesellschaft nahm lebhaften Antheil an dem bevorstehenden Ereigniß und umdrängte dessen Helden mit freundlicher Bewunderung. Handelte es sich doch gleichsam um eine Nordpolfahrt im kleinen, um die Entdeckung eines Gebietes unserer Mutter Erde, das zuvor eines Sterblichen Fuß noch nie betreten hatte.

Als ich abends zu früher Stunde ins Bett ging, bemerkte ich aus meinem Fenster die beiden 34 Bergführer, mit denen Frau Päske gestern im Mondschein verhandelt hatte. Was hatten die vorgehabt heute oder was planten sie für morgen? – Irgend eine wunderliche Störung des Unternehmens? – Aber wie wollten sie das anfangen, da der Professor ihrer Dienste entrathen konnte? Sie konnten ihm doch den Weg nicht verrammeln! Uebrigens wußte ich ja auch, daß ein so gewaltsames Eingreifen durchaus nicht Frau Päskes Art war. Es konnte sich nur um einen Spaß handeln, einen recht derben vielleicht, auf Kosten meines neuen Wandergenossen; jedenfalls, was ging das mich an? Ich schlief sehr ruhig.

Einen kurzen Schlaf allerdings. Es war noch tiefe Nacht, als das Klopfen des schändlichen Hausknechts mich weckte. Hole der Teufel die ganze Bergfexerei! – Aber zurück konnte ich nicht mehr. Und nach dem Waschen wurde es auch schon besser.

Und als ich dann gar marschfertig ins Freie hinaustrat, wo schon eine allererste Ahnung des ersten Morgendämmers schimmerte, da jubelte ich still in mir auf und vergaß alle Beschwerden. Fröhlich begrüßte ich den Gefährten, und fort ging es auf die Fahrt.

O, solch ein Frühmorgen im Hochthal! Diese würzige, wunderbar stärkende Luft! Diese tief erquickte, still hoffnungsfreudige Stimmung!

35 Im ersten frischen Anstieg hatten wir die steilen Wiesen bald hinter uns, und vor uns breitete sich der Fuß des Geröllkaars kegelförmig ansteigend aus, der sich aus der oberen Felsschlucht herabsenkt, in die unser Felsband einmündete.

Das Steigen ward nun äußerst beschwerlich; tief sank der Fuß ein in den mürben Schutt und glitt bei jedem Schritt wieder ein Stück nach unten. Bald rieselte der Schweiß in Strömen über unsre Stirnen. Nur langsam arbeiteten wir uns so in die Höhe, aber wir kamen dem harten Gestein doch näher und näher.

Endlich rief der Professor keuchend: »Da oben bei dem einsamen Berberitzenstrauch muß ungefähr unser Einstieg sein.« Bald hatten wir das kümmerliche Gewächs erreicht; wir rissen ein paar jener Trauben ab und kauten durstig das saure Zeug. Inzwischen forschte mein Begleiter umher und sagte dann befriedigt: »Richtig, da ist unser Band! Es ist freilich schmäler, als ich es schätzte; aber es wird schon breiter werden. Vorwärts!«

Ach, aber leider, es wurde nicht breiter, sondern bedenklich schmäler, und immer mehr seitwärts neigten sich die Stufen, auf denen wir mühselig höher kletterten. Schon überlegte ich, ob ich es noch verantworten könne, diesem bösen Pfade weiter zu folgen, aber noch stiegen wir eine gute Weile, auf Besserung hoffend.

36 Plötzlich aber blieb der Professor stehen; es ging einfach nicht weiter.

»Wir sind zu hoch,« sagte er betroffen, »da – da unten geht das richtige Felsband.«

»Also müssen wir umkehren?« fragte ich ärgerlich, »wieder von vorn anfangen?«

»Ich denke, nein,« versetzte er nach einem schnellen Umblick, »an diesem Felsriffe können wir entlang kriechen bis zu der Stufe da unten seitwärts, von da geht es wieder ziemlich leicht auf die nächste, und so erreichen wir das richtige Band, ohne zu viel von der gewonnenen Höhe zu verlieren.«

Obgleich mein Vertrauen auf seine Führung ein klein wenig erschüttert war, folgte ich ihm doch, nachdem ich mich selbst überzeugt hatte, daß ein gänzliches Versteigen kaum zu befürchten war; die Rückzugslinie blieb immer noch offen.

Also rutschten wir bald auf dem Bauch, bald auf dem Rücken seitwärts dahin, uns überall mit den Fingern in die scharfen Kalkspalten einklammernd. Endlich glaubten wir auf dem rechten Wege zu sein.

