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Skizze
Bob, der Groom, hatte zwar nie in seinem jungen Dasein gute Tage gesehen, aber seitdem er im Dienst des Herrn Doktor Lothar Franke stand, des bekannten Physiologen, der seinerzeit in England die große Bewegung gegen die Vivisektion hervorgerufen hatte, führte er ein wahres Hundeleben.
Der Hausherr persönlich benutzte den Groom ja nur als Laufburschen, Gepäckträger, Türaufmacher, Adressenschreiber und Stiefelputzer, als ständige Rohrpost zwischen der Druckerei und seiner Studierstube und als Sprachrohr von der Redaktion nach Hause, und dafür war Bob mit sechs Mark pro Monat, freier Wohnung, Bekleidung, Beköstigung und Beheizung gewiß reichlich bezahlt. Was jedoch Bobs Dienstverhältnis im Frankeschen Hause geradezu unerträglich machte, das war das Vorhandensein mehrerer höchst intriganter Nebenregierungen. Da war es zunächst die dicke Köchin, die selbst so krankhaft ungern sich Bewegung machte, der es aber durchaus keine Gewissensbisse verursachte, den Groom fünf-, sechsmal hintereinander zur Markthalle oder in die Butterhandlung zu jagen, immer wieder, immer wieder, um der demütigendsten Kleinigkeiten halber, – dann das Stubenmädchen, das ihm den diskreten Auftrag erteilte, schleunigst die vergessenen Hemdkragen des Herrn Doktor zur Plättanstalt zu tragen und mit der atemlosen Lüge heimzustürzen: es habe im Wäschekeller geraucht und die Ablieferung verzögere sich daher leider um ein paar Tage. Sogar der Redaktionssekretär von Frankes Fachzeitschrift: »Das Tier« verwandte ihn auf dem Zweirad als reitenden Feldjäger für seine Rosapapier-Korrespondenz mit Fräulein Flora, und zugleich als Privatdetektiv mit den abenteuerlichsten und zeitraubendsten Aufträgen zur heimlichen Beobachtung eben dieser jungen Dame.
Tyrannei oben und unten, bei Tag und Nacht.
Am empfindlichsten aber litt Bob unter der Behandlung, die er von Frau Mary selbst erfuhr.
Frau Mary war sehr jung, sehr blond, sehr reich, sehr schön, jedoch gleichzeitig – Bob als guter Deutscher fühlte das instinktiv heraus – sehr englisch.
Letzteres hatte sich schon damals recht charakteristisch geäußert, als sie Herrn Doktor Franke ihren Heiratsantrag machte.
Jawohl, sie hatte ihn gemacht; ganz einfach auf ein Quartbillett mit ihren großen, steifen, lieblosen, arroganten Buchstaben geschrieben:
»Dear Mr. Franke, Ich habe sie gehören gesprochen gestern in das Seance. Ich bin mit alles einverstanden. Man soll nicht essen tierischen Leichenteilen und nicht quälen und secieren lebende Hünde und anderen Tieren für den Spaß oder der Wissenschaft. Kommen sie zu Mir, Ich will sie lernen kennen, sie gefallen Mir sehr, o sehr.
Mary Antenbringue.«
Anderntags war unser dear Mr. Franke unwiderruflich verlobt und drei Wochen darauf verheiratet. Selbstverständlich kam er unter den Pantoffel. Und Mary, die geborene Antenbringue, lebte – wie die meisten Engländerinnen – nicht auf kleinem Fuße.
Lothar Franke hätte die Tyrannei seiner jungen Frau allenfalls noch willig ertragen, – denn seltsamerweise liebte er diese kühle Blonde – aber auch er litt, ähnlich wie Bob, der Groom, Folterqualen unter einer noch tyrannischeren Nebenregierung.
Den Oberbefehl im Hause führte nämlich im Grunde kein andrer als Berry.
