Paul Heyse
Das Glück von Rothenburg
Paul Heyse

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Wissen Sie wohl, sagte sie, als sie den kurzen Weg nach dem Markte zurücklegten, daß es mir vorkommt, als sei dies deutsche Pompeji von lauter guten Menschen bewohnt, deren Treu' und Redlichkeit genau so wie die alten Steine ein paar Jahrhunderte lang verschüttet gewesen und nun wieder ans Licht gekommen sei? Ich habe noch kein boshaftes Gesicht hier gesehen. Alles grüßt sich; es ist wie eine große, wohlerzogene Familie, wo jeder sich gesittet beträgt, weil er von allen anderen im Auge behalten wird. Auch Sie werden einmal flotter und unternehmender in die Welt gesehen haben. Jetzt haben Sie denselben sanften Pietätsblick, Sie müssen es mir nur nicht übelnehmen, wenn ich manchmal eine kritische Miene mache.

Er versicherte eifrig, daß ihn ganz im Gegenteil ihre geistvoll unbefangene Auffassung aller Dinge sehr anziehe. Damit wurde er gleich im großen Sitzungssaal auf eine harte Probe gestellt. Als die Kastellanin die Geschichte vom Meistertrunk, jener vielbesungenen Rettungstat des Altbürgermeisters Nusch, erzählte, der von dem eisernen Bezwinger der Stadt, dem bösen Tilly, das verwirkte Leben des ganzen Rats und die Schonung der Einwohner erlangte, indem er das für unmöglich Gehaltene tat und einen Pokal, der dreizehn bayerische Quart hielt, auf einen Zug leerte, brach die übermütige Frau in helles Lachen aus. Es sei ihr, entschuldigte sie sich hernach, nicht sowohl die artige Historie spaßhaft erschienen, als der gerührte und feierliche Vortrag, der dies Kraftstück zu einer Tat des erhabensten Heroismus aufgebauscht habe. Auch sei ihr eingefallen, daß diese Legende ein Gegenstück zu jener von dem römischen Ritter Curtius bilde, nur daß dieser, um seine Stadt zu retten, in den Abgrund gestürzt sei, während der Rothenburger Curtius den Abgrund in sich getragen habe – und was der unehrerbietigen Possen mehr waren.

Er mußte sich mit Betrübnis sagen, daß es dieser Frau, die er im übrigen für ein Geschöpf von seltener Vollkommenheit hielt, an historischem Sinn fast gänzlich mangelte.

Wollen Sie auf den Turm steigen? fragte er. Es ist ein bißchen schauerlich, obwohl ganz sicher. Denn das Mauerwerk ist von Grund auf bis in die höchste Spitze ganz mit eisernen Klammern verankert, so daß der viereckige, hohe Pfeiler zäh zusammenhält; oft aber wenn Sturm ist, schwankt der Turm wie ein hin und her geschüttelter Baum.

Schade, daß heut' so stille Luft ist! erwiderte sie. Natürlich steigen wir hinauf.

Nun klomm er ihr voran die steilen Holztreppchen empor, bis sie die oberste Höhe erreicht hatten, wo auf ihr Klopfen eine Falltür sich öffnete und ein kleines grauköpfiges Männchen, das den Turmwächterdienst versah, sie freundlich begrüßte.

Sie sah sich in dem luftigen Raum, der durch vier kleine Fenster den hellen Mittag hereinströmen ließ, aufmerksam um, setzte sich auf den Schemel, von dem das Männchen aufgestanden war, und ließ sich in ein Gespräch mit ihm ein, das der einsame Turmhahn mit großem Eifer unterhielt. Auf dem Tischchen lag Nähzeug und eine halbfertige Weste, denn der Wächter war seines Zeichens ein Schneider und »bekleidete« nicht nur ein städtisches Amt, sondern auch seine Mitbürger. Sie steckte den stählernen Fingerhut an, in welchem ihre zarte Fingerspitze förmlich ertrank, tat ein paar Stiche und fragte, ob er ihr sein Amt und sein Handwerk abtreten wolle. Er sei der einzige Mensch in der Welt, den sie beneide, da er trotz seiner hohen Stellung nicht überlaufen werde, und wenn er einmal in einem Gewitter vom Blitz getroffen würde, es so viel näher zum Himmel habe. Das Männchen erzählte dagegen, es habe Frau und Kinder und täglich nur sechzig Pfennig Gehalt, so daß sein Leben nicht das sorgenfreieste sei. Und nun wies er ihr die Signalapparate für Feuersbrünste und klagte, was er oft für Angst ausstehe, wenn der Turm so schwanke, daß das Wasser in seiner Schüssel über den Rand schlage.

