Paul Heyse
Das Glück von Rothenburg
Paul Heyse

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Es war erst halb acht Uhr und die Sonne noch kaum hinunter, als der Omnibus des »Goldenen Hirschen« bereits durch das östliche Stadttor rollte und bald darauf auf dem Platze hinter dem kleinen Bahnhof hielt. Aber ehe noch der Hausknecht den Wagenschlag öffnen konnte, war schon der junge Mann mit dem schwarzen Malerhut, der dort gewartet hatte, herzugesprungen, um zuerst der gnädigen Frau, dann auch der schachtel- und taschenbeladenen kalmückischen Zofe herauszuhelfen.

Er selbst hatte einen leichten Paletot über die Schulter gehängt, aus dessen Tasche ein dickes Paket heraussah, und ein großes Skizzenbuch unter dem Arm. Sein Gesicht war etwas gerötet, sein Blick unstet und aufgeregt. Er fragte, ob die Billette bereits genommen seien, und eilte dann an den Schalter, von dem er rasch wieder zurückkehrte. Zwei kleine Kärtchen übergab er seiner Gönnerin, ein drittes steckte er in die eigene Tasche.

Sie fahren mit? fragte die Fremde, die plötzlich stehen blieb, während Sascha ihre Siebensachen nach dem Wartezimmer schleppte.

Er nickte nur, indem er sie verwundert und ein wenig bestürzt ansah.

Wohin reisen Sie denn, da Sie erst gestern zurückgekommen sind?

Wohin? Das hoffe ich von Ihnen zu erfahren, gnädige Frau.

Sie betrachtete ihn einen Augenblick, wie wenn ein Irrsinniger zu ihr gesprochen hätte.

Haben Sie mir nicht so überzeugend vorgestellt, fuhr er mit klopfendem Herzen fort, daß ich es mir schuldig sei, erst ein wenig die Welt zu sehen, ehe ich mich in diesem kleinen Nest für immer festsetzte? Und waren Sie nicht so gütig, mich zu Ihrem Reisebegleiter zu wünschen, damit ich Ihnen überall die Landschaften skizziere, die Ihnen besonders gefielen? Ich habe es reiflich überlegt und gefunden, daß Sie recht haben, daß ich keine Zeit zu verlieren hätte, wenn ich meinen versäumten Lebensplan wieder aufnehmen wollte, und so bin ich hier und stehe zu Ihren Diensten.

Immer noch schwieg sie, aber sie sah jetzt von ihm weg in den Abendhimmel hinein, wo eben die Venus mit sanftem Leuchten aufging.

Weiß Ihre Frau von diesem Entschluß, und ist sie damit einverstanden?

Meine Frau – der hab' ich nur gesagt, daß ich Ihnen am Bahnhof Lebewohl sagen wollte. Von Steinach aus denke ich ihr zu telegraphieren, sie solle mich heute nicht erwarten, ich machte noch eine kleine Studienfahrt. Von Würzburg schreibe ich ihr ausführlich und setze ihr die Gründe auseinander, weshalb ich mich so von ihr weggestohlen habe. Es würde ihr und mir ohne Not das Herz schwergemacht haben, und in Jahr und Tag sehen wir uns, so Gott will, froh und gesund wieder. Sie ist eine sehr verständige Frau, weit rascher und sicherer in allen Entschlüssen, als ich, und hat mich zu lieb, um nicht mein Bestes zu wollen. Das alles habe ich mir in diesen vierundzwanzig Stunden zurechtgelegt. Sind Sie inzwischen anderer Ansicht geworden? – Ich habe nur das Nötigste zu mir gesteckt, fuhr er zögernd fort, ich wollte kein Aufsehen erregen. Mit Geld bin ich hinlänglich versehen, einen Koffer werde ich mir unterwegs kaufen – aber warum sehen Sie mich so seltsam an, gnädige Frau?

Lieber Freund, sagte sie ruhig, wissen Sie wohl, daß Sie, wenn ich nicht klüger bin, als Sie, jetzt im Begriff sind, eine wahre Tollheit zu begehen, ja ein Verbrechen an sich selbst und an Ihrem eigenen Lebensglück?

Um des Himmels willen, gnädige Frau –

Still! Sagen Sie kein Wort, sondern hören Sie mich an. Erst aber beantworten Sie mir noch eine kurze Frage, aber ehrlich und aufrichtig: Nicht wahr, Sie haben sich ein bißchen in mich verliebt?

Gnädige Frau –! stammelte er in der äußersten Verlegenheit. Er ließ sein Skizzenbuch fallen, bückte sich danach und brauchte lange, bis er es wieder aufgehoben und abgestäubt hatte.