Wer Berry war, brauche ich wohl nicht erst umständlich auseinanderzusetzen. Berry hieß eigentlich » the prince«, leitete seinen Stammbaum auf die einzige, verbürgt rein erhaltene Adelslinie der König Karls-Rasse zurück und war schon auf vier internationalen Hundeausstellungen preisgekrönt worden.
Doktor Franke war nicht nur mit der schönen blonden Mary verlobt und verheiratet, sondern auch mit Berry, dem preisgekrönten König Karls-Hündchen der geb. Antenbringue. » The prince« machte die Hochzeitsreise mit, sein Wohlergehen lag der jungen Mistreß mehr am Herzen als das des unglücklichen dear Franke, kurz, dieser freche, verwöhnte, faule, schlappohrige Hundelümmel mit dem hämischen Affengesicht und den scheinheiligen braunen Augen brutalisierte das Haus und die Ehe des berühmten Mannes in verdammenswertester Weise.
Bob haßte ihn, aber nach Sklavenart trug er seinen Groll versteckt im Busen. Er hatte nur die eine Genugtuung, daß auch der Redaktionssekretär und die Köchin, das Stubenmädchen und sogar sein leiblicher Brotherr gegen die Uebermacht dieses infamen Köters nichts auszurichten vermochten. Die eigentlichen Triebfedern des Hasses, der sich in dem verdorbenen Gemüte des Grooms entwickelte, waren zunächst in dem Parvenutum des Proletarierkindes dem Abkömmling eines erlauchten Geschlechts gegenüber zu suchen, dann aber auch in einem ganz plumpen, ordinären Brotneid.
» The prince« bekam nämlich seine Mahlzeiten von Frau Marys schöngepflegter weißer Hand dargereicht – und es waren nicht die schlechtesten Bissen –, er erhielt die beste körperliche Pflege, trug eine schmucke rote Decke mit goldgesticktem Monogramm und schlief auf der Chaiselongue in Frau Marys molligem Boudoir. Bob dagegen mußte abends auf den kalten, zugigen Hängeboden kriechen; die Livree, die ihm geliefert ward, bestand aus einem die Lachlust des ganzen Stadtviertels erregenden langschößigen, von oben bis unten zugeknöpften Wertherrock, und das Essen, das ihm die Köchin zukommen ließ, war durchaus nicht mit Liebe gekocht. Es kam hinzu, daß Bob überhaupt nicht unter die überzeugten Anhänger des Vegetarismus zu rechnen war.
Bob hätte dieses Köters wegen, den er als den Urquell aller Trübsal in seinem jungen Dasein ansehen mußte, schon längst seinen Dienst bei Doktor Franke gekündigt, wenn nicht der fürstliche Lohn, den er bezog, ihn immer wieder gehalten hätte; denn in seiner vorigen Stellung hatte er in bar gar nichts erhalten, dafür lediglich Familienanschluß, woraus er sich aber bei den ganz eignen Auffassungen seines Brotherrn von Familiarität nicht allzuviel machte.
Neulich war er Frau Marys König Karls-Hündchen auf die linke Hinterpfote getreten – unabsichtlich, wahrhaftigen Gott –, und seit der Zeit ging es Bob besonders miserabel. Das scheinheilige Beest rekelte sich den lieben langen Tag aus dem seidenen Kissen im Boudoir der Hausfrau herum und ließ sich von aller Welt bedauern, hätscheln und verwöhnen. Kam Bob ins Zimmer, so warf ihm der Köter einen gehässigen Blick zu, bellte wohl auch, was er sonst nur selten tat, und dann sagte Frau Mary:
»Siehst du, du bist eine schlechte Mensch, Bob. Wer Tieren quält, der ist auch fähig zu eine jede andre Verbrechen.«
Und es ist wahr, es gab eine Stelle in Bobs Brust, an der das Wort Berry nichts als einen hohlen Klang hervorrief. Er war kalt und gefühllos geworden, und er fand sich innerlich sogar damit ab, daß ihn die schöne Frau Mary für einen Zuchthauskandidaten hielt. So brachte ihn der Haß auf Marys » the prince« von Stufe zu Stufe abwärts.