Sie fragte dann, ob man nicht ins Freie hinaus könne, auf die Galerie, die um den Turmhelm herumläuft, sofort ließ der Wächter eine kleine Leiter herab, die an der Zimmerdecke befestigt war, kroch auf ihr voran und öffnete eine metallene Klappe, die ein nicht gar großes dreieckiges Toch verschloß.

Ob die gnädige Frau es riskieren wolle, da durchzuschlüpfen?

Gewiß wolle sie das, sie sei noch eben schlank genug; nur sollten die Herren vorangehen.

Hans Doppler, der seine kleine Frau nie dazu gebracht hatte, sich durch den Ausschnitt zu zwängen, gab seine Bewunderung ihres Mutes nur durch einen feurigen Blick zu erkennen und kletterte hurtig hinauf, dem Turmwächter nach. Im nächsten Augenblick sah er die schöne Frau aus der Luke auftauchen und reichte ihr die Hand, um ihr vollends hinauszuhelfen. Da standen sie Schulter an Schulter hochatmend in dem engen Umgang neben dem Glockenstuhl, nur durch einen dünnen Geländerstab von der schwindelnden Tiefe getrennt.

Die Stadt lag so reinlich, wie einem Nürnberger Spielschächtelchen entnommen, zu ihren Füßen, die Türme der Jakobskirche, von Schwalben umflogen, blieben unter ihnen, sie sahen die silberne Tauber ins Land hinauswandern und den Rauch aus hundert Schornsteinen in dünnen Spiralen kerzengerade aufwirbeln. Es war die Mittagsstunde und die Gassen fast menschenleer.

Plötzlich wandte sie sich zu ihrem Begleiter.

Wenn sich hier oben zwei Menschen küssen, kann man es unten sehen? fragte sie.

Er wurde dunkelrot im Gesicht.

Es kommt darauf an, wie gute Augen man hat, sagte er. Aber soviel ich weiß, hat man dergleichen noch nie beobachtet.

Wirklich nicht? sagte sie mit leisem Lachen. Steigen keine Liebespaare hier auf den Turm – oder sonst Menschen, die durch den hohen Standpunkt verführt werden, eine kleine Tollheit zu begehen? Denken Sie nur, wie das die guten Spießbürger da unten skandalisieren müßte, wenn sie halb im Nachmittagsdämmer hier heraufschielten und sähen plötzlich so einen lustigen Unfug! Vielleicht ließe der Magistrat dann hier oben einen Anschlag machen, das Küssen sei bei drei Mark Strafe polizeilich verboten.

Er lachte verlegen.

In den Knopf der Peterskirche bin ich einmal hinaufgestiegen, fuhr sie fort; ein junger Franzose begleitete mich, der behauptete, er müsse mich, als wir in der großen kupfernen Kugel saßen, durchaus embrassieren, das sei eine ehrwürdige alte Sitte. Ich verbat es mir aber, eben weil man da oben ganz sicher ist vor indiskreten Blicken. Mich hätte nur die Gefahr reizen können. Man muß den Mut seiner dummen Streiche haben, sonst sind sie eben nichts weiter als dumm. Meinen Sie nicht auch?

Er nickte eifrig. Es wurde ihm immer schwüler und unheimlicher. Zugleich aber fühlte er immer deutlicher die Macht, die diese Frau über ihn gewann.

Sie sind für die Höhen des Lebens geboren, stammelte er. Mir wird in Ihrer Nähe so frei und leicht; ich könnte mir einbilden, wenn ich hier lange neben Ihnen stünde, würden mir Flügel wachsen und mich hinaustragen weit über das Gewöhnliche.

Sie sah ihn mit einem scharfen, durchdringenden Blick von der Seite an. – Nun denn, warum wollen Sie sich nicht tragen lassen?

