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Sechstes Schriftstück

Die beiden entsetzlichen, aufeinanderfolgenden Abende gingen nicht spurlos an uns vorüber. Wenn sogar meine eigene, kerngesunde Natur sich durch diese unglaublichen Aufregungen angegriffen fühlte, um wieviel mehr war es der Fall bei Paul, der sowieso immer ein bißchen herzleidend und anfällig schien. Mehr als eine Woche lang war Paul kaum imstande, seine dringendsten geschäftlichen Angelegenheiten zu erledigen. Mit Hilfe meiner Portierfrau kochte ich eine schmackhafte, reichliche Krankenkost für ihn. Zum Sekt fehlte ihm der Mut. Bei mir ist gerade das Gegenteil der Fall, eine gute Pulle Sekt, ein edler Likör oder ein schäumender Becher Bier helfen mir über alles sofort hinweg.

Ein schwieriges Kapitel blieb zunächst auch die gute Frau Sebastian, Da hatte ich nun Knall und Fall mein Stübchen bei ihr verlassen, trotzdem sie tausendmal gesagt und bewiesen hatte, daß sie einen Narren an mir gefressen und mich lieber habe als ihre eigene Tochter in Amerika. Frau Sebastian telephonierte oft – im neuen Heim war Anschluß – ob ich denn nicht wieder »bei ihr wohnen kommen« will. Aber ich mußte es immer dankend ablehnen, denn die behagliche, abgeschlossene Atelierwohnung in der stillen Fürther Straße gefällt mir viel besser als das Zimmerchen in Frau Sebastians Doppeletage, in der ein ewiges Kommen und Gehen herrscht. Hier brauchte ich nicht die albernen Schwindeleien einer falschen Filmgräfin anzuhören, hier belästigte mich kein zudringlicher Militärarzt, der das einmalige nächtliche Helfendürfen beim Umkleiden als ein Anrecht auf dauernde Belästigungen betrachtet, hier setzte kein schüchterner Bankbeamter mir heimliche Liebesgaben auf den Tisch, hier wollte kein unmündiges Karlchen Küsse als Botenlohn für Paketeforttragen. Die Portierfrau besorgte mir alle Gänge, ohne daß ich ihr einen Kuß zu geben brauchte.

Als Frau Sebastian telephonisch nichts erreichte, begann sie mich zu besuchen. Zwar erschien ihr lautes Lachen in meinen ruhigen neuen Räumen viel weniger am Platz als in ihrer geräuschvollen Doppeletage, aber immerhin war es für mich keine allzu unangenehme Abwechslung, nun zu hören, was inzwischen bei den Sebastianschen Mietern sich Neues zugetragen hatte. Und da waren denn wirklich wunderbare Dinge passiert. Die falsche Filmgräfin hatte gewisse Beziehungen zu dem jungen Engelke, dem leichtsinnigen Sprößling eines der größten Berliner Juwelenhäuser. Der junge Engelke machte kleine, aber unglaublich kostspielige Reisen mit ihr, bezahlte ihre Rechnungen bei Frau Sebastian und gab ein wahnsinniges Geld für die dumme Gans aus. Ich glaube, die Dummheit dieses Mädchens ist das einzige, was bei ihr die Männer anzieht; häßlich ist sie nicht, sie hat sogar – das muß ihr der Neid lassen, ich bin aber nicht neidisch – sie hat sogar ein paar ungewöhnlich schöne, feste Brüste, die sie auf dem Weg zwischen Schlafzimmer und Badestube allen Sebastianschen Mietern im Korridor vermittels eines mangelhaft schließenden Bademantels oft und gern vorführte. Aber das allein kann es nicht machen, ich weiß wirklich nicht, was die Männer an dem Mädchen haben. Ob vielleicht auch da die allgemeine Verrücktheit unserer satanischen Inflationszeit mitwirkt? Jedenfalls war es eine von uns allen klar nachprüfbare Tatsache, daß der junge Engelke für sie sozusagen jeden Monat ein Rittergut vergeudete. Sie hatte keine Ahnung von Geld und von Werten. Engelke hatte ihr unter anderem einen goldenen Ring geschenkt, der mit einer kirschgroßen – wahrhaftig, Mutter, vollkommen kirschgroßen! – echten Perle und einem ebensolchen – also gleichfalls kirschgroßen! – Brillanten geschmückt war, die Perle und der Brillant waren so groß, daß an kein Handschuh-Anziehen zu denken war, wenn die falsche Gräfin den echten Ring anhatte, und so wertvoll, daß man für dieses Schmuckstück bestimmt wenigstens das vierstöckige Wohnhaus hypothekenfrei erwerben könnte, worin die Filmdame zwei Zimmerchen im höchsten Stockwerk des Hinterhauses bewohnte. Denn bei Frau Sebastian wohnen blieb sie unter allen Umständen, weil sie sich in ihrer Dummheit berechtigterweise fürchtete, bei einem etwaigen Umzug einer betrügerischen Wirtin zum Opfer zu fallen oder an eine zu geraten, die ihre Schwindeleien nicht so gutmütig hinnahm. Aus diesem wertvollen Ring verlor unsere Filmgräfin eines Nachts die kirschengroße Perle. Sie zeigte gegen Mittag, ehe sie die Wohnung verließ, der Wirtin den Ring, in dessen Mitte neben dem Brillanten eine Lücke starrte. Erschreckt erkundigte sich Frau Sebastian, ob denn alles Suchen in den Zimmern vergeblich geblieben sei? Mit dem dümmsten, »vornehmen« Gesicht, das ihr zur Verfügung stand, antwortete die Gräfin: »Ach, ich habe Ihrer Laura noch gar nicht gesagt, daß sie suchen soll, das habe ich ganz vergessen; wenn sie Zeit hat, kann sie ja mal nachsehen.« Damit ging sie.

Unterstützt von dem zwölfjährigen Karlchen und dem alten Faktotum, der Laura, begann Frau Sebastian sofort, die »gräflichen« Stuben abzusuchen. Richtig, als Karlchen mit seinem Spazierstock einen Wust von Staub, ausgekämmtem blondgefärbtem Haar und weggeflogenen Bettfedern unter einem Schrank hervorholte, lag in dieser watte-ähnlichen Wolke die vermißte kirschengroße Perle. Karlchen äußerte den Verdacht, bei soviel Gleichgültigkeit der Besitzerin könne die Perle nicht echt sein. Frau Sebastian flutschte mal rasch zum nächsten Juwelier hinüber und ließ die Perle taxieren. Die kirschengroße Perle war echt! Die Filmgräfin aber sagte kaum »Danke schön«, als Karlchen ihr die Perle gab. Von ihr aber wollte Karlchen keinen Kuß, sondern er steckte ihr die Zunge heraus.

Das mit der Perle war die eine Neuigkeit über die Filmgräfin, eine verhältnismäßig harmlose Sache.

Aber weniger erfreulich verlief der andere Kummer dieser Dame, die so gern für die Filmdiva gehalten worden wäre. Unvermutet erschien an einem von den ersten Renntagen der Saison ein früherer Liebhaber bei ihr, ein angeblicher Norweger, und lud sie ein, nach Tisch mit ihm zum Rennen zu fahren. Er habe einen totsicheren Tipp. Da der junge Engelke an diesem Sonntag mit seinen Eltern ausgehen mußte und für die Gräfin nicht zu sprechen war, sagte sie dem Norweger hocherfreut zu. Worauf der Fremde das Geständnis ablegte, daß zu dem totsicheren Tipp ihm leider das nötige Geld fehle. Zwar besaß auch das starkbusige Mädchen augenblicklich wenig Bargeld, aber die Frage des Norwegers nach dem Vorhandensein von Schmuck konnte die Gräfin bejahen; der junge Engelke hatte ihr gerade gestern abend ein fabelhaftes Perlenkollier geschenkt, bei dessen Anblick dem norwegischen Herrn das Wasser hörbar im Munde zusammenlief. Norweger und Filmgräfin stürzten sich in ein Auto, fuhren nach der Chausseestraße zu einem Geldverleiher und erhielten von ihm – trotz des Sonntags – gegen Unterschreiben eines kleinen Papiers und Verpfändung des Perlenkolliers bares Geld, ungefähr den hundertsten Teil von dem eigentlichen Werte des Geschmeides. In dem Wirrwarr unserer Währung wissen die Wucherer jetzt so gut im Trüben zu fischen. Stolz und selig fuhren Norweger und Filmgräfin weiter, speisten von dem Chausseestraßengeld in einem der besten Hotels, autelten dann zur Rennbahn und – verloren auf den totsicheren Tipp so heftig, daß sie den Rückweg mit der Stadtbahn erledigen und das Abendbrot bei Frau Sebastian »auf Kredit« nehmen mußten. Der Norweger log, er würde am nächsten Tage kommen, um Geld zu bringen; er entschwand auf Nimmerwiedersehen.

Soweit wäre alles noch erträglich verlaufen. Aber in den nächsten Tagen verlangte der junge Engelke immer stürmischer von seiner Filmgräfin Auskunft über das Verbleiben der Perlenkette. Dumme Frauen können so wundervoll beleidigt schweigen. Aber als nach einer Reihe von Tagen die Zauberkraft des gekränkten Stummseins nicht mehr verfing, mußte die falsche Diva die Wahrheit bekennen. Kaum hatte der junge Engelke den Tatbestand erfahren, da nahm er den Pfandschein und autelte nach der Chausseestraße. Der Geldverleiher hatte sein Geschäft an einen Nachfolger abgegeben. Der Nachfolger studierte den Pfandschein und machte den »Herrn Baron« darauf aufmerksam, daß nach dem Wortlaut das Pfand verfalle, wenn es nicht innerhalb achtundvierzig Stunden ausgelöst sei. Also sei weder er noch sein Vorgänger nach so vielen Tagen zur Rückgabe verpflichtet. Um sich vor allen Folgen zu wahren, log er hinzu, sein Vorgänger habe eine Auslandsreise angetreten und ihm vorher mitgeteilt, er sei mit dieser Perlenkette hereingefallen, sie sei unecht.

