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Viertes Schriftstück

Nun willst Du wissen, meine über alles geliebte Mutter, was an jenem Weihnachtsabend geschah. Dreimal hast Du mir darum geschrieben, und mehr als ein Vierteljahr ist inzwischen vergangen. Nimm mir meine Faulheit nicht übel. Ich leide ständig an Rückenschmerzen. Ja, ich kerngesunder Mensch, ich leide. Den liebenswürdigen Verdacht, der Dir bei dem Worte »Rückenschmerzen« aufsteigt, mußt Du beiseite setzen! Nein. Es sind ganz gewöhnliche Qualen, es sind solche, die auch ein Mann haben könnte. Kinder werde ich nicht bekommen, so lange ich nicht will. Das weiß ich genau. Mein Wille ist so stark, daß mit mir nur geschehen kann, was ich selber wünsche. Von dieser Bahn gab es in meinem selbständigen Leben nur ein einziges Mal einen Abweg – und das ist jene Stunde, von der ich nicht sprechen will, nicht einmal zu Dir, gute Mutter, beste aller Mütter!

Aber wovon ich sprechen will, das ist mein Weihnachtsabend in Erhards Atelier.

Unter uns: ich war herzlos genug, zu Erhard einen großen Teil von dem Inhalt der kostspieligen Pakete mitzunehmen, die mir Hans Korn ein paar Stunden vorher in mein Stübchen gebracht hatte – Fleischwaren, Ölsardinen, Butter, Schokolade, Keks, alles Dinge, die jetzt unerschwinglich viel Geld kosten. Auch von dem Portwein und dem Sekt nahm ich je zwei Flaschen mit, und sogar die Blumen. Es war mir ein stiller Triumph, daß ich dem einen so Freude bereiten konnte mit den Gaben des andern.

Erhard öffnete mir selbst die Tür; denn das Mädchen, die einzige Bedienung der kleinen Familie, hat Frau Eva fürs Kind mitgenommen; eine Aufwartefrau, die nur für Stunden kommt, hält jetzt die Zimmer in Ordnung.

Ich hatte das Gefühl, daß Erhard mich am liebsten nicht eingelassen oder gleich wieder fortgeschickt hätte. Aber ich nahm meine Willenskraft zusammen, strahlte ihn an, huschte – ohne ihm die Hand zu reichen – ins Atelier, knipste alle elektrischen Lampen an und zog dann meinen Pelzmantel aus. Da stand ich, schön, funkelnd, verführungsbereit, vor der dunkelgrünen Tanne, in meinem besten Kleide aus seidenem Grün, das meine schlanken Arme und die besten Linien meines Nackens freiläßt, einen tiefen Brustausschnitt zeigt und meine Seidenstrümpfe sehen läßt. Ein glöckchenhelles Lachen glückte mir – Erhard zog mich an sich und gab mir wohl zwanzig Küsse, jeden auf einen anderen vom Kleide freigelassenen Fleck, auf Mund, Ohren und Nasenspitze. Auch er lachte nun, und wir knipsten die elektrischen Baumkerzen an. Dann machte ich alle anderen Lichter im Atelier aus.

Mir war klar, daß ich jetzt keine Sekunde lang Stillschweigen aufkommen lassen durfte – sonst wären Erhards Gedanken schnurstracks wieder nach Konstanz geflogen, zu der marmorkalten, schwarzhaarigen, junonischen Schönheit seiner Gattin, zu dem lieben kleinen Heinz, dessen Bilder hier in allen Zimmern hängen, zu dem gewissenhaften Schwiegerpapa Landgerichtsrat und zu der gestrengen Schwiegermutter. Ich stellte mir also innerlich die Aufgabe, mein amüsantes Plaudern für keinen Augenblick stillstehen zu lassen. Ich kochte zuerst Tee, später Glühwein, und immer mußte mir Erhard Handreichungen leisten, damit er nur ja keinen Moment seinen Gedanken nachhängen konnte. Der Maler mußte mit dem Schneebesen Eiweiß zu Schaum schlagen, aus dem ich ein großes, goldgelbes duftiges Omelette zauberte. Auch Erhard versteht das Kochen und schätzt diese Kunst. Er behauptet, sie stünde bei ihm in gleichem Range mit der Malkunst, und es sei beinahe das gleiche, aus allerhand rohen Zutaten ein schmackhaftes Gericht – oder aus Leinwand und Farben ein gutes Bild herzustellen. Wir aßen, tranken, plauderten und lachten.

