Hans Hoffmann
Aus der Sommerfrische
Hans Hoffmann

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Im Vaterhause.

Im Krankenzimmer herrschte eine trübe Dämmerung; schwere Vorhänge vor den Fenstern und vor der Glasthür suchten Glanz und Geräusch des Frühlingstages auszusperren. Ganz freilich gelang das doch nicht; ein paar vorwitzige Sonnenstrahlen fanden hier und dort doch einmal einen Durchschlupf, und das Zwitschern der Vögel ließ sich auch nicht bannen; es mußte draußen wahrhaftig einen richtigen Lärm bedeuten, daß es so vernehmlich hereindrang.

Der Kranke, ein schon greiser Mann mit tief verfallenen Zügen, denen aber auch so noch der Ausdruck eines vornehmen, korrekten, gesammelten, wohl auch pedantischen Wesens eigen war, hatte lange mit lauter Stimme vor sich hingeredet, ohne irgend auf die Anwesenden zu achten; auf einmal schwieg er und schloß die Augen.

Der Arzt beugte sich, scharf lauschend, über ihn.

»Er schläft,« sagte er dann leise, »und nun, Fräulein Lisa, benutzen Sie die Stunde, und schöpfen Sie etwas Frühlingsluft. Ich will es und befehle 88 es. Sie haben schon mehr Kräfte hier im Krankenzimmer verschwendet, als ich verantworten kann. Ihre lieben jungen Jahre bedürfen zuweilen einer Auffrischung. Und zur Zeit sind Sie hier ganz unnöthig und ich desgleichen. Die wackere Rieke mit ihrem Strickstrumpf genügt vollkommen zur Ueberwachung seines Schlummers. Und das Weitere kann ich leider mit fast vollkommener Sicherheit voraussagen. Dieser Schlaf wird mehrere Stunden währen – und es wird sein letzter gewesen sein. Er wird noch einmal aufwachen und wieder reden, so für sich selbst, vielleicht noch lebhafter als soeben; das letzte Aufflackern seiner Lebenskraft. Daß er uns noch erkennen wird, ist wenig wahrscheinlich. Es geht schnell mit ihm zu Ende; den Strahlen der untergehenden Sonne können wir freien Eintritt in dies Zimmer gewähren, sie werden ihn nicht mehr stören.«

Er faßte die Hand des jungen Mädchens und zog es mit sich auf die Glasthür zu, die ins Freie führte. Einen Augenblick zögerte sie noch hinauszutreten und blickte zurück in das Zimmer, als ob sie sich nicht trennen könnte von dem dumpfen und trüben Raum. Dann aber hatte sie plötzlich ein Gefühl, als müßte sie ersticken in dem trostlosen Halbdunkel, das allen Gegenständen die Behaglichkeit nahm, die ihnen sonst eigen gewesen. Selbst die alte Magd, die jetzt nahe dem Bette saß, im freien 89 Licht eine dralle und lebenskräftige Person, sah hier gedrückt und kummervoll aus wie eine Unglücksbotin, ihr schweigsames Stricken fast unheimlich, als ob sie es sei, die das Schicksalsgewebe vollende. Sie strickte so gleichmäßig, wie die große alterthümliche Uhr im Winkel tickte und tickte; diese Uhr war, von einem Schranke verdeckt, den Augen nicht sichtbar: das ließ auch ihr rastloses Arbeiten unheimlich klingen.

Mit einem stillen Schauder folgte das junge Mädchen dem Sanitätsrath, der die Thür geöffnet hatte, und sie traten hinaus in eine offene Vorhalle mit weitem Ausblick. Beide blieben stumm, staunend, geblendet stehen, eine so überschwengliche Frühlingsherrlichkeit quoll ihren Blicken entgegen. Ein reizendes Waldthal streckte sich weit ins Gebirge hinaus, von wunderfeinen Gipfellinien begrenzt, von einer dunklen Tannenwand in der Ferne geschlossen, die Thalsohle übersprengt mit einem breiten Gürtel vollblühender Obstbäume, daraus hier und da rothe Dächer leise hervorleuchteten. Die Maiensonne goß ihren Schein über dies Blüthenmeer oder diesen Strom von Blüthen und ließ ihn erschauern in unendlicher Lichtfülle. In den Schluchten und Einbiegungen der Berge lagerte fein modellirend der zarteste Nebelduft über dem ersten jungen Waldgrün. Nach der anderen Seite dehnte sich die Ebene in verdämmernde Weiten, auch sie still überhaucht von duftigem Goldglanz. 90 Die Stadt mit den frischrothen Dächern. überall dicht an die Berge geschmiegt, quoll aus dem Thal in die Fläche hinein, als ob das Gebirge sie aus einem gewaltigen Füllhorn hinabschütte. Und wie goldener Segen floß der Glanz auch über ihre Dächer und Thürme.

Ganz überwältigend war der Zauber dieses Bildes für die beiden Menschen, die aus dem Dunkel des Sterbezimmers kamen. Und sie schwiegen noch immer, minutenlang, entzückt und bewundernd, ja fast übertäubt. Den Garten zu ihren Füßen, der in gemächlicher Muldenform sich leise senkte, begrenzte eine Anzahl hochstämmiger Birken, deren durchsichtiges Gezweig, nur eben erst überhaucht von dem ersten sprossenden Grün und vom Morgenwinde lebhaft und anmuthig bewegt, sich seltsam heiter abhob von der regungslosen schwärzlichen Tannenwand dahinter. Aus allen Zweigen und Büschen scholl wie ein unendliches Jubellied schmetternd und schallend der Gesang der tausend Vögel.

Das junge Mädchen aber brach nun auf einmal in Thränen aus.

»Ist es nicht herzlos und wahrhaft abscheulich?« fragte sie erregt. »Wenige Schritte hinter uns liegt ein sterbender Freund, und ich – ich kann mich hier in diesem Augenblicke kaum bändigen, ich möchte hell aufjauchzen vor innerer Lust, vor mächtiger Hoffnung 91 auf ein unbekanntes Glück, bloß weil ein sonnenheller Frühlingstag über unserem lieben Lande liegt. Darf man so leichtfertigen Gefühls sein, ohne sich verachten zu müssen? Darf man fremden Tod und eigene Lebenslust so jäh durcheinander werfen?«

Der Sanitätsrath lächelte gütig und blickte mit gesteigertem Antheil in ihr schönes Gesicht, aus dessen blühenden Zügen ein zweiter lieblicher Frühlingstag zu leuchten schien.

»Wie sollten wir Aerzte das Leben ertragen, wenn man das nicht dürfte?« versetzte er ernst. »Es ist der beste Segen für das Menschenherz, daß es beweglich ist wie diese Birken: denn das Schicksal ist starr wie die Tannenwand dahinter. Auch ich bin jetzt gestimmt, mich zu freuen wie Sie, auch so bloß wie ein Kind über die Sonnenschönheit dieser Welt. Und doch verliere ich an dem Manne drinnen einen langjährigen Freund, Sie aber, ehrlich gesprochen, kaum etwas anderes als einen bärbeißigen Tyrannen. Doch wer mit dem Tode auf gar so vertrautem Fuße steht wie unsereins, von Geschäfts wegen, dem dringt er nicht leicht mehr ins innerste Herz. Was ist auch der Tod? Alles, nur kein Uebel. Das Sterben freilich kann ein Uebel sein, wenn einer allzu jung abberufen wird; er verliert eine Zukunft, die er sich voll des Glückes träumt. Mit sechzig aber ist man zum Sterben reif; der drinnen ist es, und ich wäre 92 es auch. Man verliert dann nichts Großes mehr. Es ist die allerbeste Zeit zum Sterben; das langsame Vermorschen nachher ist kein beneidenswerthes Los. Gönnen wir dem Freunde einen ruhigen Tod. Und den wird er haben; er wird still einschlafen. Den Kampf hat er hinter sich; um ihn habe ich keine Sorge mehr.«