Leider wußte gerade der junge Engelke am besten, wie echt die Kette in Wirklichkeit war; denn erstens war er Fachmann – und zweitens hatte der leichtsinnige Jüngling diese Kette persönlich aus dem Laden seines Vaters entwendet. Gestohlen. Der junge Engelke war aber gerade so verrückt, wie wir es jetzt alle sind. Der Vater hatte, ohne Ahnung über die Person des Diebes, den Fall der Staatsanwaltschaft angezeigt, die nach dem Täter fahndete. Der junge Engelke hätte seinen gesamten Kredit bei allen Berliner Wucherern darum gegeben, wenn der Geldverleiher die Kette wieder zur Stelle schaffen wollte. Der Mann in der Chausseestraße blieb ungerührt. Und so hatte die filmgräfliche Dummheit zur bedauernswerten Folge, daß nach einigen unvorsichtigen Äußerungen dieser albernen Gans die Kriminalpolizei Wind von der Sache bekam und den jungen Engelke wegen Verdacht des Diebstahls verhaftete. Vorläufig sitzt er noch in Untersuchungshaft und es sieht so aus, als ob die Sache für ihn schlimm steht. Die Filmgräfin aber wird jede Woche vorgeladen, macht stets neue, überraschende Eröffnungen, lügt wie gedruckt, kommt sich äußerst wichtig vor und wird den armen Jungen, der ihr so viel geopfert hat, für den Rest seines Lebens unmöglich machen.

Der unsympathische, frühere Militärarzt hat sich jetzt als Doktor für gewöhnliche, zivilistische Sterbliche in Hamburg niedergelassen und hatte die Unverschämtheit, Frau Sebastian zu beauftragen, als Abschiedsgruß bestellen: wenn ich mal einen treuen Freund brauche, der in schwierigen Fällen verschwiegene ärztliche Hilfe spende, so möchte ich nach Hamburg schreiben.

Und der Bankbeamte mit der stillen Liebe zu mir? Er verehrt mich immer noch von ferne, noch immer setzt er in »mein Stübchen«, wenn es gerade menschenleer ist, ein Blümlein oder eine kleine Liebesgabe, wobei er nur eines zu übersehen scheint, nämlich: daß nicht mehr ich es bin, die in dem Stübchen wohnt, sondern ein kleines, blondes, anderes Fräuleinchen, von dem mir Frau Sebastian erzählt, daß es von weitem mir ein klein bißchen ähnlich sieht, aber aus der Nähe betrachtet, eine plumpe, ungebildete Person ist. Und wer hat das blonde Fräuleinchen – als Ersatz für mich – in mein altes Stübchen eingemietet? Mein guter Freund Hans Korn, der Hauptmann a. D. und Kunstseidenprokurist, den ich allerdings in den letzten Wochen greulich vernachlässigt habe. Ich weiß, es kostete mich einen Wink mit dem kleinen Finger, Hans Korn kehrte reumütig zu Dolly zurück und würde den blonden »Dolly-Ersatz« glatt verabschieden. Aber nein. Ich bin nicht eifersüchtig. Soll das arme Ersatz-Fräuleinchen mit meinem abgelegten Kunstseidenprokuristen glücklich werden, meinen Segen haben sie.

Als Frau Sebastian mit all diesem Klatsch über ihre Mieter zu Ende war, bemerkte ich, daß sie nebenbei auch mit einer Kognakflasche fast zu Ende war, die bei Beginn des Plauderstündchens noch beinahe gefüllt vor den Besuch gesetzt worden war. Das Lachen der trinkfesten Dame wurde immer lauter, sie hatte sich offenbar ein bißchen übernommen. Aber ich nahm es ihr nicht übel. Soll jeder nach seiner Fasson leben! Ich ließ sie erst ein Stündchen auf einem Sofa sich ausschlummern, dann brachte ich sie bis vor ihre Haustür, bis vor die der gute Professor Erhard König mich in seiner Ahnungslosigkeit in hundert Nächten begleitet hatte. Wie mag es ihm jetzt gehen? Ich habe lange nichts von ihm gehört und bewundere die Standhaftigkeit, mit der er still bleibt, trotzdem er gewiß noch ebenso oft wie ich an die herrlichen Stunden denkt, die wir zusammen verbracht haben. Noch jeder kam wieder, der mich so recht kennen gelernt hat. Wann wird mein Maler wiederkommen? Je länger die Pause, desto wonniger das Wiedersehen. Ich gehe in alle Ausstellungen, wo seine Bilder hängen und kaufe mir jede Woche das illustrierte Blatt, das seine Zeichnungen bringt. Seine Werke sagen mir: er denkt an mich! Ich lebe noch in ihm; denn ich lebe in allen seinen Bildern.

Nachdem ich meinen zarten Paul Trapp gesund gepflegt hatte von den Schrecknissen jener beiden tollen Abende, mietete er die hübsche Vierzimmerwohnung am Bayerischen Platz. Am ersten Juni sollten wir einziehen. Bis dahin wohnte er offiziell noch im Hotel Böttner, Zimmer dreiundsechzig, in Wirklichkeit blieb er aber fast immer bei mir in der Fürther Straße, in meiner Atelierwohnung. Da wir über eine so rasche Heirat, durch meinen beharrlichen Widerstand, zu keiner Verständigung gelangen konnten, war beabsichtigt, daß ich bei dem bevorstehenden Umzug nach dem Bayerischen Platz als Pauls Hausdame angemeldet werden sollte. Aber dem Hausmädchen und der Aufwartefrau, die wir uns nun schon sicherten, wurde ich als »Gnädige Frau« vorgestellt. Und dem Hausbesitzer, der auf solche Sachen in dieser phantastischen Zeit überhaupt nur halb hinhörte, wurde eine Auskunft gegeben, die: etwas unverständlich blieb und die er sich nach Belieben auslegen konnte, falls er sich über unsere Beziehungen überhaupt jemals Gedanken machen würde.

Paul Trapp, der stille, leidende Holzhändler, hatte Pech mit der hübschen Vierzimmerwohnung am Bayerischen Platz; als er sie am ersten Juni bezog, war ich – wie Du, liebe Mutter, aus meinen Ansichtskarten weißt – längst nicht mehr in Berlin, sondern auf einer großen rumänischen Tournee. Bei dieser Gelegenheit wollte ich Dich ein für allemal bitten, gute Mutter: ordne meine kurzen Nachrichten, Ansichtskarten und dergleichen nicht mit ein in die köstliche blonde Mappe aus Menschenhaar! Die soll nur meine ausführlichen langen Berichte enthalten. Sonst wird zum Schluß das Ganze ein unübersichtliches Krimskrams. Das soll es nicht. Es soll wie eine Art von »Roman in Fortsetzungen« sein, den Du mir aufbewahrst und worin ich in meinen ruhigen alten Tagen einstmals gemächlich blättern kann, wenn ich wieder zu wissen wünsche, was ich in meiner schönen stürmischen Jugend Tolles getan, Tolles gedacht und noch Tolleres erlebt habe. Aber das Tollste von allen ist vielleicht: daß eine Mutter und eine Tochter einander so gut verstehen, daß die Tochter all das ihrer Mutter berichten kann, berichten darf, berichten – muß!

Nun will ich Dir, meine über alles geliebte Mutter, ausführlich über meine große rumänische Tournee erzählen. Wie ich dazu kam und wie sie sich bis heute gestaltete. Die Sache fing damit an, daß Paul, sehr gegen seine Gewohnheit, den Vorschlag machte, wir wollten zur Feier unserer Wiedervereinigung und seiner Genesung uns einmal einen vergnügten Abend in einem der teuersten Berliner Sekt-Kabaretts machen. Ich freute mich, zog mich besonders gut an, und wir saßen in dem Kabarett »Fuchsbau« in der Proszeniums-Loge, so recht auf dem Präsentierteller. Alle Augen, Lorgnetten, Operngläser und Monokels des Parketts blinzelten nach meinem Dekolleté; bewundernd oder neidisch, aber sie blinzelten. Das genügte mir nicht, ich wollte nicht nur im Parkett, sondern auch auf der Bühne ein bißchen Unheil anrichten, nach dem dritten Glase Sekt war ich in der Stimmung dazu. In der Revue, die man spielte, hatte eben ein netter, überschlanker, schwarzhaariger Schauspieler einen Coupletschlager zu singen und zu tänzeln. Ich drehte Paul meinen Rücken zu, den er ja auch sehr gern betrachtet, machte meine Augen groß und ließ sie so heftig mit dem hübschen Schauspieler kokettieren, daß der junge Herr ins Stocken geriet und anstatt der Worte seines Couplets eine Weile lang bloß noch die Silben »lalala« trällerte, bis er wieder so halbwegs in den richtigen Text zurückfand. Nachher, wie er nicht mehr zu singen hatte, aber noch auf der Szene blieb, hielt er sich fortwährend direkt neben unserer Proszeniumsloge. Dem Publikum fiel es auf, Paul merkte nichts.

Nach der Revue kam eine Art von Varieté-Programm, bei dem der hübsche Schauspieler nicht beschäftigt war. In elegantem Abendanzug ging er während einer kleinen Spielpause durchs Parkett, als ob er einen Platz suche. Ich ahnte schon, wo er landen würde. In unserer Loge war am Tisch noch ein Sessel frei. Ich hatte richtig geahnt. Mit ausgesuchter Höflichkeit verbeugte sich der Überschlanke vor uns und erbat sich in unabweisbar sicherem Weltmannston von Paul die Erlaubnis zum Einnehmen dieser Sitzgelegenheit. Jetzt trat ein Zauberkünstler auf die Bühne. Während seiner Darbietungen spielte das Orchester eine bekannte Melodie, die ich leise mitsummte. Geschickt benützte unser Tischnachbar mein Tirilieren zur Anknüpfung.

»Gnädigste haben eine entzückende Stimme.«

Ich brummelte nur leicht ein halb geschmeicheltes, halb abwehrendes: »Oh!«

»Nein, in allem Ernst,« beteuerte er. »Ich bin schließlich Fachmann, ich verstehe etwas davon. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, daß Sie eine durch und durch musikalische Natur sind, meine Gnädigste,«

Paul wußte nicht, ob er eifersüchtig oder geschmeichelt einlenken sollte. Er schluckte ein paarmal, aber kam nicht über ein »Erlauben Sie,« oder »Bitte sehr« hinaus, so daß ich persönlich die Antwort erteilen mußte:

»Meine Stimme ist jedenfalls vollkommen ungeschult.«

»Na, und meine?« fragte der Schauspieler zurück. »Glauben Sie, man braucht zehn Jahre Konservatorium, um im Fuchsbau ein Revue-Couplet zu zwitschern? Ich hab doch vorhin meine Sache leidlich gemacht, nicht?«

»Das nennt man Komplimente fischen,« lachte ich, »aber Sie haben mir sehr gut gefallen.«

»Danke verbindlichst, meine Gnädigste. Und wissen Sie, was ich für die Bühne gelernt habe? Nichts. Vor einem Jahr war ich noch Konfektionsreisender und machte für ein Haus am Hausvogteiplatz Bombenumsätze in Süddeutschland. Durch die Stoffknappheit erschwerte sich das Geschäft immer mehr, da ging ich in die Kabarettbranche über, bei der ist es umgekehrt, da wird durch die Stoffknappheit das Geschäft geradezu gehoben!« Er verbeugte sich artig gegen mein Dekolleté.