Plötzlich schreckte uns ein heftiges Klingeln, von der Etagentür her.

Unausgesprochen sprang der Gedanke, ja die Gewißheit zwischen uns: Frau Eva ist zurückgekehrt, Frau Eva mit dem Jungen! Nichts natürlicher, als daß sie, trotz alles Vorangegangenen, sich's wieder überlegt hatte und den Weihnachtsabend mit dem Vater ihres Kindes verbringen wollte. Ein schöner Zug von ihr – aber was sollten nun Erhard und ich tun? Verstecken? Unmöglich. So etwas gibt es in der Operette, im Leben verfängt das nicht. Da schoß mir ein Gedanke durch den Kopf: blitzschnell sprang ich auf und ordnete Erhards Malgeräte so, als ob er eben gemalt hätte. Es wäre immerhin möglich gewesen, daß ich ihm bis vor wenigen Minuten Modell gestanden und daß im Anschluß an diese Sitzung der Festtag den Anlaß zu einem kleinen Schmauß gegeben hätte. Erhard erkannte sofort meine Absicht und lobte flüsternd meine Geistesgegenwart, während ich starke Zweifel darüber empfand, ob die zurückkehrende Frau König meiner Komödie Vertrauen entgegenbringen würde. Es klingelte wiederholt; als das Milieu einigermaßen unseren Absichten entsprach, ging Erhard in den Korridor und fragte durch die geschlossene Entreetür, wer da sei. Erleichtert atmete er auf, als nicht die Stimme von Frau Eva antwortete, sondern ein fremder Mann. »Ich komme vom Kultusminister,« sagte er.

Erhard öffnete.

»Herr Professor König selber?« fragte der Eintretende.

»Ich heiße König,« antwortete Erhard, dessen Stimme noch zitterte, »aber Professor bin ich nicht.«

»Doch, Herr Professor!« lachte der Bote des Kultusministers, »deshalb komme ich ja gerade. Quittieren Sie mir gefälligst auf dem Schein die Ablieferung dieser Urkunde, seine Exzellenz der Herr Kultusminister – entschuldigen Sie, ich sage immer noch Exzellenz, trotzdem es ja seit 1919 verboten ist – also seine Exzellenz haben Sie zum Professor am der Hochschule der Künste ernannt.«

»Und Sie machen sich am heiligen Abend löblicherweise die Mühe, mir das Schriftstück ins Haus zu bringen?«

»Ja, Herr Professor. Ich habe alle Ernennungen, die heute von Exzellenz unterschrieben worden sind, heute noch an die Empfänger abgeliefert – das ist die letzte, Herr Professor –; denn ich dachte mir, daß alle die jungen Herren Professoren sich besonders freuen, wenn sie die Ernennung gewissermaßen als Weihnachtsgeschenk unter den Baum gelegt kriegen.«

»Sehr aufmerksam, mein Lieber. Ich freue mich auch herzlich. Vielen Dank.« Erhard zog sein Portefeuille und drückte dem Boten einen Schein in die Hand.

»O, das kann ich ja gar nicht verlangen,« schmunzelte der Mann, »Herr Professor werden entschuldigen, wenn ich trotzdem mit meinem Glückwunsch persönlich noch einen Augenblick zurückhalte. Ich möchte nämlich in diesem Punkte Ihrer werten Frau Gemahlin nicht den Rang ablaufen.« Hierbei blickte er verständnisvoll nach mir, die im Türrahmen sichtbar geworden war.

Da war nichts zu wollen.

Ich konnte dem Boten nicht erst lange erklären, oder ihm auseinandersetzen lassen, wer ich war. Ich eilte also auf Erhard zu, beglückwünschte ihn und küßte ihn tüchtig ab.