Dieses neue Felsband war anfänglich recht bequem, »der reine Promenadenweg,« meinte der Professor. Das fand ich zwar doch nicht so geradezu; jedoch immerhin stieg es nicht zu steil auf und war manchmal meterbreit. Allmählich aber ward 37 es doch auch wieder schmal und schmäler, immer häufiger mußten die Hände mit aushelfen, schräg geneigte Steinstufen durchsetzten das Band, die Wand zur Rechten wurde immer schroffer, zuletzt sogar überhängend; an einer Stelle mußten wir uns bücken, um drunter durchzukommen, und gerade da fehlte ein Stück im Gestein, und ein weit ausgreifender Schritt ward erforderlich. An dieser Stelle nannte ich mich bereits im Gedanken an meine Frau einen gewissenlosen Abenteurer.

Das Hinderniß ward überwunden, jedoch nur um einem schlimmeren Platz zu machen. Ein mehrere Meter breites Rinnsal zerschnitt unsern Pfad; es hatte sich so tief in den Felsen eingefressen, daß es unmöglich war, darüber hinweg auf die jenseitige Fortsetzung zu gelangen. Von unten war der Einschnitt so schmal erschienen, daß man annehmen mußte, ihn mit einem einzigen Schritte übersetzen zu können. O schlimmer Irrthum! Also nun dennoch zurück!

»Nein,« sagte der Professor, »da oben sind ein paar Felsvorsprünge; wenn wir die erreichen, kommen wir hinüber.«

Wir schoben uns etwas zurück. Das Fatale war, daß wir die Felswand wegen ihrer Steile nicht gehörig überblicken konnten. Aber dem Professor gelang es nach mehreren vergeblichen Versuchen, in 38 die Höhe zu kommen und auch mir durch Zurufe und Handreichung den Aufstieg zu ermöglichen. Und so kamen wir nach längerem, beschwerlichem Auf- und Abklettern über das Rinnsal hinweg und wieder auf das führende Felsband zurück, das jetzt, dem Kamin nahe, in treppenartige, ungleiche, schmale Absätze sich auflöste.

»Dies ist die Stelle, wo wir den Einstieg beginnen müssen,« sagte jetzt der Professor, »diese Arve habe ich durchs Fernrohr gesehen und mir wohl gemerkt.«

Der alte, blitzgetroffene Baum wuchs in großem Bogen aus dem Felsen über den Abgrund hinaus; er gab unserm Fuß einen nützlichen Halt, denn der Pfad verschwand hier fast völlig.

An dieser Stelle sollte der ursprünglichen Absicht nach meine Wanderschaft ihr Ende finden. Es sah freilich hier anders aus, als ich wohl gedacht hatte.

Was sollte ich machen? Hier verweilen, bis mein Gefährte zurückkehrte, das heißt, eine lange Reihe von Stunden? Ein Platz zum Sitzen war da, allerdings: auf dem Stamme der Arve – die Beine über dem gähnenden Abgrund baumelnd. Ein paar Minuten mochte man das aushalten, viele Stunden unmöglich. Und selbst wenn sich weiter zurück eine günstigere Stelle zum Ruhen fand, welche tödtliche Langeweile! Denn die Aussicht war hier wirklich 39 überall beschränkt und auch von geringem malerischen Reiz.

Also allein zurückkehren? Ich durfte mir nicht verhehlen: das war für mich gefährlicher, als wenn ich dem kundigeren Kletterer auf seinem Wege folgte, wie schlimm der auch werden mochte. Ich war in der Lage Wallensteins: ich konnte nicht mehr zurück, wie mir's beliebte; ich mußte die That vollbringen, weil ich sie gedacht, weil ich das Herz genährt mit diesem Traum –

Also vorwärts! Ich war nur in einiger Sorge, Herr Wittenbarg möchte Einspruch erheben: doch der schien zum Glück die ursprüngliche Verabredung vergessen zu haben; er sagte kein Wort, sondern nahm es wie etwas Selbstverständliches hin, daß ich weiter mitging.

Der Einstieg ins Kamin war eine der schlechtesten Stellen; einmal darinnen, ging es besser.

»Nur recht vorsichtig,« mahnte der Professor, »prüfen Sie sorgfältig jeden Stein, ehe Sie ihn anfassen oder den Fuß draufsetzen. Geben Sie acht, wohin ich trete und greife.«

Der Anfang war am schwersten; wir mußten Arme und Beine so weit auseinanderspreizen, als ob wir uns zerreißen wollten. Die Stöcke waren hier nicht zu brauchen und deshalb lästig.

Bald wurde das Kamin glücklicherweise enger, 40 und da hatte man denn guten Halt mit den Schultern, Knieen, Händen und Füßen. Der Professor schien immer fast auf meinem Kopfe zu stehen.

Jetzt hatte er ein schmales Sims erreicht, das unser Kamin abschloß; es bot Platz für uns beide. Als ich dort stand und zurückblickte, ward ich doch fast von einem Schwindel überfallen: so unmöglich schien es, daß wir auf Menschenfüßen diese Steile sollten heraufgekommen sein.

