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I. Ihr Roman

Novellette

Im Orphelinat zu Ardoisière (Seine-Departement) war es den Anstaltsschwestern ein für allemal strengstens von der Oberin untersagt, die Phantasie der ihrer Obhut anvertrauten Waisenkinder durch das Erzählen von Märchen und andern verlogenen Geschichten zu erhitzen. Madame Vincent huldigte der Ansicht, daß nur die ernsteste und rücksichtsloseste Wahrhaftigkeit in der Erziehung imstande sei, diese Unglücklichen Geschöpfe, die so früh auf eignen Füßen stehen lernen mußten, gebührend für die grausame Härte des Lebens vorzubereiten. Sie hatte den »schwarzen Mann«, mit dem die widerspenstigen Kleinen früher in Schach gehalten worden waren, den St. Nikolas, der den artigen Kindern noch unter der Herrschaft ihrer Vorgängerin Aepfel und Nüsse in die Pantöffelchen gezaubert hatte, und auch die Frau Holle, die ehedem in Ardoisière ihr Bett zu schütteln pflegte, offiziell abgeschafft.

Aber die kindliche Phantasie läßt sich nun einmal durch Hausordnungsparagraphen nicht in Schranken halten. Und zu ihrem Kummer, ja Entsetzen mußte es Madame Vincent immer wieder erleben, daß einzelne ihrer Zöglinge den natürlichsten Elementarereignissen, deren Entstehen sie doch schon so oft in lichtvoller Weise erklärt hatte, wie Donner, Wind, Blitz und Hagelschlag, eine Art Personifikation beizulegen sich unterstanden.

Lou Visinard war diejenige, die von allen Insassen des Orphelinats die meisten Prügel bekam für solche Abschweifungen von der Bahn des realen Lebens.

Als vierjähriges Kind schon führte sie im Dunkeln ganze Schlachten auf mit eingebildeten, aber äußerst unheimlichen Gegnern; ohne daß sie je in ihrem Leben eine Puppe oder ein dem ähnliches Spielzeug auch nur von weitem gesehen hätte, erregte sie eines Abends im Schlafsaal Sensation durch ihre Erfindung, das phantastisch verknotete Handtuch, das sie mit ins Bett genommen hatte, wie ein bébé zu hätscheln; und nach dem Begräbnis der armen Fleurette, die an den Masern gestorben war, Bett an Bett mit dem ihren, hielt sie noch viele Nächte hindurch, sobald alles schlief, lange, süße, zärtliche Gespräche über den Himmel und die Engel mit der einzigen kleinen Freundin und Vertrauten, die sie auf der Gotteswelt gehabt hatte – und die sie nun um Mitternacht immer besuchte, wie sie den andern geheimnisvoll mitteilte. Sie war es auch, die das neue Spiel erfand, im Schlafsaal allerlei dramatische Szenen aus der biblischen Geschichte darzustellen, wobei die graublauen Kinderschürzen oft in der abenteuerlichsten Weise als Prunkmäntel oder Baldachin Verwendung fanden. Als sie größer ward und mehr von der Außenwelt, gar von dem nahen Paris, dieser ungeheuren Stadt, hörte, beschäftigten sich ihre halbwachen Träume öfter auch mit ihren Eltern. Ihr Vater sei Modellzeichner in einer Tapetenfabrik gewesen und einer Blutvergiftung erlegen, ihre Mutter sei bei ihrer Geburt gestorben, so war ihr am Tage der Konfirmation gesagt worden. Sie glaubte das natürlich nicht. Denn inzwischen hatte sie ja doch längst ein richtiges Märchenbuch gelesen – heimlich, mit heißen Wangen, zitternd vor Furcht und vor Seligkeit – ein wunderbares Märchenbuch mit Geschichten von verwunschenen Prinzessinnen und verzauberten Königsschlössern. Und es schlummerte hinter ihrer blassen, schmalen Kinderstirn ein gar zärtlicher Gedanke, der ihre großen braunen Sammetaugen oft feucht schimmern machte: eines schönen Tages werde eine goldene Equipage vor dem grauen Klostertor halten, eine schöne, wunder-, wunderschöne Frau werde aussteigen – ihre Mama – werde sie in ihre Arme schließen ...