Er sah verwirrt in die Tiefe hinunter. In diesem Augenblick dröhnte es zwölfmal von der Jakobskirche, und augenblicklich tat auch der kleine Turmwächter zwölf Schläge an die große dunkle Glocke hinter ihnen.

Die Frau zuckte die Achseln und wandte sich ab. Kommen Sie! sagte sie kühl. Es ist spät; Ihre Frau wird mit der Suppe auf Sie warten. – Dann strich sie ihr Kleid glatt an den Hüften zusammen, daß es sich fest um ihre Knie und Knöchel legte und tauchte sich wieder in das enge Joch hinein, mit den kleinen Füßen vorsichtig die Leitersprossen suchend. Er kam zu spät mit seiner Hilfe. Als er selbst wieder unten in der Turmstube anlangte, stand sie schon vor dem handgroßen Spiegelchen des Schneiders und ordnete ihr Haar.

Sie schien etwas von ihrer guten Laune eingebüßt zu haben, und er gestand sich heimlich, daß er schuld daran sei. Er ärgerte sich schwer, daß er sich wie ein Holzklotz aufgeführt und das Glück nicht rasch beim Stirnhaar gefaßt hätte. Nicht daß er irgend etwas Arges, eine wirkliche Untreue gegen seine gute Frau übers Herz gebracht hatte. Aber es war ja nur auf ein übermütiges Spiel, wie beim Pfänderauslösen, abgesehen, und er hatte den Spielverderber gemacht, was mußte sie von seiner Rothenburger Unweltläufigkeit denken! Und würde sie mit einem solchen Stockfisch sich ferner befassen wollen?

Sie hatte kurzen Abschied von dem Turmhüter genommen, der durch den Taler, den sie ihm in die Hand drückte, völlig versteinert war. Die Stiegen hinunter sprachen sie kein Wort. Aber auch in der breiten, stillen Herrengasse, wo er ihr sonst gewiß die Tafeln an den Häusern erklärt hätte, durch welche angezeigt wird, wo und wie lange dieser und jener hohe Monarch in der alten Reichsfeste geherbergt hatte, ging er stumm neben ihr her. Sie merkte, daß ihm Verdruß und Reue den Mund versiegelten, und da er ihr in seiner Beklommenheit doch sehr wohlgefiel, fing sie wieder in ihrem traulichen Ton an zu plaudern. Wie sie dann durch das Burgtor traten auf das schmale, mit Bäumen und zierlichen Büschen bepflanzte Vorgebirge des Plateaus, das vor Jahrhunderten die eigentliche Rothenburg getragen hatte, äußerte sie ein lebhaftes Vergnügen an dem noch kahlen Gezweig, dem alten Pharamundsturm und dem Ausblick nach rechts und links. Da wurde auch er wieder munterer, zeigte ihr jetzt den kleinen Wasserturm unten im Tal, den Heinrich Toppler erbaut und in dessen bescheidenem Raum er König Wenzel gastlich aufgenommen hatte – und dort oben, sagte er, wo Sie die vier kleinen Fenster sehen, die Hauswand bildet einen Teil der Stadtmauer –, da wohne ich, und wenn Sie mir die Ehre schenken wollen –

Nicht jetzt, sagte sie rasch. Ich habe Sie schon zu lange herumgeschleppt. Ich gehe nun in den Gasthof zurück, allein, denn ich könnte mich jetzt schon bei Nacht und Nebel in der Stadt zurechtfinden, und wenn ich mich verirren sollte, um so besser. Nichts langweiliger, als immer bekannte Wege zu gehen. La recherche de l'inconnu – das ist von jeher meine Lebensaufgabe gewesen. Also gehen Sie jetzt nach Hause; auf den Nachmittag lade ich mich bei Ihnen ein auf eine Tasse Kaffee. Aber Sie dürfen mich nicht abholen, hören Sie wohl? Adieu!

Sie reichte ihm ihre Hand; er konnte sich aber nicht entschließen, jetzt den bloßen Handschuh zu küssen, nachdem er vorhin ihre Lippen verscherzt hatte.

So ging er in seltsamer Aufregung von ihr.

