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Neuntes Schriftstück

Den ganzen Winter über gab's nichts Rechtes zu schreiben, teure Mutter. Ich war wohl noch zu verstimmt, um über Ansichtskarten und kurze Mitteilungen wesentlich hinauszugelangen. Aber nun ist der Mai ins Land gekommen. – – –

Fürchte nicht, daß ich poetisch werde, beste Mutter. Das liegt mir schon sowieso nicht. Und außerdem wird es gerade in diesem langen Schreiben recht prosaisch zugehen. Ich habe nämlich eine sehr nüchterne Bitte an Dich, geliebteste aller Mütter!

Da steht sie:

Ich muß Dich endlich einmal wieder sehen, Mutter!

Ich muß Dich endlich einmal wieder küssen, Mutter!

Mutter, komm zu Deiner Tochter – ich schreie nach Dir!

Was ist das für ein Leben! Nichts als Paul Trapp, der Holzhändler! Paul Trapp, Paul Trapp! Hat er Verwandte? Es kommen keine! Ich bin ja nicht seine Frau! Treu bin ich ihm. Weiß selber nicht, wie es zugeht, und bin ihm treu. Mag es der Eindruck sein, den Frau Marietta Ebers auf mich gemacht hat, mag es die Wirkung des Landlebens sein, dem wir uns seit unserer Übersiedlung nach Saarow-Pieskow am Scharmützelsee hingaben – ich bin Paul treu. Auf ein Kind ist trotzdem noch nicht die leiseste Hoffnung.

Da sitze ich nun in Saarow, in unserem köstlichen, märchenhaften Landhaus, schon Ende April haben die Obstbäume in unserem Garten zu blühen begonnen. Seit damals ist ein Grünen und Sprossen, ein Wachsen und Duften um mich, das mir die Sinne betäubt. Einen eigenen Garten zu besitzen, der alle diese Köstlichkeiten bietet und dessen Rand von den Wassern eines weiten lieblichen Sees bespült wird. Reich zu sein. Einen Gatten zu haben, der im eigenen Auto nach Berlin saust und nicht schnell genug zu seiner, nun wieder erholten und auch frühlingshaft aufblühenden Gattin wieder zurücksausen kann. All dieses Glück besitze ich – – und fühle mich so hundeelend, daß ich manchesmal mit meinem Peterchen tauschen möchte, das tot unter dem Rasen der Villa in der Strada Cobalcescu zu Bukarest liegt.

Zur Treue muß der Mensch veranlagt sein, geboren sein, Talent besitzen. Hilft alles nichts: ich will mich dazu erziehen, aber es fällt mir höllisch schwer. Einigermaßen begünstigen ja die örtlichen Verhältnisse mein edles Vorhaben: in dieser stillen Landhaus-Siedlung könnte ich mich nie ungesehen mit einem Manne treffen, die Eisenbahnfahrt nach Berlin ist umständlich, und in ein Auto mag ich, seit jenem schrecklichen Dreizehnten, nicht wieder steigen.

Ab und zu haben wir den Besuch von Frau Marietta und ihrem Gatten. Es sind liebe Menschen, aber manchmal überläuft mich ein stilles Grauen bei dem Gedanken, daß gerade ich, die so ausgiebig der wechselnden, genußfrohen Freude huldigte, mich befreunden will mit diesen wandelnden Sinnbildern ehelicher, liebender Treue.

Einmal kamen sie im Auto eines reichen Freundes hierher, den wir nebst seiner jungen, hübschen, rassigen, blauschwarzhaarigen Gattin mit zum Tee in unser Haus luden, es war der berühmte Dramatiker Theodor Petrowski.

Der und seine Frau sind der vollkommene Gegensatz zur Ebersschen Ehe.