Der Professor war klüger, er spähte nicht hinter sich, sondern vor sich. Besser sah es da freilich eben auch nicht aus, mir schien sogar schlimmer, und er bestätigte diese Ansicht stillschweigend, indem er das bisher nicht benutzte Seil losrollte und mir kunstgerecht unter den Achseln um den Leib band.

Und nun begann er an der fast glatten Wand über uns an kleine Vorsprünge, die er während der kurzen Rast sich ausgesucht, seine Zehen einzusetzen, erst mit dem rechten, dann mit dem linken Fuß sich emporzuschieben, den Leib fest an den Fels gedrückt, und dann elastisch in die Höhe sich schnellend mit den Händen eine höhere Felsleiste zu packen. Als das geglückt war, zog er langsam seinen Leib nach, faßte mit den Knieen die Leiste und stand schließlich oben. Nun mußte ich ihm die Stöcke hinaufreichen, dann stemmte er die Füße gegen den tragenden Stein und den Rücken gegen die Wand, zog das Seil straff 41 an und zwang mich solcherart gleichsam, seinen kecken Aufschwung ihm nachzumachen, nur unter sehr erleichterten Umständen. Eh' ich mich's versah, stand ich neben ihm, und er nahm mir das Seil ab.

»Das war eine böse Stelle,« sagte er gelassen, »sie erklärt einigermaßen die Sagenbildung von der Unersteiglichkeit des Berges. Aber dies war auch die Krisis; forthin kann nichts sonderlich Schlimmes mehr kommen.«

Ein Gefühl stolzer Freude überkam mich wie ein stiller Taumel; es war doch etwas Großes, Beschwerden und Gefahren so keck zu überwinden! Gehobenen Muthes kletterten wir weiter; immer leichter wurde die Arbeit, die Steile geringer, bis wir endlich die ersehnte Terrasse erreichten, die sich als eine sanft geneigte Fläche oberhalb der Wand hinzog, mit Geröll und Steinplatten bedeckt.

Das war eine köstliche Stelle, zu rasten und ein wenig zu frühstücken. Wir ließen uns nieder. Die Aussicht war nicht bedeutend, aber für uns war der Blick in die überwundene Tiefe an sich erhebend genug, und in nächster Nähe erquickten hübsche Pflänzchen das Auge.

»Androsacea Hausmanni lactea« stellte Wittenbarg fest und wies auf eine Pflanze, deren sammetartige Polster die Steinblöcke bedeckten und mit Hunderten lichter Blumensternchen übersäet waren. 42 »Ja, sehen Sie, die ist besonders in den Dolomiten zu Hause. Aber hier ist auch Linaria alpina

Zwischen den Platten lugten die zartvioletten, rothpunktierten Löwenschnäuzchen dieser Blume hervor.

Weiter entdeckte er Anemone glacialis, Valeriana supina, Gentiana bavarica und andre feine Blümchen.

Indessen ich so einen kleinen botanischen Kursus genoß, dabei aber das Frühstück durchaus nicht vernachlässigte, vernahm ich über uns in einiger Ferne ein leichtes Rauschen. Wir blickten auf und sahen einen Adler, der mit weit ausgebreiteten Schwingen über die einsame Fläche hinwegzog, vielleicht außer uns das einzige Geschöpf Gottes, das bis zu dieser Höhe heraufdrang! Und auch wohl kaum noch viel höher, denn welche Beute sollte es in jener Bergöde suchen? Der Geist des Menschen allein findet auch da noch seine Beute!

Es war mir nun auf einmal schon selbstverständlich, daß ich mit auf den Gipfel ging. Warum denn auch nicht? Die eigentliche Gefahr war überstanden: konnte ich jetzt noch den vollen Lohn mir entgehen lassen? Nein, solche Entsagung war schon zwecklos geworden.

Sobald das in mir feststand, überkam mich mit Macht der Rausch der Begeisterung. Die ersten Menschen auf einem Punkte, der in allen Jahrtausenden seit Erschaffung der Berge von keinem 43 Fuße betreten war! Es lag doch etwas überwältigend Großes in diesem Gedanken, ein so bestrickendes Hochgefühl, daß es wohl lohnte, ein bißchen Leben und allenfalls auch ein bißchen Gewissen daran zu wagen!

Indem ich mich so freudigen Empfindungen hingab und mein Auge achtlos über die verstreuten Steinblöcke schweifen ließ, erblickte ich plötzlich nicht sehr weitab unter mageren Gräsern einen Gegenstand, dessen Form und Farbe mir lebhaft auffiel, ein rundliches Ding mit leichtem Metallglanz. Ich trat dorthin, hob es in die Höhe und erkannte grenzenlos verblüfft, ja mit einem gewissen dumpfen Schauder einen bleiernen Hosenknopf. Ganz unverkennbar, ganz ohne jeden Zweifel; an der unsinnigen Thatsache war nicht zu rütteln noch zu rühren.

»Was haben Sie?« fragte gleichgültig der Professor.