Aber da weckten sie gewöhnlich ein paar Kopfstücke, von der fleischlosen Hand der alten Oberin verabreicht, aus ihren trunkenen Phantasien.

Lou traf das Los, als Hilfsschwester im Orphelinat bleiben zu müssen, während die andern mit fünfzehn Jahren in Stellung gingen. Wie's ihr das Herz abdrückte, den armen kleinen Würmern, deren Pflege man ihr von jetzt ab übertrug, ihren heimlichen Schatz, den unerschöpflichen Born ihrer Märchengedanken, verschlossen halten zu müssen! Sie atmete auf, als ihr endlich die Freiheit winkte. Eine fremde Dame, eine Böhmin, deren Gatte in Paris gestorben war, hatte sich an die Anstalt gewandt: sie suchte ein junges Mädchen, das sie und ihre beiden Kinder nach Prag begleiten sollte. Es mußte nähen, waschen, schneidern, plätten können, gut vorlesen, die Schulaufgaben der Kinder beaufsichtigen, kochen, auch die gröberen Hausarbeiten verstehen, vor allem aber mit den Kleinen fortgesetzt französisch parlieren, damit diese ihre in Paris erworbenen Kenntnisse in der neuen Heimat nicht verlernten.

Der Himmel tat sich vor Lou auf. Sie sollte reisen – die Welt sehen. Madame Robiczek – so lautete der Name ihrer neuen Gebieterin – erschien ihr als eine Art Abschlagszahlung auf den erlösenden Königssohn, den ihr das Schicksal noch schuldete.

Aber Lou hatte sich wieder einmal getäuscht. Denn Madame Robiczek hatte durchaus nichts gemein mit einer wohltätigen Fee oder derlei Phantasiegebilden. Und ihre beiden Sprößlinge waren wohl die nichtsnutzigsten Schlingel, die der armen Lou je begegnet waren.

Innerhalb der nächsten drei Jahre hatte Lou eigentlich nur in den Stunden zwischen ein und fünf Uhr des Nachts freie Verfügung über sich. Nach des Tages Last und Hitze mußte sie der faul sich im Bett reckelnden Madame Robiczek stets bis weit über Mitternacht französische Romane vorlesen, die sie selbst gar nicht verstand, – vor Morgengrauen riefen sie dann schon wieder die häuslichen Geschäfte aus dem Bretterverschlag neben der Küche, in dem ihre Matratze auf der bloßen Erde lag.

Lou war zuzeiten aber doch besser gehalten als eine »Stütze der Hausfrau« – Madame Robiczek, die an der unglücklichen Waise ein Dienstmädchen, eine Zofe, eine Köchin, Kindergärtnerin, Schneiderin und Hauslehrerin zugleich besaß, hielt ihr das oft genug vor –, denn wenn »Gesellschaft« war oder wenn man ins Bad reiste, durfte sie das herrliche schwarze Seidenkleid anziehen und brauchte nichts weiter zu tun, als mit den beiden kleinen Teufelsbraten französische Konversation treiben.

So kam sie im dritten Sommer ihres Dienstverhältnisses sogar nach Genf. Madame Robiczek hatte eine kleine Erbschaft gemacht und trat sehr prätentiös auf. Eine Unmenge Toiletten waren angeschafft worden – und von all der Herrlichkeit fiel auch auf Lou etwas ab. Es hieß, Madame Robiczek wolle sich wieder verheiraten. Ein Herr aus Marseille, von dessen märchenhaftem Reichtum die Böhmin der kleinen Lou sehr viel vorschwärmte, verkehrte auffallend häufig im Hause. Madame Robiczek wollte zum Winter sogar für einige Monate selbst nach Marseille ziehen.

Inzwischen war aber aus der blassen Lou ein bildhübsches Mädchen geworden. Es lag ein so lieber, träumerischer Zug über ihrem schmalen Gesichtchen, und es gab nichts Süßeres als ihre glockenhelle, weiche Stimme. Die von ihrer Trägheit recht fett und verschwommen gewordene Madame Robiczek begann auf die Kleine eifersüchtig zu werden. In ihrem seltsamen Französisch, das sie mit ebensoviel Konsonanten (und besonders Zischlauten) zu sprechen schien, wie ihre Muttersprache, hielt sie kurz vor der geplanten Abreise nach Marseille ihrem langjährigen ergebenen Hausgenossen eine unendlich lange Rede, deren kurzer Sinn lautete: Louison Visinard, genannt Lou, aus Ardoisière (Seine-Departement) könne ihre Koffer packen und fortan ihre eignen Wege ziehen.