Als die Herren uns Damen allein ließen, entwickelte Frau Petrowski ihre Grundsätze, auf die sie sehr stolz ist: sie gestattet ihrem Gatten jede Freiheit, aber sie erfindet kluge Mittel um ihn trotzdem von Abwegen fernzuhalten oder doch zum mindesten ihn rasch von jeder Extratour wieder auf den bürgerlich-soliden Pfad zurückzuführen. Sobald sie etwa merkt, daß sich zwischen einer hübschen Schauspielerin und dem Dramatiker etwas entspinnt, überhäuft Frau Petrowski ihre Rivalin mit Freundschaftsbezeugungen, lädt sie zu kleinen und großen Festen ins Haus, setzt sie neben Herrn Petrowski als Tischdame, ja die kluge Frau geht so weit, auch das Alleinsein der beiden Verliebten in jeder Weise zu begünstigen, gleichzeitig aber vergißt Frau Petrowski nie, bei jeder Begegnung, wo er, sie und ihre Rivalin zu Dreien oder in großer Gesellschaft zusammentreffen, ihre eigenen Reize ins beste Licht zu setzen, deren stärkster ihre glänzende Unterhaltungsgabe ist. Im geistreichen Geplauder hält so leicht niemand Schritt mit ihr, und auf diesem Gebiete glückte ihr fast immer der Sieg über die Nebenbuhlerin. Hat die andere – in Gegenwart des Angebeteten – auf diesem Felde erst ein einziges Mal versagt, dann hat die neueste junge Liebe schon einen Stoß erhalten, von dem sie sich schwer erholt, und es dauert nicht mehr lang bis der reumütige Sünder in die Arme der verzeihenden Gattin zurückgekehrt ist. Und verzeihen ohne dramatische Aussprache – das ist ein für allemal der Grundsatz dieser klugen Frau.

Ich konnte von Frau Petrowski nicht genug über dieses interessante Thema hören und fragte immer weiter, um noch mehr zu hören. Mir war als säße ich wieder im Pensionat und lauschte den Worten einer meiner Lieblingslehrerinnen.

Die gescheite, lebenskluge Dame gab denn also auch Frau Marietta und mir nun noch mehr von ihren beherzigenswerten Lebensprinzipien zum besten: während sie sich selber nicht den kleinsten Schritt abseits vom Wege der ehelichen Treue erlaubt, zeigt sie gegenüber dem Damenzirkel, der in ihrem Hause verkehrt, eine weitgehende Nachsicht. Nun ja, ihr Gatte schreibt Bühnendramen; Schauspielerinnen, Vortragskünstlerinnen, Sängerinnen, Tänzerinnen kommen beruflich mit ihm zusammen, und oft ist es seiner Kunst und seinen Finanzen förderlich, die oder jene einzuladen. Frau Petrowski ist mit solchen Einladungen sogar dann einverstanden, wenn sie weiß, daß die Einzuladende im Rufe einer galanten Dame steht. Nur in einem denkt die kluge Frau anders: wenn die »Kunst« nur der Scheinberuf ist, der den Handel mit käuflicher Liebe decken soll – solchen Damen gestattet Frau Petrowski den Zutritt in ihren Salon unter keinen Umständen. Da gibt es nur eine Ausnahme: wenn die Hausfrau den Ehemann von einer Verirrung kurieren will! Dann ist sie imstande, auch die unmoralischste Schönheit zu Gaste zu bitten; und in solchen Fällen ist ihr der Sieg stets besonders leicht geworden.

Als ich abends mit Paul allein war und er seine Zeitung las – Ehemänner lesen wohl immer ihre Zeitung –, dachte ich viel über das nach, was kürzlich Frau Marietta und heute Frau Lisa Petrowski mir von ihren ehelichen Prinzipien erzählt hatte. Die Gattin des Kunstmalers, die ihren Mann nie allein läßt – die Gattin des Dramatikers, die ihrem Ehemann alles gewährt und alles verzeiht ... kann man sich stärkere Gegensätze denken? Und mein Gatte? Er hätte vortrefflich neben Frau Lisa Petrowski gepaßt! Wie hatte er doch damals an meinem Krankenbett in der Strada Cobalcescu zu mir und dem Doktor Ermelio gesagt? »Ich habe mich dazu durchgerungen, schönen Frauen überhaupt nichts mehr übelzunehmen, sondern schlankweg alles zu verzeihen. Dabei fühle ich mich am wohlsten!« Aber neben Frau Marietta hätte Paul recht schlecht gepaßt, sie hätte beim besten Willen an seinem Temperament nichts Überwachenswertes entdecken können, er hat zur Untreue nicht die geringste Begabung. Das ist es ja gerade, was mir ihn so langweilig macht. Einmal hatte ich gedacht, ich hätte ihn erwischt, das war noch in der Wohnung am Bayerischen Platz, kurz vor unserem Auszug, da kam er abends unglaublich spät nach Hause, gegen drei Uhr, und behauptete: so lange hätte er in Rechtsanwalt Blumenfelds Wohnung über schwebende Prozeßangelegenheiten konferiert. Ich tat, als glaubte ich. Aber während er dann im Badezimmer geräuschvoll seine abendliche Brause nahm, telephonierte ich. Eifersüchtig war ich nicht, aber ich wollte mich nicht hinters Licht führen lassen. »Verzeihung, Herr Justizrat,« sagte ich am Fernsprecher, »aber mein Mann ist noch nicht da, ich bin besorgt.« Und der Notar antwortete: »O, da muß er aber jeden Augenblick kommen, vor einer knappen halben Stunde ist er hier weggegangen.« Also waren Pauls Worte wahr, er hat kein Talent zur Untreue, er ist ein langweiliger Patron. Eine Frau wie ich will um ihren Gatten mit der Welt kämpfen, um einen allzu sicheren Besitz ist es ein gar zu fades Ding. Aber ich bin ihm treu. Mutter, es ist wahrhaftig die reine lautere Wahrheit, Du kannst Dir keinen Begriff davon machen, wie treu Deine mißratene Tochter ihrem einzigen Manne ist, oder ich könnte ebenso gut sagen: wie treu Deine einzige Tochter ihrem mißratenen Mann ist. Der Himmel wappne mich mit Geduld, damit es ewig so bleibt. Es ist eine Treue mit Krampfadern; denn Krampfadern hat er immer noch und sie werden schlimmer und häßlicher als je.

