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Florian

(1907)

Im Winter 1849 auf 50, dem zweiten Semester, das ich an der Bonner Universität zubrachte, nachdem ich vorher zwei Jahre in Berlin studiert hatte, lernte ich einen jungen Studiosus der Medizin kennen, der mir um ein Semester voraus war.

Er hieß Florian S**, aus Düsseldorf gebürtig, der Sohn wohlhabender Eltern, und war aus Heidelberg, wo er seine Studien begonnen hatte, nach Bonn gekommen, sich hier zum Doctorexamen vorzubereiten. Doch seinem Äußern nach erschien er durchaus nicht als ein bemoostes Haupt, vielmehr als ein bescheidener Fuchs, der noch nicht lange das Gymnasium absolviert hätte. Eine zarte, schlanke Jünglingsgestalt, ein kleiner Kopf mit fast mädchenhaft weichen Zügen, nicht von regelmäßiger Schönheit, doch höchst anziehend durch den Ausdruck von jungfräulicher Reinheit und ernster Heiterkeit, bezaubernd, wenn er lächelte, so daß es kein Wunder war, wenn alle Mädchen sich in ihn vergafften. Auch bei den Frauen hätte er, wenn ihm daran gelegen gewesen wäre, die leichtesten Siege gewonnen. Aber die höflich-kühle Art, mit der er allen weiblichen Verlockungen begegnete, überzeugte seine Verehrerinnen bald, daß alle Liebesmüh' an dem sonderbaren Schwärmer verloren war. Dabei erkannten seine näheren Freunde bald, daß in diesem Apollino mit dem glänzenden blonden Haarschopf eine Feuerseele steckte, die überall hervorloderte, wo sich's um ein ideales Interesse, den Kampf mit dem Gemeinen, die Verachtung philisterhafter Vorurtheile handelte. Die schönen schwarzen Augen, sonst gewöhnlich sanft und fast schüchtern, konnten dann in drohenden Flammen auflodern, und der zarte Mund, von einem schwachen Bärtchen verschattet, Worte hervorströmen lassen, die frivole Spötter zum Schweigen brachten und den Gegner erkennen ließen, daß sie es in dem liebenswürdigen Jüngling mit einem ganzen Mann zu thun hatten.

Er hatte mich eines Tages angesprochen, als wir nebeneinander aus einem Colleg meines verehrten Lehrers und Freundes Jacob Bernays gingen, in dem er nur einmal aus Neugier hospitiert hatte. Denn seine Zeit war ausschließlich dem strengen Dienst seiner eigenen Wissenschaft gewidmet. Von da an entspann sich ein freundschaftliches Verhältniß, das mir sehr erfreulich war, obwohl es zu einer vollen Verbrüderung zwischen uns nicht eigentlich kommen wollte. Wir besuchten uns wohl dann und wann, er vertraute mir sogar eines stillen Abends auf meiner »Bude« an, daß er Verse mache, die wohl nichts werth seien, ihm aber nach harter Tagesarbeit mit ihrem Wohlklang das Blut beruhigten und die Seele erquickten, da er leider kein Instrument gelernt habe und doch der Musik bedürftig sei. Mir einmal etwas von seinen Gedichten zu zeigen, war er nicht zu bewegen.

Als ich ihn fragte, wie er bei seinen ästhetischen Neigungen dazu gekommen sei, sich gerade für das Studium der Medizin zu entscheiden, erwiderte er leicht erröthend, er habe eine Mutter, die er über alles liebe, die die herrlichste aller Frauen sei, doch seit Jahren an einer schweren inneren Krankheit leide. Der Gedanke, ihr vielleicht helfen zu können, habe ihn gegen alles Grauen gestählt, das ihn anfangs im Operationssaal angewandelt habe, und überhaupt – das Loos der leidenden Menschheit zu lindern, scheine ihm der edelste und dankbarste Beruf.