Was nun Lous Koffer anbelangt, so verdiente die rot und blau gestrichene Holztruhe, die die Mädchen vom Orphelinat für ihre Anstaltswäsche, das obligate blaue Barchentkleid, das Gebetbuch und die Rindslederstiefel auf ihren Lebensweg mitbekommen, kaum diese vornehme Bezeichnung. Uebrigens stand sie auch in einem Bodenwinkel am Wenzelsring zu Prag. Madame Robiczek mußte also schon so großmütig sein, der kleinen Lou in dieser Hinsicht unter die Arme zu greifen. Sie tat denn auch wirklich mehr als ihre Pflicht – bloß um möglichst schnell glatte Rechnung mit der gefährlichen Konkurrenz zu machen. So sah sich Lou plötzlich im Besitz von einer kleinen, ihr fast fürstlich erscheinenden Wäsche- und Kleiderausstattung, die nur den einzigen Fehler hatte, daß die Maße für den stattlichen Leibesumfang von Madame Robiczek berechnet waren.

Lou fühlte sich dennoch im siebenten Himmel. In ihrem Portemonnaie befanden sich bare fünfundsiebzig Franken – und sie war im Besitz ihrer Freiheit! Fast zu viel auf einmal!

Auf dem Perron beim Abschiednehmen hatte sie ja geweint, als sie ihrer bisherigen Herrin immer und immer wieder die Hände küßte und ihre beiden Peiniger umarmte. Nun aber, wo sie vom Bahnhof zurückkehrte, um ihre Habseligkeiten aus dem Hotel abzuholen, überkam sie's fast wie ein Rausch.

Sie war von Haus aus ein phantastisch veranlagtes Persönchen – selbst Madame Vincents nüchtern-trockene Erziehungsmethode hatte daran nichts geändert –, und es kam hinzu, daß sie in diesen letzten drei Jahren täglich fast einen ganzen französischen Romanband hatte vorlesen müssen. Das macht (die Zweibänder in Betracht gezogen) schlecht gerechnet sechshundert Romane, in denen (wiederum im Pauschale) sechshundert arme junge Mädchen ebensoviel edle Grafen- oder Millionärssöhne geheiratet hatten!

Da konnte es ihr doch auch nicht fehlen – dachte sie also bei sich.

Sie suchte sich zunächst eine billige Pension am Plainpalais aus, fest entschlossen, nunmehr ihr Leben zu genießen.

Den Anfang hiermit machte sie, indem sie sich erst einmal gründlich ausschlief. Seit Jahren zum erstenmal.

Aber dann kam ein gewaltiger Tatendrang über sie. Sie wußte, daß das Glück auf sie wartete, irgendwo, also galt's, die Augen aufzumachen, um nicht daran vorüberzugehen.

Natürlich mußte sie wieder eine Stellung annehmen. Vielleicht bei einer alten kranken Marquise, deren Sohn sich in sie verliebte und sie heiratete. Sie studierte die Inserate in den Zeitungen. Aber keine einzige alte kranke Marquise brauchte eine Vorleserin oder Pflegerin. Inzwischen arbeitete sie an ihrer Ausstattung. Sie hatte angeborenen Geschmack – wie viel dutzendmal hatte sie zudem in Prag beim Schneidern und Putzmachen für Madame Robiczek mit Hand anlegen müssen – so entstanden aus der verschlissenen Pracht der Böhmin unter den zierlichen geschickten Fingern der phantasievollen Französin geradezu kleine Meisterwerke. Sie war nun von den hübschen geputzten Genferinnen kaum mehr zu unterscheiden. Bloß die Handschuhe und die Stiefel kosteten Geld, denn die konnte sie nicht selbst machen. Und als daher ein neuer Monat einbrach, sagte sie zu der Pensionsinhaberin: ihre Verwandten seien eingetroffen, bei denen sie von jetzt an immer das Dejeuner und Diner nehmen müsse.