»Das lag hier auf der Erde,« stotterte ich in halber Betäubung und reichte ihm den Fund, »wie kommt so etwas hierher?«

Auch er brauchte eine Reihe von Sekunden, um sich halbwegs zu fassen; ja ich sah, er war ganz blaß geworden. Die Unnatur dieser Thatsache überschritt alle Grenzen.

Und doch kam er eher noch als ich zur Besinnung; er war auch hier der Ueberlegene.

»Ein Adler!« sagte er sehr scharf und bestimmt, 44 fast in einem Befehlston, »das hat ein Adler heraufgetragen – drunten aus Zufall verschluckt und hier auf dem natürlichen Wege wieder von sich gegeben.«

Ich schlug mir vor die Stirn. Wie einfach, wie überzeugend, wie selbstverständlich!

»Vielleicht liegt das Ding hier schon seit Jahrhunderten,« bemerkte ich endlich.

»Sehr lange schon ohne Frage,« bestätigte er, »da jede Begleitspur seiner Ablagerung längst bis auf das letzte Stäubchen verwittert ist.«

»Wir werden im Brockhaus die Kulturgeschichte des Hosenknopfs nachschlagen müssen, um feste Zeitgrenzen zu gewinnen,« fügte ich lachend hinzu.

Er lachte gleichfalls, doch nicht so ganz frei heraus, wie mir scheinen wollte, und erhob sich zum Weiterwandern mit einer gewissen Hast, als ob diese Stätte ihm unheimlich geworden sei. Ich folgte willig, neu gestärkt, wie ich war, nicht ohne die naturhistorisch denkwürdige Antiquität sorgsam zu verwahren. Ich empfand eine entschiedene Genugthuung: einen gleichartigen Fund an gleich seltsamer Stelle hatte gewiß vor mir noch kein Sterblicher gemacht! Ich genoß im stillen auch meine Entdeckerfreuden.

Indessen klommen wir rüstig weiter; die Felswand war jetzt von weit geringerer Steile und gestattete eine Zeitlang ein ganz gemächliches Steigen.

45 Nach einer halben Stunde etwa erreichten wir die oberste Terrasse, auf welche die von unten gesehene Schneerinne einmündete. Die sah freilich in der Nähe ganz anders aus als von fern aus der Tiefe, nämlich der Schnee ganz mit Schmutz überzogen, und verteufelt steil war sie außerdem auch. Von oben nach unten war sie fein gerifft in helleren Streifen, die oben parallel, dann nach unten zu fächerartig sich ausbreitend hinliefen.

»Weg da! Zurück!« schrie plötzlich der Professor und riß mich mit einem gewaltigen Rucke nach hinten. Und wenige Sekunden später kam's wie der Teufel von oben herabgetanzt und pfiff wie Flintenkugeln durch die Luft vorbei. Dann war es wieder still.

»Eine jede Kugel die trifft ja nicht,« sagte der Professor, »– nämlich wenn man Augen und Ohren aufsperrt, sonst aber sehr leicht.«

Nach dem ersten Schrecken schämte ich mich ein wenig vor Weib und Kindern, daß ich mich hier doch noch von einer sehr ernsthaften Gefahr hatte bedrohen lassen; doch immerhin ließ ich mir's als Entschuldigung gelten, daß sie glücklich überstanden war, und drängte nun um so mehr vorwärts.

Ich hatte mir gedacht, in der Schneerunse würde man recht bequem aufwärts steigen können; nun sah ich wohl ein, daß dies schon der Steinfälle wegen nicht anging, daß vielmehr statt dessen die Felskletterei 46 wieder beginne. Ueber Blöcke und scharf geneigte Platten mußte gegangen, gar nicht selten gerutscht werden; dann kamen wir zu ganz großen Felsstücken, die sich sehr rauh anfühlten, wie versteinerte Waschschwämme etwa, so porös war ihre Oberfläche, und dann – dann plötzlich sahen wir über diese hinweg in die blaue Luft: wir standen auf dem Kamme. Drüben brach das Gebirg in senkrecht erscheinender Schroffe ab in unergründliche Tiefen, die Felswand schien unter unsern Füßen zu fliehen.

Dieser Grat war gleichsam der First des Kirchendachs, aus dem die äußerste Spitze als Dachreiter emporsprang. So ganz unbedenklich, wie wir geglaubt hatten, war dieser letzte Anstieg allerdings auch nicht; denn ein sehr schmales Felsdach, zu dessen beiden Seiten ungeheure Abgründe klafften, leitete mit starker Steigung zu ihr hinüber. Ihn aufrecht zu überschreiten war nicht wohl thunlich; man konnte das Dach nur rittlings zwischen die Beine nehmen und solcherart langsam hinüberrutschen. Von Schwindel oder sonstigen Zufällen durfte man auch dann nicht ergriffen werden.