O, ich kann sogar beweisen, daß mir selbst in Saarow-Pieskow die Gelegenheit für Seitensprünge durchaus nicht ganz mangelt. Kürzlich an einem sonnigen, aber stürmischen Frühlingstag saß ich auf der Terrasse, die nach der Straße geht. Die Seeterrasse war in diesen Stunden zu windig. Da fährt ein offenes Auto vorbei, wer sitzt darin und grüßt artig herauf? Mein schöner Julius Tischler-Ruß! Ich tue als sehe ich nichts. Das Auto fährt noch einmal her, noch einmal hin, er immer mit seinem Gruß-Versuch auf der Lauer – ich starre marmorkalt in die Luft. Er hat verstanden. Nun ich wieder schön bin, gefalle ich ihm wieder. Nein, mein Herr. Seit der verunglückten Premiere hatte der Fuchsbau nichts wieder von sich hören lassen. Wenn für den Herren Direktor die Künstlerin Domina Dolorosa nicht mehr existiert, verzichtet Frau Dolly Trapp auf den artigen Kavaliergruß des Herrn Direktors.

Ja, wieder schön geworden bin ich, Mutter! Es gibt in Saarow gute Sanatorien und tüchtige Ärzte, ich lasse mich täglich mit Höhensonne bestrahlen, das hat mich – im Verein mit der frischen Luft hier – wunderbar repariert, und wenn ich durch die Straßen gehe, sagen die Leute hier: »Da kommt die schöne Frau Trapp.«

Frau Trapp! Hat sich was mit »Frau«. Da sitze ich nun in meiner eigenen Schlinge! Hatte ich Dir erzählt, liebe Mutter? Ja, ich weiß, ich schrieb es Dir. Als kurz vor der mißglückten Fuchsbau-Premiere der Portier des Hauses am Bayerischen Platz in die möblierte Vierzimmerwohnung mit den abscheulichen gelben Formularen heraufkam und verlangte, daß ich und meine Zofe Minna »von wejen die Lebensmittelkarten« polizeilich gemeldet werden, unterschrieb Paul die unausgefüllten Formulare, überließ ihre Ausfüllung vertrauensvoll – wie er immer ist – mir, und ich glaubte besonders weltklug zu handeln, indem ich mich nicht als »Fräulein Hausdame« anmeldete, sondern als die Schauspielerin Frau Dolorosa Trapp, geborene Meister, damit der Hauswart, die Zofe und alle anderen Hausgenossen einen Heidenrespekt haben sollten vor der Gesetzmäßigkeit unserer so gesetzlosen Ehe, Ja, höchst weltklug! Jetzt wo ich mit Paul wünsche, vor Altar und Gesetz seine angetraute Gattin zu werden – jetzt habe ich durch meine damalige Urkundenfälschung die Heirat schlankweg unmöglich gemacht. Hier in Saarow-Pieskow existiert ein einziges Amtszimmer, da liegen nun die abscheulichen gelben Formulare bei unseren Akten fest verankert, wie soll ich, die also amtlich – wenn auch durch Fälschung – als Pauls Ehefrau gemeldet ist, das zum Heiraten nötige Aufgebot beantragen?! Gleich der erste Blick des Beamten würde mich verraten. Wir haben dem alten treuen Justizrat Blumenfeld den Fall gebeichtet, aber auch dieser geschickte Jurist weiß, obwohl er unser Hausfreund ist, keinen Rat. Er kann mir auf keine Weise aus dieser peinlichen Verlegenheit helfen und rät, wir sollen in Geduld abwarten, bis uns ein Zufall zur Hilfe kommt. Zuerst meinte er, daß mehrfacher Ortswechsel uns helfen könne. Er versprach sich etwas davon, wenn ich eine Weile herumreiste, mir dabei wieder den Mädchennamen zulegte. Als »ledig« in das Landhaus am Scharmützelsee zurückkehren könnte ich wegen der Klatschereien natürlich nicht. Paul und ich müßten uns in irgendeiner fremden Stadt, vielleicht in England, trauen lassen. Aber auch das wäre gefährlich, denn wir würden riskieren, daß die fremde Behörde sich mit der Heimatsbehörde in Verbindung setzt. Hierbei könnte gegen einen von uns ein allerdings leicht niederzuschlagender Verdacht der Bigamie entstehen, aber schon das Bekämpfen dieser Verdächtigung würde zum Aufdecken der Urkundenfälschung führen. Bleibt mir also nichts anderes übrig, ich muß neben Paul als illegitime Gattin weiterleben. Und wie das werden soll, wenn der Himmel uns ein Baby beschert, das ist überhaupt nicht abzusehen.