Er zeigte mir bei dieser Gelegenheit die Photographieen seiner Eltern, die er immer bei sich trug. Den Vater hatte er vor zehn Jahren verloren. Er war Bankier gewesen, hatte sich aus kleinen Anfängen zu ansehnlichem Reichthum heraufgearbeitet; wie das unbedeutende, aber gütige Gesicht zeigte, einer der redlichen Arbeiter, die sich ihres Lohnes dankbar erfreuen und ihre Nächsten davon mitgenießen lassen. Florian, sein einziger Sohn, hatte keinen Zug von ihm, er war der schönen Mutter nachgeartet, nur die Bildung des Gesichtes weniger regelmäßig, doch ganz derselbe stille Ausdruck von Schwärmerei, der bei der Mutter an einen Madonnenkopf von Luini erinnerte.

Sie ist auch in der That eine Heilige, sagte der Sohn, dessen Augen an dem wohlbekannten Bilde mit einer Innigkeit hingen, wie ein Liebender an dem seiner Geliebten. Wenn ich Ihnen erzählen wollte, wie sie lebt, ganz zurückgezogen von der Gesellschaft, ihr Tag nur mit heimlichen Werken der Barmherzigkeit und ihrer Musik ausgefüllt, ihr Umgang auf einen ganz kleinen Kreis von Freunden beschränkt, Sie würden begreifen, daß ich kein anderes Lebensziel habe, als meine Studien zu beenden und dann neben dieser Mutter ohne alle ehrgeizigen Ansprüche meinem Beruf zu leben.

Wir hatten es trotz aller Vertraulichkeit noch nicht zum Du gebracht. Es sollte erst später dazu kommen, obwohl ich ihn bei dem kleinen Häuflein meiner Kameraden sogleich eingeführt hatte, mit denen ich abseits von Corps und Verbindungen ein munteres, geselliges Leben führte. Wir waren unser fünf oder sechs, unser Senior, doch nur dem Alter nach, da wir von allem studentischen Comment uns frei hielten und den burschikosen Regelzwang als philisterhaft verabscheuten, war mein Freund Levin Goldschmidt, der sich später einen angesehenen Namen gemacht hat und als Professor des Handelsrechtes gestorben ist. Auch er, ein ernster, aber durchaus nicht pedantischer und allen Humoren offener Charakter, fand an dem neuen Mitglied unseres Bundes Wohlgefallen und behandelte Florian bald wie einen jüngeren Bruder, über dessen schwärmerische Weltanschauung er lächelte, ohne sie zu bekämpfen. Bei unseren Spaziergängen und kleinen Ausflügen in der auch im Winter so reizenden Umgegend sorgte er für ihn, daß er sich nicht erkälte oder übermüde, und auch die Anderen behandelten ihn wie ihren Benjamin, dessen bloße Gegenwart, obwohl er bei unsern übermüthigen Possen und Thorheiten meist nur die Rolle des dankbaren Publikums spielte, Allen wohlthat und fast unentbehrlich schien.

Doch auch an den drei Abenden in der Woche, wo wir uns regelmäßig beim Wein zusammenfanden, fehlte er zuweilen, und wir fragten uns, was ihn wohl abhalten mochte, da er sich in unserer Mitte sichtbar wohl fühlte. Einer von uns brachte uns endlich die Lösung des Räthsels. Er war ihm eines Nachmittags auf dem Wege nach Endenich begegnet in der Gesellschaft eines würdigen Ehepaars, das nahe bei dem kleinen Dorfe ein stattliches Haus und einen ansehnlichen Rebengarten besaß, und eine Tochter, die für eines der hübschesten Mädchen von Bonn und der Umgegend galt, aber von den Eltern wie ihr Augapfel gehütet wurde und auf den Tanzunterhaltungen oder in Concerten und Theateraufführungen nie erschien. Auch in ihrem Hause war von Geselligkeit keine Rede. Vater und Mutter standen im Ruf großer Frömmigkeit, und sie zeigten sich mit ihrem schönen Kinde nur Sonntags und Feiertags bei den regelmäßigen Kirchgängen, von denen sie sofort wieder in ihr verschlossenes Heim zurückkehrten.