Ich hätte hier gern ein paar Minuten gerastet, frische Kräfte gesammelt und auch mein Gewissen durch eine stumme Ansprache beschwichtigt; denn daß ich mit hinüber mußte, auf jede Gefahr hin, litt keinen Zweifel mehr. So nahe dem Gipfel, dem nie erstiegenen!

47 Allein Wittenbarg gab jetzt keine Ruhe mehr; er war ganz Nerv und Leben, seine innere Gluth schien den Körper mit unerschöpflicher Kraft zu durchströmen. Ohne weiteres Zögern begann er den seltsamen Ritt, so mußte ich also mit; dicht hintereinander schoben wir uns die Felsscheide empor.

Seine Schauer hat es, so zwischen Himmel und Erde zu hängen, aber auch sein Erhebendes: man fühlt alle seine Kräfte gespannt und gesteigert, weil ganz auf sich selbst gestellt, man fühlt sich als siegenden Kämpfer gegenüber einer blind feindseligen Natur. Ich empfand eine wunderbare Ruhe während dieser entscheidungsvollen Minuten.

Jetzt war mein Gefährte drüben auf sicherem Boden, jetzt auch ich; wir standen wieder auf festen Füßen. Nur noch ein mäßiger und unbedenklicher Anstieg, und das Werk war vollendet. Der Professor drehte sich um und drückte mir die Hand; sein Auge strahlte von fast fieberhafter Freude.

Ich machte einen Augenblick Halt und ließ ihm völlig den Vortritt. Er griff mächtig aus – jetzt betrat er den Gipfel; ich nun wieder eiliger ihm nach.

Der Augenblick war da, der heiß ersehnte, der feierliche, stolze. Im Mittagsgolde vor uns aufgethan die leuchtende Weite, rings um uns her überwältigende Größe, das schwelgende Auge berauscht 48 umherirrend, auf einsamer Riesenhöhe sich niedersenkend gleich dem Blicke eines Gottes, und dazu dies Geheimnißvolle: der Erste! der Erste! Seit Ewigkeiten der Erste!

Vergebens daß irgend ein neidischer Dämon mir jetzt etwas zuraunte von der Lächerlichkeit dieses Ehrgeizes; ich empfand es doch mit dem Professor, wie ihm zu Muthe sein mußte, der jetzt still vor mir den letzten Schritt that, da es mich schon, den Zweiten, so überschwenglich bewegte, da es mich schon beglückte, auf nie erstiegener Höhe als erster Mensch einen Hosenknopf entdeckt zu haben! Er aber empfand alle Wonne des Kolumbus –

Da plötzlich stieß er einen Schrei aus, einen scharfen sonderbaren, einen fast schauerlichen Schrei – ich sah ihn wanken, zurücktaumeln – ich sprang vor, ihn zu halten, ich faßte ihn um die Schulter; sein Auge blickte so starr und wild, er mußte etwas Grausenhaftes entdeckt haben – –

Doch was konnte es sein? Gewißlich nur ein Gebilde aufgewühlter Phantasie – –

Kurz entschlossen that auch ich diesen letzten Schritt. Und ich sah und starrte, starrte und sah. Mein Auge wollte sich verwirren und blieb doch sehend und klar. Auch ich mußte mich befreien durch einen hallenden Schrei.

Auf der kleinen rundlichen Fläche der höchsten 49 Kuppe war ein Steinmandl gethürmt, und mitten in diesem locker gefügten Gestein hatte der Unglückliche, wie in einen Rahmen gestellt, die mir wohlbekannte Photographie seiner Schwiegermutter erblickt.

Ja, da stand es vor mir in entsetzlicher Leibhaftigkeit, dies finstere, drohende, ingrimmdurchzuckte Gorgonenbildniß der verwittweten Päske.

Auf nie erstiegenem Gipfel!

Der Aermste verharrte in tiefstem Schweigen; zuweilen schüttelte er sich wie von Fieberfrost überlaufen. Mir ward allen Ernstes bange um ihn.

Doch in dieser Noth legte mir ein Gott ein glückliches Wort auf die Zunge.

»Es ist kein Zweifel,« sprach ich still zu dem Gefährten, »das Bild ist im Magen eines Adlers heraufgetragen und auf dem natürlichen Wege –«

Der Spaß gab ihm einige Erlösung; in einem jähen Gelächter befreite er sich von der tiefsten Noth seiner Seele.

»Nein,« sagte er dann tiefsinnig, »solche Greuel vollbringt kein Adler, das vermag nur ein Drache. An seiner Klaue sollt ihr ihn erkennen.«

»Die ist freilich diesmal erkennbar genug,« fügte ich hinzu, »aber ich muß gestehen: daß sie scharf sein könne, habe ich wohl geahnt; daß sie jedoch so lang sei, konnte ich nicht denken.«

Er warf mir einen Blick stillen 50 Einverständnisses zu. »Kehren wir um,« sagte er dann entschlossen.