Als er dann nach Hause kam, fand er, daß Christel mit dem Essen nicht auf ihn gewartet, doch auf alle Fälle seine Portion ihm aufgehoben hatte. Sie habe gedacht, er werde mit seiner alten Generalin im Hotel speisen, und die Kinder hätten Hunger gehabt. Nun trug sie ihm die einfache Kost nachträglich auf, die ihm zum erstenmal nicht schmecken wollte. Dabei saß sie ihm wieder gegenüber und plauderte mit ihrer ruhigen Munterkeit von Dingen, die ihm heute, nachdem er »auf der Menschheit Höh'n« gestanden, herzlich schal und unersprießlich vorkamen. Die Kinder spielten im Garten, bis auf den Aeltesten, der schon zur Schule ging, und waren nicht in ihrem Paradeanzug. Höre Kind, sagte er, du könntest wohl eine andere Schleife ins Haar tun und dem Lenchen sein blaues Kleid anziehen, die Generalin will zum Kaffee kommen.

Findest du die Schleife nicht mehr gut genug? erwiderte sie, sich im Spiegel betrachtend. Ich habe sie mir erst vor acht Tagen gemacht. Warum sollen wir uns so festlich herrichten, wenn eine alte Russin uns kennen lernen will?

Hm! sagte er, ich habe dir schon gesagt, so gar alt ist sie nicht, zwischen dreißig und vierzig, und sehr elegant, und da wir es doch haben, warum wollen wir uns ärmlicher anstellen, als nötig? Die alten Möbel freilich können wir nicht austauschen, aber du solltest wenigstens die ganz dünnen, brüchigen Löffelchen wegtun und dafür die neueren nehmen, und wenn du auch kein Staatskleid anziehen willst –

Er stockte, obwohl sie ihn mit keinem Wort unterbrach. Aber ihr Blick, mit dem sie im Grunde seines Herzens zu lesen suchte, machte ihm zu schaffen.

Höre, Hans, sagte sie, du kommst mir wunderlich vor. War dir nicht sonst hier alles lieb und recht, und hast du nicht selbst gesagt, dies alte Sofa, auf dem wir saßen, als unsere Verlobung gefeiert wurde, würdest du nie aus dem Hause lassen? Und war dir das Kaffeelöffelchen nicht gut genug, als ich dir die erste eingemachte Kirsche damit in den Mund steckte? Die neuen, weißt du ja, gehören dem Heinz, dem sein Pate alle Jahre einen schenkt, bis das Dutzend voll ist. Soll ich von unserm Buben etwas borgen, um vor einer fremden Dame damit zu prahlen? Mein Kaffee ist berühmt in der ganzen Stadt; die Marie soll zum Konditor laufen, um frisches Gebäck zu holen; wenn's dann deiner Russin nicht gut genug ist bei uns, tut sie mir leid. Uebrigens scheinst du heut' erst ihren Taufschein näher studiert zu haben. Um so besser, wenn es keine alte Schachtel ist. Sag, hat sie Kinder?

Ich glaube nicht. Sie hat nicht davon gesprochen.

Gleichviel. Ihre silbernen Löffel mögen schöner sein als meine. Was unsere Kinder betrifft – die, denk' ich, können sich neben allen russischen Generalskindern sehen lassen. Ich will ihnen nur ein bißchen die Hände waschen, sie graben ihr Gärtchen um. Erde ist übrigens kein Schmutz.

Damit ging sie in den Garten hinunter, während er, froh, daß er allein war, im Zimmer herumspähte, wo etwas aufzuräumen oder nach seinem Sinne ein wenig malerischer zu ordnen wäre. Er holte aus seinem Dachstübchen, das er durch ein halbverdecktes Nordfenster zum Atelier eingerichtet hatte, ein paar Aquarelle und hing sie an die eine Wand, statt des Pastellbildes einer verschollenen Großtante. Eine Staffelei trug er in die Ecke neben dem kleinen Fenster und stellte eine Oelskizze darauf. Gern hätte er die Servante mit allerlei Gläsern, Tassen, künstlichen Blumensträußen und Alabasterfigürchen ganz beseitigt, und wenn er sie zum Fenster hinaus auf den Wall hätte stürzen müssen. Er wußte aber, daß dieses Schatzhaus voll geschmackloser Andenken seiner Frau viel zu sehr ans Herz gewachsen war, als daß sie ihm eine solche Gewalttat je vergeben hätte. Seufzend betrachtete er endlich sein Werk; es sah nicht viel anders in dem Stübchen aus, als vorher; er mußte sich gestehen, daß der Stempel genügsamer Kleinstädterei seinem Leben zu tief aufgedrückt war, um sich im Handumdrehen tilgen zu lassen.