So will ich denn lieber fürs erste überhaupt kein Baby, aber was ich endlich will, unter allen Umständen will, bist Du, meine über alles geliebte Mutter!

Mutter, ich sehne mich so herzzerreißend nach Dir!

Daß ich nach dem damals dort Vorgefallenen nie wieder in meine Vaterstadt, geschweige denn ins Vaterhaus zurückkehren kann, ist selbstverständlich. Ebenso weiß ich, daß Deine Eifersucht den Vater während Deiner weiten Reise nicht allein lassen mag. Aber es gibt einen Ausweg: Vater soll mit zu mir kommen!

Ich weiß: Du erschrickst, gute Mutter, wenn Du diesen Vorschlag hier niedergeschrieben siehst. Dir graut bei dem Gedanken, daß der Vater, der so Schreckliches an seinem Kinde verbrochen hat, eben diesem Kinde wieder ins Auge blicken soll. Aber betrachten wir uns die unabänderlichen Vorgänge, die nun Jahre zurückliegen, noch einmal mit so viel Ruhe, wie es bei dieser aufregenden Erinnerung überhaupt möglich ist. Als ich aus der Pension in Euer Haus zurückkehrte, bereitete es anfangs Dir und mir viel zu viel Vergnügen, mitanzusehen wie verliebt Vater in mich war. Was fand ich dabei, daß er mit onkelhafter Zärtlichkeit mich unablässig streichelte, küßte, drückte, auf den Schoß nahm? Ich hatte damals sehr genau die gleiche Gestalt wie Du sie hattest – und sie Dir wohl auch bis heute bewahrt hast. Du hast mir damals oft genug Worte gesagt, die mir klar machen sollten, was bei Vaters Zärtlichkeit gegen mich Du empfandest. Ich hieß Dolly wie Du, und Dir war, als ob Vater, indem er die jüngere Dolly küßte, der reiferen Dolly Huldigungen darbrächte. Es war Dir, als ob er in mir Dein Spiegelbild verehrte. Ich war stolz darauf, einen so schönen Vater zu haben, genau wie ich stolz darauf war, daß ich eine so schöne Mutter hatte, wie Du es bist. Hast Du, habe ich, haben wir nicht beide uns den Vorwurf zu machen, daß diese unsere Denkart das Wachsen von Vaters Verliebtheit förderte und begünstigte? Hättest Du ihm gleich die ersten gewagteren Zärtlichkeiten gegen mich verboten und mich über die Gefahr aufgeklärt, wer weiß ob Vater nicht rasch von seiner Liebeskrankheit genesen wäre und sich wie früher mit Deiner Liebe begnügt hätte. Und wann war all' das Unglück? Im Anfang unserer verdammten, tausendfach verfluchten Inflation, die uns alle verrückt machte, und unter der vielleicht am schwersten die sogenannten »höheren« Beamten litten, die ihre Verpflichtungen hatten und beim verminderten Geldwert mit ihrem seitherigen Gehalt auskommen sollten. Muß einen denn sowas nicht aus; dem Geleise schleudern? Schlechtes Geld – schlechte Menschen!