»Wer so ruhig fühlen könnte!« sagte das Mädchen. »Mich preßt es jetzt doch wie eine furchtbare Angst. Ich sah noch niemals einen Menschen sterben.«

»Sie werden es leicht lernen, den Anblick zu ertragen,« versicherte der Arzt. »Wer wie Sie einen launischen, oft unerträglichen Kranken, der Ihnen zudem ein Fremder war, durch alles Elend seines Leibes und seiner Seele monatelang aufopfernd gepflegt hat und dann noch so lebensfreudige Augen hat und den Frühling so schön findet, der ist dem Tode gewachsen. Sie machen mir keine Sorge. Aber um einen anderen ist mir bange: um den Sohn, der an diesem Sterbebette stehen sollte und noch nicht zur Stelle ist. Es wird ihn hart treffen, daß er doch zu spät kommt. Ein wirklich tragisches Schicksal, daß er tausende von Meilen herbeieilt, seine Verzeihung zu erflehen, und nun zu spät kommt um einen einzigen Tag. Gestern war der Vater ja noch leidlich bei Besinnung; möglich immerhin, daß er den Sohn erkannt hätte. Heute ist's wenig wahrscheinlich.«

93 »Sind Sie auch sicher, daß es ein Glück gewesen wäre, wenn der Vater ihn erkannte?« fragte das Mädchen. »Ich hörte ihn immer nur im Tone unversöhnlichen Grolles von diesem Sohne sprechen. Ich schauderte, wenn ich es hörte, und wagte nicht weiter zu fragen oder dreinzureden. Der Vater und der einzige Sohn! Hätte diesen nicht am Sterbebette des Vaters erst recht das Schrecklichste treffen können? Vielleicht ist's nur ein gnädiges Schicksal, daß er zu spät kommt.«

Der Sanitätsrath zuckte die Achseln. »Ich will die Möglichkeit nicht leugnen, daß der Vater hätte hart bleiben können,« antwortete er nachdenklich, »und doch glaube ich nicht daran. Bisher stand Trotz gegen Trotz: da war er unerbittlich, felsenhart; nimmermehr würde er das erste Wort der Versöhnung über die Zunge gebracht haben. Dem Nahenden, Bereuenden aber würde er vielleicht weicher gewesen sein, als wir beide ahnen. Und so wie es nun ist, wird immer ein heimlicher Fluch auf dem Leben des Sohnes ruhen. Der Vater im Groll gegen ihn in die Grube gefahren: das ist doch nichts Kleines.«

»Und das Schlimmste für ihn: hatte der Vater nicht ein Recht, so zu zürnen?« fragte das Mädchen. »Hat ihn der Sohn nicht ungehorsam, kalt trotzend, lieblos verlassen?«

»Urtheilen Sie nicht härter, liebes Fräulein Lisa,« 94 versetzte der Sanitätsrath, »als es in der Natur Ihrer freudigen Augen liegt. Vielleicht hat Konrad sich nur ein Recht genommen, das ihm unbillig verweigert ward. Der Vater wollte ihn einspannen in die altherkömmliche, familienerbliche Beamtenlaufbahn: fürstlicher Kammerpräsident der Vater wie der Großvater, der Sohn sollte die Ehre weiterführen und überleiten zu künftigen Geschlechtern. Dem aber standen die Gedanken anders; was dem Vater würdig und groß schien, war ihm klein, dürr und dürftig. Die unendliche Welt draußen hat größere Ehren als so einen hübschen Krähwinkeler Titel. Nun, wenn er die Kraft in sich fühlte, nach Größerem zu ringen, so war es sein Recht, der inneren Stimme zu folgen; vielleicht sogar seine Pflicht. Und da der Vater nicht nachgab, so that er nach dieser Pflicht; er entlief heimlich aus der Heimath und ging ins Weite. Zu Schiff übers Wasser, dahin, wo ihm die Welt am größten, am hoffnungsreichsten schien.«

»So messen Sie dem Vater die eigentliche Schuld an dem Zerwürfnisse zu?« fragte Fräulein Lisa mit einiger Verwunderung.

»Auch das nicht so ganz,« entgegnete der Sanitätsrath. »Es geht gewöhnlich im Leben so, daß die Schuld auf beiden Seiten oder auch auf gar keiner liegt. Dem Präsidenten können wir ein Recht, dem Ungehorsamen zu zürnen, gewiß nicht 95 bestreiten. Er durfte zürnen so lange, bis der Sohn sein höheres Recht durch Thaten bewiesen hatte. Dieser Beweis aber ist ausgeblieben bis heute. Konrad hatte nichts aufzuweisen, was den Stolz des Vaters befriedigen konnte. Er trieb sich planlos durch die Welt umher, von Amerika bis Asien, dies und das beginnend und nichts vollendend. Er wurde alles und nichts, Schiffer, Kaufmann, Fabrikant, Journalist, Walfischfänger und Urwaldjäger; er wurde nichts dauernd und ganz. Er gewann hier und dort ein halbes Vermögen und verlor es wieder, doch er brachte nichts vor sich, darauf er hätte pochen können und sagen: Dies hab' ich und dies bin ich! Er war ein Erdballbummler, nichts Besseres. Es war im letzten Grunde doch wohl des Vaters Fluch, der ihn unstät und haltlos machte. Denn dessen Zorn wurde zum Groll und der Groll zum Fluch, als der Sohn den Rechtsbeweis schuldig blieb. Der Vater schämte sich seiner, und diese Scham erzeugte den Fluch. Und dieser Fluch lastete auf dem Sohne. Er und die eigne Scham zugleich über sein langes Mißlingen machen ihn ruhelos. Und aus solcher Scham heraus verstockte er sich in dem Trotz: ich kann und will erst Verzeihung erbitten, wenn ich etwas geworden bin, wenn ich die Verzeihung verdiene. Und er trotzte auch darauf, alles einzig der eignen Kraft verdanken zu wollen, jeden Beistand zu verschmähen, der irgendwie 96 von seinem Vater auszugehen schien. Er hätte durch dessen Amt und Namen selbst dort in Amerika Verbindungen haben können, die ihm den Weg geebnet hätten: er wies das hartnäckig von sich. So verschlang sich der Knoten, und der Bann ward nie gebrochen. Ich weiß nicht, wieviel der Präsident selbst Ihnen hiervon vertraut hat –«

»Niemals ein Wort,« versicherte Lisa. »Er brach vielmehr allemal schroff ab, sobald sich das Gespräch darauf zu lenken schien. Aber nach dem, was ich von anderen sagen hörte, mußte ich Schlimmeres glauben; etwas wie ein Verbrechen seines Sohnes, eine dunkle Schande –«

»Nichts dergleichen ist richtig,« beschied sie der Sanitätsrath, »nichts, als was ich erzählt habe. Wir sehen nur wieder, was von Volksgerüchten zu halten ist – denn auch mir ist dies Gerede bekannt – auf den Gebissenen fahren alle Hunde los.«

Lisa versank in ein Nachdenken.