Im Grunde verabscheute sie die Lüge. Sie war aber zu stolz, einzugestehen, daß sie – die künftige Schwiegertochter einer Marquise – gezwungen sei, auf die regulären Mahlzeiten zu verzichten, um den nagenden Hunger mit Brot und gerösteten Kastanien zu beschwichtigen, die sie auf der Straße erstand und heimlich des Abends auf ihrem Stübchen verzehrte. Furchtbar rächte sich ihre Flunkerei erst, als die »Bise« über Genf zu toben begann, die Periode der Herbststürme, und sie nicht nach Hause konnte, weil die in der Pension sie doch beim Dejeuner oder Diner im Hotel am Quai du Montblanc vermuteten.

Nun verzichtete sie bald endgültig auf die alte kranke Marquise und lief in alle Agenturen und Vermittelungsbureaus, um einen andern geeigneten Dienst ausfindig zu machen. Aber von den Gesellschafterinnen und Erzieherinnen, die da oder dort gesucht wurden, verlangte man musikalische Kenntnisse oder Englisch oder Zeugnisse über abgelegte Examina; und sie sah zu distinguiert aus, als daß man ihr einen Dienst als Stubenmädchen angeboten hätte.

In der Pension merkte man von alledem nichts. Vielleicht beneidete man sie sogar um die opulenten Diners am Quai du Montblanc. Nachdem diese imaginären Mahlzeiten aber, sechs Wochen hindurch tagtäglich genossen, ihr die Anfänge eines gastrischen Fiebers eingetragen und sie gezwungen hatten, mehrere Tage hindurch das Bett zu hüten, entschloß sie sich, ihre Verwandten für einige Zeit abreisen zu lassen.

Wie graute ihr's nun aber vor dem nächsten Monatsersten! Woher das Geld nehmen, um die Rechnung zu bezahlen?

Wieder zitierte sie also ihre Verwandten. Die hatten den Wunsch geäußert, erzählte sie, daß sie französischen Unterricht erteile, um sich – wenn sie's auch nicht nötig hätte – standesgemäß zu betätigen.

Ja, wer erteilte in Genf aber nicht französischen Unterricht? Die Pensionsmutter, ihr Gatte, ihr Schwiegervater, ihre Tochter – sie alle waren » professeurs de la langue française«, und bei der erdrückenden Konkurrenz mußten sie leçons für fünfundsiebzig Centimes geben.

In der Pension lebten auch zwei Misses. Kaum hatten die erfahren, daß Mademoiselle Lou bereit sei, Unterricht zu geben, »bloß um sich standesgemäß zu betätigen«, als sie auch schon sofort anderwärts ihre Stunden aufkündigten, um einen innigen Freundschaftsbund mit der kleinen Französin zu schließen. Lou ward die beiden Misses, die bei ihr gratis »Konversation« nahmen, nun überhaupt nicht mehr los.

In ihrer Verzweiflung verwendete sie ihre letzten paar Franken dazu, um zu inserieren. Aber meldete sich daraufhin ein Schüler oder eine Schülerin, so bemächtigte sich schon an der Entreetür der Schwiegervater, die Tochter oder der Gatte der Pensionsmama dieses neuen Lehrobjekts.

Der einzige Schüler, dessen sie habhaft werden konnte und der es sich auch nicht nehmen lassen wollte, Honorar zu bezahlen (obwohl er ja wußte, daß Mademoiselle Visinard sehr reiche Verwandte besaß und es eigentlich nicht nötig hatte), war ein Herr Benno Rentsch, der sich bereits seit zehn Monaten hier in der Pension aufhielt und der nacheinander beim Hausherrn, bei der Hausfrau, beim Schwiegervater und bei der Tochter Unterricht genommen hatte, ohne nennenswerte Fortschritte in der französischen Sprache aufweisen zu können. Er stammte aus Cöln. Sein Vater besaß dort eine Seifenfabrik und Eau de Cologne-Destillation. Bei dem neuerdings recht ausgedehnten Handelsverkehr mit Frankreich hielt er's für erforderlich, daß sein Sohn französisch lernte; dem jungen Herrn Benno bereitete aber die Unterscheidung von k und g, p und b und gar von s und ß die grausamsten Schwierigkeiten. Die Hoffnung, als perfekter Franzose heimzukehren, hatte er endgültig fahren lassen. Wenigstens wollte er sich die Unterrichtsstunden zum Schluß noch ein bißchen angenehmer gestalten. Und da Mademoiselle Lou bildhübsch war, ein wirklich charmantes Auftreten hatte und durch ihre vornehme Verwandtschaft vielleicht auch Beziehungen zu Frankreich besaß, deren Ausnutzung seinen Vater unter Umständen mit dem kläglichen Ergebnis seines einjährigen Sprachstudiums versöhnen konnte, so widmete er sich dem Konversationsunterricht bei seiner neuen Lehrerin alsbald mit einem wahren Feuereifer.