Der Kellner brachte ihm die bestellte Flasche Rotwein; ohne erst zu fragen, goß er uns etwas davon in unsere gefüllten Sektgläser; er sagte nur: »So schmeckt der Sekt erst recht, nicht wahr, Gnädigste?« worauf Paul sich revanchieren und dem Schauspieler von unserem Sekt ins Rotweinglas gießen wollte. »Später, mein Herr, später sehr gern«, wehrte der Schauspieler ab und erhob das Rotweinglas zum Anstoßen. »Gestatten: Tischler-Ruß« stellte er sich dabei vor. Wir wußten seinen Namen natürlich schon. Paul murmelte: »Trapp«, aber so undeutlich, daß es nicht zu verstehen war, und fügte, auf mich deutend, hinzu: »Meine bessere Hälfte.«

Nach dem Prosten und Trinken fuhr der Schauspieler in der Schilderung seines Werdeganges fort.

»Sie müssen wissen, Herrschaften, ich ging in die Kabarettbranche nicht als Akteur, sondern als Direktor, als Mitbesitzer. Ich bin an diesem edlen Lokal hier stiller Fuchsbau-Teilhaber und zweiter Fuchsbau-Direktor. Aber wenn ich mich in Berlin aufhalte, tu ich auch auf der Bühne mit, singe, tanze, rechne an der Kasse mit ab, schiebe Kulissen und lasse den eisernen Vorhang runter. Ich helfe unsere Revuen dichten, komponieren, entwerfe Dekorationen und Kostüme, führe Regie, wie's gerade trifft. Meine Spezialität ist das Entdecken junger Talente. In Ihnen, meine schöne Gnädigste, schlummert entschieden eine starke Begabung, die nur erweckt werden will. Indessen ... freilich ...« er setzte, ich spürte es, zu einer Keckheit an ... »freilich nötig haben Sie es ja nicht. Wenn der Herr Gemahl ein so flott gehendes Bauholz-Großgeschäft betreibt, da braucht die schöne Gemahlin nicht für schnödes Geld zu singen und zu tanzen.«

»Sie kennen mich?« fragte Paul.

»Zufall, mein Herr. Einer unserer Bühnenarbeiter, gewissermaßen also auch Holzfachmann, stand vorhin während der Revue unablässig neben dem Feuerwehrmann, um mit durch dessen Loch schauen zu können. Von da aus kann man nämlich famos hier in die Proszeniumsloge schauen. »Was haben Sie denn, Pfaffke?« frag ich ihn.«

»Pfaffke?« staunte Paul, »so hieß mal ein Vorarbeiter auf meinem Holzlagerplatz.«

»Stimmt. Der nämliche. Hat sich also auch auf die Kabarettbranche geworfen. Und wie ich ihn frage, was er da so starrt und stiert, da sagt er mir, wer Sie sind, und schließt mit der begeisterten Wendung, Glück bei Frauen hätten Sie, mein verehrter Herr Trapp, zwar vielleicht immer gehabt, aber so etwas Tadelloses wie heute hätte er an Ihrer Seite noch nie gesehen.«

Bei Pauls grundsätzlicher Abneigung gegen alles männliche »Schauspielervolk« wunderte es mich nicht, daß er auch mit unserem Tischnachbar keine Ausnahme machte und ihn mit spürbarer Kühle behandelte. An diesem Abend kam es zu keinerlei weiteren Anspielungen wegen meiner künstlerischen Begabung, und der Abschied enthielt von Pauls Seite nicht den Wunsch eines Wiedersehens mit dem überschlanken, hübschen Schauspieler.

Wenn ich Dir, gute Mutter, jetzt bemerke, daß zu jener Zeit vor den mit freien Wohnungen versehenen Häusern noch Tafeln mit entsprechender Aufschrift zu prangen pflegten und daß, da ich die Atelierwohnung wegen Pauls Umzugsplänen gekündigt hatte, an meiner Haustür solch ein Täfelchen hing – wenn ich Dir dies andeute, so weißt Du schon im voraus, wie die Sache weitergeht. Es dauerte keine halbe Woche, da hatte Herr Tischler-Ruß meine Wohnung ausfindig gemacht, ließ von der Portierfrau sich unter der Maske eines Wohnungsuchenden durch meine Zimmer führen, und tat außerordentlich erstaunt, als er mich – auf das scheinheiligste – »wiedererkannte«. Die Portiersfrau sagte verständnisinnig: »Na, wenn die Herrschaften alte Bekannte sind, bin ich hier ja überflüssig« und zog sich zurück. An dem Umstand, daß Tischler-Ruß ihr nun kein Trinkgeld gab, erkannte ich, daß er's ihr sicher schon vorher gegeben hatte – und entsprechende Weisungen dazu.

Nachdem er den Zufall genugsam gepriesen hatte, versprach er mir das Blaue vom Himmel herunter, wenn ich die rumänische Tournee seines Kabarett-Ensembles mitmachen wolle. Unter anderen Verhältnissen hätte ich ihm vielleicht die Tür gewiesen, aber ein heimtückischer Zufall kam ihm zu Hilfe. Gerade heute Nacht hatte Paul über neue, fremde Schmerzen in der linken Wade mir ein Beträchtliches vorgestöhnt und mich aufgefordert, den Sitz der Krankheit zu besichtigen. Ich fand die Wade bedeckt mit widerwärtigen Krampfadern, die an mehreren Stellen als häßliche Geschwüre hervortraten. Mir, meinen schönheitsdurstigen Augen, mußte er so etwas darbieten! Ich hatte bisher soviel Mitleid mit seiner zarten Konstitution empfunden, daß ich mich nun fast über mich selbst wunderte, weil ich jetzt diese Verunstaltung seines Körpers als so starken Abscheu empfand. Aber ich kam innerlich über einen gewissen Ekel nicht fort. Der Gedanke mit dem so Verkrüppelten in eine Wohnung ziehen, ihn schließlich heiraten zu sollen, wurde mir von Stunde zu Stunde unerträglicher. Ich konnte schon an nichts anderes mehr denken als an Pauls Krampfadern. Da kam der hübsche Tischler-Ruß und brachte mir mit seinem Tourneevorschlag die Erlösung, wenigstens die Vertagung.

Ich spielte zuerst die Unerbittliche, lenkte dann aber ein – man könne vielleicht in Erwägung ziehen, ich wolle mit meinem Gatten reden ...

Da demaskierte sich Tischler-Ruß. Er hatte sich erkundigt, wußte meinen Mädchennamen, hatte sogar einen unterschriftsbereiten Vertrag in der Tasche. Bei dem nur noch die Ziffer auszufüllen sei.

»Wie hoch?« fragte ich.

Er nannte eine annehmbare Summe.

»Verdreifachen Sie sie«, befahl ich, »dann will ich unterschreiben.«

»Sagen wir – verdoppeln ...?« wandte er ein.

»Verdreifachen!« beharrte ich.

Er tat's.

Ich unterschrieb.

Seit diesem Augenblick war ich bei einer unerschwinglich hohen Konventionalstrafe verpflichtet, die bald beginnende rumänische Tournee mitzumachen und die wenigen, ihr vorangehenden Proben.

»Zur Besiegelung des Vertrages – « sagte Tischler-Ruß und hielt mir seine Wange hin wie zum Kuß.

Ich gab ihm statt dessen eine Ohrfeige.

Dies schien ihm erst recht zu gefallen.

»Noch eine!« bat er.

»Nein, verehrter Herr,« lachte ich ihn aus. »Ich habe Sie als Direktor engagiert und nicht als Prügelknaben. Gehen Sie jetzt, gleich kommt mein Mann nach Hause – «

»Ihr Mann, Fräulein Meister?« ironisierte er.

»Sie können noch so frech sein,« spottete ich, »Sie kriegen trotzdem keine Ohrfeige von mir. Gehen Sie. Wenn Herr Trapp kommt, gibt es wegen Ihres Vertrages sowieso eine Szene; die braucht nicht noch durch Ihre Anwesenheit verschärft zu werden. Morgen um elf sehen wir uns bei der Probe wieder.«

Da ging er.

Du kannst Dir denken, meine beste Mutter, welchen Auftritt es gab, als ich Paul das Geschehene erzählte. Hätte ich ihn den Kontrakt sehen lassen, er hätte das Papier in Stücke gerissen.

Aber es half ihm kein Grollen und kein Schelten – ich war nun einmal engagiert und bestand darauf, daß Paul mich meinen Vertrag innehalten lassen mußte. Nur das eine Zugeständnis machte ich, daß er bei den Proben anwesend sein solle, so oft es die Direktion gestatten würde, und daß er mir bei meinem ersten Auftreten sieben große Blumenarrangements auf die Bühne reichen lassen dürfe. Ich sah schon an diesem Tage meiner Bühnenlaufbahn mit größter Sicherheit entgegen, trotzdem ich außer zu kleinen Vereins-Aufführungen bei Euch in der Vaterstadt niemals die weltbedeutenden Bretter bestiegen hatte. Weißt Du noch, Mutter, wie ich als sechzehnjähriges Mädel beim Stiftungsfest des Gesangvereins einen Pagen spielte? Das hat mir damals ein solches Vergnügen bereitet, daß ich nach dem Hersagen meiner kurzen Rolle am liebsten überhaupt nicht wieder von der Bühne heruntergegangen wäre! Ich hatte gleich bei meinem Auftreten Leute in der ersten Parkettreihe sagen hören: »Gott, was die für hübsche Beine hat!« Und heute war ich überzeugt davon, daß auch am Kabarett, in Berlin wie in Rumänien, die Begeisterung des Publikums und der Kritik sich in ähnlichem Sinne äußern wird wie damals die vorderste Reihe in Eurem Gesangverein.

Die erste Probe brachte Enttäuschung. Ich hatte mir vorgestellt, sie sei auf der Bühne, aber die Probe fand nicht auf der Bühne statt, sondern in einem kleinen abgelegenen Saal, den man auf einer richtigen Hühnerleiter erklimmen mußte. Natürlich behielt alles die Straßenkleider an und zustande kam eigentlich so gut wie überhaupt nichts. Tischler-Ruß stellte mich dem ersten Direktor, Herrn Fuchs, und den anderen Herrschaften mit ein paar gleichgültigen Worten vor. Ich hatte das Bewußtsein, daß er nur bestrebt war, die Gefühle zu verbergen, die er für mich bestimmt empfand. In dem Stück, das wir auf der rumänischen Tournee aufführen sollen, hatte ich die Rolle einer jungen, schönen, reichen Kopenhagenerin, die zu ihrem Vergnügen durch alle Länder reist und überall mit den Eingeborenen in der jeweiligen Landessprache zu radebrechen hat.