»Es ist sonderbar,« sagte sie dann, »ich habe mich so gewöhnt, an diesen verlorenen Sohn als an einen rechten Bösewicht zu denken, daß ich's nicht mehr los werde. Ich habe mich gefürchtet vor seinem Kommen und fürchte mich noch immer. Er steht vor meinen Augen als ein drohender Unhold. Und ich fürchte, er wird mir nie mehr anders erscheinen. So ungerecht kann man sein.«

97 Der Sanitätsrath lächelte.

»Ein bißchen verwildert,« meinte er, »mag er ja wohl aussehen, das ist nach solcher Vergangenheit kaum anders zu erwarten. Aber vielleicht gelingt es unserem ernsten Bemühen, ihn etwas zurecht zu stutzen; man kann doch kaum behaupten, daß er mit dieser Wildheit erblich belastet sei. Sonderbar genug bleibt es: der Vater, das Muster eines seßhaft ehrbaren Beamten, die Mutter, die leider zu früh verstorbene, das Ideal aller häuslichen Tugenden: und dieser Bengel ein Wildling und Durchgänger von Jugend auf. Da soll man noch sagen: der Apfel fällt nicht weit vom Stamme! Auch der Bruder des Präsidenten, der Richard, ebenfalls früh vollendet, er war mehr als zwanzig Jahre jünger als jener – nun ja, immerhin, der hatte einen fröhlichen Wandertrieb: vielleicht, daß da die Spur eines Familienzuges zu erkennen ist. Vielleicht, daß auch bei Konrad der Trieb sich harmloser geäußert hätte, wäre er nicht gar so hart unterdrückt worden. Druck erzeugt Gegendruck; eingezwängter Dampf bricht sich gewaltsam Bahn.«

»Sie wollen doch nicht sagen, daß Dr. Richard Mannhart, der Bruder des Präsidenten, auch so schlimm hätte werden können?« fragte Lisa mit einer Art von Entsetzen, während ein lebhaftes Roth ihre Wangen überzog, und ihre klaren Augen seltsam feucht erglänzten.

98 »Wie, Sie haben meinen lieben jungen Kollegen näher gekannt?« fragte der Sanitätsrath still aufmerkend.

»Näher? O Gott –« erwiderte sie mit einem tief wehmüthigen Lächeln. »Aber nein, ganz flüchtig, nur kurz vor seinem Tode. Ich war sechzehn Jahre alt, und er – ein so herrlicher Mann. Ich kann ihn nie vergessen. Er war so freundlich zu mir, und vielleicht – – doch da kam die Blutvergiftung, und alles war aus. Ich durfte ja nicht einmal an sein Sterbebett. Ich mußte zu Hause thatlos und trostlos der Schreckenskunde harren. Das habe ich in all' den fünf Jahren in mir nicht verwinden können.«

Der Sanitätsrath ergriff ihre Hand und streichelte sie leise.

»Mit wie wenigen Worten man so vieles begreift,« versetzte er ernst, »und darum also – darum wurden Sie seinem alten Bruder die freudige Pflegerin?«

Lisa nickte und schaute nun treuherzig zu ihm auf. »Dem einen hatte ich es schuldig bleiben müssen,« sagte sie still, »nun war mir dies eine beglückende Pflicht.«

»Die beste Wohlthat aber haben Sie mit deren Erfüllung dem verlorenen Sohne gethan,« sagte der alte Arzt. Sie haben dem die schwere Verschuldung 99 erspart, daß sein Vater unter fremden, lieblosen Händen hätte sterben müssen. So aber entschlummert er sanft, wie von reinster Kindesliebe gehegt und behütet. Der Sohn hat wohl Ursache zu heißem Dank.«

Sie schüttelte wie erschrocken, fast heftig den Kopf.

»Ich mag von dem keinen Dank!« rief sie hastig. »Schon weil ich ihn nicht verdiene; denn ich that das Wenige, was ich thun konnte, um eines anderen willen.«

»Man erntet oft genug im Leben ganz anderen Dank, als man gemeint, und anderen, als man verdient hat,« bemerkte der Sanitätsrath. »Schlechteren wohl in den meisten Fällen, dann und wann einmal aber auch besseren; das muß sich dann ausgleichen. – Jetzt aber muß ich Sie sich selbst und Ihren Gedanken überlassen. Dem Freunde drinnen kann ich weder nutzen noch schaden mehr, der ist einer höheren Macht verfallen; doch ich habe andere Kranke, die noch nicht so weit sind, die vielleicht noch leben können und es jedenfalls gern möchten. Ich will versuchen, denen zu Wunsch zu sein.«

Er drückte dem jungen Mädchen mit tiefer Herzlichkeit die Hand und verließ das Haus durch den Garten.

»Ich befehle Ihnen, hier in der freien Luft zu 100 bleiben, bis man Sie ruft,« erklärte er mit Nachdruck, sich im Abgehen noch einmal umwendend.

Sie blieb allein und blickte, still auf die Brüstung gelehnt, in die blühende, klingende Frühlingswonne hinaus. Jetzt löste sich ihre Erregung in vollfließende Thränen.

Ein unendliches Wehgefühl überkam sie. Ein Gefühl des Verlorenseins in der großen Welt. Das Gefühl eines Menschen, der die Heimath seiner Kindheit für immer verlassen muß. Sie hätte den alten ärztlichen Freund zurückrufen und sich an ihn klammern mögen. Sie begriff selbst nicht, was ihr so nahe ging. War ihr der Sterbende so viel gewesen? O Gott, gewiß nicht. Ein mürrischer, gebrochener Greis, der sich gleichgültig von ihr pflegen ließ und vielleicht kaum merkte, daß sie keine gewerbsmäßige Krankenwärterin oder Gesellschafterin war. Und erst seit wenigen Monaten weilte sie hier im Hause. Erst seit so kurzem hatte sie die Familie ihres Bruders verlassen, in der sie sich herzlich wohl gefühlt, geliebt von Eltern und Kindern, in fröhlicher Thätigkeit. Warum stach es ihr nun ins Herz, daß sie dahin zurück sollte? Es war eine sinnlose Stimmung, die sie beherrschte, und doch eine bezwingende, die sich nicht abschütteln ließ.

Eine Grasmücke ließ auf einem überhängenden Zweige dicht neben ihr einen langen, jauchzenden 101 Triller vernehmen, brach dann schnell ab und schlüpfte in ihr nahes Nest in dem Dickicht des Epheus, der die Wand bei der Veranda umkleidete.

Auf einmal kam ihr's wie eine Offenbarung. Nest! Heimath! Ja, sie hatte hier eine Heimath gefunden in diesem entzückenden Erdenwinkel zwischen Gebirge und Ebene. Der jubelnde Frühling draußen schmetterte und leuchtete es ihr entgegen: Hier bist du zu Hause! Hier ist dein Nest! Draußen in der Welt bei dem treuen Bruder ein lieber Gast, ein froher Gast: aber doch ein Gast. Hier hatte sie als Herrin schalten gelernt, nur monatelang, nur in Stellvertretung, aber doch als Herrin. Sie hatte dies kleine Königreich, das die alten Lattenzäune umschlossen, verwaltet, versorgt, gehegt, ernährt, sie hatte es sich handelnd und schaffend zu eigen gewonnen. Jede Blume ihr eigen, die sie begossen, jede Frucht der Bäume, deren Blüthen sie vor Raupen und Ungeziefer bewahrt, ihr eigen; die Tauben, die Hühner, die Ziege im Stall, die weiße Katze, die sich dort so behaglich in der Frühlingssonne reckte, der junge Spitz, der jener eben spielerisch neckend in den Schwanz kniff: alles ihre Schützlinge, ihre Pfleglinge, ihr liebes Eigen. Selbst an den Nachbarskindern, die so oft schüchtern über den Zaun gespäht, ob der bärbeißige alte Herr im Garten sei, vor ihr sich aber nicht einen Augenblick gefürchtet, auch an 102 ihnen hatte sie ihren Antheil, auch sie hatten still in ihrem Herzen sich eingenistet: man putzt nicht umsonst fremden Kindern die Nasen, ordnet ihre Zöpfchen, schenkt ihnen Obst und Kuchen; die klugen kleinen Racker schlichen sich unvermerkt in das fürsorgende Herz ein.