Wie unser Florian, der im Rufe stand, sich mit Mädchen nicht einzulassen, zu dieser » Poussage« gekommen war, konnten wir uns nicht erklären. Denn daß es nicht eine zufällige Begegnung gewesen war, leuchtete ein. Unser Kundschafter hatte gesehen, wie er mit dem Katrinchen – im Bonner Dialekt leider in das häßliche »Trinkche« entstellt – in eifriger Unterhaltung vor dem Elternpaare her wandelte, gegen seine Gewohnheit sehr gesprächig und so darein vertieft, daß er den vorbeikommenden guten Freund ganz übersah. Dann war er, am Hause angelangt, nicht verabschiedet, sondern eingeladen worden, einzutreten, und natürlich dadurch verhindert, sich bei uns einzufinden.

Den Mann hat's! citierte Einer von uns. Die Anderen wollten's ihm übelnehmen, daß er sich als einen Weiberfeind aufspielte und doch heimliche Liebeswege ging. Goldschmidt aber vertheidigte ihn, es sei wohl ein ernstliches Verhältniß, und wir würden gut thun, nicht darauf anzuspielen, wenn wir ihn nicht verscheuchen wollten. Mir aber wurde es klar, welchen Gegenstand seine heimliche Lyrik habe und warum er sich nicht entschließen konnte, damit herauszurücken.

*

Eines Abends, da wir in unserem Kneipchen saßen und uns schon darein ergeben hatten, daß er wieder einmal ausbleiben würde, trat er doch noch ein, in Gesellschaft eines hochgewachsenen jungen Mannes, den er uns als seinen Landsmann und Jugendfreund, Doctor Hanno L***, vorstellte. Er habe vor Kurzem in Berlin seinen Doctor gemacht und möchte von den Prüfungsstrapazen auf einer kleinen Rundreise durch die angesehensten Universitätsstädte sich erholen, daneben noch einige Erfahrungen in den Kliniken berühmter Männer der medizinischen Wissenschaft sammeln.

Der neue Gast wurde natürlich freundlich willkommen geheißen, obwohl er auf den ersten Blick nichts Einnehmendes hatte. Sein scharfes, blasses Gesicht mit den hellen Augen unter dichten schwarzen Brauen hatte einen mephistophelischen Ausdruck, und an dem feinen, bartlosen Munde erschien zuweilen ein sarkastischer Zug, der ein beständiges Gefühl von Überlegenheit verrieth. Doch was er sprach, war immer bedeutend und durchaus nicht hochmüthig, so daß wir ihn bald interessant fanden und zuletzt ganz gemüthlich mit ihm verkehrten. Nur daß gerade an diesem jungen Mann unser Florian mit so bewundernder Freundschaft hing, war uns nicht recht begreiflich.

Daß dies aber der Fall war, erkannte ich bald, als ich mit Florian das nächstemal unter vier Augen auf den Freund zu sprechen kam.

Er erging sich in so enthusiastischen Ausdrücken über ihn, stellte seinen Geist und sein Wissen ebenso hoch wie seinen Charakter und sein Gemüth, das er freilich sorgfältig zu verbergen suche, daß ich nun begriff, weßhalb er zu keinem von uns ein so recht warmes Verhältniß gewinnen konnte, da dieser Freund, neben der vergötterten Mutter, sein Herz ganz ausfüllte.

Wir sahen ihn selbst nun auch seltener und dann meist ohne seinen Intimus, der sich dafür in den Bonner Professorenkreisen umsah und, wie mir schien, im Interesse seiner eigenen Zukunft Verbindungen anzuknüpfen suchte, da er auf einen Lehrstuhl an irgend einer Universität hinarbeitete. Wir vermißten ihn weniger, als unseren Benjamin, fanden es aber sehr natürlich, daß der Jugendfreund vorging und ihn uns abtrünnig machte.