Aber freilich, dieser Käfig war zu eng für einen hochstrebenden Künstlerflug. Hinaus mußte er, wenn der Schein, der seinen Augen bisher all diese Armseligkeit verhüllt hatte, nicht endlich daran festwachsen sollte.

Da kam Christel wieder herein, warf einen verwunderten Blick auf die Staffelei und die neuen Bilder an der Wand und lächelte ein wenig, sagte aber kein Wort.

Sie breitete eine zierlich geblümte Kaffeedecke auf den Tisch und nahm ihre besten Tassen aus der Servante, die freilich auch schon ziemlich bejahrt und mit den Zieraten einer vergangenen Zeit geschmückt waren. Das Hauptstück ihres bescheidenen Silberschatzes, eine kleine Zuckerdose, auf deren Deckel ein Schwan seine Flügel ausbreitete, wurde mitten zwischen die beiden Teller gestellt, welche die Magd jetzt mit Kuchenwerk füllte. Die kleine Frau schien sich nicht sehr zu wundern, daß ihr Hans schweigsam vor ihrem Nähtisch am Fenster saß, ein Buch in der Hand, in welchem er zum Scheine las. Auch ließ sie ihn bald wieder allein, immer leise vor sich hin lächelnd, was ihren hübschen vollen Mund sehr verschönerte, aber dafür hatte er jetzt keine Augen.

So schlich noch eine kleine Stunde hin, und er hörte sie draußen in der Küche hantieren und mit der Magd reden, aber ihre ruhige sanfte Stimme, die er sonst so geliebt hatte, peinigte ihn jetzt, er wußte selbst nicht, warum. Auf einmal ging die Haustür unten, er fuhr auf und stürzte auf den Flur hinaus. Da trat ihm Christel entgegen.

Mußt du sie wirklich unten an der Treppe empfangen wie eine Prinzeß? warf sie ganz gelassen hin. So gar kleine Leute sind wir doch nicht!

Du hast recht, sagte er etwas verwirrt. Ich wollte auch nur sehen, ob du da bist.

Sie trat ihm voran wieder in das Zimmer zurück. Gleich darauf trat die Fremde ein. Christel ging ihr entgegen mit unbefangener Freundlichkeit, während der junge Ehemann sich stumm verneigte.

Auch die Dame schien ihn fast zu übersehen; sie wandte sich ausschließlich an die junge Frau, die sie einlud, auf dem kleinen harten Sofa neben ihr Platz zu nehmen, indem sie ihr dankte, daß sie bei ihrem kurzen Aufenthalt Zeit gefunden habe, sich zu ihr zu bemühen. Unser altes Häuschen gehört nicht zu den Merkwürdigkeiten von Rothenburg, sagte sie. Wir haben keine so schöne Vertäfelung, wie in dem Saal des Weißbäckerschen Hauses, und obwohl alles alt bei uns ist, ist es darum nicht schön. Mir freilich gefällt es, weil ich es von Kind an gesehen und auf all diesen schlechten Stühlen Menschen habe sitzen sehen, die ich lieb hatte. Mein Mann aber – und sie warf ihm einen schalkhaften Blick zu – würde es ohne Kummer mit ansehen, wenn all unser Hausgerät zum Trödler wanderte oder in den Ofen gesteckt würde. Das beste, was wir haben, ist Gemeingut und liegt draußen vor dem Fenster, Sie müssen unsere Aussicht betrachten, gnädige Frau. Dann werden Sie es begreiflich finden, daß auch ein Maler mit diesem alten Nest zufrieden sein konnte – wer weiß freilich, wie lange noch!