Und so war alles hier Heimath für sie geworden, so Haus als Garten mit allem, was darin war. Und dann dieser wonnige, süßvertraute Ausblick ins Gebirge mit den herrlichen Waldkuppen, auf die Stadt, die liebe, behagliche, warme! Wie schön das alles im Schnee und im Rauhreif, zu wie neuer Schönheit nun wieder aufgeweckt durch diesen goldenen Frühling, der nur Segen und Heiterkeit kennen zu wollen schien!

Der goldene Sonnenschein ruhte wie ein segnender Traum über dem friedenvollen Bilde; nie war diese fein in sich abgeschlossene und dennoch frei hinauslangende Welt so selig schön, so herzbestrickend gewesen. Heimath! Heimath!

Und die Grasmücke fuhr fort zu trillern und zu jubiliren, und die Amseln fielen mit ein und ein paar muntere Buchfinken; und vom Taubenschlage her tönte dazwischen ein stillbehagliches Gurren. Heimath! Heimath!

Um ihre still nachquellenden Thränen zu unterdrücken, trat sie in das Zimmer zurück und that 103 einen Blick auf den Kranken. Er lag noch regungslos schlafend, dem Aussehen nach schon einem Todten gleich, doch laute Athemzüge bezeugten sein Leben. Die alte Magd saß mit ihrem Strickstrumpf in getreuer Wacht.

So leise, wie sie gekommen war, trat Lisa aus dem dumpfen Halbdunkel wieder hinaus in den fluthenden Sonnenschein. Und wieder quoll es wie ein heimliches Jauchzen in ihrem Herzen auf. Die Thränen waren versiegt und vergessen.

Und jetzt ging es ihr durch den Sinn, daß jener frühverstorbene Richard, der Bruder des Präsidenten, in diesem Hause seine Kindheit verlebt hatte. Aber die Thränen kamen ihr nicht mehr. Es schien ihr plötzlich undenkbar, daß er wirklich gestorben sei damals; sie hatte ja niemals den Todten gesehen. Und wenn auch die Leute recht hatten mit ihrer Aussage, für sie lebte er dennoch, sie konnte ihn nicht verlieren. Es war ihr nicht mehr möglich, um ihn zu trauern; um seinetwillen war es ganz hell in ihrem Herzen. Nur daß seine Heimath nicht mehr die ihre sein sollte, daß sie wieder als Gast in die Ferne ziehen mußte, zuckte doch wieder mit dumpfem Weh durch ihre Seele.

Sie sah weit und weiter hinaus in die leuchtende Ferne. Ihr Auge folgte der großen Straße, die, mit blühenden Obstbäumen besetzt, aus der Stadt 104 nach Norden in die Ebene führte, auf die zwei Meilen entfernte Eisenbahnstation zu.

Auf einmal schrak sie zusammen. Sie hatte einen Radfahrer entdeckt, der in fliegender Eile die Straße entlang jagte.

»Das muß er sein,« flüsterte sie. »Das ist er. Der Schnellzug von Hamburg muß eben vorüber sein. Natürlich fährt ihm die Post zu langsam. Aber daß er daran gedacht, dafür gesorgt hat!«

Ein Gefühl der Angst und des Unbehagens überlief sie. Sie empfand etwas wie Widerwillen und Groll gegen den unbekannten Menschen. War er es nicht zuletzt, der sie vertreiben würde aus dieser geliebten Heimath? Er, der Heimathlose, der Heimathflüchtige, der wirre Landfahrer, der nichts wußte von der stillen, warmen Liebe zur Scholle, zum Hause, zum Herde? Ganz hassenswerth erschien er ihr, ohne Sinn und Gefühl. Und jenes zappelnde, unbehagliche, ungesellige, rastlose, seelenlose Rad war so recht das Gefährt, wie er es brauchte, der unstete, von Trotz umgetriebene Geselle. Mit furchtbarer Schnelligkeit kam er näher und näher. Was wollte er hier? Warum hatte keine Ahnung ihm sagen können, daß er doch zu spät kam? Ein nur zu gerechtes Schicksal für ihn, der dem Vater acht Jahre lang rücksichtslos getrotzt hatte, ohne sich im geringsten um seine Verzeihung zu bemühen!

105 Mit beklommenem Herzen verfolgte sie seinen Weg längs der endlosen Blüthenbaumreihen.

Jetzt aber entschwand er ihren Blicken; die Straßen der Stadt hatten ihn aufgenommen.

Sie verließ die Veranda und durchschritt den Garten bis zur äußeren Thür, um den Ankommenden dort abzufangen und ihm über die Sachlage zu berichten. Mit heftig klopfender Brust stand sie an den Zaun gelehnt neben der niedrigen Lattenthür und wartete seiner Ankunft.

Sie versuchte die unbehagliche Aufregung in sich zu beschwichtigen. War sie denn überhaupt sicher, daß er es gewesen war, nicht ein beliebiger anderer Radfahrer? Was lag denn für Nachricht von ihm vor? Ein Telegramm aus England: An dem Tage in Hamburg. Gestern nämlich. Das war alles. Wenn das Schiff nur einige Stunden später in Hamburg eintraf, war der Nachtzug versäumt; und läßt sich die Fahrt eines Seedampfers so auf Stunden berechnen? Das Schiff konnte aber auch verunglückt, ganz untergegangen sein, vielleicht durch einen Zusammenstoß, natürlich mit Mann und Maus –

Lisa erschrak über sich selbst: sie wünschte im tiefen Herzen dieses fürchterliche Unglück – sie wünschte Hunderten von schuldlosen Menschen den Tod, bloß um den einen ihr unliebsamen nicht hier zu sehen. Sie schämte sich ehrlich; doch ihr Bangen 106 wurde nur desto größer: sie konnte ja diesem Menschen, dem sie so heimtückisch nach dem Leben getrachtet, nicht mehr frei ins Auge sehen.

Und plötzlich nun stand er vor ihr, ganz nahe der Gartenpforte, über die er hinwegblickte. Doch sie sah er noch nicht, sein Auge hing wie berauscht an der Blüthenpracht des Gartens, dem Sonnenduft des Waldthals dahinter. Er stand an sein Rad gelehnt, noch keuchend von dem letzten ziemlich steilen Aufstieg; sie sah sein Antlitz deutlich in jedem Zuge.

Und da entfuhr ihr ein Schrei, ein lauter Aufschrei, ein Ruf tiefster, schaudernder Ueberraschung.

Der weckte den Mann aus seinem verlorenen Schauen, und er erblickte das schöne Mädchen, das glühend übergossen und völlig verstört einige Schritte zurückwich und ihm wie einem unbegreiflichen Wunder mit fragenden, bebenden Augen entgegenstarrte.

Und auch er ward ein wenig verwirrt durch ihr seltsames Wesen, für das ihm jede Erklärung fehlte, und freilich auch betroffen durch die helle Lieblichkeit ihrer Erscheinung. Er sah sie wie in einem Rahmen zwischen zwei blühenden Aepfelbäumchen stehen, die ihre zarten Kronen leise gegeneinander neigten, und ihr reiches Blondhaar hob sich mit holdem Glanze von der fernen, dunklen Tannenwand ab. Wie eine Frühlingsgöttin stand sie in all der leuchtenden Herrlichkeit.