Lou war so wenigstens vor dem Hungertyphus geschützt; denn zu Weihnachten hatte sie – um die Pensionsrechnung zu vermindern – ihre Verwandten schon wieder ankommen lassen müssen, bei denen sie ihre imaginären Diners einnahm.

Glück brachte ihr diese vornehme Verwandtschaft überhaupt nicht. Drängten ihr die beiden Misses, die äußerst wohltätig waren, wenn es sie selbst nichts kostete, nicht ein Dutzend Eintrittskarten zum Orgelkonzert in St. Madeleine zum Besten der Taubstummen auf? Wenn ihre reichen Verwandten tagtäglich an die fünfzig Franken für ihre Diners und Dejeuners ausgaben – so konnten sie doch auch noch ihre zwölf für die armen Taubstummen opfern.

Das war ja ganz logisch. Lou litt aber grausam darunter. Denn sie wäre (schon Benno Rentschs wegen) vor Scham gestorben, wenn sie die Wahrheit hätte eingestehen müssen.

So benutzte sie also ihr erstes Honorar, um die zwölf Orgelkonzertbilletts aus eigner Tasche zu bezahlen.

Ihre Verwandten waren aber in letzter Stunde verhindert, sie selbst zu benutzen – und dank diesem Umstand gelangte die gesamte Pension einschließlich Benno Neutschs und der beiden Misses gratis ins Orgelkonzert.

Mit wie gemischten Gefühlen die kleine Lou dasaß! Dieser Ohrenschmaus bedeutete für sie eine ganze Reihe von Diners am Quai du Montblanc. Und dennoch überkam sie keine Traurigkeit. Sie hatte ein gutes Herz und dachte daran, daß ihre zwölf Franken ja den Taubstummen von St. Madeleine zugute kämen. Und auch ein bißchen Eitelkeit war dabei. Sie war stolz auf die Generosität ihrer Verwandten; denn jetzt glaubte sie schon selbst an deren Existenz.

Benno Rentsch verliebte sich bald rechtschaffen in seine kleine Lehrerin. Aber er wagte nicht, sich ihr zu offenbaren. Sie hatte etwas so Distinguiertes, Unnahbares. Und ihre vornehme Verwandtschaft – lauter elegante Franzosen, die das feinste Pariserisch sprachen! Er dachte dagegen an seinen biederen Papa, seine einfache Mama. Sie war die Tochter eines ehrsamen Seifensieders gewesen, und Papa hatte »ins Geschäft eingeheiratet«. Jetzt besaß ja alles einen großartigeren Anstrich. Er selbst hatte als Einjähriger gedient, auch ein bißchen Chemie studiert. Aber der angeborenen Noblesse der kleinen Französin gegenüber kam er sich doch recht als hausbackenes »Gölner Hänsken« vor.

Nun ward auch noch seine Eifersucht rege.

Lou ging des Abends häufig aus. Ihre Verwandten führten sie ins Theater. Gewiß gab's da einen eleganten Cousin, der ihr die Cour schnitt. Er haßte den Kerl wie die Sünde.