Tischler-Ruß, der das Stück geschrieben und vertont hat, bat mich, aus dem schreibmaschinierten Manuskript ein paar Stellen laut zu lesen und war hoch erfreut, als er merkte, daß mir nicht nur Französisch und Englisch geläufig ist, sondern daß ich auch ein bißchen Dänisch und Italienisch verstehe. Es ist fürs ganze Leben gut, daß Du, liebe Mutter, mich auf der Schule und in der Pension etwas Tüchtiges hast lernen lassen.

»Sie haben ja fabelhafte Sprachkenntnisse, Fräulein Meister,« lobte der überschlanke Tournee-Direktor, »aber jetzt werden Sie trotzdem gleich nicht mehr weiter können. Der nächste Auftritt spielt nämlich in der Türkei. Da haben Sie türkisch zu sprechen. Und was Sie da zu sagen haben, kann vorläufig nicht mal ich selber lesen. Die Stellen hatte ich nämlich in dem schreibmaschinierten Manuskript freigelassen und hatte einen Lektor des Orientalischen Seminars zu Berlin beauftragt, sie nach meinen extra mitfolgenden, genau nummerierten Notizen in das Manuskriptbuch an den richtigen Stellen türkisch einzutragen. Und was tut dieser Lektor des Orientalischen Seminars zu Berlin? Er trägt seine türkische Übersetzung in Ihr Manuskript, Fräulein Meister, in – türkischer Schrift ein! Wahrscheinlich hat der gute Mann angenommen, daß eine so vielsprachig veranlagte junge Dame wie Dolorosa Meister selbstverständlich auch die türkische Schrift lesen kann!«

Tischler-Ruß reichte mir das Manuskript mit der konstantinopolitanischen Szene, wo zwischen den anderen, deutsch getippten Rollen ein paar Worte in türkischer Handschrift notiert standen. Und der überschlanke Tournee-Direktor fiel vor Erstaunen fast auf seinen schmalen Rücken, als ich anfing, diese kurzen, einfachen türkischen Phrasen mit geringer Mühe langsam aus dem Buche abzulesen. Denn es waren nur die geläufigsten osmanischen Grußformen und so weit reichte mein bißchen Türkisch gerade.

»Was??«, rief er, beinahe ungläubig, »türkisch – können Sie – – auch??«

Worauf ich ihm erzählte, daß Professor König, der als junger Mann jahrelang in Stambul lebte, mir von der Kunst des türkischen Lesens und Sprechens ein Weniges beigebracht hat, weil es dem Maler Vergnügen machte, mein angeborenes Sprachtalent – wie er immer so hübsch sagte – ein bißchen »wachsen zu hören«.

Meine beinahe selbstverständliche Erwartung, daß ich vor der rumänischen Tournee zuerst in Berlin auftreten solle, schmolz gleich bei der ersten Probe dahin. Tischler-Ruß sagte, daß er das nicht riskiere. Auch die rumänische Tournee habe er so eingerichtet, daß nicht die Haupt- und Residenzstadt Bukarest unsere erste Station werde, sondern wir kämen zuerst in einige kleinere Städte, wo ich mir das bißchen Routine zulegen solle, das vor dem Auftreten in einer Weltstadt immerhin vorhanden sein müsse. Alles kleine Enttäuschungen, über die ich aber verhältnismäßig schnell wegkam. In meinem Innern hielt ich alle diese Vorsichtsmaßregeln für überflüssig; denn ich habe noch nie und nirgends davon gelesen oder gehört, daß eine wirklich schöne Frau auf der Bühne das Mißfallen des Publikums zu hören bekommen hätte.

Außer Tischler-Ruß und mir sollten nur noch fünf andere Personen mitreisen: ein älterer Komiker und die komische Alte; ein junger Komiker; ein Tenor, der eine wunderbare Stimme hat, aber sonst ein schrecklich schmalziger Mensch von widerlichem Körperduft ist; und Stella Most, eine sehr hübsche, nicht mehr sehr junge Sängerin, nicht etwa so schön wie ich, aber schlank, rassig, blauschwarzes Haar, und mit einer bewunderungswürdigen Stimme von fabelhafter Gesangstechnik. Es schienen mir alles recht verträgliche Kollegen zu sein, mit denen ich gut auskommen konnte.

Vor meiner Abreise hätte ich gern noch meinem zarten, leidenden Paulchen bei seinem Umzug in die hübsche Vierzimmerwohnung am Bayerischen Platz meine hilfreiche Hand geliehen, aber das war nicht möglich, denn ich mußte am neunundzwanzigsten Mai abreisen und die Wohnung wurde erst am ersten Juni frei.

Es geht nicht immer alles so, wie man will. Zum Beispiel wollte Paul mich bei meiner Abreise an den Zug begleiten, aber es ergab sich, daß er um diese Zeit wegen eines großen Holzprozesses vor Gericht erscheinen mußte. Er machte das auf andere Weise gut: er besorgte mir schon viele Tage vor der Abfahrt auf seine Kosten eine Fahrkarte erster Klasse, während die Fuchsbau-Direktion nur zweiter Klasse bewilligt hatte. Das war mir sehr lieb; auf der Reise von Berlin nach Rumänien wurde in zwei Nächten die Benutzung des Schlafwagens nötig und wer weiß, welche wildfremde Dame ich da als Schlafcoupégenossin gehabt hätte; denn die Schlafcoupés zweiter Klasse waren zweibettig, während die Abteile erster Klasse nur für einen Fahrgast Schlafgelegenheit führten. Frau Ernestine Dopplinger, die komische Alte, und Fräulein Stella Most, die jüngere Sängerin, hatten sich schon ihr Schlafcoupé zweiter Klasse zusammen gesichert. Da die beiden Damen also gewillt gewesen waren, mich meinem Schicksal zu überlassen, hielt ich es auch weiter für kein Verbrechen, daß ich mich mit meiner Fahrkarte Erster auf der Reise ein bißchen von ihnen absonderte. Sobald Tischler-Ruß von mir hörte, daß mein »Gatte« mir zu einer so angenehmen Reise verhelfen wolle, tat er den Ausspruch, daß selbstverständlich auch die Direktion – also er – aus Repräsentationsgründen Erster fahren müsse. Bis dahin hatte er von einer solchen Selbstverständlichkeit nichts verlauten lassen. Mich freute sein Entschluß; denn so war ich, trotz meiner Absonderung von den Kollegen, auf der langen Fahrt keinesfalls: zur Vereinsamung verurteilt und ich hatte ja noch keine Ahnung, welche peinlichen Überraschungen das Reisen in so fernen, balkanischen Gefilden mit sich bringen könnte, insbesondere für uns Deutsche das Reisen in einem Lande, gegen das wir bis vor kurzer Zeit Krieg geführt hatten.

Tischler-Ruß kannte Rumänien schon aus seinen Konfektions-Reisen in Vorkriegszeiten. Er war auch während des Krieges als deutscher Offizier in dem Lande gewesen. Dies war nun sein erstes Auftauchen nach Friedensschluß. Und er wollte auf jeden Fall die Vorsicht gebrauchen, unser Deutschtum nicht zu herausfordernd zu bekennen. Wir bekamen jeder einen exotischen Künstlernamen, auch der Titel unserer Revue klang international; die Ankündigungen und die Programme sollten in einem imposanten Kauderwelsch gehalten sein. Mein eigener Name wurde nur wenig geändert: ich hatte ja einen recht klangvollen Vornamen – Dolorosa – der wurde zum Nachnamen »erhoben«, wie man das bei der Bühne so häufig tut. Als Vorname sollte mir nun irgend etwas recht Rumänisches »verliehen« werden. Tischler-Ruß wollte mich zuerst »Doamna Dolorosa« nennen. »Doamna« ist rumänisch und heißt auf deutsch Frau. Bald kam er hiervon ab, und ich sollte »Domnisoara Dolorosa« heißen, was auf Deutsch »Fräulein Dolorosa« bedeuten würde. Aber der erste Direktor, Herr Fuchs, der im entscheidenden Augenblick immer die guten Ideen hatte, strich sowohl das »Doamna« als auch das rumänische »Domnisoara« und wählte dafür das lateinische oder eigentlich internationale »Domina«, Herrin.

»Domina Dolorosa« nannte mich der Theaterzettel, und der düstere, klangvolle Name stand in pikantem Gegensatz zu meiner heiteren Persönlichkeit wie auch zu der blonden Däninnen-Rolle, die mir zugedacht war.

Wie oft haben inzwischen lateinkundige Verehrer ihren Geist an der Deutung meines Künstlernamens versucht. Zumeist pflegten sie festzustellen – was durchaus meine Ansicht ist: »Domina«, »Herrin«, das paßt zu mir; denn meine bezwingende Schönheit macht mich zur Herrscherin über das sogenannte stärkere Geschlecht. Aber »Dolorosa«, »die Schmerzensreiche«? ach du lieber Himmel! was dies anbelangt, hätte die Fuchsbau-Direktion mir richtiger einen lateinischen Namen ausgesucht, der auf deutsch »die Freudenreiche« hieße.

Herr Tischler-Ruß persönlich hatte sich vollkommen balkanisiert; Tischler heißt auf rumänisch Stoler und Ruß heißt auf rumänisch Serum; folglich reisen wir unter der Direktion Stolerul-Scrumeanu, mehr kann man nicht verlangen!

In der Nacht vom 31. Mai zum 1. Juni langten wir, lange nach Mitternacht, in dem Städtchen Turn-Severin an, wo unser erstes Gastspiel stattfinden sollte. Das Wetter war schlecht bei unserer Ankunft. In zwei geschlossenen Wagen fuhren wir bei strömendem Regen zum Hotel. Von den Reizen der Gegend, die der landeskundige Direktor Stolerul-Scrumeanu mir aufgeregt gepriesen hatte, war bei Nacht und Nebel natürlich nichts zu entdecken. Gegen acht Uhr morgens klopfte das Zimmermädchen an meine Tür und berichtete in französischer Sprache, der Herr Direktor lasse mir sagen, ich solle mich bald anziehen, nach einer Stunde erwarte er mich im Frühstückssaal.

Kurz nach neun war ich mit dem Anziehen fertig, Tischler-Ruß, Pardon: Stolerul-Scrumeanu – ging schon nervös im Speisezimmer auf und ab.

»Kommen Sie endlich, Domina Dolorosa?«

»Endlich? Neun Uhr früh ist es, Herr Direktor!«

»Weiß ich. Aber wenn wir noch lange warten, will das ganze Ensemble mit auf unseren Ausflug.«

»Ausflug?«

»Ja. Wagenfahrt nach Ada Kaleh. Das Wetter hat umgeschlagen und ist herrlich. Ada Kaleh ist eine Märcheninsel in der Donau, zwei Wagenstunden von Turn-Severin. Unsere Droschke wartet schon vorm Hotel. Der Ausflug wird so göttlich, daß ich – außer mir – ihn nur noch Ihnen gönne, Fröken.« (Da ich zur Dänin befördert worden war, sagte er nicht mehr Fräulein zu mir, sondern Fröken.)