Der Bote ließ mir Zeit, dies ausgiebig zu erledigen. Erst dann brachte er selber in zahlreichen, wohlgesetzten Worten seine Gratulation vor, nicht ohne hinzuzufügen: »Von so einer schönen jungen Frau so beglückwünscht zu werden, ist ja allein schon wert, daß man Professor geworden ist.«

Als wir, zu zweien gelassen, die Urkunde studierten, erfuhr ich aus ihrem Wortlaut, daß Erhard schon einundfünfzig Jahre alt ist. Ich hatte ihn für mindestens zehn Jahre jünger gehalten, er war ja so kräftig und gesund. Aber da fiel mir ein, daß es gerade die Ziffer seines Alters war, die ihn vor der militärischen Aushebung bewahrt hatte. Wäre er jünger gewesen, dann hätte er mit in den Krieg ziehen müssen und wandelte vielleicht heute nicht mehr auf Erden – genau wie meine Hannoverschen Freunde, der kleine Udo von Tillberg, der Major Stübner und General Greif Klarau, die alle am gleichen Tage gefallen waren, an meinem Geburtstage, Udo im Westen, Stuben am Isonzo, Klarau in Serbien, Aber ich hütete mich, von diesem Thema zu sprechen; denn ich hatte mir ja für den heutigen Abend die Aufgabe unermüdlich fröhlichen Geplauders gestellt und zu ihr hätte die Erwähnung von Tod und Todesmöglichkeit schlecht gepaßt.

Nachdem ich alles vorgebracht hatte, was sich zum Kapitel der jungen Professur sagen ließ, ihm auch aufgetragen hatte, von jetzt ab überall seinen Regenschirm stehen zu lassen, weil ein richtiger Professor ohne diese Eigenheit nicht denkbar ist, ging ich zu anderen Gesprächen über und fragte meinen Freund: »Was hast du eigentlich in dem Augenblick gedacht, als du mich zum ersten Male sahst?«

Der Herr Professor antwortete: »Eigentlich habe ich dich nicht einmal zum erstenmal gesehen, sondern zweimal. Zuerst in deiner Heimatstadt, als du dich gegen den Eisgrauen wehrtest, gegen den rot aufgedunsenen Mann mit dem dicken weißen Schnurrbart. Und dann wieder hier in Berlin bei der Untergrundbahnfahrt, die uns von neuem zusammenführte. Jedes von beiden Malen schoß in mir der gleiche Gedanke auf, der klar und ausgeprägt, wie Gedanken dies sonst nur selten tun, einen scharf umrissenen Wortlaut hatte. Als ich dich damals in der Bahnstraße gegen den Eisgrauen ringen sah, dachte ich wörtlich: »Man kann sich nichts Hübscheres denken als dieses Mädchen.« Und als ich dich in Berlin in der Untergrundbahn sah, dachte ich genau die gleichen Worte, genau den gleichen Satz: »Man kann sich nichts Hübscheres denken als dieses Mädchen.« Und in der Untergrundbahn führte mich gerade die Übereinstimmung dieser »gedachten« Worte zu der Gewißheit, daß du jene Kämpferin von damals sein mußtest.«

Mir gefiel der Satz, Ich wiederholte ihn drei-, viermal bis ich ihn für immer auswendig wußte.

»Man kann sich nichts Hübscheres denken als dieses Mädchen.«

Das paßt auf mich, das paßt zu mir, das sitzt mir wie ein gut gemachtes Schneiderkleid.

Nun mußte Erhard die zweite der Sektflaschen aufkorken, von denen er nicht ahnte, daß vor einem halben Tag der Hauptmann Hans Korn sie mir in mein Stübchen gebracht hatte. Die Stimmung stieg so, daß ich wagen durfte, was mir durch den Kopf schoß. Ich warf das grüne seidene Kleid ab und stand da in meiner Wäschegarnitur aus Seidenbatist. »Mal mich, Professor – mal mich so!«

Er griff wahrhaftig nach der Palette.

Ich faßte seinen Arm: »Versündige dich nicht an meiner Schönheit und an deiner jungen Professur. Das erste, das der frisch gebackene Professor malt, soll kein Batist sein, sondern ein Weib.« Ich entkleidete mich langsam. So oft ich ein Stück ausgezogen hatte, tranken wir einen Schluck Sekt. Wir tranken aus einem Glas; mit allen lieben Scherzen, die ein glühendes Paar erfinden kann, das aus einem Glase trinkt.

» So will ich dich malen!« rief er, als ich hüllenlos vor ihm stand.