»Und die Flasche Sekt?« wandte ich schüchtern ein, »sollen wir die vergeblich hier herauf geschleppt haben?«

»Später! Später!« versetzte er bestimmt abwehrend. »An dieser Stelle würde das edle Getränk sich mir in gährend Drachengift verwandeln.«

Ich begriff und ehrte seine Gefühle. Ich ließ ihn voranschreiten und warf nur noch einen Blick vom Gipfel in die Weite. Doch im Grunde mußte ich den Leuten Recht geben, wenn sie die Aussicht für nicht sonderlich lohnend hielten. Die Ferne war verschlossen durch umringende Berge, und diesen fehlte zumeist eine schöne Gruppirung. Die Wildheit des Anblicks ward nicht so recht zu edlerer Erhabenheit. Nur der Blick in die Tiefe behielt den packenden Reiz des unbedingt Furchtbaren.

Stumm folgte ich dem Schicksalsgenossen; wir überklommen das Felsdach und erreichten jenseits den breiteren Kamm. Auf dem ewig einsamen, sonnüberglühten, schneesturmgepeitschten Berggipfel blieb es einsam zurück, das Bildniß der Schwiegermutter.

Der weitere Abstieg wiederholte zunächst getreulich die Beschwerden des Aufstiegs, nur daß unsere Ermüdung und Abspannung solche noch steigerte. An unserm Frühstücksplatz angekommen, hielten wir 51 wiederum eine längere Rast und stärkten uns durch einige Bissen.

Von dem Sektgenuß wollte der Professor leider auch hier noch nichts wissen. Ihn beschäftigte etwas, er überspähte sehr aufmerksam die Berghänge unter uns. Auf einmal that er einen lauten Ausruf und deutete mit der Hand auf einen aufrecht zwischen zwei Platten stehenden Stein. Ich begriff seine Meinung noch nicht und sah fragend zu ihm auf.

»Das nennt man eine Daube,« erklärte er mit gedrückter Stimme, »die Leute, die den Stein so legen, bezeichnen damit den Weg. Ohne Zweifel sind unsere Kerle da heraufgestiegen, sie haben einen andern Weg genommen als wir, offenbar einen besseren – sehen Sie, da unten steht wieder so ein Merkmal. Wir werden klug thun, diesen Zeichen zu folgen; unser Aufstieg war doch bös, diese Halunken aber pflegen ihre Berge zu kennen.«

Ich war sehr einverstanden, und wir machten uns alsbald wieder auf die Beine.

Wir hatten noch klüger gethan, als wir irgend hoffen konnten; ich bemerkte es mit innigem Behagen, der Professor hingegen bald ersichtlich mit steigendem Mißvergnügen. Der neue Weg bot weit weniger von den Beschwerden und gar nichts von den Gefahren unseres eigenen Anstiegs! Ehe wir es selbst recht glauben wollten, hatten wir das begehrte Felsband 52 erreicht und schritten nun gemächlich weiter zu Thale, mein Gefährte jedoch unter fortgesetztem Murren und Knurren. Mir schwebten allerhand anmuthige Scherze auf der Zunge; doch gelang es mir, sie tapfer hinunterzuschlucken.

Die Schutthalde war jetzt natürlich die leichteste Parthie; im Sturmschritt eilten wir hinunter und gelangten auf die Wiese.

Hier angekommen aber warf ich mich ins Gras und rief mit bitterer Entschlossenheit: »Jetzt aber den Sekt! Wir dürfen uns um den Lohn unserer Fahrt nicht betrügen – den einzigen, der uns geblieben ist.«

Mit einem schwermüthigen Kopfnicken nahm er Platz an meiner Seite, zog die Flasche aus dem Rucksack und entkorkte sie bedächtig, unter dumpfem Schweigen. Lustig knallte der Pfropfen, und nachdem wir die ersten Schlücke gethan hatten, blickte ich umher in die Weite und in die Tiefe.

Ein Ruf freudiger Ueberraschung entrang sich meiner Brust. Es war ein ganz entzückendes Bild, das sich da vor mir ausbreitete. In mäßiger Tiefe das reizende Dorf, um den spitzigen Kirchthurm traulich gelagert, mitten in schimmernde Wiesen gebettet, die nach allen Seiten in sanften Wellen emporstiegen, bis sie ringsum von einem breiten Kranze dunkler Tannenwälder umsäumt wurden. Und über diesen Wäldern wieder herrliche Matten, sich herandrängend 53 bis an den Fuß der gewaltigen Felsschroffen, deren abenteuerliche Gestalten zu reizvollen Gruppen geordnet in weitem Kreise zum Himmel emporstrebten. Und das Ganze überhaucht von dem milden Glanze der schon tiefer sinkenden Sonne, eingetaucht in Frieden, schwellend von Heiterkeit: ein Bild still gesättigter Kraft, stolz beruhigter Größe. Ich schwelgte entzückt in schweigendem Anschauen.

»Da haben wir nun doch noch unsern Lohn,« sagte ich endlich leise.