Nun fand Ende Februar das große Fest der Physiologischen Vereinigung statt, und Bob sollte zur Strafe für all seine Bosheiten und Vernachlässigungen als einziger zu Hause bleiben. Die Köchin und das Stubenmädchen hatten von Frau Mary Galeriebillette bekommen, um dem vegetarischen Bankett und dem Ball zuzusehen und die Vorträge der Hundezuchtvereinskünstler auf der Bühne zu hören. Frau Mary erhoffte davon einen veredelnden Einfluß, besonders auf das durch Taubenhinschlachten und Krebsesieden auf früheren Dienststellen verrohte Gemüt der Köchin.
Bob war stumpf genug, keinen Neid im Herzen zu hegen, trotzdem ihm bekannt war, daß der »Prolog«, den Doktor Franke auf der Bühne sprechen würde, aus dessen leiblicher hoher Feder stammte. Doktor Franke hatte den ehrenvollen Auftrag zu dieser Dichtung auf den ausdrücklichen Wunsch seiner Gattin übernommen, und da er kein gelernter Dichter war, schien ihm die Sache schwer genug gefallen zu sein. Uebrigens konnte Bob den Prolog selbst schon fast auswendig, denn an die zwanzigmal hatte er die verzwickte Dichtung seinem Brotherrn, der furchtbares Lampenfieber hatte, heimlich abhören müssen – auf den abgelegensten Orten –, bloß damit Frau Mary, die ihren Gatten noch immer, trotz vierjähriger Ehe, für ein Genie hielt, nichts davon merkte.
Natürlich gab Frau Mary dem Groom die ernstesten Verhaltungsmaßregeln, bevor sie sich von Berry trennte und » the prince« der Obhut Bobs anvertraute. Bob stand mit einem ironischen Lächeln da, das zu seiner Stumpfnase und den an sich gutmütigen braunen Augen nicht recht paßte. Er schnitt die Grimasse bloß, um Berry, der sich wieder faul, arrogant und hämisch auf der Chaiselongue wälzte, zu ärgern.
Dann ward's still in der Wohnung. Bob kam sich doch recht verlassen vor. Wenn er hustete – den abscheulichen Husten hatte er sich neulich nachts geholt, als er Berrys wegen, der sich überfressen hatte, aus dem Bett geklingelt und zum Tierdoktor gejagt worden war –, dann rief das ein schauerliches Echo in den menschenleeren Räumen wach. Er war froh, als endlich die von Frau Mary festgesetzte Stunde da war, die den letzten Dienst für heute von ihm heischte: dem Köter die Abendmilch zu bringen.
Aber da ereilte ihn das Verhängnis.
Kaum hatte Bob das Boudoir von Frau Mary betreten, als auch schon » the prince« ganz unvermittelt mit einem giftigen Gekreisch auf ihn losfuhr und ihn in die Wade biß, oder wenigstens in jene Gegend, in der bei besser genährten Individuen Waden vorhanden zu sein pflegen.
Man wird mir zugeben, daß es unbillig gewesen wäre, in diesem Augenblick noch eine absolut demutsvolle Unterwerfung Bobs unter die besonderen Launen und Neigungen seines langjährigen Peinigers und Widerparts zu verlangen. Gleichwohl übernehme ich Bobs Verteidigung durchaus nicht, wenn ich bloß referierend feststelle, daß er seiner revoltierenden Sklavennatur nun bis zu einer wahren Berserkerwut die Zügel schießen ließ.
Auf dem Korridor lag eine Polstermöbelpeitsche. Bob kannte sie ganz genau. Hinkend, schimpfend, hustend holte er sie und dann ...
Man erlasse mir eine detaillierte Schilderung. Ich würde es andernfalls nicht mehr wagen, Frau Mary in ihre kühlen, blauen, vorwurfsvollen Augen zu sehen.