»Halt!« lachte ich, »noch eine Kleinigkeit!« Ich lief nach der Ecke, in der die Baumschmuck-Kartons standen; sie waren nicht ganz leer. Ich fand noch ein paar Kugelketten, viel silberne und goldene Lametta. Vor dem großen Spiegel drapierte ich mein Haar und meinen Körper flink mit all den glitzernden Fäden und Kugeln.

»Küß deine Weihnachtsfee!« lachte ich ihn nun an.

»Nein!« sprach er plötzlich ernst geworden. »Nicht küssen! Malen, malen!«

Ein paar Striche – und auf der Leinwand dämmerte schon die Ahnung des prächtigen jungen Bildes, das drei Wochen später fertig – und vor seiner Fertigstellung schon um ein Stück Geld verkauft war, für das man sich in diesen teuren Zeiten viele nützliche und überflüssige Dinge leisten kann.

Aber ich will von dem Weihnachtsabend reden. Als die zweite Sektflasche leer war, legte Erhard das Malgerät fort. Er setzte sich, nahm mich auf den Schoß und sagte:

»Nun verdank ich dir heute so viel Liebes, Dolly, den ersten Glückwunsch zur Professur, die Inspiration zum ersten Professorenbild und die herrlichen Stunden. Ich Barbar aber, ich habe dir nichts geschenkt, seit du heute hier eintratst. Sag, was soll ich dir nun schenken?«

Ein Weilchen schlenkerte ich, von seinem Schoß herab, mit meinen schlanken Beinen, die ihm so gut gefallen. Dann antwortete ich:

»Du bist allein. Schenk mir –«

»Was, Dolly?«

»Schenk mir das Recht, hier bei dir zu wohnen.«

Ich fühlte sein Erschrecken, seinen Kampf mit sich selbst, meinen Sieg. Er ging schweigend im Atelier auf und ab. Ich wiederholte meine Bitte in allen Tonarten. Ernst, verführerisch, schmollend, bittend. Endlich stand er still und sagte langsam:

»Du willst es, Dolly. Gut.«

Und da – wie soll ich Dir das wiedererzählen, meine über alles geliebte Mutter? Da habe ich – – meine sonst so glatte Feder will's nicht schreiben, aber ich muß es irgendwie schildern können. Also, Mutter, da habe ich einen andern Gedanken gefaßt. Ich verzichtete. Ich gestand ihm, daß ich empfinde, wie ungern er zugestimmt habe. Ich gab ihm sein Wort zurück. Ich wollte nicht bei ihm wohnen. Und wieder fügte er sich:

»Aber komm recht oft zu mir. Tausend Bilder von dir will ich malen.«

»Ja,« sagte ich, »der ganze helle Tag soll dem Maler gehören. Aber abends geh ich in mein Stübchen zurück.«

»Und dein Maler begleitet dich bis vor deine Haustür.«

Beherrschte Küsse. Ankleiden. Fortgehen. Er bringt mich bis vor meine Haustür. Ich schließe auf. Er grüßt durch die Scheiben. Ich steige meine vier Treppen hinauf, ziehe mich aus und –

Ach, meine über alles geliebte Mutter! Könnte ich Dich doch belügen, wie ich alle anderen Menschen, wie ich mich selbst so oft belüge. Ich kann es nicht. Dir muß ich die Wahrheit bekennen. Wie gern hätte ich oben geschrieben: »Ich zog mich aus und legte mich schlafen!« Aber es ist nicht wahr.

Nicht eine Minute lang hatte ich an diesem Abend die Absicht gehabt, den Rest der Nacht in meinem Stübchen zu verbringen.

Als ich den Professor bat, mich bei ihm wohnen zu lassen, in diesem Augenblick hatte ich dem lieben Maler die ganze Nacht zugedacht. Aber als ich, rein körperlich schon, sein Erschrecken fühlte, seinen Kampf mit sich selbst, seine Gedanken an Frau Eva und an den Jungen – da trat vor meine Augen das Bild des armen kranken Paul Trapp, des jungen Holzhändlers, der jeden Festmeter Bauholz nur für mich einkaufte und verkaufte, der an meine Treue glaubt, der mich heute in Familien-Gesellschaft wähnt, seine Hotelzimmertür – Hotel Böttner, Zimmer 63 – für mich unverschlossen läßt und im tristen Gasthofzimmer stundenlang nach mir zittert. Ich liebe den Professor; die stürmische Begeisterung des reifen, anerkannten Künstlers reißt mich mit, ich kann mir das Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Aber was ist mit dem guten, leidenden Paul Trapp? seine sanfte, stille, ergebene Zuneigung rührt mich so tief, daß ich ihm nicht weh tun kann. Er wartete auf mich – ich mußte kommen!