Sie haben recht, sagte sie, ohne zu lächeln, es ist eine verfängliche Frage, auf die Sie um so eher die Antwort schuldig bleiben können, als ich sie schon weiß. Ich bin Ihnen natürlich nicht böse deshalb, auch sind Sie der erste nicht. Ja, es ist mir schon manchmal begegnet, wo ich weniger Grund hatte, eitel darauf zu sein. Aber was haben Sie sich nur gedacht, was daraus werden soll?

Er schwieg, und sie sah ihn von der Seite an und weidete sich ein wenig an seiner ratlosen Bestürzung.

Ich will es Ihnen sagen, fuhr sie fort. Es schien Ihnen ganz romantisch, sich ein bißchen entführen zu lassen, einen kleinen Reiseroman in zwanglosen Kapiteln zu spielen und ihn mit hübschen italienischen Landschaften zu illustrieren. Auch mir – ich gestehe es – gefielen Sie gerade genug, um Ihre Gesellschaft, da ich eine einsame, mißvergnügte und noch nicht ganz resignierte Person bin, recht wünschenswert zu finden. Ja, damit Sie's nur wissen – denn ich will mir keine Tugend anschminken, die ich nicht besitze –: ich habe mir einige Mühe gegeben – viel bedurft' es freilich nicht –, Ihnen den Kopf ein wenig zu verdrehen. Sie schienen mir in der Tat zu gut für ein kleinbürgerliches Philisterleben in Schlafrock und Pantoffeln, an der Seite einer ehrbaren kleinen Gans, wie ich mir Ihre Frau vorstellte. Ja, ich bildete mir ein, ich hätte so etwas wie eine Mission zu erfüllen, ein Künstlerleben zu retten vor dem Fluch der Verbauerung oder wie man es ausdrücken will. Ich bin aber grausam beschämt worden.

Meine Frau – sagte er.

Sprechen Sie nicht von ihr, fiel sie hastig ein. Wissen Sie, daß Sie diese Frau gar nicht wert sind? Daß ich nach der Art, wie Sie von ihr gesprochen haben, ein gutes, braves, unbedeutendes Geschöpf erwartet habe, und statt dessen – Ihr ganzes berühmtes Rothenburg hat ja nichts Merkwürdigeres aufzuweisen, als diese kleine Frau! Und die haben Sie im Stich lassen wollen, um einer wildfremden nachzulaufen? Nehmen Sie mir's nicht übel: Sie sind auf dem Wege gewesen, ein kompletter Narr zu werden, und ich bin nicht eitel genug, einen sonderlichen Milderungsgrund darin zu finden, daß Sie sich gerade in mich vernarrt haben!

Ihre Stimme klang hart und grell, er hörte ihr an, daß sie aus einer tiefverwundeten Brust hervordrang. Da suchte er sich zu fassen und sagte, indem er ihre Hand haschte und leise in der seinigen drückte:

Ich danke Ihnen, gnädige Frau, für alle guten und bösen Worte, die Sie mir eben gesagt haben. Ich will nicht minder aufrichtig sein, als Sie: Ja, Sie haben es mir angetan, aber wahrhaftig nicht in dem alltäglichsten Sinne, sondern indem Sie mir einen Blick öffneten auf die Höhen des Lebens und der Kunst, denen ich so früh entsagt hatte, um in einem bescheidenen Mittelzustande mein Glück zu suchen. Ich hab' es ja gefunden und bin wahrlich nicht so blind und undankbar, um es gering zu schätzen. Aber soll der Mensch nicht nach Höherem streben? Soll er sich bei einem Rothenburger Glück – Sie nannten es selber so – begnügen und zumal, wenn er sich der Kunst gewidmet hat – statt das »Unbekannte« zu suchen –