Aber Lou war weit davon entfernt, sich zu amüsieren. Sie hatte in einem Hutgeschäft als Aushilfsputzmacherin für die Abendstunden Beschäftigung gefunden. Ihr Traum von der schwiegermütterlichen Marquise zerflatterte immer mehr. Aber dafür erlebte sie (in Gedanken, während sie die Federn, die Bänder und Rüschen an die Damenhüte heftete) einen neuen Roman. Benno Rentsch hatte sie durch ein paar indiskrete Fragen in seinem mangelhaften Französisch auf diesen Vetter, den flotten, reichen Pariser, gebracht, der sie unglücklich liebte. Er hieß natürlich Edmond. O, was waren da für Kämpfe zu bestehen! Denn natürlich wollte der Onkel nicht zugeben, daß er sie, die arme Verwandte, zum Altar führte. Aber Edmond, der ein ungeliebtes Weib heiraten sollte, brachte ihr eine Glut entgegen, bestand mit einem Heroismus auf seinem Willen: alles, alles würde er ihr opfern! Einmal, im Theater, in der Loge, hatte er es ihr ins Ohr geflüstert ... Und seitdem ertrug Lou ihr einförmiges Leben viel leichter: die Diners am Quai du Montblanc, die aufdringlichen Misses, die mühsame Abendarbeit im Platzgeschäft.

Endlich erholten sich ihre Finanzen so weit, daß sie diesen Nebenberuf aufgeben und sogar ihre Verwandten wieder für einige Zeit abreisen lassen konnte.

Nun schöpfte Benno Rentsch neuen Mut. Kurz entschlossen kaufte er einmal zwei Parkettplätze für die Oper. Im Unterricht wollte er Mademoiselle Lou fragen, ob sie ihm die große, große Freude machen wollte, ihn zu begleiten – und nach dem Theater konnte er sie dann zu einem kleinen Spaziergang am Quai Eaux-vives verlocken – und dann im Mondschein würde er sich ein Herz fassen, sie offen und ehrlich nach diesem verflixten Pariser Vetter fragen, ihr ankündigen, daß er nächsten Ersten in Cöln zurückerwartet werde – u. s. w., u. s. w.

Aber zu diesem u. s. w., u. s. w. kam es überhaupt nicht. Benno Rentsch war nun einmal ein gar zu schüchterner Anbeter. So weit war man ja in der Konversation gekommen, daß die Theaterfrage wenigstens angeschnitten worden war. Aber Lou schien durch ihre hochnoble Verwandtschaft an keinen andern Platz als Orchesterloge gewöhnt. Also nahm Benno, ohne sich offenbart zu haben, seine beiden Parkettbilletts wieder mit, und in seiner Wut auf alle Pariser besuchte er das französische Theater nun überhaupt nicht.

Lou entnahm der heutigen Konversationsstunde nicht viel mehr als das traurige Faktum: daß ihr einziger Schüler ihr für ultimo gekündigt hatte.

Nun annoncierte sie wieder, und es glückte ihr, eine rumänische Studentin und einen Bulgaren als Schüler zu bekommen. Aber das waren schäbige Menschen. Nicht einmal einen halben Franken wollten sie pro Stunde bezahlen, und ein unwürdiges Handeln ging nach jeder einzelnen leçon los, so daß Lou vor Scham dann allemal in Tränen aufgelöst zurückblieb.

Am letzten Tage seines Genfer Aufenthalts traf Benno Rentsch seine hübsche Lehrerin herzzerbrechend weinend an.

Er war dem Bulgaren im Hausflur begegnet. Natürlich war er auch auf ihn eifersüchtig.

Ob er sie gekränkt habe? Ob er ihm nacheilen, sich mit ihm schlagen solle?

Lou schüttelte traurig lächelnd das Köpfchen. Der bloße Gedanke, daß um ihretwillen eine so romantische Sache wie ein Zweikampf stattfinden könnte, tröstete sie schon halb; und sofort spann ihre rege Phantasie den Faden weiter. Aber sobald sie den armen Benno Rentsch, der doch ein so ehrenwerter Mensch war, wenn er auch ein Französisch sprach, das ihr grausam weh tat, bleich und aus einer Herzenswunde blutend auf dem Rasen ausgestreckt sah, beschwor sie ihn inständigst, innezuhalten.