107 Und er verharrte in Schweigen, und so versenkten sich ihre staunenden Blicke über den Zaun hinweg immer tiefer ineinander, wie von einem Zauber gebunden. Er wollte nicht reden, und sie konnte nicht reden.

Endlich überwand sie aber doch die Erschütterung, und die bittere Verlegenheit, die sie nun ergriff, ließ sie Worte finden.

»Verzeihen Sie,« begann sie mit starker Anstrengung, »diesen Empfang, diesen wunderlichen. Ich wußte ja, daß Sie heute kommen würden: aber nur nicht so – ich meine in dieser Gestalt – ich dachte Sie mir anders – verzeihen Sie, ich rede Unsinn – ich wollte sagen, Sie haben eine erschreckende Aehnlichkeit mit einem Verstorbenen, einem Manne, den ich gekannt habe – aber mein Gott, ach so, ja, Sie kannten ihn ja auch und viel besser, er ging Sie weit näher an: Ihr Onkel Richard – es war wohl nicht zu lange nach Ihrer – Ihrer Abreise, als er starb. Eine ganz wunderbare Aehnlichkeit: mir war's, als ob ein Todter erstanden wäre; darum war ich so versteinert.«

Ein wehmüthiges Lächeln überzog sein kräftiges, ernstes, gebräuntes Gesicht. Er öffnete die Gartenthür und trat herein, lehnte sein Rad gegen den Zaun und sagte bewegt:

»Davon wußte ich nichts. Doch ich kann mir 108 denken, daß Sie Recht haben, daß ich ihm ähnlich geworden bin, da ich seinen Jahren mich nähere. Und nur um so erfreulicher ist mir dieser Empfang in der Heimath. Mein guter Onkel – hätte er länger gelebt, vielleicht wäre manches doch anders gekommen. Aber sagen Sie vor allem: mein Vater lebt? Ja! Gott sei gepriesen! Ihre Augen sagen es. Und er muß ja leben! Es wäre zu furchtbar – Kann ich ihn sprechen?«

»Er lebt,« sagte sie still, »noch heute. Und Sie werden ihn sehen können. Zur Zeit schläft er, noch einige Stunden, hat der Arzt verheißen. Dann wird er aufwachen und vielleicht – es ist immer doch möglich, daß er Sie noch erkennt.«

»Vielleicht?« rief er in heftiger Erregung. »Nur vielleicht? Steht es schon so um ihn? Aber mein Gott, mein Gott! Er muß mich erkennen!«

»Hoffen dürfen Sie es ja noch,« beruhigte sie ihn, »er hatte bisweilen in den letzten Tagen ganz lichte und freie Stunden. Nur freilich, mich erkennt er schon nicht mehr. Denn ich bin für ihn aus zu neuer Zeit. Er lebt ganz nur noch in vergangenen Tagen. Die letzten Jahre scheinen ganz ausgelöscht in seiner Seele. Er spricht meist genau so, als hätte er diese noch nicht gelebt, als wäre er um so viel jünger.«

»Hat er je von mir gesprochen?« fiel er hastig ein.

109 »Zu mir niemals,« erwiderte sie.

»Und Sie sind –?« fragte er fast schüchtern. »Aber natürlich, ich weiß ja, der Sanitätsrath hat mir von Ihnen geschrieben, Fräulein Lisa Hartig, die gütige Helferin – ich habe Ihnen viel zu danken.«

Er reichte ihr herzlich die Hand, und sie nahm sie, langsam, nicht zögernd, aber wie traumbefangen. Ihre Wangen glühten wieder lebhafter auf.

»Ich muß ihn sehen!« rief er nun dringend. »Wollen Sie mich zu ihm führen?«

»Wenn Sie mir versprechen, seinen Schlaf nicht zu stören, gern,« entgegnete Lisa.

Er antwortete nur durch einen Blick, und sie schritt ihm voran auf die offene Halle. In ihrem weichen, stillen Gange erschien ihm die edle Gestalt wieder wie eine Göttin des Frühlings und der Heimath.

Die Thüre leise öffnend ließ sie ihn in das Krankenzimmer. Sie winkte der Magd sich zu entfernen und blieb selbst draußen.

Wohl eine halbe Stunde lang verweilte so der heimgekehrte Sohn bei dem schlummernden Vater.

Lisa träumte wieder thatlos in die sonnige Landschaft hinaus; doch ihr Blick ging jetzt verschwommen ins Leere, sie war ganz mit sich selbst beschäftigt und rang gewaltsam, ihre Erregung zu bemeistern. Ihre müßigen Finger zuckten und arbeiteten 110 leise immerfort, ihr Busen hob sich in stürmischer Wallung.

Endlich trat der junge Mann wieder zu ihr heraus. Schweigend setzte er sich auf die Gartenbank und barg das Antlitz in beide Hände. Lisa störte ihn durch kein Wort und keine Bewegung. Sie bemühte sich sogar, die heißen Athemzüge zu bändigen und jeden Laut zu unterdrücken.

Nach einigen Minuten richtete er sich straff in die Höhe, trat neben sie an die Brüstung und ließ den Blick in die goldene Weite hinauswandern. Und nun fragte er leise:

»Finden Sie dies auch so überschwenglich schön?«

»Ja,« sagte sie hingerissen, »vor einer Stunde noch vergoß ich bittere Thränen, daß ich nun bald von hier scheiden muß. Mir ist diese Erdstelle zur Heimath geworden.«

»Ja,« sagte er lebhaft, »ich verstehe das wohl. Es liegt ein Hauch über dieser Landschaft wie von ewigem Heimathfrieden und ewigem Heimathglück. Und doch können Sie das schwerlich ganz so empfinden wie ich: denn Sie waren nicht draußen.«

Sie hob den Kopf empor und warf ihm von der Seite her einen scharfen, fast vorwurfsvollen Blick zu. Und sie fragte hastig:

»Warum sind Sie denn hinausgezogen so mit 111 aller Gewalt, wenn es draußen in der Welt nicht einmal schöner war als hier?«

Ein ganz leises Lächeln trat auf seine Lippen. Er bemühte sich, einen neuen Blick von ihr aufzufangen, doch sie hielt die Augen wieder fest, beinahe trotzig gesenkt. Da sagte er langsam, mit stillem Nachdruck:

»Ich mußte hinaus, um es hier schön finden zu können. Ich mußte mir die Heimath erobern – draußen in der Ferne. Ich war hier noch nicht heimisch. Es war hier noch nicht schön damals; es war ein trübseliges, freudloses, schläfriges Land, ohne Ausblick, ohne Ziele, ein Land, wo man dahintrottete auf eingezäunter Straße, immer einer hinter dem anderen in amtlich vorgeschriebenem Tritt, wo keine Kräfte sich regen durften außer nach altem, verstaubtem Herkommen; es war ein Leben in einer verdumpften Höhle ohne Sturm und ohne Sonnenschein, es war ein Maulwurfsleben, ein Leben nach der Uhr, nach der Elle, ein Strickstrumpfleben. Ich mußte erst draußen lernen, wie man auch hier seine Glieder bewegen und fröhlich sich tummeln kann. Denn ich fühlte Kräfte in mir, und die mußten sich regen auf einem Gebiete, wo Raum war, wo die Ellenbogen nicht bei jedem Schritte an Zaunpfähle und Grenzsteine stießen. Jetzt ist das anders; jetzt kümmern mich die Steine und Planken nicht mehr, ich schiebe sie bei Seite.