»Einverstanden, Domnule!« sagte ich auf echt rumänisch. Und wir stiegen in den Wagen. Nicht einmal zum Frühstücken ließ er mir Zeit, das sollte ich auf Ada Kaleh nachholen.

Um es gleich vorweg zu sagen: der Ausflug war, was das Wetter und insbesondere was die Gegend anbetrifft, schlankweg der herrlichste meines Lebens. Ab und zu erlebt man einen Tag, der so erfüllt ist von Sonnenschein, Himmelsblau und Erdenherrlichkeit, daß er später edelsteingleich, fast unvergänglich durchs Dasein zu strahlen und zu leuchten vermag. Solch ein Tag war es, als ich jetzt mit Tischler-Ruß die donauumspülte »Türkeninsel« Ada Kaleh begrüßte.

Wie anders hatte ich mir das heute vorgestellt. Ich dachte, daß der Direktor auf elf Uhr vormittags eine Bühnen-Probe ansetzen werde, aus der sich vielleicht die Notwendigkeit ergab, am Nachmittag noch eine zweite Probe abzuhalten. Über diesen Punkt beruhigte mich Stolerul-Scrumeanu während der ersten Minuten unserer Wagenfahrt. Unsere Vorstellung würde nicht vor halb zehn Uhr beginnen und, da es ja heute warm und trocken sei, wahrscheinlich im Garten stattfinden. Das war hier nichts Besonderes. In den Balkanländern spielen fast alle leichteren Theater bei günstigem Wetter unter freiem Himmel, denn in den Sälen ist es dem Publikum zu heiß. Nur bei Regen spielt man im Saal. Tritt während der Vorstellung Regen ein, so siedeln bei der ersten passenden Möglichkeit Publikum und Darsteller in den geschlossenen Theaterraum über.

Doch zurück zu unserem schönen Ausflug! Die entzückende kleine Insel Ada Kaleh liegt gegenüber dem großen Orte Orsova in einer weiten Biegung des Flusses, die einem großen See gleicht und, so sagte mein vielgereister Begleiter, an die prächtigsten Herrlichkeiten der norditalienischen Seen mahnt; nur daß die Berge, von denen dieser vorgetäuschte See umrahmt ist, wild und ungebändigt ragen, von keinem Wegebauer, von keinem Hotelarchitekten bezwungen. Glaubhaft klingen die Berichte der Bewohner, daß im Winter Wölfe und Bären aus den Wäldern dieser Berge zu den Dörfern herunterkommen.

Zuerst fuhren wir durch das hübsche Städtchen Turn Severin, wo heute abend mein erstes Auftreten – bei schönem Wetter im Garten – stattfinden sollte. Dann befuhren wir eine Chaussee, die sich an der Donau entlangzieht, an den Felsen des berühmten »Eisernen Tores« vorüber, bis Orsova. Mittags machten wir zu einem kurzen Imbiß Halt in dem anmutigen Verciorova, wo der freundliche Wirt, ein geborener Ungar, des Deutschen kundig wie alle Ungarn, uns die historischen Denkwürdigkeiten Ada Kalehs kund und zu wissen tat. Beinahe im Tonfall eines Schülers, der Auswendiggelerntes aufsagt, berichtete der freundliche Mann uns etwa folgendes:

»Schon vor Trajans Zeit wählten die Römer die Insel, die heute Ada Kaleh heißt, als Brückenkopf. Zurückgeschlagen, mußten sie an die Dacier – so hießen damals die Bewohner des heutigen Rumänien – Tribut zahlen. Doch Trajan zog aus, schlug den Dacierkönig Decebal und legte Befestigungen auf Ada Kaleh an. Unter Attila setzen die Hunnen auf Baumstämmen über den Fluß und zerstören die römischen Festungswerke. Im sechzehnten Jahrhundert baut der Ungarnkönig Arpad, der Zweite, neue Befestigungen aus Backsteinen, die er auf Flößen hinüberschafft. Unter Soliman dem Zweiten erobern die Türken das Inselchen auf dem Zuge, der sie bis vor Wien führt, und bauen's zur starken Festung aus, die, obwohl von Prinz Eugen selbst zurückerobert, 1856 auf dem »Berliner Kongreß« einfach – vergessen wird. Der »grüne Tisch« wußte nichts von Ada Kaleh. So blieb die Insel türkischer Besitz. Sie hat siebenhundert Türken als Bewohner. Und der Gouverneur hatte sogar einen Harem, bis vor zwei Jahren, wo mit dem Schlusse des Weltkrieges die Insel aufhörte, türkischer Besitz zu sein. Sie gehört jetzt zum Königreiche Rumänien.«

Staunst Du nicht, liebe Mutter, wie gut ich das alles bis heute, wo ich es niederschreibe, im Gedächtnis behielt? Aber Ada Kaleh mit allem Drum und Dran hat einen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht. Im übrigen verspreche ich Dir feierlich, beste aller Mütter, daß die Schilderung meiner rumänischen Tournee von jetzt ab keine geschichtlichen Erinnerungen mehr enthalten soll, sondern nur noch die Wiedergabe meiner allerhöchst eigenhändigen, persönlichen Erlebnisse.

Nach meinem ersten Frühstück, von dem anmutigen Verciorova aus, fuhr unser Zweispänner wieder am Donau-Ufer entlang, durch die Ausläufer der transsilvanischen Alpen, deren malerische Schönheit an manche, mir damals schon bekannte Gegenden erinnert, bald an die ulkigen Felsformen der Sächsischen Schweiz, bald an die grünen Höhen des Harzes oder Thüringens, dort wieder an den schwerblütigen Ernst des Schwarzwaldes. So erlebte ich in zweistündiger Wagenfahrt Erinnerungen an viele verflossene schöne Reisetage ... bis unsere Pferde hinter Orsova Halt machen, wo in einer kleinen Bucht wohl ein Dutzend Ruderboote liegt, deren jedes einen europäisch gekleideten, beinahe elegant angezogenen, fezgeschmückten Bootsmann als Führer hat. Jetzt durfte ich wieder einmal Früchte pflücken von meinem Studium der osmanischen Sprache. Der fez-gekrönte Bootsmann freute sich herzlich, als er von fremden Lippen, die dazu noch so hübsch sind wie meine, ein paar Wörter in seiner Muttersprache hört. Und ohne Zögern setzt er die stark übertriebene Fahrgeldforderung auf ein Drittel herab ...

Stolerul-Scrumeanu steigt ein, hilft mir ins Boot. Er, der ortskundige Führer, fühlt sich ein bißchen abhängig von mir, die den Dolmetsch spielt. Der Kahn gleitet über die Fläche der Donau, die den tiefblauen Himmel wiederspiegelt. Drüben, mitten im Fluß, liegt die gestreckte liebliche Insel mit all ihren uralten, mittelalterlichen und neuen Festungswerken. Das Türmchen der Moschee grüßt herüber. Unser Fährmann kreuzt in verschnörkelten Linien durchs Wasser und erzählt mir auf türkisch, wieviel sein Kaik, sein Kahn, gekostet hat und daß jetzt alles so teuer geworden sei, auch in Ada Kaleh ..., das wir in diesem Augenblick glücklich erreicht haben.

Wir sind – »in der Türkei«.

Nicht mehr in buntgestickten Waschkleidern, wie drüben die stolzen Rumäninnen und die schönen Ungarinnen, nein, in keuschen schwarzen Gewändern gehen hier die Frauen durch die engen Sträßchen des Inselchens. Verschleiert sind sie und trotz des heißen Tages lassen Kleid und Kapuze kaum Augen und Nase frei. Ich kann gewiß meinem Körper manches zumuten, aber ich glaube, wenn ich heute bei dieser Hitze hier in solcher Tracht gehen müßte, vor der zweiten Stunde fiele ich in Ohnmacht.

In den Läden gibt es Zigaretten und echt türkischen Tabak zu kaufen, den das frühere Mutterland seinen Söhnen hierher schickt. Wo wir uns blicken lassen, wird die schöne, blonde, fremde Frau bestaunt, die es ungestraft wagen darf, sich den Männeraugen unverschleiert zu zeigen.

Vor kleinen Kaffeehäusern laden niedrige Sitze zu einem Trank, von dessen Echtheit ich mich bei einem zweiten Frühstück ausgiebig überzeuge. Wir besuchen die Moschee, die gleichzeitig die Schule ist. Der Lehrer ist nicht da, es sind t'atyl (Ferien), aber die Klassenzimmer sind offen, und ich darf meinem Kabarett-Direktor den Text der Lehrtafeln übersetzen, mit denen die Wände der Stuben – wie bei uns, liebe Mutter – geziert sind.

Zehnmal muß ich beim duftenden Mokka den Bootsführer mit meinen schönsten türkischen Brocken bitten, bis er es wagt, sich mit einer unverschleierten Dame an den gleichen Tisch zu setzen. Aber ich will es. Und er tut es. Dann wird er gesprächig und erzählt von dem freundlichen Leben der Bewohner von Ada Kaleh. Wie gut es ihnen geht. Wieviel sie verdienen. »Und wo laßt ihr euer vieles Geld?« frage ich ihn, »tragt ihr's zur Bank?«

»Nein, wir lassen's im Haus.«

»Und wenn ein Chirsis (ein Dieb) kommt?«

»Wer sollte bei uns stehlen? Wir sind alle reich!« sagt er mit naiver Selbstverständlichkeit.

Glückliche Insel! Glückliches Ada Kaleh! Wer dort ewig bleiben dürfte! Aber wir müssen zurück – zurück nach Turn Severin, wo heute abend mein erstes Auftreten – bei günstiger Witterung im Garten! – stattfinden soll.

Als der Wagen gegen fünf Uhr nachmittags durch die Straßen von Turn-Severin fuhr, ließ Stolerul-Scrumeanu den Kutscher nicht bis zu unserem Hotel fahren, sondern entlohnte ihn kurz vorher, ein paar Häuser entfernt von dem Bau, dessen Garten- oder Saalbühne, je nach dem Barometerstand, der Boden meines ersten Debüts werden sollte.

Schon allein dieser prächtige Ausflug nach der Märcheninsel Ada Kaleh würde mir genügt haben, um diesen Tag als einen der schönsten meines jungen Lebens zu empfinden. Mein Direktor hat sich während des Ausflugs, überhaupt in der Zwischenzeit von seinem Besuch in der Atelierwohnung bis nun, so tadellos liebenswürdig und zurückhaltend zu mir betragen, daß ich fast argwöhne: es tut ihm leid, daß er sich damals zu weit vorgewagt hat, er will's wieder gutmachen, seine Zeit abwarten und – nun, sagen wir mal: unsere beiden Herzen ... reif werden lassen. Mir soll's recht sein. Auf eine Ansichtskarte, die ich von Ada Kaleh aus an den Berliner Holzhändler Paul Trapp schrieb, hat Tischler-Ruß ein paar nette Worte mit draufgeschrieben.