Seltsam aber schien es uns, daß wir erfuhren, Florian habe ihn auch im Hause seines heimlichen Schätzchens eingeführt. Wie er dort hinpassen sollte, da er aus seinen bis zum Cynismus gesteigerten Irreligionsansichten bei uns kein Hehl gemacht hatte – der Sohn der frommen Mutter schien auch hieran keinen Anstoß zu nehmen –, konnten wir uns nicht erklären. Offenbar war nur, daß sein schwärmerischer Anhänger ihm auch an dem Besten und Lieblichsten, das er selbst genoß, einen Antheil gönnen wollte.

*

Es ging nun schon auf den Frühling.

Wir saßen eines Abends fröhlich beisammen, um so traulicher, da auch Florian wieder einmal in unserer Mitte war. Diesmal ohne seinen Hanno. Der werde aber nachkommen. Er habe noch einer Einladung folgen müssen, der er nicht habe ausweichen können.

Die Stimmung unter uns ging schon in hohen Wogen, es war gegen Mitternacht und auch unser Benjamin durch Wein und lebhafte Gespräche mehr als sonst angeregt worden, als die Thür sich öffnete und der Verspätete hereintrat.

Wir erschraken über seinen Anblick.

Sein sonst so bleiches Gesicht war dunkel geröthet, seine Augen blutunterlaufen, das wirre Haar hing über die Stirn herein, und die Mütze war ihm schief auf den Hinterkopf zurückgerutscht. Er nahm sie auch nicht ab und begrüßte uns auch sonst nicht, sondern stierte wie geistesabwesend, doch mit einem düstergrimmigen Blick an uns vorbei in eine Ecke. Dann warf er sich schwerfällig auf einen Stuhl, zog eine Cigarre heraus und fing schweigend an zu rauchen.

Uns allen versagte das Wort. Wir hatten stets seine kühle Gelassenheit und Selbstbeherrschung auch bei den hitzigsten Debatten bewundert. Was war geschehen, das ihn so verwandelt hatte? Offenbar kam er von einem Gelage. Wir hatten aber nie gesehen, daß der Wein ihn um seine Besinnung gebracht hätte.

Endlich faßte sich Florian.

Guten Abend, Hanno! Du kommst spät. Du scheinst aber deine Zeit gut angewendet zu haben. Der Herr Geheimrath – (bei dem er eingeladen gewesen) – muß einen guten Keller haben, und du hast ihm alle Ehre angethan.

Einige von uns versuchten zu lachen, um die peinliche Stimmung abzuschütteln. Hanno ließ kein Wort hören, nur ein dumpfes Knurren, auch sah er den Freund nicht an, sondern stieß nur dickere Rauchwolken aus und spie auf den Boden.

Lassen wir ihn! sagte Goldschmidt ruhig. Er ist müde und möchte ungeschoren bleiben. Wovon sprachen wir doch eben?

Aber Keiner nahm den abgerissenen Faden wieder auf.

Die Kellnerin trat ein und setzte, ohne erst die Bestellung abzuwarten, einen Schoppen von dem Wein, den Hanno gewöhnlich trank, vor ihn auf den Tisch. Mechanisch griff er nach der Flasche und schenkte ein Glas voll, das er auf einen Zug hinuntergoß.

Ich beobachtete Florian. Er sah unverwandt mit traurigen, bangen Augen auf den Freund, der ihm plötzlich ein Fremder geworden zu sein schien. Sein Nachbar richtete eine leise Frage an ihn, er überhörte sie. Jetzt aber, als Hanno hastig sein Glas wieder füllte, stand er auf, ging um den Tisch herum und trat dicht vor ihn hin.

Komm, Hanno! sagte er mit einer Stimme, in der eine tiefe innere Bewegung zitterte, trink nicht mehr, wir wollen nach Hause gehn. Es ist spät, und du hast genug.

Der Andere hob seinen Kopf, der auf die Brust gesunken war, maß den vor ihm Stehenden mit einem drohend feindseligen Blick und sagte, die Worte heiser hervorstoßend: Du hast Recht, ich habe genug – genug von dir und deiner falschen Freundschaft! Hebe dich weg von mir!