So war die Wahrheit: ich wurde in der heiligen Nacht von Erhard bis zu meiner Haustür begleitet, stieg dann vier Treppen hinauf nach meinem Stübchen, das noch Spuren von Frau Sebastians Weihnachtsfest zeigte. Da zog ich das grüne Seidene aus, auch die duftige Wäsche und –

– und zog brave, solid bürgerliche Wäsche an, einen grauen einfachen Rock, eine weiße Batistbluse. Ich redete mir ein, daß ich mit den anderen Kleidern ein anderer Mensch geworden sei, als ich mich jetzt in den Mantel kuschelte und mitten in der Nacht die vier Treppen wieder herunterstieg. Zu Fuß ging ich die paar Straßen bis zu Pauls Hotel.

Den Nachtportier hatte Paul gut abgerichtet, aber keine Bestechung konnte verhindern, daß der Kerl gar zu komische Augen machte und daß ihm von seinem Spitzbubengesicht abzulesen war: »Nein, was hat dieser Herr Trapp für ein Glück bei den kleinen Mädchen!« Denn was mitten in der Nacht zum Freund ins Hotel huscht, das bleibt für den Gasthauspförtner ein kleines Mädel, wenn es auch in Wirklichkeit eine himmelhoch jauchzende, zu Tode betrübte Frau ist, die ihr Herz zerrissen fühlt von stürmischen Kämpfen, von der lodernden Liebe zu einem genialen Künstler und der mitleidsvollen Zuneigung zu einem leidenden, lieben, stillen Kranken, eine Dolorosa, wie Du mich bei meiner Taufe genannt hast, Du liebe Mutter, die Du selbst Dolorosa heißt.

Pauls Hände waren fieberfeucht. Bei seinem demütig dankbaren Begrüßungskuß zitterten ihm die Lippen. Stundenlang hatte er auf mich gewartet. Fast weinte er vor Freude, weil ich nun noch kam. Er hatte mir einen anmutigen Weihnachtstisch aufgebaut, ein kleines Bäumchen, nur mit weißen Lichtern und mit weißen Flocken geschmückt, aber viele herrliche weiße Rosen hatte er geschmackvoll regellos über den Tisch gestreut. Lauter praktische Geschenke: Schuhe, Strümpfe, Unterwäsche, alles ein bißchen zu solide für mich. Aber dann auch endlich ein Zugeständnis an meinen, pikanter gerichteten Geschmack: drei entzückende, kurze, rosa seidene Hemdchen, über den Schultern nur durch ein Paar schmälste Seidenbänder gehalten.

Ich glaubte, Paul eine große Freude zu machen, indem ich sehr bald solch ein Hemdchen – und nur das Hemdchen – anzog. Aber er? Er küßte mich nur einmal flüchtig auf den Mund, streichelte mit seiner Fieberhand meine Wange. Aus. Nichts weiter. Ich blieb bei ihm, aber zwischen Urgroßvater und Urgroßmutter kann es nicht ehrbarer zugehen. Wenn er nachts aufwachte, kam er zu dem Sofa herüber, auf dem ich schlief, streichelte meine Wange und sagte: »Nur bei mir sein, nur bei mir sein!« Dann legte er sich wieder in seine Kissen und schlief weiter. Kannst Du Dir denken, Mutter, daß ich diesen Mann über alles liebe und nicht imstande bin, ihm einen Schmerz zu bereiten? Ich glaube, ich bin wahnsinnig. Ich bin verrückt, wie wir in diesen wahnsinnigen Inflationszeiten alle verrückt sind.

Das war in der Weihnachtsnacht.