Hier schicke ich Dir, liebe Mutter, den Theaterzettel meines allerersten Debüts; ihn darfst Du ausnahmsweise mit in die köstliche Mappe aus Mädchenhaar legen. Da Du weder seine rumänische Vorder-, noch seine ungarische Rückseite Dir übersetzen kannst, will ich Dir in klarem Deutsch verraten, was er enthält. Der Titel der Revue heißt: »Die Dame aus Kopenhagen«. Der Untertitel lautet: »Internationale Revue in sieben Bildern«. Der Text und die Musik stammen, wie ich Dir schon sagte, aus der vielseitigen Feder unseres überschlanken Tournee-Direktors.

Wie Du siehst, steht Domina Dolorosa als erste der handelnden Personen auf dem Zettel. Es sieht so aus, als ob ich die Hauptrolle hätte, ist aber eigentlich nicht so. Ich habe nur den ganzen Abend auf der Bühne zu sein und etwas zu tun, was mir recht gut »liegt«, nämlich: schön auszusehen. In jedem der sieben Bilder trage ich eine andere Robe, eine andere Kopfbedeckung, andere Frisur – ich mach' sie mir immer selbst, das kann mir niemand so rasch machen wie ich. Pelzmäntel, Pelzkolliers, Schals, Boas umflattern mich während der sieben Bilder. Die Pelzsachen sind alle echt und sollen nach der Tournee – leider! – an den Verleiher zurück. Der viele Schmuck, den ich abwechselnd zu tragen habe, ist unecht. Trotzdem scheint mir die Ausrüstung einer solchen Tournee ein fabelhaftes Geld zu verschlingen und ich bewundere die Geschäftstüchtigkeit des früheren Konfektionärs, der das alles sozusagen aus dem Nichts hervorzaubert; denn ein Milliardär ist er vorläufig auch nicht. Wenn der Wert der deutschen Mark sich weiter so verschlechtert, wird allerdings vielleicht noch jeder von uns Milliardär werden.

Bei der Probe, die gegen sechs Uhr nachmittags begann, war ich überrascht davon, wie nett in dieser kleinen Stadt die Garderobenräume unserer Gartenbühne eingerichtet sind, der Betrieb hier ist eben auf tropisches Sommertheater eingestellt. In Berlin wäre so etwas undenkbar. Die Vorstellung begann um halb zehn, nachdem zwischen dem vier Mann starken, aus Bukarest verschriebenen Salon-Orchester und unserem Spiel-Ensemble durch wiederholtes Probieren der Musikstücke der Kontakt einigermaßen hergestellt war. Das Publikum von Turn-Severin stellt, wie Tischler-Ruß mir nicht oft genug wiederholen konnte, keine allzu großen Ansprüche an seine Abendunterhaltung.

Mein Erfolg war – ich will mal bescheiden sein –: zufriedenstellend. Nein, Mutter, warum soll ich heucheln? mein Erfolg war groß und für mich war er geradezu berauschend! Von der ersten Minute meines Auftretens an hatte ich das Publikum für mich. Kurz bevor mein Auftrittslied kommt, hat der Komiker als Hotelkellner zur komischen Alten, der Hotelbesitzerin, zu sagen, es sei eine Dame aus Kopenhagen angekommen, die so schön sei, daß sogar der Pikkolo sich in sie verliebt habe. Dann erscheine ich, zwitschere eine Auftritts-Strophe und fühlte beim ersten Takt meine Sicherheit, meine Wirkung. Wenn ich mich von der einen Seite der Bühne nach der anderen Seite hinüberspielte, sah ich deutlich, daß alle Hälse den Ruck mitmachten, daß kein Auge auch nur für Sekundenbruchteile von mir lassen wollte. Ich mußte meine Auftritts-Strophe noch zweimal wiederholen, sang sie also im ganzen dreimal.

Bei jedem Wiedererscheinen in den übrigen sechs Bildern wurde ich mit donnerndem Beifallsklatschen begrüßt und nach jedem Aktschluß riefen hundert Stimmen: »Domina Dolorosa, Domina Dolorosa!« Natürlich deutete ich bei meinen Verbeugungen mit der bekannten Star-Geste auf die Mitspieler, zog auch an meiner Hand gewaltsam den Direktor aus den Kulissen heraus an die Rampe mit vor, aber das war nur Mache, in Wirklichkeit fühlten wir und alle Kollegen, daß der Beifall des Turn-Severiner Publikums mir gehörte, mir allein. Ich fragte mich mit berechtigtem Stolz, wie anders der Abend für das Ensemble verlaufen wäre, wäre die schöne Domina Dolorosa nicht mit auf der Tournee gewesen! Als nach Schluß des letzten Bildes der Beifall endlich verrauscht war, führte Tischler-Ruß mich beiseite in eine Kulissen-Ecke, wo uns keiner sehen konnte und küßte mich auf beide Wangen – ich möchte sagen: respektvoll, etwa in dem Stil wie Kaiser und Könige bei offiziellen Begegnungen sich zu küssen pflegen. Seine Sehnsucht nach Ohrfeigen schien sich gelegt zu haben.

Noch zwei Wochen ähnlicher Erfolge in anderen kleinen rumänischen Städten – dann erfolgte der Einzug in Bukarest; nachmittags kamen wir dort an. Wer so voreilig ist, sich in Bahnhofsnähe ein Urteil über die neu betretene Stadt zu bilden, wird eine schlechte Kritik über Bukarest schreiben. Die Bahnhofsgegend ist langweilig und erinnert etwa an ausdruckslose Teile sächsischer Großstadt-Vororte. Nach einer Wagenfahrt von wenigen Minuten wird es anders. Die Hauptverkehrsstraße von Bukarest, die Calea Victoriei ist eine liebenswürdig verkleinerte Ausgabe des belebtesten Teiles der Berliner Friedrichstraße. Hübsche Läden, elegante Konditoreien in kleinen, schmucken Häusern, daneben in erfreulicher Abwechslung hohe Hotelbauten, prächtige öffentliche Gebäude. Dann bog unsere Droschke nach rechts ab in eine breitere Straße, die sich Boulevard Elisabeta nennt. Diese Ecke erinnert durch ihre Art, durch das Treiben, das sich da abspielt, an die Ecke Friedrich- und Leipziger Straße zu Berlin. Auch die Damen, die ich dort promenieren oder in offenen Wagen fahren sah, könnten ebenso gut in der Leipziger Straße zu Berlin Shopping gehen, nur daß in Bukarest Schminke und Puder auffallend reichlich benutzt werden. Ich dachte, den Bukaresterinnen müßte ich einmal einen Kursus in der wirksamen, unauffälligen Benutzung solcher Schönheitsmittel erteilen.

In malerischen Trachten gehen Händler mit Obst, Gemüse und allerlei Bedarfsgegenständen durch die Straßen, Männer und Frauen, auch Zigeunerinnen, echte – die sind ja in Rumänien zu Hause –, ein Zigeunermädel sah so blendend reizvoll aus, daß ich am liebsten den Wagen hätte halten lassen, um sie in der Nähe zu betrachten, sie bot Sträuße von großen, fremdartigen Blumen aus, bei deren Anblick ich zum ersten Male klar empfand, daß ich jetzt im Orient angekommen bin. Am Boulevard Elisabeta, neben dem großen, schönen, öffentlichen Park Gradina Cismigiu, ist auch unser Hotel, vollkommen nach europäischer Art eingerichtet, stattlich, groß, aber nicht allzu modern. Immerhin Telephon, auch fließendes warmes und kaltes Wasser in jedem Zimmer.

Hier in Bukarest nahm Tischler-Ruß die Kunst ernster als in Turn-Severin und den anderen Kleinstädten. Da noch heute abend unsere erste Vorstellung im Theater Carol stattfinden sollte, gönnte der Direktor uns nach der Ankunft nur eine kurze Rast in den Zimmern, deren im Hotel für jeden von uns eins reserviert war. Um halb sieben mußten wir auf der Gartenbühne mit einer richtigen Probe beginnen, aber es klappte jetzt alles so vorzüglich, daß wir flott über die sieben Bilder hinwegkamen.

Die Vorstellung begann wieder um halb zehn. Der Garten konnte vier- oder fünfmal soviel Zuschauer fassen, als etwa der in Turn-Severin und so war auch der Beifall, den ich hier erntete, ungleich größer als der in der Provinz. Am nächsten Vormittag wurden mir mit Briefen und Karten so viel an Blumen, Schokolade, Konfekt, Vasen, Bildern, Photographien Bukarests usw. usw. ins Hotel geschickt, daß mein gar nicht kleines Zimmer keinen Platz für diesen Segen bot. Tischler-Ruß schwamm in Wonne. Der Bukarester Erfolg schien gesichert. Die Zeitungen lobten uns, vor allem mich, die begeisternd schöne Domina Dolorosa. Aber ich mußte mir alles aus dem Rumänischen ins Deutsche übersetzen lassen, unser Kapellmeister Lazureanu, der gleichzeitig unser Theatersekretär ist, besorgte das, er spricht alle Sprachen. Beim Rumänischen versagt mein Sprachtalent, diese Sprache macht die unerhörtesten Sprünge und gerade wer, wie ich, französisch und italienisch kann, versteht erst recht kein Wort Rumänisch, weil man fortwährend auf Grund der alten Kenntnisse denkt, dies oder jenes Wort müsse das und das bedeuten – und in Wirklichkeit bedeutet es etwas anderes. Und erst die Aussprache! Einfach abenteuerlich.

Wie gern hätte ich die rumänischen Zahlwörter erlernt, schon um bei den entzückenden Zigeunerinnen, die auf den Straßen Waren feilboten, ohne Dolmetscher Einkäufe machen zu können, aber ich konnte die Zahlen nicht aussprechen und nicht behalten, sie sind aber auch zu komisch, denke Dir nur, liebe Mutter, die Zahl vier, französisch quatre, italienisch quatro, heißt im Rumänischen plötzlich patru! Die Zahl acht, italienisch otto, heißt auf rumänisch, total verdorben: opt! Und so geht es weiter. Gerade weil ich Sprachgefühl habe, empört es sich gegen diese Verunstaltungen und will sie nicht in mein Gedächtnis einlassen. Rumänisch werde ich nie lernen und wenn ich zwanzig Jahre im Lande bleiben müßte. Aber glücklicherweise kam man fast überall mit Französisch durch, das selbst von einfachen Leuten recht annehmbar gesprochen wird.