Nur so viel: Bob vermöbelte das König Karls-Hündchen mit besagter Klopfpeitsche ganz gewaltig, ich möchte sagen mit Begeisterung. Und als » the prince« ein mörderliches Gewinsel und Geschrei anstimmte, das seine Schandtat bei den im Souterrain wohnenden Portiersleuten vielleicht hätte verraten können, packte er Frau Marys verwöhnten Mr. Berry, als ob es ein ganz gewöhnliches Hundevieh gewesen wäre, am Fell zwischen den Ohren und sperrte den viermal preisgekrönten Abkömmling aus der einzigen verbürgt rein erhaltenen Adelslinie der König Karls-Rasse auf den Hängeboden. (!)
Bob hatte in einem wilden Taumel gehandelt. Nun kam eine allgemeine Nervenabspannung über ihn, und er setzte sich in Frau Marys Boudoir hin und heulte, daß ihm die Tränen wie zwei Bächlein über die mageren Wangen liefen. Dazwischen hustete er wieder ganz erschrecklich.
Endlich beruhigte er sich ein wenig, und er fing an, seine Wade mit nassen Lappen zu kühlen. Man sah den Stempel der beiden halbkreisförmigen Zahnreihen ganz deutlich in der Haut. Das fachte von neuem seinen Ingrimm an, und da er im Grunde seines Herzens ein krasser Materialist war, so rächte er sich an Berry noch weiter dadurch, daß er ganz einfach die Milch austrank, die von Frau Mary für » the prince« bestimmt war.
Einmal im Begriff, sich der Völlerei zu ergeben, reifte dann in ihm ein neuer lasterhafter Plan: er wollte endlich auch einmal ein Stündchen im warmen Zimmer schlafen, und der Gedanke, daß Berry so lang statt seiner auf dem Hängeboden kampieren mußte, erfüllte ihn mit besonderer Genugtuung.
Richtig stieß er Berrys großes seidenes Kissen von der Chaiselongue hinunter, wickelte sich in Frau Marys große Pelzdecke ein und streckte sich aus.
So wenig fühlte sich sein Gewissen durch diese stattliche Reihe von Verbrechen und Versündigungen beschwert, daß er's fertig brachte – von der molligen Wärme ermüdet, von der guten Mahlzeit gesättigt –, sofort fest einzunicken.
Aber das Erwachen war böse. Ein entsetzliches Klingeln, Pochen, Rufen und Poltern schreckte ihn plötzlich aus, – und ganz aus der Ferne vernahm er das heisere, keuchende, ersterbende Winseln Berrys.
Er schwitzte am ganzen Leib. Als er sich in der Dunkelheit nach der Küche tappte, begann es ihn dann sehr zu frieren. Die Zähne klapperten ihm auseinander in einer Art Schüttelfrost, als er die Tür zum Hängeboden aufstieß. Berry sprang in gewaltigem Bogen heraus, fauchend und winselnd, und tanzte mit eingezogenem Schwanz um Bob herum. Der Groom machte zitternd Licht, dann lief er wieder, begleitet von Frau Marys Schützling, nach vorn.
Nun hörte er die scharfe Stimme der gnädigen Frau, die seinen und den Namen der beiden Mädchen rief. Dazwischen sprach sie englisch auf Mr. Franke ein, der nur ein gedämpftes Brummen von sich gab.
Bob öffnete.
Also – man hatte die Entreeschlinge vergessen. Aber das war nicht die einzige Unannehmlichkeit bei dieser Heimkehr: weder die Köchin noch das Stubenmädchen war daheim! Sie hatten sich den Prolog ihres Brotgebers wohl überhaupt nicht angehört, denn nähere Nachforschungen in den beiden Kammern ließen den wohlbegründeten Verdacht aufkommen, daß diese beiden entmenschten Wesen auf einem Maskenball weilten!
Das wahrhaft rührende Wiedersehen zwischen Frau Mary und » the prince« bildete den einzigen Lichtpunkt in dieser nächtlichen Szene, die Bob nie in seinem Leben so ganz zu begreifen vermochte; denn vor allem wollte es ihm nicht einleuchten, weshalb der sonst so ernste Mr. Franke, der mit schief aufgesetztem Zylinder an der Wand lehnte, fortgesetzt so matt und wehmütig lächelte.