Wir trauten unseren Ohren nicht; der es gesprochen, war offenbar schwer betrunken und seiner Sinne nicht mächtig. Doch auch so – seinem Busenfreund gegenüber – was mochte die alte Liebe plötzlich in Haß verwandelt haben? Denn Haß wie auf einen Todfeind loderte in dem stechenden Blick, den er auf den Ahnungslosen gerichtet hielt.

Lieber Alter, sagte dieser, nachdem er sich von der ersten Bestürzung ein wenig gesammelt hatte, red jetzt nichts mehr, was du sagst, spricht ein böser Geist aus dir, Gott weiß, welchen vergifteten Wein du getrunken hast. Komm nur und laß dich zu Bett bringen. Morgen lachen wir über diese Possen.

Possen? rief der Andere mit höhnischem Gelächter. Jawohl, eine schöne Komödie hast du mir aufgeführt, aber das Gift, das ich getrunken habe, hast du mir eingeschenkt, ja, du mit dem unschuldsvollen Gesicht und der sanften Heuchelmiene. Oder kannst du leugnen, daß du mich niederträchtig belogen und betrogen hast?

Er war aufgesprungen und hielt sich mühsam am Tisch. Auch wir Anderen waren von unseren Sitzen aufgefahren. Nur Florian blieb ruhig dem Wüthenden gegenüber, so sehr es in seinem Innern gären mochte, und erwiderte laut, aber mit überlegener Fassung: Ich verzeihe dir alle deine Schmähungen; du weißt nicht, was du sprichst. Wenn nicht alles, was wir lange Jahre miteinander getheilt haben, eine Lüge gewesen ist, so wirst du erkennen, daß deine Beschuldigung, ich hätte dich belogen und betrogen, Wahnsinn ist.

So? lachte Hanno. Wahnsinn? Nein, mein Sohn, ich weiß ganz genau, was ich sage. Oder hätt' ich's nur geträumt, daß ich dich gefragt habe, ob du verlobt seist, und du mir betheuert hast, es sei kein Gedanke daran?

Eine helle Röthe übergoß Florian's Gesicht. Er schwieg einen Augenblick. Dann kam es offenbar mühsam von seinen Lippen: Du hast Recht, das habe ich gesagt.

Und gelogen wie ein Schelm und Schurke. Hahaha!

Ja, fuhr Florian fort. Ich sagte dir nicht die Wahrheit, ich durfte sie nicht sagen, da ich mein Wort gegeben hatte, die Verlobung geheimzuhalten bis nach dem Doctorexamen. Wer dir's nun doch verrathen hat, ist mir unbegreiflich.

O, mein werther Herr, die Sache ist sehr einfach; ich weiß es aus der besten Quelle: keine Geringere als das schöne Fräulein Braut in eigener Person hat mich in das saubere Geheimniß eingeweiht.

Katarine? Unmöglich!

Unmöglich, aber wahr. Warum sollte sie auch eine Mördergrube aus ihrem zarten Busen machen, mir gegenüber, dem Busenfreunde ihres edlen Verlobten? Daß der es übers Herz brachte – nun, es gibt eben falsche Freunde, hahaha!

Komm endlich zu dir! rief der so tödlich Gekränkte mit tiefem Nachdruck. Wenn ich den Eltern das feierlich gegebene Wort gehalten habe, so habe ich nur meine Ehrenpflicht gethan. Wäre es in solchem Falle nicht erlaubt, ja geboten, die Wahrheit zu verleugnen, so wäre jedes Versprechen der Geheimhaltung illusorisch, so müßten wir Jedem, der in unser Inneres einbrechen wollte, die Thüre selbst aufmachen. Niemand hat ein Recht, mir abzulisten, was ich verschweigen will.

Brav, mein Sohn! Vortrefflich! Ganz der vom Vater ererbten Jesuitenmoral würdig. Der Zweck, eine reiche Braut heimzuführen, muß natürlich auch das Mittel der offenbaren Lüge heiligen. Wohl bekomm's, frommes Kind! Ich aber erlaube mir, dich hinfort gründlich zu verachten. Gute Nacht! Ich bin mit dir fertig!