»Ja, den hätten wir billiger haben können,« warf er bitter ein, »namentlich ohne die schändliche Verhöhnung da oben nach all den Mühen.«

»Nun,« versuchte ich ihn zu beruhigen, »das ist im Leben nicht anders: die brutale Prosa drängt sich überall an das Schöne und Große und sucht es zu überfluthen und zu verschlingen. Es gelingt ihr nicht, wenn man den Kopf immer oben behält und zur rechten Zeit gute Miene zum bösen Spiel macht. Die feinste Lebenskunst ist, allezeit über sich selber lachen zu können, noch ehe die andern es thun. Und im Grunde, was ist uns so Arges geschehen? Ob wir diese Schönheit schon da oben fanden oder erst hier unten, ist doch eigentlich gleichgültig; genug, daß wir sie fanden. Und jedenfalls geschah uns nichts Schimpfliches, denn ritterlich kämpfend einem Drachen zu unterliegen, ist keine Schmach. Lassen wir ihn leben, den unüberwindlichen Drachen!«

54 Er lächelte nun wirklich.

»Ja,« entgegnete er heiterer, »ich will diesem Drachen alles verzeihen, schon weil er ein so überlebenskluges Geschöpf ist. Ueberdies habe ich schon meine Rache: sie muß es sich ein höllisches Stück Geld haben kosten lassen, und das wird ihr noch lange am Herzen fressen. Denn für ein paar Kreuzer haben sich die Seelen dieser biederen Führer sicherlich nicht vergiften lassen. Prügeln muß ich nur den schurkischen Gastwirth, der mir's zuerst aufgeredet hat, der Berg sei noch nicht erstiegen.«

»Was wollen Sie von dem Aermsten?« sagte ich mit beschwichtigendem Lächeln. »Er wird leidlich Recht haben mit seiner Behauptung; der Berg wird vermuthlich in Wahrheit wenig oder gar nicht erstiegen sein, weil er wenig lohnt und auf dem rechten Wege nicht einmal dem Kletterer ehrenvolle Aufgaben bietet. Der Mann hat also vielleicht nicht einmal gelogen.«

Der Professor that einen Seufzer.

»Das schlimmste ist,« versicherte er jetzt, »daß sie, wie ich fürchte, ihren Zweck erreicht hat. Ich empfinde einen tiefen, dumpf abergläubischen Schauder vor dem Gedanken, je wieder auf einsame Berggipfel zu gehen, in das trostlose Reich des todten Gesteins, des Eises, des Schreckens und umgehender Schwiegermütter. Ich ahne, ich werde diesen Schauder nie wieder los werden. Ich darf nicht mehr 55 hinausschweifen über die bescheidene Zone, in der Florens Kinder gedeihen. Ich bin ein gebändigter Mann, ein gefesselter Krieger.«

»Das hat sein Gutes,« bemerkte ich fromm, »unsre Frauen werden's zufrieden sein. – Eins aber fürchte ich jetzt allerdings doch noch ein wenig: den Empfang im Gasthause. Es ist sehr viel leichter, sich selbst zu verlachen, als sich auslachen lassen.«

»In diesem Punkte fühle ich mich sonderbar ruhig,« versetzte Wittenbarg, »vermöge einer bestimmten, freundlichen Ahnung, die an die Natur unsres Drachen anknüpft. Denn dieses eigenartige Ungeheuer ist nicht allein unmenschlich gewitzt, wie wir mit Kummer erfahren mußten, sondern hat auch seine zarten und liebenswürdigen Seiten. In der That, auf seine Art ein ganz prachtvoller Drache. Ich möchte fast eine Wette darauf eingehen, daß er bereits die sinnreichsten Veranstaltungen getroffen hat, um uns die öffentliche Beschämung im Gasthause zu ersparen und aus dem Wege zu räumen. Ueber die Kunstmittel, deren er sich dabei bedienen wird, wage ich mir nicht den Kopf zu zerbrechen; ich bleibe stehen bei meiner unbestimmten Ahnung, die aber auf guter empirischer Grundlage ruht.«

»So soll er nochmals leben!« rief ich erleichtert und nahm wiederum einen achtbaren Schluck. »Und jedenfalls rathe ich, uns von vornherein nicht mit 56 einer Armensündermiene dem Volke zu zeigen, sondern im Gegentheil ein möglichst freches, verschmitztes, überlegenes und vielsagendes Gesicht aufzustecken, vor allen Dingen aber unermeßlich vergnügt zu erscheinen.«

»So soll's geschehen!« nickte er befriedigt, und wir gaben uns behaglicher dem Genusse des Champagners und der wundervollen Landschaft hin.

Endlich brachen wir auf, stiegen die Wiesen hinab und nahten dem Dorfe.