Bob war verschlafen und gab verkehrte Antworten; Mr. Franke lachte darüber hell auf, während Frau Mary, sichtlich erbost, ihn mit Verachtung strafte und ihn schließlich, ganz außer sich, wegschickte.
Auf seinem Hängeboden angelangt, konnte Bob aber keinen Schlaf mehr finden. Es war hier oben so eisig kalt – der Wind blies durch alle Fugen und Ritzen – und ihn marterte die bange Vorstellung, Betty, dieses heimtückische Hundevieh, würde klatschen. Wie der Köter das bewerkstelligen sollte, war ihm ja selbst ein Rätsel, aber im halbwachen Zustand ängstigte ihn fortgesetzt der Gedanke, Frau Mary würde plötzlich, Rechenschaft fordernd, an seinem Lager erscheinen. War es Schicklichkeitsgefühl oder Frostempfindung – Bob stand plötzlich auf, um sich die Hosen anzuziehen.
Der nächste Tag war einer von jenen, von denen man sagt: sie gefallen uns nicht. Die beiden Mädchen erhielten ihre Kündigung, Frau Mary bekam ihre Migräne, der Herr Doktor meldete sich magenkrank und machte Kompressen, und Bob ward erbarmungslos hin und her gehetzt.
Die rastlose Tätigkeit war ihm heute im Grunde ganz sympathisch – machte sie doch das nächtliche Abenteuer mit Berry in seiner Erinnerung verblassen.
Gegen Abend aber umdüsterte sich der Horizont von neuem. Frau Mary ließ ihn ins Studierzimmer des Herrn rufen und nahm ihn in ein scharfes Verhör.
Hustend stand er Rede, ganz blaß geworden, weil er jeden Augenblick fürchtete, sich zu verraten.
Ob er Berry zu nahe gekommen sei?
Hetzklopfend log Bob: nicht angerührt habe er den Köter.
Ob er ihn auch nicht etwa geküßt habe? forschte Frau Mary weiter.
Geküßt? – Auch Dr. Franke blickte etwas verwirrt auf.
Aber Frau Mary fuhr fort: »O – ich uill dir sagen, Lothar, er hat ihn angesteckt mit seinem Husten! Mit Fleiß!«
Der Tierarzt lachte Frau Mary schlankweg aus, als sie ihm gegenüber diese Ansicht aussprach. Aber für ernst, für sehr ernst hielt er die Erkrankung Berrys allerdings.
Und er behielt recht mit seiner Diagnose, denn noch in derselben Nacht segnete Berry das Zeitliche.
Der Jammer von Frau Mary, die nicht vom Lager ihres Lieblings wich, war ergreifend, so herzbewegend, daß auch Bob von Reue erfaßt ward.
Hätte er nicht gefürchtet, auf der Stelle massakriert zu werden, er würde seinen Brotgebern am Ende alles gestanden haben. Denn in seiner tiefen Zerknirschung suchte er vor sich selbst keine Ausflucht mehr; er war überzeugt davon, daß er, kein andrer, an Berrys Tod schuld war. Und nicht etwa eine fahrlässige oder absichtliche Ansteckung lag vor, wie Frau Mary vermutete, nein, er war der Mörder des Hundes!
Berrys Mörder!
Bob vermochte in der folgenden Nacht kein Auge zuzutun. Immerzu ängstigte ihn der Schatten von Frau Marys dahingeschiedenem König Karls-Hündchen.
Ganz erklärlich, » the prince« war verwöhnt gewesen, sehr verwöhnt, – die brutale Einsperrung auf dem frostigen, schlecht versehenen Hängeboden hatte seine zarte Konstitution nicht vertragen können – es kam hinzu, daß er am gestrigen Abend ungenügend ernährt gewesen war, was ihn besonders widerstandsunfähig gemacht hatte ...