Wieder sah sie ihren Hans mutwillig von der Seite an, der jetzt das Nähtischchen zurückschob, um dem fremden Besuch die Aussicht zu zeigen. Die Dame aber blieb sitzen und sagte, sie habe das Taubertal schon von der Burg aus aufmerksam studiert und sei jetzt nur um Christels wegen hier. Offenbar hatte sie sich vorgenommen, sehr gnädig und leutselig zu sein und die scheue junge Frau auf alle Weise aufzumuntern. Als sie aber merkte, daß es dessen durchaus nicht bedurfte, wurde sie selbst etwas unsicher in ihrem Betragen, schwieg gegen ihre Gewohnheit lange und hörte dem einfachen Geplauder zu, in welches der Gatte nur dann und wann ein Wort einmischte. Die Magd brachte den Kaffee, und Christel bediente ihren Gast, ohne viel Wesens davon zu machen. Sie beobachtete dabei scharf das Gesicht der Fremden und schien durch das Ergebnis ihrer Prüfung immer heiterer und zuversichtlicher gestimmt zu werden. Dann fragte sie nach den Reisen der Frau Generalin, nach ihrem Mann und ob sie Kinder habe. Auf das rasche Kopfschütteln der Fremden ließ sie dies Thema fallen. Gleich darauf aber stürmten die drei Aeltesten die Treppe herauf und ins Zimmer, der größte Knabe hatte das jüngste, erst zweijährige Schwesterchen auf dem Arm, sie sahen alle vier schön und blühend aus und wurden nur ein wenig kleinlaut, als die Mutter sie heranrief, der Dame eine Hand zu geben. Diese betrachtete sie mit scheinbarem Wohlwollen durch ihre Lorgnette, wußte aber offenbar nicht viel mit ihnen anzufangen. Dann, mit einem Blick auf ein kleines verblichenes Klavierchen, das hinten an der Wand stand, fragte sie alsbald, ob Frau Christel auch Musik treibe.

Sie habe als Mädchen gespielt. Jetzt mache ihr der Haushalt zu viel zu schaffen, und sie öffne das alte Instrument nur noch, um einmal ein Lied, das ihre Kinder sängen, zu begleiten.

Natürlich bat der Gast, ihr ein solches Familienkonzert zum besten zu geben, und obwohl der Hausvater bemerkte, es sei ein sehr bescheidener Genuß, ließ sich die junge Frau doch nicht lange bitten. Sie hob das Kleinste, das ihr auf den Schoß geklettert war, sanft herab und setzte es in die Sofaecke. Dann ging sie nach dem Klavier, schlug ein paar Akkorde an mit ungeübter, aber musikalischer Hand und spielte die Melodie des Liedes: »In einem kühlen Grunde.« Die zwei Knaben und das Lenchen waren leise hinter sie getreten und fingen ein wenig zaghaft an zu singen. Bei der zweiten Strophe aber klangen die jungen Töne frisch und herzhaft, und die Mutter sang nun auch, mit einer Stimme, die eine schöne dunkle Altfarbe hatte und das ganze zarte Lied mit einer seltsamen Macht und Innigkeit durchdrang.

Hans saß am Fenster und warf zuweilen einen verstohlenen Blick auf die Fremde, deren Gesicht, je länger sie lauschte, einen immer herberen und unseligeren Ausdruck annahm. Als das Lied zu Ende war, schwieg sie noch immer. Christel stand auf und sagte den Kindern etwas ins Ohr, worauf sie sich mit einem artigen Kopfnicken zum Zimmer hinausstahlen, sie nahm dann das Jüngste, das eingeschlafen war, und trug es zur Magd hinaus. Als sie wieder hereinkam, saßen die beiden noch immer in ihrer schweigsamen Versonnenheit.

Willst du der Frau Generalin nicht auch dein Atelier zeigen? sagte sie heiter. Da ist doch mehr zu sehen, als hier unten.

Sogleich stand er auf, und auch die Fremde erhob sich. Sie wissen gar nicht, wie gut Sie singen! sagte sie, indem sie Christel die Hand reichte. Musik macht mich nur immer melancholisch; nicht die großen, rauschenden Opern und Konzerte, aber eine reine, warme Menschenstimme. Und nun wollen wir in die Werkstätte der Kunst.

Er führte sie eine kleine, dunkle Hühnerstiege hinauf und öffnete die Tür des sogenannten Ateliers. Die weißgetünchten Wände der geräumigen Bodenkammer waren mit Skizzen und Studien aus seiner akademischen Zeit bedeckt, ein Maltisch stand dicht neben dem Fenster, wo er seine Wasserfarbenkünste trieb, auf ein paar Staffeleien hatte er ein vollendetes und ein eben untermaltes Oelbild gestellt, natürlich Rothenburger Stadtansichten.