Halt! stieß Florian mit flammendem Blick und machtvoller Stimme hervor, da der Andere sich schwankend nach der Thür wendete, ich bin noch nicht fertig mit dir. Erst mußt du das Wort zurücknehmen, das du über meinen Vater gesagt hast. Eine Jesuitenmoral hätt' ich von ihm geerbt? Welcher Handlung seines ehrenwerthen Lebens kann man einen so schnöden Vorwurf machen?

Der Andere, schon die Hand an der Klinke, blieb stehen und sah mit einem dämonischen Grinsen auf den Fragenden zurück. Es war zweifellos, daß er die Gegenwart von uns Anderen völlig vergessen hatte und nur ihn sich gegenüber sah.

Dein Vater? Welchen meinst du? Den richtigen oder den – haha! – den angeheirateten, untergeschobenen? Dieser war freilich ein Biedermann, der in seinem Geschäft sich nie die kleinste Unregelmäßigkeit zu schulden kommen ließ. Dafür war der, dessen Blut in deinen Adern fließt, ein desto gewitzigterer Schüler Loyola's, schon ex officio, als Mitglied der hochheiligen Societas Jesu, und so ist's kein Wunder, daß du erblich belastet bist. Wie? Schlägst du nun die Augen nieder? Hast du kein Wort mehr, mich einer niederträchtigen Verleumdung zu zeihen? Oder solltest du wirklich diese saubere Geschichte zum erstenmal von mir hören? So gehe zu deiner frommen Mutter, der Heiligen, und frage sie, ob sie nicht, ehe sie dem Herrn Gemahl am Altar Treue gelobt, ein zartes Verhältniß mit dem hochwürdigen Pater N. N. gehabt habe, bei Gelegenheit seiner berühmten Missionspredigten, und dann froh war, daß der feine Seelenhirt das verirrte Lämmlein noch zur rechten Zeit in den legitimen Pferch einer ehrbaren Heirath in Sicherheit brachte. Vielleicht freilich wirst du auf deine Frage auch nur eine jesuitische Antwort erhalten. Dann erlaube ich dir, mich gleichfalls zu verachten. Übrigens bin ich zu jeder anderweitigen Genugthuung bereit. Für heute hätten wir uns wohl nichts mehr zu sagen.

Er drückte sich die Mütze fester auf den Kopf, nickte noch einmal zurück und riß die Thür auf. Im nächsten Augenblick hörten wir ihn mit schweren Schritten durch den Gang stapfen und aus dem Hause verschwinden.

*

Wir waren nach der furchtbaren Scene in starrem Entsetzen zurückgeblieben. Ein paar Minuten lang wagte Keiner sich zu rühren oder ein Wort zu sagen, das die lähmende Stille unterbrochen hätte. Unser aller Augen waren auf den unglücklichen Freund gerichtet, der ebenfalls wie versteinert so stehen geblieben war, wie der Feind ihn verlassen hatte. Sein Gesicht, so viel ich davon sah, war todtenfahl, die Augen mit einem unbeschreiblichen Ausdruck ins Leere gerichtet. Das ungeheure Mitleid mit dem Ärmsten drohte mich zu ersticken.