In dieser Nacht steigerte sich Bobs leidenschaftliches Angstgefühl bis zum Fieber. Er phantasierte, hustete, weinte – und morgens vermochte er die Glieder nicht zu rühren, trotzdem die Köchin, der er Feuer im Herd machen sollte, ihm verschiedentlich androhte, sie werde ihm einen Kübel eiskaltes Wasser über den Kopf schütten.
Da Bob heut morgen einen Brummschädel sein eigen nannte, in dem das Gehirn fieberte, als ob es über zwei glühenden Feuerkesseln, den beiden schweren, großen, hitzigen Augen, gekocht würde, so vermochte ihm der Gedanke an einen derartigen Liebesdienst der Köchin nur ein dankbares Lächeln abzuringen. Die Klopfpeitsche, deren Anwendung man ihm späterhin in Aussicht stellte, schreckte den verstockten Bob vollends nicht.
Auf den Bericht des Stubenmädchens, das seit dem Maskenball etwas weicher gegen Bob gestimmt war, verfügte Frau Mary endlich gegen Mittag, daß Bob für heute liegen bleiben dürfe, verlangte dafür aber von seiner dankbaren Erkenntlichkeit, daß er endlich das ganz infame, alle Wände durchdringende Husten aufgeben solle, das er doch nur simuliere, um aus seinem Drohnendasein nicht gewaltsam aufgerüttelt zu werden.
Bob jedoch war undankbar und benahm sich höchst unzart in der Häufigkeit und Aufdringlichkeit seiner Hustenanfälle. Frau Mary, deren Nerven unter den mit dem Hintritt Berrys verknüpften Erschütterungen stark gelitten hatten, konnte das widerliche Gehabe des tückischen kleinen Burschen schließlich nicht mehr mit anhören, und so ersuchte sie ihren Gatten denn (mit dem sie seit dem mißglückten Prolog und dem höchst bedenklichen »Mutantrinken« auf sehr förmlichem Fuße verkehrte) höflich aber dringend, für die Ueberführung des taktlosen Grooms nach einem Krankenhause Sorge zu tragen.
So ward Bob also drei Tage nach Berrys Beisetzung mittels einer Droschke abgeholt. Er fühlte sich dadurch sehr geehrt, denn es war das erste Mal in seinem Leben, daß er nicht auf dem Bock, sondern im Fond Platz nehmen durfte. Frau Mary aber fand, daß heutzutage mit solchen Leuten denn doch schon gar zu viel Umstände gemacht würden. Sie beruhigte sich erst, als Doktor Lothar ihr die ebenso feige als unwahre Versicherung gab, daß Bob ja gottlob in der Krankenkasse sei.
Lediglich die Furcht, daß durch eine Rückfrage der Oberin seine Notlüge aufgedeckt werden könnte, veranlaßte den Herrn Doktor hernach, sich im Krankenhaus einzufinden. Von Haus aus zur Gutmütigkeit veranlagt, ließ sich der vielbeschäftigte Herausgeber der Fachzeitschrift »Das Tier« dann auch herab, nach dem Befinden seines bisherigen Grooms zu fragen.
So sah sich Herr Lothar Franke plötzlich in dem großen, hellen, weißgestrichenen, karbolduftenden Saal mit den zweiunddreißig Kinderbetten, in dem so prätentiös gewimmert, gehustet, geplärrt und phantasiert wurde, als ob es auf der ganzen Welt keine wichtigere Beschäftigung gäbe.
Auch Bob benutzte den ihm bewilligten Urlaub zu solch unfruchtbarer und das Gemeinwohl in keiner Weise fördernder Tätigkeit.
Ein junges Mädchen im Ornat erklärte Herrn Franke, daß sie die Nr. 32 für einen sehr wohl erzogenen Knaben halte; vor allem müsse er sehr »tierlieb« sein, denn seit seiner Einlieferung sage er in seinen Fieberphantasien fortgesetzt Bruchstücke eines Gedichts auf, das in naiver Weise für den Schutz der wehrlosen Vierfüßler gegen schlechte Behandlung einträte. Dabei habe der Arzt festgestellt, daß der kleine Patient erst unlängst von einem Hunde gebissen worden sein müsse.