112 »Das war's, was ich lernen mußte. Mein Vater begriff mich nicht. Wie sollte er auch? Er war aus einer anderen Zeit und von ganz, ganz anderer Art. Mißverstehen Sie mich nicht: ich mache ihm keinen Vorwurf. Eher möchte ich sagen: ich danke ihm für seine Härte, für die Fesseln, in die er mich schmiedete. Denn erst der Widerstand dagegen hat meine Kräfte ganz frei gemacht, hat mich ganz auf mich selbst gestellt. Nur ihm verdanke ich's, daß ich in der weiten Welt wirklich das fand, was ich dort suchte.«

»Haben Sie das denn gefunden?« fragte Lisa in seltsam verwundertem und zweifelndem Tone. »Man hat mir gesagt – man hat mir's anders gesagt.«

Konrad lächelte fast übermüthig.

»Man hat Ihnen gesagt, ich habe kein Amt, keine Stellung, keine Ehren, keinen Titel, keine Orden, sogar kein Geld gefunden – und man hat recht gesagt. Aber eben um allen diesen schönen Dingen zu entgehen, war ich von hier geflüchtet. Denn alle diese Dinge lagen hier am Wege, ich brauchte nur zuzulangen. Ich war ja hier im Lande der Sohn des Präsidenten, dem es nicht fehlen konnte. Doch diese Trauben fand ich sauer, nicht weil sie zu hoch, sondern weil sie mir zu niedrig hingen.

»Das Eine, Beste aber war hier nicht zu erlangen, das ich draußen gefunden habe: das Bewußtsein, ich 113 selbst zu sein, nicht der Sohn meines Vaters, nicht das Geschöpf der Verhältnisse. Ich habe gefunden, was ich suchte, denn ich stehe hier lebend, habe mich durch acht harte Jahre hindurchgeschlagen, ohne zu verhungern und ohne völlig zu entarten. An Gold und Ehre würde ich mehr haben, wäre ich im Lande geblieben; aber dieses Mehr hätte ich nicht von mir selber. Es würde erborgt sein; ich aber wollte erworbenes Eigenthum.«

Lisa schaute unter seiner Rede mit still freudigen, zuletzt beinahe schwärmerischen Blicken zu ihm auf, solange er ins Weite sah. Als aber jetzt sein Auge sie traf, schreckte sie mit heimlichem Erröthen zusammen und fragte, zur Kühle und Strenge sich zwingend:

»Und war dieser Gewinn, so groß er auch sein mag, es wirklich werth, die Liebe, den Segen eines Vaters für immer zu verscherzen?«

Er beugte zusammenzuckend den Kopf.

»Ich habe vor Ihnen geprahlt,« versetzte er tiefernst, »es steht in Wahrheit doch anders mit mir. Durchgeschlagen habe ich mich, ja; aber gelebt habe ich noch nicht. Ich habe mir ein Werkzeug geschmiedet, aber ein Werk noch nicht geschaffen. Und ich weiß jetzt auch, daß ich nie eins schaffen werde außer hier im Lande. In dem Augenblicke, als ich hier zuerst wieder hinunterblickte in unser Thal, ist mir das 114 klar geworden und als –« er stockte für ein Weilchen, fuhr aber dann kräftig fort: »– und als Sie vor mir standen. Sie erschienen mir da wie der Genius der Heimath. Ihr Gesicht hat etwas Wohnliches wie diese Landschaft; verzeihen Sie mir, wenn ich's ausspreche; ich habe mich frei zu reden gewöhnt. Ich wußte auf einmal, was ich bisher nicht gewußt, wonach ich draußen trotz allem vergebens gesucht hatte: nach einer Heimath. Dort verschlang eine Stunde, was die vorige geboren hatte; es gab nichts Stetiges im Denken und Fühlen. Ich vermochte nirgends anzuwachsen, nirgends zu nisten, Behagen zu genießen und zu verbreiten. Ich war in mir selber haltlos, kernlos, heimathlos.

»Nur einen Halt besaß ich, einen festen Punkt, eine Stange, an die ich mich klammerte: den Trotz gegen meinen Vater. Diesem wollte ich beweisen, daß ich im Recht gewesen war mit meiner Flucht und er im Unrecht. Nur als Sieger wollte ich heimkehren und dann gern um Verzeihung bitten; so konnte ich mich demüthigen, als Besiegter nicht. Der Gedanke, daß er sterben könnte vor meinem Siege, kam mir gar nicht in den Sinn, oder wenn er mir kam, warf ich ihn weit von mir. Mein Vater stand mir vor Augen als der allzeit kernhafte, auch körperlich unbeugsame Mann, dem Alter und Krankheit nichts anhaben könnten.

115 »So lebte und beharrte und rang ich mit dem Leben einzig durch diesen Trotz. Und nun ist doch wieder alles anders gekommen, als ich es mir gedacht hatte. Die Nachricht von seiner tödtlichen Erkrankung traf mich mit erschütternder Wucht. Ich wußte mit einem Schlage, daß ich verloren war, wenn er mir nicht verzieh und mich nicht segnete. Ich wußte, daß mein Weiterleben ganz davon abhing. Und ich warf alles hinter mich und trat, ohne einen Tag zu zaudern, die Heimfahrt an. Ich war voll Hoffnung, denn der Arzt gab ihm mit Bestimmtheit noch Monate zu leben. Monate brauchte ich auch freilich zu der Heimreise aus den Wildnissen Hinterindiens.

»Nun stehe ich hier und sehe mich zwischen Hoffnung und Verzagen geworfen. Das eine aber weiß ich jetzt mit noch qualvollerer Gewißheit: kann er mich nicht mehr segnen oder will er es nicht, so muß ich wieder hinaus in die Welt als ein umirrender Mann, und mein Halt ist mir genommen, mein seelenbelebender Trotz. Ich werde zu Grunde gehen als ein unnützer Mensch, unnütz anderen und mir selbst. Der Fluch muß mich erdrücken.

»Hier aber in der Heimath werde ich keinen Tag mehr verweilen können. Hier ist der Fluch noch schwerer. Ich würde mir wie ein Gebrandmarkter vorkommen, ich würde die Augen nicht aufzuheben wagen, nicht nur zu keinem Menschen, auch nicht zu 116 Ihnen, sondern nicht einmal zu dem holdseligen Landschaftsbilde hier vor uns. Ich schauderte vor dem Gedanken, hier im Hause und im Lande bleiben zu sollen unter dem Fluche meines Vaters.«

Mit ängstlicher Theilnahme war Lisa seinen leidenschaftlichen Worten gefolgt; und jetzt fiel sie lebhaft ein:

»Aber können Sie den Zufall so zum Herrn Ihres Geschickes machen? Es hängt doch nur vom Zufall ab, ob er noch einmal zum vollen Geistesleben erwacht und Sie erkennt und zu Ihnen redet, oder ob er in Dumpfheit hinüberschläft. Und ich will es gleich aussprechen: nach seinem Verhalten in den letzten Tagen und nach der Aussage des Arztes ist es nicht wahrscheinlich, daß er in klarer Besinnung zu Ihnen reden wird. Würde er vielleicht doch auch als Gesunder Sie kaum erkennen, Sie müssen sich sehr stark verändert haben in diesen Jahren, nach den alten Bildern zu urtheilen – nein, auf diesen Zufall dürfen Sie Ihr Schicksal nicht gründen wollen.«

»Gründe ich denn mein Schicksal?« entgegnete er düster. »Es gründet mich; oder richtiger, wie ich nun sehe, es stürzt über mir zusammen.«

»Ist's denn nicht genug, wenn Sie sich sagen können: er würde verzeihen und segnen, wenn er Sie erkennte?« fragte sie ängstlich dringend.