Muß ich ausdrücklich erzählen, daß die Herren Rumänen, dieser schlanke, schwarzhaarige, sympathische Männertyp, wie toll hinter der blonden Domina Dolorosa her waren? Nachdem ich, schon aus Zeitmangel, die fast alle französisch geschriebenen Karten und Briefe, von denen die kleinen Liebesgaben meiner neuen Verehrerschar begleitet waren, unbeantwortet gelassen hatte, wurden mir wertvolle Gegenstände ins Hotel und in die Bühnengarderobe geschickt, Armbänder, Broschen, Anhänger, Ringe, Ohrringe. Stolerul-Scrumeanu sagte: »In Rumänien ist auch Inflation und die Neureichen wissen nicht, wo sie mit ihren Dollars hin sollen!« Er riet mir, alles stillschweigend anzunehmen, aber mich mit den Balkan-Herren nicht viel zu befassen. Diesen Rat gab dem Direktor teils die Theater-Erfahrung ein, teils aber auch – er gestand's bald – die Eifersucht. Er gestand weiter, daß er vom ersten Augenblick an, als ich mit ihm in Berlin von der Proszeniumsloge aus zu kokettieren begann, rasend in mich verliebt war. Und die Sache mit der Ohrfeige? Da war der kecke Routinier einfach hereingefallen. Er hatte angenommen, daß ein so verwöhntes Persönchen wie ich gerade durch solche Exzentrizitäten erobert werden könnte. In Wirklichkeit war er durchaus normal veranlagt und pflegte derartige Extravaganzen nur zu schauspielern, weil er hiermit bei verwöhnten Frauen ab und zu Erfolge erzielt hatte.

Wir spielten, den Juni über, jeden Abend im Theater Carol zu Bukarest, und bei der überreichlichen Verehrerzahl, die mich durch kleine und große Geschenke erfreute, aber auch auf Schritt und Tritt mit Gruß und Ansprache belästigte, hatte ich den Wunsch, nicht länger im Hotel zu wohnen, wo ich diesen Angriffen immer schonungslos ausgesetzt war. Diesen Wunsch nützte Tischler-Ruß, um die entscheidende Attacke gegen mein Herz zu reiten, das er, ohne es zu wissen, durch das Geständnis seiner schlichten Liebe schon halb erobert hatte. An einem schönen Vormittag erbat er sich die Erlaubnis: er möchte mir mal zeigen, wie wohlhabende Bukarester Bürgersleute zu wohnen pflegen; in der Stirada Cobalcescu, einer hübschen Seitenstraße hinter dem Cismigiu-Park, seien die Bewohner einer zierlichen Villa, wie er erfahren habe, verreist; nur die Bedienung sei geblieben und bereit, mir einmal die reizende Wohnung zu zeigen.

Tischler-Ruß führte mich also in diese Villa, die nur eine Parterre-Etage hatte, aber reizvoll in einem wohlgepflegten Garten versteckt lag. Das Häuschen bestand aus lauter kostbar und geschmackvoll eingerichteten Räumen: Diele, Speisezimmer, Salon, Herrenzimmer, Damenboudoir, alles war in einem allerliebsten Stile eingerichtet, halb Orient, halb westliche Zivilisation, mit allem Komfort und doch romantisch anmutend. Als Bedienerinnen waren da zwei Rumäninnen in Nationaltracht, eine als Köchin, die andere als Hausbesorgerin. Die führten mich unter tiefen Bücklingen durch die Räume und zeigten mir mit Stolz die Küche, den Vorratsraum und das große Dienstbotenzimmer. Dabei kauderwelschten sie die unterschiedlichsten Sprachbestandteile durcheinander. Wenn ich mir die französischen und italienischen Brocken heraussuchte, verstand ich immerhin was sie wollte und mein Französisch verstanden sie ohne Schwierigkeit.

In der Küche brodelten und kochten auf dem großen Herd so viele Töpfe und Pfannen, daß ich die Frage nicht unterdrücken konnte, für wen denn die beiden Dienstboten ein so opulentes Diner bereiteten, wo ich ihre Herrschaft auf Monate hinaus verreist wußte. Des Rätsels Lösung war einfach: Tischler-Ruß hatte dieses Diner für sich und für mich bestellt. Er führte mich jetzt in den reizvollsten Raum der Besitzung, in eine entzückende, große Laube, die abseits der Villa für sich lauschig im Garten stand und von einer erlesenen Pracht exotischer Gewächse umringt war. Die beiden Rumäninnen trugen das Essen auf, legten uns die besten Bissen auf die Teller, insbesondere mir, schwatzten und schnatterten, zogen sich aber nach dem Auftischen jedes Gerichtes diskret zurück, bis wir auf den in der Laube angebrachten elektrischen Klingelknopf drückten und ihnen so das Zeichen zum Abräumen gaben.

Zum Braten brachten sie einen imposanten Silberhumpen, der mit einer prächtigen Erdbeerbowle halb gefüllt war. Der Sekt wurde besonders gebracht, den goß Tischler-Ruß eigenhändig in den Humpen. Das Getränk schmeckte wundervoll, besonders zu dem gefrorenen Sahnenpudding, der den Abschluß der Mahlzeit bildete. Nun war bei mir die Stimmung aufgekommen, die mein Gastgeber gewünscht hatte.

»Domina Dolorosa,« sprach er, beinahe feierlich, »da wir bis Mitte August in Rumänien weiterspielen wollen – auf Grund Ihrer fabelhaften Erfolge hauptsächlich – und da Sie nicht gern im Hotel wohnen bleiben möchten, habe ich mir erlaubt, auf Kosten der Direktion diese Villa mit allem Zubehör für Sie zu mieten. Billig ist der Scherz nicht, ich mußte« – jetzt log er, das spürte ich – »ich mußte zu dieser außergewöhnlichen Ausgabe zuvor die Genehmigung meines ersten Direktors telegraphisch aus Berlin einholen. Er hat zugestimmt. Aber er drahtet, er möchte dann wenigstens für mich die hohen Hotelspesen sparen und ich –«

Er stockte.

Mir gegenüber fiel ihm das Lügen immer ein bißchen schwer.

Und dann fuhr er fort:

»Kurz und gut: ich soll auch in der Villa wohnen, will der erste Direktor.«

»Famos,« lachte ich, »es ist Platz genug für zwei Parteien in der Villa! Wir werden uns schon vertragen. Vielleicht können wir sogar noch Frau Ernestine Dopplinger, unsere komische Alte, mit hineinnehmen?«

Wieder Pause. Endlich hatte er den nötigen Mut beisammen: »Nein, Domina Dolorosa, die Villa hat nämlich einen großen Fehler, sie gehört einem jungen Ehepaar und hat nur ein – nur ein gemeinsames Schlafzimmer.«

Nun war's heraus.

Er atmete auf, als ob er sagen wollte: »Komme, was kommen mag!«

Und er machte ein zum Küssen komisches Gesicht, als ich ihm jetzt meinen Arm um den Nacken legte und sagte:

»Dummer Junge! den ganzen Schwindel hättest du nicht nötig gehabt, ich hab dich ja gern!«

Da saß nun mein guter Holzhändler Paul Trapp zu Berlin am Bayerischen Platz in der braven Vierzimmerwohnung, wartete auf meine dermaleinstige Heimkehr und glaubte schon, mir ein berückend schönes Heim geboten zu haben – statt dessen bezog ich an diesem Tage mit dem gesunden, hübschen Tischler-Ruß eine Villa im Orient, die mir wie ein Märchen aus tausendundeiner Nacht vorkam, hatte außer der aparten Diele und dem Eßzimmer einen Salon und ein Boudoir für mich, teilte das Herrenzimmer und das klassisch elegante Doppelschlafzimmer mit meinem Direktor, ganz zu schweigen von dem üppigen Garten, der wunderbaren Laube mit den östlichen und südlichen Prachtgewächsen und der wohlgeschulten Bedienung, die mir mit sklavenhafter Demut den kleinsten Wunsch von den Augen abliest und bloß so strahlt, wenn ich sie ab und zu durch ein Wort der Anerkennung beglücke.

Es war ein Leben wie im Schlaraffenland. Während der Holzhändler Paul Trapp mir schlankweg zugemutet hatte, seine Strümpfe zu stopfen – was ich übrigens gern und lächelnd tat – brauchte ich mich hier nie eine Sekunde um Hausangelegenheiten zu kümmern. Das lief alles wie von selbst. Die Lieferanten machten am Dienstboteneingang der Villa ihre Angebote und Lieferungen; Kascha, die dicke, rumänische Köchin, feilschte mit ihnen um die lumpigen Inflations-Lei, als ob es aus ihrer eigenen Tasche ginge, später rechnete sie mit Tischler-Ruß ab. Unser großer Theatergarten war allabendlich ausverkauft, weil die neureichen Rumänen ihre Inflations-Dollars los werden wollten. Wir hatten so viel Geld, daß die Hundert-Lei-Scheine, die unsere Kascha wöchentlich verwirtschaftete, keine Rolle spielten. Sonja, das rumänische Stubenmädchen, hielt die Zimmer und den Garten in blitzblanker Sauberkeit, sie verstand tadellos zu plätten, zu waschen, zu nähen, holte sich meine Kleider zum Reinigen aus den Schränken, bestaunte sie mit ehrfurchtsvoller Andacht, pflegte sie als ob sie kleine Kinder wären, nähte jeden losen Druckknopf unbeauftragt fester an und verwöhnte mich in jeder Hinsicht bis zum äußersten.