Der Fall interessierte den berühmten Mann. Er ließ sich Bobs Beinwunde zeigen, und höchst überrascht stellte er aus der Zeichnung der Narben fest, daß die Eindrücke von dem festen Gebiß des entschlafenen König Karls-Hündchens herrührten. Auch was der Groom in seinem artigen Kommunalschulton hersagte, während seine Hände fiebernd über die Decke tasteten, war ihm nicht unbekannt: er vernahm einzelne Partien aus seinem eignen Prolog!
Das rührte ihn so, daß er anderntags wiederkam.
Nun war das Fieber zwar ein wenig gesunken, aber der kleine Patient machte doch einen recht erbärmlichen Eindruck. Er erkannte seinen Brotherrn übrigens sofort wieder, und furchtsam faltete er die Hände – zu matt, um etwas zu sagen. Dabei schien er jedoch innerlich mit sich zu ringen, als ob er seinem Besuch ein Geständnis ablegen wolle.
»Der Herr Professor hat verboten, daß Nr. 32 spricht,« hatte die Schwester im Ornat Herrn Franke bei dessen Eintritt gesagt, »denn eine recht garstige neuralgische Komplikation liege vor – dazu der schwere veraltete Lungenkatarrh!« Als Nr. 32 aber fortgesetzt den Namen Berry stammelte und seinen Besuch so hilflos ängstlich anstarrte, konnte sich Marys Gatte doch nicht enthalten, den Groom endlich rund heraus zu fragen, was er mit seinen verworrenen Andeutungen sagen wolle.
»Ach, bitte – ach, bitte, Herr Doktor ... ich – ich – der Berry – Sie sind so freundlich zu mir ...«
»Nun ja, ja, rede doch nur, Bob, du weißt, daß ich's immer gut mit dir gemeint habe. Was ist's denn mit Berry? Weißt du etwa näheres über – – über ...«
»Ich – ich – o Gott, Herr Doktor, ich habe ihn – – habe ihn ... ermordet!«
Die Schwester kam herbei. »Ungezogener Junge, willst du gleich still sein! Warte, wenn der Herr Professor kommt, dann geht dir's schlecht!«
»Verzeihen Sie, Schwester,« stammelte Mr. Franke, »der Junge hat mir da – ein Geständnis – ein ganz seltsames Geständnis ...«
Die Angst vor dem Professor rang in der keuchenden Brust der Nr. 32 mit der heißen Sehnsucht, eine befreiende Beichte abzulegen. Aber die Sinne des Kleinen verwirrten sich wieder. Er stieß nur zusammenhanglos ein paar Worte heraus wie »Hängeboden« – »gebissen« – »so kalt da droben« – »Berry, Berry,« und immer wieder »Berry« – dann erlosch seine Stimme, Knittelverse aus Herrn Frankes Prolog murmelnd.
Sehr erregt verließ der Dichter dieses Prologs das Krankenhaus. »Ich habe ihn ermordet!« Schrecklich quälten Herrn Franke diese letzten Worte, die er von Nr. 32 vernommen. Er sann und grübelte. War das ein wirkliches Geständnis gewesen – oder hatte man's nur mit Fieberphantasien zu tun?
Doktor Franke war in allen Dingen, die das praktische Leben betrafen, höchst unpraktisch. Diesmal streiften seine gelehrten Betrachtungen über den Kausalnexus zwischen Bobs Hundebiß und dem zugigen Hängeboden einerseits und Berrys Erkrankung und Bobs Schuldbewußtsein andrerseits aber doch annähernd die historische Entwicklung des komplizierten Dramas.