Als wir auf den kleinen Platz vor dem Gasthause einbogen, sahen wir eben einen offenen Wagen mit einer einzelnen Dame als Insassin davonrollen. Diese beugte sich noch einmal grüßend heraus, und wir erkannten die Wittwe Päske; ihr Gesicht glich jetzt freilich dem Abbilde auf dem einsamen Berge nicht im geringsten; es sah höchst heiter und freundlich aus.

»Aha!« rief ich aus, »ihr schlechtes Gewissen treibt sie ins Weite.«

»O nein,« sagte mein Gefährte, »Gewissensbisse kennt die gar nicht. Es ist nur, daß ihre vierundzwanzig Stunden längst abgelaufen und schon überschritten sind. Sie bleibt nie länger, das ist so eine ihrer pedantischen Eigenheiten, die man ihr gönnen muß. Sie hat eben bei all ihren Vorzügen doch auch ihre Schwächen. – Aber wissen Sie, wen das böse Gewissen davontreibt? Unsern Herrn Wirth! 57 Der spielt nämlich ihren Kutscher; ich erkenne ihn genau. Und ich wette, er hat in den Nachbardörfern für mehrere Tage dringende Geschäfte zu besorgen. Und klug genug ist das von ihm; ganz sicher vor Prügeln würde er hier nicht sein. – Auch werden sich wohl heute und morgen keine Bergführer hier sehen lassen.«

»Sie dürften Recht haben,« gab ich zur Antwort, indem ich dem Wagen nachblickte, der eben um die Ecke bog. Während dieser Schwenkung sah ich ganz deutlich, wie die Wittwe Päske sich mit ihrem Taschentuche nachdrücklich die Augen trocknete.

Wir eilten auf das Haus zu. Schon auf den Stufen der Vortreppe trat uns ein Herr entgegen, der zu der Zahl der seit Wochen hier verweilenden Gäste gehörte, und begrüßte uns mit einer scherzhaften Drohgebärde.

»Ei, ei, meine Herren,« rief er uns zu, »Sie wagen es wirklich, sich noch unter eine Gesellschaft zu mischen, die Sie so schändlich gefoppt haben? Dazu gehört allerdings noch fast mehr Muth als zur Besteigung jungfräulicher Gipfel! Aber machen Sie sich auf Schlimmes gefaßt; ihr Urtheil ist gesprochen! Sitzen ein paar Dutzend gutherziger Menschen hier einen ganzen Tag lang in leidenschaftlicher Aufregung, in schrecklicher Angst um Ihr kostbares Leben, unfähig allesammt, etwas andres zu 58 unternehmen, als immerfort Ihren verflixten Felsgipfel anzustarren – nur um schließlich durch Ihre eigene Schwiegermama, Herr Professor, zu erfahren, daß Sie sich einen frivolen Spaß mit unsrer ganzen hochehrbaren Gesellschaft erlaubt haben, und daß Ihr Berg für gesunde Beine nicht die geringste Gefahr bietet! Das ist denn doch ein nie zuvor noch erstiegener Gipfel menschlicher Schlechtigkeit!«

»Man hatte sich so innig auf einen effektvollen Absturz gefreut,« fiel ich lachend ein.

»Das will ich nicht gerade sagen,« versetzte jener gleichfalls mit Lachen, »aber die Angst um Sie war so angenehm kitzelnd, ganz besonders für die Damen; und die ist nun völlig um nichts gewesen! Das ist denn doch abscheulich und fordert die härteste Strafe. Sie können Gott danken, wenn man Sie dahin begnadigt, sich etwa mit einem Korbe Sekt loskaufen zu dürfen –«

»Oberkellner, lassen Sie ein Dutzend Flaschen Sekt kalt stellen,« unterbrach ihn der Professor mit furchtbarer Gelassenheit. – »Ich hoffe, meine Schwiegermutter wird sie bezahlen,« flüsterte er mir zu. »Wenn ich ihr die Rechnung zuschicke, nimmt sie's als ein bündiges Versprechen, daß ich keine gefährlichen Berge mehr besteigen will.«

Nach diesen Worten enteilte er auf sein Zimmer. Was er dort mit der Gattin verhandelt hat, habe 59 ich niemals erfahren. Es war ihnen beiden nachher nichts anzumerken, weder Gutes noch Böses.

An diesem Abend wurde in der Gasthofsgesellschaft eine Stimmung erzielt, wie sie nicht fröhlicher zu denken war. Ich fürchte nur, der armen Wittwe Päske ist diese Stimmung etwas theuer zu stehen gekommen.

Als ich am andern Morgen mit leicht schwirrendem Haupte meinen Abschied nahm, übergab mir Frau Professor Wittenbarg ein kleines Packet als einen letzten Gruß ihrer Mutter. Düsterer Ahnung voll öffnete ich es erst auf einem einsamen Waldespfade und fand ihre Photographie.

Den bleiernen Hosenknopf ließ ich mir später in Gold fassen und trage ihn als Uhrgehänge. Ich betrachte ihn als Talisman gegen allerhand böse Mächte des Ehrgeizes.

 


 


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