Nachdem die Beziehungen zwischen dem Direktor und mir den Kollegen nicht länger zu verbergen waren, richtete Tischler-Ruß es so ein, daß zwar die Spender der für mich einlaufenden Blumen und anderer Geschenke nicht etwa durch Rückgabe gekränkt wurden, aber ich bekam ihre Namen nicht mehr zu erfahren. Lazureanu, der Kapellmeister und Theatersekretär in einer Person, ließ vervielfältigte Formulare anfertigen, durch die das Theater sich in meinem Namen »bei dem gütigen Absender« auf Rumänisch bedankte, da die Adressatin, Domina Dolorosa, nicht über genügende Sprachkenntnisse verfüge. Wenn nun täglich ein frischer Blumenhain in meinem Zimmer sproßte und täglich auf jedem Frühstückstisch neue Geschenke prangten, wußte ich nie, wieviel davon von begeisterten Kunstfreunden stammte und wieviel auf Rechnung meines direktorialen Ritters zu setzen war. Die Bukarester illustrierten Zeitschriften schickten ihre Zeichner und ihre Photographen, um die »begeisternd schöne Domina Dolorosa in ihrem Bukarester Heim« festzuhalten, eine von den Journalen brachte sogar eine Sondernummer, die ausschließlich mir gewidmet ist und von der ich Dir, beste Mutter, hier ein Exemplar mitsende, das wohl wert ist, neben diesem Brief und den hier mitfolgenden Theaterzetteln und Zeitungsartikeln in die »köstliche Mappe aus Mädchenhaar« aufgenommen zu werden. In dieser Sondernummer siehst du mich auf jeder der zehn redaktionellen Textseiten abgebildet, in Kleidern der Revue, in meinem Boudoir, in meinem Garten, im Auto, im Park Cismigiu, wo ich in einer kleinen Gondel über den Teich rudere, im Bukarester Zoologischen Garten, wie ich die Büren füttere, und bei der Modistin, wo ich neue Hüte probiere. Hüte probieren ... ach, Mutter, ist es wahr, daß die vergötterte Domina Dolorosa einmal in Eurer guten Stadt so etwas wie Lehrmädchen in einem Hutgeschäft gewesen ist? Wenn meine Karriere so weitergeht, ende ich noch als Kaiserin von Japan. Auf dem Wege nach dem fernen Osten befinde ich mich ja nun schon so halb und halb. Aber zurück zu der mir gewidmeten beifolgenden »Sondernummer«. Sogar ein Teil ihres Anzeigentextes hat Bezug auf mein – lügen wir mal: – bescheidenes Persönchen; denn selbst wer kein Rumänisch kann, ersieht aus den Inseraten, daß Bukarester Firmen ihre Erzeugnisse nach mir nennen und daß es hier schon Creme Domina, Pralines Dolorosa und Zigaretten Domina Dolorosa zu kaufen gibt. Selbst wenn die Sondernummer des Journals eine von dem tüchtigen Tournee-Direktor bestellte und bezahlte Arbeit wäre – o, ich hab ihn schon im Verdacht, daß er solch eine Reklame zu organisieren versteht! – schon die drei Inserate zeigten, daß in Bukarest keine gefälschte, sondern eine echte Begeisterungsepidemie für Domina Dolorosa ausgebrochen war.

Auf den meisten Photographien siehst Du mich in Gesellschaft eines kleinen Kapuzineraffen. Das ist mein goldiges, süßes Peterchen, früher »Petrello«, der noch wild und ungezähmt war, als ich ihn aus dem Käfig eines Händlers in der Calea Vacaresti durch einige Hundert-Lei-Scheine befreite. Bald war Peterchen zahm und lieb zu mir. Aus Übermut nahm ich ihn abends einmal mit auf die Bühne – und er hat beim Publikum so stürmischen Erfolg gefunden, daß Tischler-Ruß nach und nach immer mehr Peterchen-Einlagen für mich in unsere Revue hineindichtete. Zuerst nur ein paar Scherzworte, endlich ein neues »Peterchen-Couplet«, das der stärkste Schlager des Stückes wurde.

Im Juli konnten wir nicht jeden Abend im Theater Carol spielen, weil das Theater an manchen Tagen, schon seit langem voraus, an gastierende Künstler oder Truppen verpachtet war. Tischler-Ruß hatte ja unseren großen Erfolg nicht vorher gewußt und das Haus nur für Juni gepachtet, für den Rest der Sommerzeit besaß er lediglich den Anspruch auf die noch nicht belegten Abende. Der tüchtige Ex-Konfektionär wußte aber auch aus unseren freien Tagen Kapital zu schlagen, wir schlössen neue Gastspiele für kleinere rumänische Orte ab und gaben gegen exorbitantes Honorar Privatvorstellungen in den Salons reicher rumänischer Häuser. Bei diesen Privatfestlichkeiten wurde ich von den Gastgebern wie eine orientalische Märchenprinzessin gefeiert. Der Baron Uzzicanu, ein unmenschlich reicher Petroleummagnat aus der Gegend von Campina, stellte mir allein für meine eigene Person drei seiner Automobile zur Verfügung, die mich von meinem Bukarester Heim in mehrstündiger Fahrt bis zu seinem Schlosse bringen sollten: eins für mich und meine »Begleitung«, das zweite fürs Gepäck, den Affen Petrello und meine »Dienerschaft«; das dritte Auto war als Küche eingerichtet, darin bereitete der Koch des Petroleumkönigs jede halbe Stunde eine andere, überraschende »Erfrischung« für mich und meinen »Begleiter«, der natürlich kein anderer war als der Herr Tournee-Direktor in allerhöchsteigener Person. Für die anderen Kollegen hatte der reiche Rumäne auf der Eisenbahn zwei Erste-Klasse-Kupees reservieren lassen. Als die Autos vor seinem Schlosse hielten, waren die Wege seines Parkes mit Blumen bestreut, ein Weg, der mit heiß duftenden roten Rosen dicht bestreut war, führte nach einem im Park gelegenen Kavaliergebäude, das ganz für mich reserviert war. Das nennt man orientalische Gastfreundschaft! Bei allen solchen Gelegenheiten, zur Ehre der Rumänen sei es anerkannt, wurde ich durchaus als Dame respektiert und war nie auch nur den geringsten Belästigungen ausgesetzt. Diese Reisen waren Triumphzüge, wie ich sie mir nie hätte träumen lassen.

Hier muß ich die für Dich, liebe Mutter, vielleicht überraschende Bemerkung einschalten, daß ich das Automobilfahren eigentlich abscheulich finde ... Um wieviel lieber fahre ich in einem mit Pferden bespannten Wagen! Tiere haben mich so gern und ich die Tiere auch. So oft ich zu einer größeren Wagenfahrt eingeladen war, gab ich vorher und unterwegs den Pferden Zucker oder sonst was Gutes, spreche mit den Tieren, empfinde, daß sie den Klang meiner Stimme lieben und daß sie sich freuen, weil ich im Wagen mitfahre. Aber das Automobil ist eine finstere, heimtückische Maschine, bei der nicht einmal Domina Dolorosa sich beliebt machen kann. Es schleudert mich auf unebenen Wegen hin und her wie es mag, es stößt mich unvermutet aus einer Wagenecke empor. Nein, Autotouren sind nicht mein Fall, nicht mal wenn ich mit drei Wagen reise wie von Bukarest nach Campina. Ich kann die dunkle Ahnung nicht los werden, daß mir einmal auf einer Autotour etwas Arges zustoßen wird.

Die Reise nach Campina verlief aber tadellos; sie erweiterte, ohne daß ich etwas dazu tat, meinen Gesichtskreis wieder um ein Bedeutendes. Am Morgen nach der Vorstellung ließ Baron Uzzicanu ankurbeln und fuhr mit mir und meinen Freunden nach dem nahe gelegenen Ölgebiet, wo er uns die Petroleumquellen zeigte. Hochinteressant; besonders deshalb, weil sich der gewöhnliche Sterbliche dergleichen in der Regel vollkommen falsch vorstellt. Ich hatte gedacht, daß das Petroleum entweder wie ein Springbrunnen aus der Erde hervorschießt, oder daß es mit dröhnender und stampfender Maschine aus dem Erdinnern hervorgepumpt wird. Nichts von alledem. Da sitzt in einem winzigen, unscheinbaren Bretterhäuschen bei stumpfsinnigster, ödester Einsam-Arbeit ein einziger, scheinbar beschäftigungsloser Arbeiter. Erst wenn man ihn längere Zeit beobachtet, sieht man, daß er doch etwas tut. Und sogar etwas sehr Wichtiges, er schickt in das Bohrloch einen länglichen, sehr schmalen Pumpapparat hinunter, man möchte sagen: einen übertriebenst schlanken Eimer mit beweglichem Eimer-Boden. Sobald dieses herabgelassene Gefäß im Bohrloch nicht mehr frei hinuntergleitet, sondern an das unten vorhandene Roh-Petroleum stößt, öffnet sich der Boden des Gefäßes von selbst, läßt das Petroleum eindringen. Der Arbeiter vermag zu erspüren, wann das Gefäß gefüllt ist, den Gefäßboden dann zu schließen. Jetzt windet er das mit Petroleum gefüllte Gefäß herauf und läßt die gewonnene Erdöl-Menge nach einem schmalen Seitenkanal abwandern, der draußen in einen größeren Kanal mündet. So wird in Rumänien der Erde das Brenn-Öl abgerungen. Neben dem unscheinbaren Bretterhäuschen erblickt das jetzt schon sicherer gewordene Auge in einiger Entfernung wieder ähnliche Bretterbuden. In jeder von ihnen sitzt ein einsamer, geschickter Mann – und ihre fleißige Arbeit hat durch Generationen hindurch das Geschlecht der Petroleum-Magnaten so reich gemacht, daß heute mein Gastgeber es sich leisten kann, die schöne Domina Dolorosa mit drei Autos aus Bukarest herbeizuholen und ihren Weg zum Kavaliergebäude mit kostbaren roten Rosen zu besäen.

Daß unsere Vorstellungen abends so spät beginnen, ermöglicht eine wonnige Ausnützung der herrlichen Tage. Das üppige Mittagessen nahmen wir noch in dem gastfreien Schlosse ein – und abends standen wir Punkt halb zehn auf den Brettern des Theaters Carol zu Bukarest. Dabei hatte ich, trotz aller Proteste des Schloßherrn, zur Rückfahrt sein Auto abgelehnt und fuhr mit den Kollegen in den beiden Abteilen erster Klasse, die wieder für das Ensemble reserviert waren. Ich kann das Gefühl nicht los werden: eine Autofahrt wird mir noch großes Unheil bringen. Und noch eins kam hinzu: der Tag in Campina war durch einen Umstand für mich getrübt – Baron Uzzicanu, der überaus liebenswürdige rumänische Gastgeber, erinnerte mich auf Schritt und Tritt durch seltsame Ähnlichkeit an jenen unheimlichen Mann, der mir die schrecklichste Stunde meines Lebens bereitet hat, jene Stunde, über die ich mit keinem Menschen reden mag, nicht einmal mit Dir, meine über alles geliebte Mutter. Aber ich will diesen Bericht nicht mit einem Mißklang schließen. Ich will Dir lieber erzählen, daß ich, nach unserer Rückkehr aus Campina aus einem unbestimmten Gefühl heraus plötzlich mein Zusammenleben mit Tischler-Ruß als einen großen Trost, als einen starken Rückhalt für mich empfand. Und als wir nach Schluß der Vorstellung in unserer ruhigen Villa zu zweien waren, konnte ich so lieb zu ihm sein, wie ich's vorher nie gewesen war. Mir schien, er sei für mich mit einem Male nichts anderes als Paul Trapp und noch dazu Erhard König, zu einer Person geeint, damit ich endlich den Mann an meiner Seite habe, der mir alles ist und dem ich ruhige, dauernde, innige Treue bewahren kann.


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