Sie schien aber heute ein weit kühleres Interesse an diesen Arbeiten zu nehmen, sagte nur selten ein Wort über eines der Studienblätter und wandte sich bald dem Fenster zu, durch welches man die Tauber hinab über die sanften, grünen Abhänge des Plateaus bis nach dem Dörfchen sah, das seinen alten Turm zwischen hohen, jetzt noch unbelaubten Bäumen in die leicht überwölkte Frühlingsluft erhob.

Es ist nichts Besonderes an diesen Farben und Linien, sagte er; nur als Rahmen zu dem ganzen Stadtbilde macht es sich nicht übel. Wie anders muß es sein, auf dem Kapitol zu stehen und über die Kaiserpaläste und das Forum hinweg die schönen, klassischen Konturen des Albanergebirges zu betrachten! Ich kenne das freilich nur aus den Bildern! schloß er mit einem Seufzer.

Sie werden es ja auch einmal in der Wirklichkeit sehen, das und noch anderes Schöne. Einstweilen ist auch dies nicht zu verachten, ein jedes nach seiner Art.

Dann sprach sie von etwas anderem. Ihm aber genügte es schon, daß sie doch wieder auf seine Reise in den Süden zurückgekommen waren, zum erstenmal an diesem ganzen Tage. Er suchte eben in seinen Gedanken, wie er den Faden, den sie fallen gelassen, weiterspinnen sollte, als sie abbrach und ihn bat, sie wieder hinunterzuführen. Sie habe vor der Abreise noch einige Briefe zu schreiben, zu denen sie hier größere Ruhe fände, als in Würzburg. Wann der Abendzug gehe?

Um acht! erwiderte er.

Nun gut. Wir sehen uns doch noch auf dem Bahnhof? Jetzt will ich nach Hause.

Als sie in die Wohnung hinunterkamen, fanden sie Christel nicht dort; die Frau sei im Garten, sagte die Magd, die einen roten Kopf bekam und sich durchaus nicht bewegen ließ, das anzunehmen, was die Fremde ihr in die Hand drücken wollte. Im Gärtchen aber kam ihnen Christel entgegen, einige Hyazinthen und Frühlingsblumen in der Hand, die sie eben abgeschnitten und zu einem kunstlosen Sträußchen zusammengebunden hatte.

Sie müssen so fürliebnehmen, sagte sie; meine Rosen, auf die ich sehr stolz bin, kann ich Ihnen noch nicht bieten. Aber diese gelbe Hyazinthe, sehen sie, mit den grünen Kelchen, habe ich selbst gezogen; man wird nicht leicht eine schönere finden. Ich habe eine glückliche Hand mit Kindern und Blumen, das ist mein einziges Talent.

Die Fremde nahm den Strauß und umarmte die Geberin, indem sie sie auf die Wange küßte, sie ließ sich in dem Gärtchen herumführen, das mit hohen Mauern umgeben und in dieser Jahreszeit noch nicht recht durchsonnt war. Doch hatte sich ein dichter Efeu der schwarzen Wände erbarmt und sie mit einem dunkelgrünen Teppich bekleidet, gegen den die jungen Sprossen der Obstbäume und die Beete mit Primeln, Krokus und Hyazinthen lustig abstachen. Die Kinder spielten in einem Winkel, wo sie ein eigenes krauses Gärtchen bearbeiteten, ohne sich durch den Besuch stören zu lassen.

Ich muß nun Abschied nehmen, sagte die Fremde. Ich kann Sie leider nicht zu einem Gegenbesuch in meiner sogenannten Heimat einladen. In unserer Festung sieht es nicht grün und lachend aus, wie hier, und ob ich eine glückliche Hand habe mit Kinder- und Blumenzucht, habe ich nie erprobt. Aber ich danke Ihnen für diese schönen Stunden. Ich werde sie nie vergessen, sie haben mir so wohl und weh getan, wie lange nichts. Adieu!

Sie umarmte Christel aufs neue und küßte sie diesmal auf den Mund. Dann nickte sie dem jungen Gatten zu mit einem kaum hörbaren: »Auf Wiedersehen!« und verließ rasch durch das graue Bogentor den Garten.

 


 


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