Wir ließen den Dingen ihren Gang und so geschah eines Tages das Widernatürliche, dessen Opfer ich wurde und dessen Hergang ich trotzdem nur aus Deinen Erzählungen kenne, gute Mutter. Du besuchtest an jenem Abend eine Opernvorstellung, die wegen plötzlicher Erkrankung eines Darstellers nach dem ersten Akt abgebrochen wurde. Vater wollte mit einigen Amtskollegen den Abschied seines Vorgesetzten feiern, der als Minister nach Berlin ging. Aber Vater kam schon kurz nach Deinem Weggehen nach Hause, schien zu viel Wein getrunken zu haben, und seine gewohnten Zärtlichkeiten mißfielen mir an diesem Abend. Ich schützte Kopfschmerz vor und wollte mich zurückziehen. Vater wollte mir ein Heilmittel gegen meine Migräne zurechtmachen und, wie wir später erfuhren, waren sechs Tabletten eines starken Schlafmittels aufgelöst in dem Himbeerwasser, das er mir zu trinken gab. Ich verfiel in einen schweren Schlaf, aus dem ich nach dreißig Stunden erwachte. Was inzwischen mit mir vorgegangen war, davon erfuhr ich erst aus Deinen zum Himmel schreienden Anklagen, aus Deinem schweren, mütterlichen Jammer.

Vaters Tat war schlimm; aber auch die Strafe, die Du über ihn verhängtest, war schrecklich. Du drohtest, seine weitere Beamtenlaufbahn unmöglich zu machen und seinem höchsten Vorgesetzten, dem Minister, das Vorgefallene, anzuzeigen, wenn Vater sich nicht mit allen Deinen Bedingungen einverstanden erklärte. So ergab er sich denn darein, von Deiner Rache gefesselt, daß er mich nie im Leben wiedersehen solle. Mir selber aber gabst Du den Segens-Spruch mit auf den Weg, den Du so oft aussprachst, daß ich ihn wörtlich im Gedächtnis behalten mußte:

»Was unsere Kreise ein anständiges Mädchen nennen, das bist du nicht mehr, meine Tochter. Nie kann ein Mann dich deiner Ehrbarkeit wegen zur Frau begehren. So ziehe denn durch Sinnlichkeit so viele Männer an dich, wie du nur kannst, und den, der dir am besten gefällt, fessele durch Sinnlichkeit! Das Glück der Tugend ist dir versagt, genieße das Glück der Sinne, fasse die Freude, wo sie sich dir bietet.«

Das war der mütterliche Abschiedsgruß an Deine Tochter. Nie hat ein Mädchen unter seltsamerem Segensspruch das Elternhaus verlassen, als ich mit diesem. Und versprechen mußte ich, Dir ausführlich zu berichten, wie ich Deine Weisung befolgte. Ich habe mein Versprechen gehalten. Die Blätter, die Du in der köstlichen Mappe aus Mädchenhaar sammeltest, brachten Dir Geständnisse, wie nie zuvor auf der Welt eine Tochter sie der Mutter geleistet haben mag. Doch nie auf der Welt hat auch eine Tochter der Mutter mehr Vertrauen, stärkere Liebe entgegengebracht als ich Dir. Du bist meine einzige wahre Liebe. Was sind mir die Männer? Gläser Sekt, an denen ich nippe und vorübergehe! Du bist für mich der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht. Du bist der Gott, zu dem meine Seele betet, Mutter!

Vergelte Liebe mit Liebe, Mutter, und komm zu mir. Mein »Mann« hat Dollars, ich schicke Dir als Reisegeld so viel Dollars, wie Du willst. Bring Vater mit oder laß ihn für eine Weile allein zu Hause. Wie Du über ihn beschließest, mir soll es recht sein. Kommst Du allein, so will ich alle Freude des Wiedersehens über Dich ausschütten. Bringst Du versöhnungsvoll Deinen Gatten, meinen Vater, mit, so will ich auch ihn als wiedergefundene Tochter grüßen. Aber Du, Mutter, Du mußt kommen, Du kannst Dein bittendes Kind nicht länger allein lassen, ich flehe Dich in tiefster Seele an: meine Mutter, mein Gott, mein Alles, zeige Dich endlich wieder dem Kinde, dessen Herz nach Deinem Anblick hungert!


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