»Mein Entschluß steht fest,« sagte sie dann leise und träumerisch, »ich verlasse Genf. Man hat mir da etwas angetragen – ich kann wohl sagen, es ist eine großartige Aussicht. Meiner Verwandten wegen – Sie wissen wohl – wollte ich nicht darauf eingehen. Aber jetzt ... Nein, ich kann mich in diese Verhältnisse hier auf die Dauer doch nicht hineinfinden.«

Und im Flug malte sie sich aus, daß Edmond, der von dem im Duell gefallenen unglücklichen jungen Deutschen gehört hatte, vor seinen Vater hingetreten sei und ihm bleich wie der Tod zugerufen habe: » Monsieur, vous me tuez ...«

Ihre schönen braunen Augen standen voll Wasser, und sie sah aus wie verklärt.

»Nun, Mademoiselle Lou,« sagte Benno Rentsch beim Abschied mit etwas vibrierender Stimme, »ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, daß Sie da Ihr Glück machen. Von ganzem Herzen wünsche ich Ihnen das. Denn – ich – nun ja – – – oh!«

Zum Schluß machte er noch ein paar schmerzhafte Verstöße gegen Subjonktif und Konditionel, dann riß er sich los und ließ Lou mit ihrem neuen Glück allein.

Lou erwachte aber endlich aus ihren Phantasien. Die Pensionsmama brachte die Monatsrechnung schon heute, weil sie etwas knapp bei Kasse war.

Nun besaß die kleine Französin nicht viel mehr als zwei und einen halben Franken. Edmond würde sich bei seinem edlen Charakter ja nicht daran gestoßen haben. Aber Edmond war weit, weit – ebenso weit als die alte kranke Marquise ...

Und in verzweifelter Stimmung schlich Lou gegen Abend an den Quai du Montblanc.

Wenn sie sich gegenüber der Stätte des Prunks, an der ihr hartherziger reicher Onkel seine schwelgerischen Diners einzunehmen gewohnt war, ins Wasser stürzte?

Edmond würde sie dann retten ...

Ach, das war ein schmerzliches Lächeln, das nun über die blassen Wangen des phantasievollen Geschöpfchens huschte. Mit diesen kindischen Romanen war's jetzt Zeit, endgültig aufzuräumen. Da stand das rauhe, trübselige Leben vor ihr – und jeder Tag hatte seine Forderungen. Die Oberin des Orphelinats zu Ardoisière hatte doch recht behalten mit ihrem asketischen Krieg gegen die Welt der Märchen.

Auf der Rhonebrücke stieß sie da plötzlich auf Madame Robiczek. Sie erkannte die Böhmin zuerst gar nicht wieder, so alt und verwahrlost sah sie aus. Sie war nicht mehr geschminkt, trug sich auch recht lässig.

Nun, und da hörte sie denn gleich einen andern in die Brüche gegangenen Roman, die kleine Lou. Der reiche Herr aus Marseille hatte sich als ein Erzschelm erwiesen (in ihrer bilderreichen Sprache wandte Madame Robiczek noch ganz andre Vergleiche an), er hatte eine reiche Genueserin geheiratet und sie sitzen lassen – und Madame Robiczek war soeben im Begriff, mit ihren beiden Teufelsbraten wieder unvermählt nach Prag zurückzukehren.

Lou war so weich gestimmt und so seelensfroh, sich endlich, endlich einmal einem teilnehmenden Menschen gegenüber rückhaltlos über alles aussprechen zu können. So schüttete sie der Böhmin denn ihr Herz aus. Und verschwieg nichts – nichts.

Madame Robiczek lachte nicht wenig, als sie die Sache mit dem Orgelkonzert hörte. Die schien ihr die komischste. Aber mitleidig zeigte sie sich doch. Ja, sie war sogar so großmütig, Lou anzubieten: wenn sie wieder nach Prag mitkommen wolle, so solle sie noch heute abend ihre Sachen zum Spediteur schaffen und sich am andern Morgen um acht Uhr an der Dampfschiffsbrücke einstellen; denn bis Lausanne verfolgte sie die Route über den See.

Das war nun also das Ende ihres kurzen Freiheitstraumes! Natürlich nahm sie an – was blieb ihr sonst übrig?

Der Abschied war bald erledigt. Aufrichtig bedauerten in der Pension nur die beiden Misses ihr Fortgehen, weil die von nun an ihre Konversationsstunden wieder bezahlen mußten.