»Nein,« sagte Konrad scharf, »das ist nicht 117 genug. Denn ich kann mir das nicht sagen. Ich glaube es nicht einmal. Wer in acht langen Jahren kein Wort fand, auch nur eines gemilderten Zornes, auch nur eines kühleren Sinnes, von dem darf man eine so plötzliche Wandlung nicht annehmen, es sei denn, daß er selbst sie mit vollen Worten bezeugt. Meine einzige Hoffnung bleibt das Wunder, daß er mich doch noch erkennt. Denn dann getraue ich mir wohl, ihn zum Segnen zu zwingen.«

»Und wenn das geschieht?« fragte Lisa mit gesenkten Blicken, »– es ist ja nicht unmöglich – dann bleiben Sie im Lande und werden die Enge unseres Lebens hier ertragen?«

»Ja,« sagte er freudig, »denn sie wird mich ertragen lernen, und es wird keine Enge mehr sein. In der Heimath und für die Heimath wollte ich fortan schaffen; und ich weiß, auch mein Schaffen würde gesegnet sein. Ein klein wenig darf ich wohl jetzt wieder prahlen und von mir bekennen: umsonst habe ich nicht draußen gelebt und gearbeitet. Ich habe meine Augen geschärft für hundert Dinge, die uns hier fehlen, und die wir doch haben könnten mit mäßigem Verstand und geringem Bemühen. Die flüchtigen Blicke, die ich heute hier in Stadt und Land um mich werfen konnte, haben mich schon mancherlei gelehrt, wo ich Hand anlegen kann zu unserer Mitbürger und meinem eigenen Gedeihen. 118 Das Geld liegt hier auf der Straße so gut wie irgendwo, und nicht nur das Geld, sondern auch Behagen und Lebensfreude. Warum führt von hier noch keine Eisenbahn ins offene Land, warum keine übers Gebirge? Das ist ein Beispiel von sehr vielen. Ohne Zweifel ganz allein, weil der eine Mann gefehlt hat, der sich ganz dafür einsetzt und die Masse mit sich fortreißt. Das habe ich drüben gelernt, daß rücksichtsloses Wollen jeden Widerstand besiegt. – O, ich wollte mich hier heimisch machen mit ganzer Seele, wenn es mir vergönnt wäre! Eine Stunde hat genügt, mir die Welt zu entfremden und mein Herz hier fest einzuwurzeln.«

Lisa blickte scheu von der Seite zu ihm auf und doch mit einem heimlichen Ausdruck stiller Glückseligkeit.

»Wenn ich etwas dazu thun könnte, Ihnen den Segen zu verschaffen, ich thäte es gern«, sagte sie herzlich.

Er warf einen leuchtenden Blick auf ihr holdes Antlitz.

»Sie haben schon genug gethan«, sagte er ernst, »Sie haben Ihr reiches Theil an dieser Entdeckung meines tiefsten Selbst. Auch aus Ihrem Auge strahlte mir die Heimath, Sie standen vor mir wie ein lebendiger Gruß aus der sonnigen Kinderzeit. Mir ist's unmöglich zu denken, daß sie mir je eine 119 Fremde waren, je wieder fremd sein könnten. Verzeihen Sie eine so schnelle Offenheit: in solcher Stunde, wie ich sie durchlebte und zu durchleben habe, ergreift man die Dinge zehnmal rascher und entschiedener als sonst in Liebe und Haß, und man trägt das Herz gern freier auf der Zunge –«

Die Thür des Zimmers öffnete sich plötzlich, und die Magd trat eilig heraus. »Der Herr ist im Erwachen. Er fängt laut an zu reden«, meldete sie aufgeregt.

Konrad und Lisa wechselten einen stummen Blick und reichten sich die Hände. Beider Hände zitterten heftig, und ihre Gesichter waren tief erblaßt.

Sie traten miteinander leise in das Zimmer. Die Magd blieb nun draußen.

Lisa näherte sich zuerst dem Bette des Kranken. Dieser sah sie an und über sie hinweg mit einem fremden, ganz gleichgültigen Blicke wie über eine gewohnte, aber ihm nichts bedeutende Erscheinung. Sie richtete ein freundlich fragendes Wort an ihn, doch er kümmerte sich auch darum nicht, sondern redete verloren halblaut vor sich hin. Trotzdem fügte sie mit fester Stimme hinzu:

»Ich habe hier jemanden mitgebracht, der Sie gern sprechen möchte. Vielleicht daß Sie ihn erkennen, sonst will ich Ihnen sagen, wer es ist, und Sie werden sich freuen.«

120 Sie lüftete den Vorhang der Glasthür ein wenig, daß etwas mehr Licht hereindrang. Konrad trat nahe an das Bett und machte eine Bewegung, sich auf die Kniee zu stürzen. Der Kranke aber blickte nach ihm hin, und alsbald durchleuchtete sein müdes Auge ein warmer, lebendiger Strahl. Doch verrieth er keinerlei Ueberraschung; mit gelassener Freundlichkeit streckte er die Hand aus, als ob er einen längst Erwarteten oder täglich Gewohnten begrüßte, und sagte ruhig:

»Das ist recht, lieber Richard, daß Du heute kommst. Ich habe gerade jetzt etwas mit Dir zu reden, etwas ganz Wichtiges, weißt Du. Von dem Jungen, dem Konrad nämlich. Wir haben lange nicht über ihn gesprochen –«

Der junge Mann zuckte jählings zusammen, er schwankte zitternd und suchte nach einem Halt; seine Blässe ward noch tiefer. Da trat Lisa zu ihm und flüsterte ihm zu:

»Er hält Sie für seinen Bruder. Er hat dessen Tod vergessen. Schweigen Sie einstweilen, und hören Sie ihn an. Vielleicht, daß sich später eine Möglichkeit gibt, ihn über Sie aufzuklären. Setzen Sie sich neben ihn auf den Stuhl; er hat das so am liebsten.«

Er gehorchte und nahm schweigend den Platz neben dem Bette ein. Und der Kranke fuhr fort:

121 »Es lag mir nichts daran, über ihn zu sprechen; ich hatte meine Gründe. Jetzt aber – Du weißt doch, daß meine Tage gezählt sind –? Ja, ja, es ist so, rede mir da nicht drein. Ich bin kein Narr, der sich vor dem Tode fürchtet. Ich habe auf Erden nichts mehr zu versäumen, noch zu suchen. Der Junge aber – ich werde ihn nicht mehr sehen, und das ist auch am besten so. Ich würde einen fremden Menschen an ihm sehen, und er an mir einen von Krankheit entstellten. Und dann, ich würde mit ihm nicht so reden können, wie ich möchte und sollte. Es würde mir wieder so aufsteigen, nicht der Groll, o nein, aber so etwas anderes: man ist doch der Vater und er ein dummer Junge. Dem kann man doch nichts abbitten und ihm nicht Recht geben. Darum ist es so am besten, wir sehen uns nicht mehr. Er ist doch bei mir und ich bei ihm.

»Aber mit Dir, lieber Richard, muß ich sprechen. Höre mir zu. Daß der Schlingel mir durchgebrannt ist, in Ungehorsam und Trotz, bei Nacht und Nebel, ist nun nicht zu ändern. Aber nun sollst Du etwas hören, was Du von mir nicht erwartet hast: der Junge hat recht gethan. Er ist tapfer seiner Natur gefolgt: Klügeres kann kein Mensch im Leben thun. Er war ein Knabe und hat gehandelt wie ein Mann.

»Ich wollte, ich hätte in meiner Jugend das 122 Gleiche gethan. Gewollt habe ich wohl einmal Aehnliches; doch mein Wille war nicht hart genug oder die Verhältnisse zu stark: wir lebten ja damals in einer viel strengeren Welt. Ich blieb im Lande und nährte mich redlich nach der Weise meiner Väter. Es kam mir hart an in der ersten Zeit. Diese Welt war so eng und so rostig und abgelebt.