Am folgenden Tage inspizierte er nun selbst, in Frau Marys Abwesenheit, den Hängeboden. Und da kam er allerdings zu der Ueberzeugung, daß ein wenn auch nur mehrstündiger Aufenthalt in so gesundheitswidrigem Raum für den verwöhnten Abkömmling einer so hochedlen Rasse geradezu verhängnisvoll hätte werden müssen. Traf also seine Vermutung zu, daß Bob, nach feiger Sklavenart die Macht des Stärkeren durch Anwendung roher Körperkraft ausnutzend, das zart organisierte König Karls-Hündchen in jener verhängnisvollen Nacht auf diesem abscheulichen Hängeboden gefangen gehalten hatte – aus bloßer unedler Wut über einen kleinen Uebergriff Berrys –, so war Bob allerdings mit Fug und Recht der Mörder dieses letzten, viermal preisgekrönten Exemplars der einzigen verbürgt rein erhaltenen Adelslinie der König Karls-Rasse zu nennen!
Franke befand sich in namenloser Aufregung. Er hatte viel unter den Eigenheiten Berrys und den Liebhabereien Marys zu dulden gehabt, aber hier rührte etwas an sein Herz, das über das Persönliche hinaus ging.
Er setzte sich noch an demselben Abend hin und begann eine Artikelserie für seine Zeitschrift über das Thema zu schreiben: »Die Wohnungsfrage unsrer Lieblinge. Ein Mahnruf.«
Das Thema begeisterte ihn so, daß Frau Mary ihn auch den ganzen nächsten Tag nicht zu sehen bekam, denn fast ununterbrochen saß er am Schreibtisch; er gönnte sich kaum Ruhe für den Schlaf und die Mahlzeiten.
In der Dämmerstunde des dritten Tages endlich war das Manuskript fertig, und da er fühlte, daß er sich nach dem entschiedenen Durchfall mit seinem Prolog in den Augen seiner Gattin rehabilitieren müsse, so eilte er spornstreichs in ihr Zimmer, um ihr die ganz in ihrem Geiste gehaltene Artikelserie vorzulesen.
Er traf Mary im Korridor. Sie kam gerade aus dem Krankenhaus, wohin sie die Meldung gerufen hatte, daß Nr. 32 um 6 Uhr 17 Minuten gestorben sei.
»Der Sarg war schon gemacht zu,« faßte die kühle Blonde, die seit einem gewissen Tage in sehr kleidsamer Halbtrauer ging, »so daß ich nicht ihn habe gesehen mehr. Schade! Ueißt du, Lothar, daß seine Augen haben gehabt einen großen Aehnlichkeit mit Berry?«
Doktor Franke atmete tief auf. Einesteils war ihm die weichere Stimmung seiner Gattin sympathisch; erleichterte sie ihm doch das Bekenntnis, daß für Bob niemals Einzahlungen in die Krankenkasse gemacht worden seien und man sich also mit Würde in die Notwendigkeit werde schicken müssen, nun auch noch die Begräbniskosten für Nr. 32 aufzubringen. Andernteils aber regte sich in ihm der fanatische Fachmann, den man in seinen heiligsten Gefühlen verletzt hatte. Mary sollte nicht über das Hinscheiden eines solchen jungen Barbaren betrübt sein. Und so berichtete er ihr denn alles – alles.
Lange blieb Mary stumm hierauf. Als sie den in ihr tobenden Sturm dann endlich niedergekämpft hatte, sagte sie nichts als: »O!« – ein »O«, wie es nur Engländerinnen zu sagen verstehen.
Und darauf las Doktor Lothar Franke ihr seine ganze Artikelserie für die Zeitschrift »Das Tier« vor. Der Ausdruck war klassisch, die Darstellung klar und faßlich, der Mahnruf zum Schlusse wirklich ans Herz rührend.
Auch jetzt hatte Mary kein andres Wort als ihr etwas dunkel gefärbtes: »O!«
Aber wie sie's sagte!
Es war ein Aufschrei ihres Herzens, eine stürmische Anklage gegen Bob – zugleich ein warmes, glückverheißendes Lob für den Autor – und schließlich ein tiefempfundener Nachruf für » the prince«, den viermal preisgekrönten, letzten Abkömmling der einzigen verbürgt rein erhaltenen Adelslinie der König Karls-Rasse, für Berry, der von Mörderhand gefallen war.
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