Jetzt schreiben wir April, und Tag für Tag war inzwischen das gleiche Spiel. Um zehn Uhr morgens erschien ich in Erhards Atelier, er malt mich, wir bleiben tagsüber zusammen, speisen gemeinsam daheim oder im Restaurant. Auch der erste Teil des Abends gehört Erhard. In manche Bilder malt er künstliche Beleuchtung; die gelingen ihm nur abends. Er findet auch Anregungen in den Bewegungen, die sich ihm zeigen, wenn er mich in einer Theaterloge oder im Kabarett sieht, deshalb gehen wir jede Woche ein paarmal abends zusammen aus. Wenn ich wegen meiner Rückenschmerzen zum Arzt gehe, wartet Erhard auf der Straße vor dem Hause des Arztes bis ich wieder herunterkomme. Um elf oder zwölf Uhr nachts bringt Erhard mich bis zur Haustür. Ich ziehe mich um und –

– und gehe zu Paul ... Hotel Büttner ... Zimmer 63. Ich bin verrückt! Ich gehe zu Paul. Trotz der Rückenschmerzen. Jede Nacht, jede Nacht. Er kann nicht einschlafen, wenn ich nicht da bin. Einmal äußerte Erhard Besorgnis und wollte mich nicht mitten in der Nacht allein meine vier Treppen hinaufsteigen lassen. Der Gute, wenn er eine Ahnung davon gehabt hätte, daß ich sie – sogar noch eine halbe Stunde später – immer wieder allein hinab steige! An diesem Abend kam Erhard also mit mir in mein Stübchen, blieb noch eine Weile, und als er ging mußte ich ihm meinen Hausschlüssel mitgeben, damit er das Haus verlassen konnte. Es war halb zwei nachts, als der Professor ging. Ich zog mich um, ging hinunter, verließ mich auf mein Glück, und richtig kam auch ein später Hausbewohner angewankt, bei dessen Eintritt ich – ohne Schlüssel – aus dem Hause huschen konnte. Es war fast drei Uhr nachts, als der grinsende Nachtportier mich in Pauls Hotel einließ. Meinen armen Freund auf Zimmer 63 hatte das lange Warten und Wachen so aufgeregt, daß er für anderthalb Wochen ernstlich erkrankte. Von da ab habe ich nie wieder geduldet, daß Erhard mich nachts in mein Zimmerchen hinauf begleitete.

Was mir an diesem dreieckigen Verhältnis noch besonderen Schmerz bereitet, ist eine an und für sich äußerst liebenswerte Gewohnheit meines Malers. Er hat neben den Werken aller anderen großen Philosophen natürlich auch Knigges »Umgang mit Menschen« gründlich gelesen. In diesem Buch empfiehlt Knigge, daß man nie vergessen soll, bei jeder Trennung dem Scheidenden etwas Nettes zu sagen, damit er einen in gutem Andenken behält. Diese Regel ist dem Professor Erhard König zur zweiten Natur geworden. Und für mich, die ich ihm die liebste Gesellschaft bin, erdenkt er sich an jedem einzelnen Abend, bevor er mich ins Haus gehen läßt, ein wundernettes Abschiedswort. Es hat immer Bezug auf ein Ereignis oder ein Gespräch des Tages, es ist jedesmal anders, aber immer reich an Geist, Güte und Liebe. Und wenn ich dabei denke: »Dich guten, lieben Mann werde ich, ehe eine Stunde vergeht, betrügen,« dann saust sein geistreiches, gutes Wort immer wie ein Keulenschlag auf mich nieder, in mir zuckt ein Blitz des Wahnsinns, und mich kostet es jedesmal von neuem einen Kampf, nicht aufzuschreien und dem Getäuschten die Wahrheit zu gestehen. Aber ich halte an mich, nicke, lächle, küsse. Ich kann Erhard nicht mehr die Wahrheit sagen, dazu habe ich ihn jetzt zu lieb.

So lebe ich nun seit hundert Tagen und hundert Nächten!

Keine Ausnahme, kein Reisetag, kein Vorwand.

Hundert Tage beim malenden Professor, hundert Nächte bei dem blassen, leidenden Paul.

Keiner von beiden ahnt, daß ich den andern liebe.

Paul Trapp glaubt, daß ich den Maler nur Modell bin.

Erhard König ahnt nicht, daß ich nachts, kurz nach seinem Weggehen, das Haus verlasse, bis zu dessen Tür er mich geführt hat.

Und dieses Reißen im Rücken, diese körperlichen Schmerzen, von denen die Zerrissenheit meiner seelischen Empfindungen begleitet ist. Freilich selbst meine Bärennatur kann das auf die Dauer nicht aushalten.

Wie soll das enden mit diesen beiden Männern! Mutter, wie soll das enden!


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