Aber als ob das Schicksal sie noch narren wollte: das Dampfschiff stieß gerade vom Ufer ab, als sie anderntags zur Landungsbrücke kam. Sie hatte sich um zwei Minuten verspätet.

Madame Robiczek und die beiden kleinen Teufelsbraten hatten sie entdeckt, haderten in ihrer zischlautreichen Sprache mit der Schiffsmannschaft, schrien ihr etwas zu, winkten ...

Allein auch von der ersten Klasse her winkte ihr jemand mit Hut und Taschentuch zu. Es war der Cölner.

Wie gut, daß sie das Dampfschiff verpaßt hatte! Ihre Sünden fielen ihr alle, alle wieder ein. Wenn Herr Benno Rentsch sie in ihrer Schmach als das geduldige Opferlamm der Launen dieser gräßlichen Böhmin und ihrer herzlosen Kinder gesehen hätte!

Aber näherte er sich da nicht der schreienden Gruppe? Richtig, er grüßte, sprach die dicke Dame an – man sah nach ihr – die Kinder zeigten sogar mit dem Finger ... Ach, gewiß fragte er nach ihr, ihren Verwandten – man kam ins Gespräch – und dann fiel Stück um Stück von ihren unschuldigen Renommistereien, die doch niemand geschadet, die ihr das grausame Dasein mit seinem Hunger und seinen Demütigungen aber wenigstens ein bißchen verklärt, verschönt hatten!

Wieder sah sie von der Brücke ins Wasser. Wäre sie nicht eine gläubige Christin gewesen – jetzt hätte die Versuchung es leicht gehabt.

Nein, sie wollte sich aufraffen. Nach dieser letzten, grausamsten Demütigung gab es ja nichts Schlimmes mehr. Er würde über sie lachen, wie die Böhmin über sie gelacht hatte. Nun, sie mußte es ertragen. Im Grunde – und wer konnte ihr das heute rauben – war sie doch so oft, so oft unsagbar glücklich gewesen in ihrer imaginären Welt.

Es galt zu eilen, um noch rechtzeitig mit der Bahn nach Lausanne zu gelangen. Wenigstens blieb ihr dort eine Begegnung mit Herrn Benno Rentsch erspart; denn der wollte ja noch ein paar Tage in Montreux verleben, bevor er nach Cöln zurückkehrte.

Aber als sie in Lausanne ihr Coupé dritter Klasse verließ, stand der Cölner wie aus der Erde gewachsen vor ihr. Robiczeks waren noch unten in Ouchy, sagte er ihr. Er war den Leutchen vorausgeeilt, um ihr zu sagen – um sie zu fragen ... Und nun verwickelte er sich wieder in die grausamsten grammatikalischen Schnitzer.

Lou weinte. »Sie wissen alles?«

»Ja, Mademoiselle Lou, und ich bin – unsagbar glücklich darüber. Denn – das werden Sie vielleicht noch nicht bemerkt haben – ich liebe Sie so furchtbar, so sinnlos, so – so ... Und ich starb ja beinahe vor Eifersucht auf Ihren Herrn Vetter, diesen – diesen – Pardon, ich kann den Kerl nun mal nicht ausstehen – und ich könnte jubeln, jauchzen, daß er überhaupt nicht existiert!«

Lou weinte immer mehr. Vor Glück – vor Erschütterung – vor Scham.

Benno Rentsch aber hatte einen Mut wie nie zuvor in seinem Leben. »Mademoiselle Lou, Sie müssen meine Frau werden. Meine Eltern werden sich riesig freuen. Besonders über Ihr Französisch. Und eine Zentnerlast fällt mir vom Herzen. Ich hatte ja eine solche Heidenangst wegen meiner geringen Fortschritte, – das heißt, wir werden den Unterricht dann natürlich fortsetzen, nicht wahr? Und ich will Sie ja so glücklich machen – so glücklich – ach – ich ...«

Endlich sank sie in seine Arme – schluchzend und lachend – vor allen Leuten, mitten auf dem Perron. Wohl bloß um festzustellen, ob dies etwa auch wieder nichts als eines ihrer phantastischen Truggebilde sei.

Aber nein, es war Wirklichkeit.

Und war und blieb doch – ihr Roman.

*


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