»Aber ich gewöhnte mich doch ein; und wie es zu gehen pflegt: wenn wir alt werden und bequem in Gedanken und Gefühlen, dann blicken wir wohl auf die Träume unserer Jugend mit feindseligem Hohn und verstocken uns in dem Hochmuth, wir seien weiser als die Jungen und hätten das bessere Theil erwählt. Und so habe ich mich verstockt gegen die Träume meines Schlingels; gerade weil sie meinen eigenen so gleich waren, nur um desto mehr. Was ich überwunden hatte, sollte er auch überwinden.

»Er aber war stärker und klüger als ich und ließ mich sitzen in meinem ohnmächtigen Trotz. Und er selbst war auch meines Trotzes Sohn; und so standen wir gegeneinander in verbissener Feindschaft Jahr für Jahr. Du suchtest wohl Anfangs zu vermitteln, lieber Richard, doch wir waren beide noch nicht reif zur Versöhnung.

»Wenn es aber ans Sterben geht, sehen sich manche Dinge auf einmal ganz anders an als zuvor. – Aber ich bitte Dich ernstlich, Bruder, laß dies 123 läppische Schluchzen! Es schickt sich nicht für Männer. – Also, wenn der Junge zurückkommt, darfst Du ihm das eine sagen, daß ich ihm vergeben habe. Das wird ihm immerhin lieb sein. Aber das andere sagst Du ihm besser nicht, daß er sehr klug gethan hat mit seinem dummen Streich: das könnte ihn hochmüthig machen; und es ist doch immer pietätlos für einen Sohn, sich klüger zu wissen als sein Vater! Lassen wir ihn also in dem Glauben, er habe eine Dummheit gemacht; eine nur gerade noch am letzten Ende verzeihliche Dummheit.

»So, das war die Hauptsache, was ich Dir sagen wollte. Das andere nur nebenher. Sieh mal: ich habe ihn enterbt; und ich mag das Testament jetzt nicht mehr umstoßen. Die Minuten sind mir zu kostbar für solchen Quark. Reichthümer sind es ja nicht, die ich ihm entziehe: nur dies Haus und diesen Garten. Er wird das nicht weiter vermissen: er schätzte ja nur den selbsterworbenen Besitz und hielt von Haus und Heimath nicht viel.

»Aber mir ist's doch leid, daß es in fremde Hand kommen soll. Und nun ist das Merkwürdige, daß ich vergessen habe, wem ich es vermachte. Ganz vergessen.

»Nein, doch nicht ganz. Eben dämmert mir etwas. Ein Mädchen muß es gewesen sein.

»Ja, ganz recht, ein Mädchen, das mich vor 124 Jahren in meiner Krankheit gepflegt hat, aufopfernd gepflegt hat: nein mehr als das, mit hingebender Liebe. Ich habe so etwas nicht für möglich gehalten nach dem Tode meiner Frau. Du weißt, was ich von meiner Frau gehalten habe; es hat in der Welt nie eine bessere und schönere gegeben. Einzig dies Mädchen: vielleicht war die noch um eine Kleinigkeit lieber und schöner, ganz ehrlich gesprochen; sie hatte so etwas an sich von Frühlingssonne und von Heimathfrieden. Ich mußte ihr deshalb zumeist die rauhe Seite zeigen, daß sie nicht merkte, wie holdselig sie war, denn das taugt nicht für so junge Dinger. Jugend muß man kurz halten.

»Das Merkwürdige ist: ich weiß nicht, wo sie hergekommen war, und auch nicht, wo sie geblieben ist. Ich kenne sogar den Namen nicht mehr: aber den muß das Testament ja ans Licht bringen.

»Sieh mal, Richard, und da habe ich mir nun gedacht: vielleicht gefällt sie Dir und Du heirathest sie am Ende. Du mußt sie ja kennen lernen. Da bleibt das Haus der Familie erhalten; und sollte der dumme Junge einmal müde aus der Welt nach Hause kommen, da ist doch das alte Nest auch für ihn noch offen, und er lernt vielleicht wieder empfinden, was das Wort Heimath bedeutet. Ueberlege Dir die Sache, Brüderchen. Du bist alt genug zum Heirathen und verständig genug auch. Zureden will ich Dir 125 nicht. Aber das wird auch gar nicht nöthig sein, wenn Du sie erst gesehen hast. Und ich hab' eine Ahnung, daß Du ihr auch gefallen wirst. Es gibt so Sympathien; ihr seid so von einem Kaliber. Und der Konrad wäre der dritte dazu. Bloß eines weiß ich nicht: ob sie überhaupt noch lebt. Aber jung war sie und lebenslustig und gesund und mag ja also wohl noch leben. Und dann wäre es ganz hübsch, wenn sie gleich mit in der Familie bliebe.

»Jetzt bin ich zu Ende. Mit dem Reden zu Ende. Es fängt an mir schwer zu werden. – Und mit dem Leben dann auch wohl zu Ende. Ich bin bereit. Nur eins bedauere ich, daß es noch Winter ist. Ich hätte den Frühling gern noch einmal gesehen. Es ist nirgends in der Welt so schön, wie aus diesem Fenster und von unserer Halle. Es ist traurig, in diesen ewig dunklen Tagen zu sterben.«

Konrad wechselte einen Blick mit Lisa. Er stand auf, ging zu ihr und fragte flüsternd:

»Muß er heute sterben? Gibt es keine Möglichkeit, ihn länger zu erhalten?«

»Der Sanitätsrath hat mit aller Bestimmtheit sein Ableben für heute vorausgesagt«, antwortete sie still weinend. ›Er kann diese Sonne nicht mehr untergehen sehen‹, so waren seine Worte.«

»Dann soll er sie wenigstens einmal noch leuchten sehen«, sagte Konrad und zog die schweren 126 Vorhänge von den Fenstern zurück, daß der Frühlingsschein in aller Fülle hereinquoll. Darauf richteten beide den Kranken sanft so weit in die Höhe, daß er einen Blick auf die zartgrünen Wipfel der Birken und die Tannenwand dahinter gewann.

Mit glückseliger Ueberraschung blickte er in die milde Helle. »O wie schön ist der Frühling hier!« sagte er verständlich. »Wie sie fließen, diese Zweige, wie sie beweglich im Winde spielen! Leben ist Spielen, Fließen, Verfließen. Und die schwarze Wand steht still –«

Jetzt sank seine Stimme und erstarb allmählich ganz. Doch sein Auge schaute noch lebendig geradeaus und schien Freude auszudrücken. Aber dann erloschen auch die Blicke; seine Züge wurden starr; er war verschieden.

Der Sohn drückte ihm still die Augen zu.

Dann ergriff er die Hand des jungen Mädchens, und sie gingen miteinander hinaus in die Halle. Sie standen und blickten schweigend hinab in die lachende Herrlichkeit. Immer ging ein Klingen und Jauchzen durch diese Welt, als könne es Trauer und Sorge in ihr nicht geben. Wie in leuchtendem Festkleide stand jeder Baum und Strauch. Jede Blüthe, jedes Blättchen schienen zu glänzen von eigner Glückseligkeit.

»O wie schön ist der Frühling hier!« 127 wiederholte Konrad. »Hier in der Heimath! Und lassen Sie heute mich hoffen, daß diese mir bleiben könne. Weiter darf ich nichts sagen Angesichts unseres Todten. Aber Hoffnung darf auch der Trauer zur Seite gehen.«

Er hielt ihre Hand fest, und sie entzog sie ihm nicht.

 


 


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