Ich machte endlich eine Bewegung zu ihm hin; so leise es geschah, schien er es zu fühlen, denn er wandte sich langsam halb nach uns um und sagte mit einer unaussprechlich rührenden sanften Stimme: Warum seid ihr Alle so stumm und verstört? Bedauert ihr mich, daß ich eben etwas so Unerhörtes erleben mußte, von Einem, den ich bisher für einen der vollkommensten Menschen und meinen treuesten Freund gehalten habe? Ihr solltet vielmehr ihn bedauern, denn wenn er aus seinem Rausch aufwacht, wird es ihm furchtbar sein, daß er in seiner Besessenheit so verrückte Dinge gesagt und so lächerliche Beleidigungen gegen mich geschleudert hat. Denn, da's nun doch einmal heraus ist: Ja! das mit meiner Verlobung hat seine Richtigkeit. O, ich sehe ganz klar, wie er dazu gekommen ist und das schüchterne Mädchen dazu gebracht hat, unser Geheimniß zu verrathen. Längst hatt' ich ihm angemerkt, daß sie's auch ihm angethan hatte. Doch nahm ich's nicht ernst. Ich wußte, daß ein unschuldiges Kind wie das Katrinchen nicht sein Genre ist, dachte, ihn reizt nur einmal der gerade Gegensatz zu den durchtriebenen, koketten und üppigen Weibern, mit denen er's bisher zu thun gehabt hat. Nun wird's ihm doch über den Kopf gekommen sein, er ist heimlich hinausgegangen und hat sich ihr erklärt, da er wußte, die Eltern waren heute ausgebeten. Und da hat sie, um ihm nicht so ohne Grund einen Korb geben zu müssen, ihm eingestanden, daß wir Zwei verlobt seien. Das hat ihn furchtbar getroffen. Er ist eitel und glaubt, Keine könne ihm widerstehen. Dann hat er sich irgend wohin gesetzt und den Ingrimm und die Beschämung im Wein zu ersäufen gesucht. Wie er mich aber wieder zu Gesicht bekam – nun, ihr habt's ja miterlebt. Alles könnt' ich ihm verzeihen – er war ja nicht zurechnungsfähig – das aber, daß er den Namen meiner Mutter – auf den Knieen soll er mir's abbitten – diese schandbare Verleumdung, die er sich rein aus den Fingern gesogen, bloß um mich an dem Punkt zu verletzen, wo ich am verwundbarsten bin. Denn diese Frau – wenn ihr sie kenntet – daß irgend ein Flecken jemals an ihr Gewissen und Betragen gekommen sei – wenn es nicht eine so tückische Lüge wäre, müßte man wie über das Hirngespinst eines Tollhäuslers darüber lachen.

Er hatte sich außer Athem geredet und schwieg erschöpft. Keiner von uns sagte ein Wort. So fest wir von seiner Wahrhaftigkeit überzeugt waren – etwas Gewaltsames lag in seiner ganzen Art, zu reden und sich zu bewegen, und wie er nach seinem Platz zurückging und sein Glas hastig austrank, sah ich etwas Fieberhaftes in seinen Augen flackern, das mir nicht gefiel.

Du kannst ganz ruhig sein, Florian, sagte jetzt Levin Goldschmidt. Er soll dir vor unseren Augen Abbitte leisten und sich zu jeder Satisfaction bereit erklären. Daß wir uns sämtlich verpflichten, von dem Vorgefallenen nicht ein Wort verlauten zu lassen, versteht sich von selbst.

Er antwortete nicht sogleich. Er war in düsteres Sinnen versunken, dann ging er nach der Thür.

Ich dank' euch, liebe Freunde, sagte er, uns zunickend. Mit ihm werde ich schon fertig werden – auch mit mir. Es hat mich nur so überfallen, ich muß es erst beschlafen – hoffentlich. Gute Nacht! Heute kommt's ja doch nicht mehr zu einer rechten Stimmung. Verzeiht mir, daß ich die Ursache war, euch den Abend zu verderben. 's ist wahrhaftig nicht gern geschehen.

Damit öffnete er die Thür und verließ uns.

Es sollt' ihm einer nachgehen, sagte Levin, er könnte irgendwie Schaden nehmen. Ich will selbst –

Laß mich es thun, sagt' ich. Ich kenn' ihn am besten von uns allen und stehe dafür, daß ihm nichts zustößt.

Ich nahm rasch meine Mütze vom Haken und eilte hinaus.

Es war eine sternklare Märznacht, vom Rhein herüber kam ein frisches Wehen und kühlte meine erhitzte Stirn. Doch so scharf ich auf die Straße hinausblickte, Florian sah ich nicht. Erst als ich seinen Namen rief, löste sich eine dunkle Gestalt von der Wand eines Hauses, an der sie regungslos gestanden hatte, offenbar in ein tiefes Brüten versunken.