Nach Höherem streben? unterbrach sie ihn. Das Unbekannte? Preisen Sie Ihr Schicksal, daß Sie mit diesen schönen Worten bisher nicht Ernst gemacht haben. Das sind Irrwische, die in Sümpfe und Abgründe locken. Soll ich Ihnen eine Geschichte erzählen? Es war einmal ein schönes junges Mädchen, die Tochter eines kleinen, leibeigenen Bauern, in die war ein guter junger Mann verliebt, der Hauslehrer des Gutsbesitzers – er sah Ihnen ein wenig ähnlich, nur daß er Haar und Bart weniger malerisch trug. Er wollte das Mädchen heiraten, und da er ein kleines Vermögen hatte, wäre es eine recht hübsche Partie gewesen. Aber das stolze Ding strebte nach dem »Höheren« und trug schon damals, obwohl es noch kein Französisch wußte, eine Neigung nach der recherche de l'inconnu in sich. Da kam ein General auf das Gut und fand die junge Person ebenfalls hübsch und machte ihr den Hof und bot ihr endlich an, sie zu heiraten. Nun, da war das Höhere, das sie geträumt, und das Unbekannte auch, denn die große Welt von St. Petersburg sollte ihr aufgetan werden. Und so ließ sie ihren treuen Bewerber stehen und wurde eine Frau Generalin, und wie sie das Höhere bei Licht besah, war es niedrig und niederträchtig, und wie sie das Unbekannte kennen lernte, war's schale Alltäglichkeit. Und freilich wäre ihr Herz wohl auch nicht ausgefüllt worden durch ein Glück an der Seite eines schlichten Magisters. Aber so armselig hätte sie sich doch nicht gefühlt und auch andere nicht so unglücklich gemacht. Natürlich wollte ihr der und jener helfen, den Fehler wieder gutzumachen, und einer war darunter, dem hätte es wohl glücken können. Nur schade, daß der General im Pistolenschießen eine so sichere Hand hatte und sich nichts daraus machte, einem seiner jungen Offiziere eigenhändig eine Lektion zu geben, die den Aermsten aus der Rangliste der Lebenden strich. Die Frau aber, die Närrin – seitdem ist sie nun ruhelos geworden und jagt durch die Welt dem Unbekannten nach oder, wenn sie sich recht zum Selbstbetrug aufgelegt fühlt, dem Höheren. Wissen Sie, daß sie bisher nichts Höheres gefunden hat als den stillen, klugen, warmen Blick Ihrer kleinen Frau, den Frieden in ihrer altmodischen Wohnstube und jene glückliche Hand in der Kinder- und Blumenzucht, die beiden so frische Farben anzaubert?

So! Nun habe ich Ihnen nichts mehr zu sagen, wenn Sie jetzt noch glauben, nicht selig werden zu können, ohne statt der alten Steine des weißen Turms die alten Steine der Engelsburg abzukonterfeien und, obwohl Sie das Zeug zu einem Raffael schwerlich haben, sich ans Große und Erhabene zu wagen, so steigen Sie mit mir ein. Der Weg ist frei und vielleicht lang genug, um meine sehr selbstlose Anwandlung mir wieder vergehen zu lassen. Wenn Sie aber klug sind, schieben Sie Ihre Kunstreise auf, bis die Kinder so weit sind, daß Sie sie einmal ein Vierteljahr in fremder Obhut lassen können. Und dann nehmen Sie Ihre Christel unter den Arm und gehen mit ihr über die Alpen, und ich stehe Ihnen dafür, wenn sie auch nur ein Rothenburger Kind ist, Sie werden sie auf dem Monte Pincio produzieren können, ohne sich Schande zu machen. Vorausgesetzt, daß Sie selbst sie nicht unterschätzen, sondern sie an Ihrem Leben und Streben beteiligen. Denn wir sind, was ihr euch aus uns macht, wenn wir gut sind. Sonst – sind wir freilich, was wir aus uns selber machen, aber oft weder gut noch glücklich. Und damit basta! Adieu und einen Gruß an Frau Christel! Und wenn Ihr Werk über Rothenburg heraus ist, schicken Sie mir's nach Rom, unter der Adresse der russischen Gesandtschaft. Ich abonniere auf drei Exemplare. Ich will Propaganda machen für das deutsche Pompeji.

Sie hielt ihm die Hand hin, die er mit überströmender Empfindung an seine Lippen drückte. Dann zog sie den Schleier über ihr Gesicht und eilte nach dem Zuge hin, der zur Abfahrt bereit stand.

Als sie schon im Coupé saß, winkte sie noch einmal hinaus. Die kleine Maschine pfiff, und langsam glitt die schwarze Schlange auf dem blanken Geleise dahin. Die Fremde aber hatte sich in die dunkle Ecke gedrückt und starrte lange wie eine Bildsäule vor sich hin. Plötzlich öffnete sie eines ihrer juchtenen Täschchen, kramte darin herum und zog endlich ein Etui hervor. Da, nimm! sagte sie auf russisch zu der mürrischen Zofe. Du hast dies Armband immer so bewundert, Sascha. Ich will dir's schenken. Ich bin einmal im Zuge mit der Großmut. Ich wollte nur, sie kostete mich niemals mehr, als so ein blankes Spielzeug.

Sascha fiel vor ihr auf die Knie und küßte ihr die Hand. Dann zog sie sich, mit dem Geschenk spielend, wieder in ihren Winkel zurück, sie glaubte zu hören, daß ihre Gebieterin unter ihrem Schleier leise weinte, wagte aber nicht zu fragen, warum.

 


 


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