Du bist's, sagte er, als ich herankam. Ich bitte dich, laß mich. Ich kann jetzt kein Gespräch vertragen.

Wir wollen auch nicht schwatzen, ich will dich nur nach Hause bringen.

Wohin? Ich habe keine Stätte, wo ich mein Haupt hinlegen könnte. Ich wohne ja Thür an Thür mit ihm, da kann ich heute doch keinen Schlaf finden.

Gewiß, mein Junge, das hab' ich auch gedacht. Ich wollte dich auch nur zu mir bringen, auf meinem Sopha kannst du ruhig übernachten, wenn du nicht lieber in meinem Bette schlafen willst.

Er zauderte, meinen Arm anzunehmen. Ich möchte erst noch etwas frische Luft – die Nacht ist so schön –

Dabei merkte ich, daß er Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten.

Ohne längeres Parlamentiren schob ich meinen Arm unter den seinen und zog ihn fort. Ich konnte beim Schein einer Laterne sein Gesicht deutlich erkennen. Ein schmerzlicher Zug lag um den halbgeöffneten Mund, die Augen hatte er zugedrückt und überließ sich willenlos dahintaumelnd meiner Führung. Nur von Zeit zu Zeit zuckte eine leichte Erschütterung durch seine Glieder, doch sprach er kein Wort, und da ich ihn etwas fragte, antwortete er nur mit einem unverständlichen Laut.

*

So kamen wir nach meiner Wohnung in der Rheingasse.

Ich hatte gesehen, daß er barhaupt ging und unterwegs, da wir noch nicht weit von unsrer Kneipe entfernt waren, vorgeschlagen, noch einmal zurückzugehen, die Mütze zu holen, die er vergessen hatte. Er hatte heftig den Kopf geschüttelt, als ob es ihm Grauen machte, wieder den Ort zu sehen, wo er so Bitteres erfahren hatte.

Als wir in meine kleine Stube eingetreten waren, fiel er wie in tödlicher Ermattung auf das Sopha, lehnte sich zurück und antwortete auf Alles, was ich ihn fragte, nur mit einsilbigen Worten. Nur ein Glas Wasser, das ich ihm anbot, ergriff er begierig und sagte, als er es mir geleert zurückgab: Danke! Das hat gelabt.

Dann streckte er sich vollends aus und schloß die Augen. Ich breitete meinen Mantel über ihn und sagte ihm gute Nacht! Bald darauf glaubte ich aus seinen ruhigen Athemzügen schließen zu dürfen, daß er eingeschlafen sei.

Ich selbst fand noch stundenlang keinen Schlaf. Ich lag in großer Sorge um den Freund und zersann mich, wie alles enden und glimpflich geschlichtet werden könnte. Denn das, was der liebevolle Sohn zur Entkräftung der Lüge gesagt, hatte mir den Stachel des Zweifels nicht abstumpfen können. Auch hörte ich zuweilen von dem Lager drüben einen Ton wie ein schmerzliches Seufzen. Auch er schien vor wühlenden Gedanken keine Ruhe zu finden.

Gegen Morgen aber verging mir das Bewußtsein und ich fiel in einen so tiefen Schlaf, daß erst die Sonne mich weckte. Als ich von meinem Kissen auffuhr, war mein erster Blick zu dem Schläfer drüben. Das Sopha, auf dem er geruht hatte, war leer.

Erschrocken sprang ich auf und zog mich eilig an. Wo mochte er hingegangen sein, als er sich davonschlich? Ich mußte hinaus, seine Spur aufzusuchen.

Meine Wirthin theilte mir mit, der junge Herr sei ihr im Flur begegnet, habe ihr aufgetragen, mir einen Gruß von ihm zu bestellen, und ich möge unbesorgt sein, er befinde sich ganz wohl. Es sei ihr aufgefallen, daß er eine alte Mütze von mir aufgehabt habe. Dann habe er hastig das Haus verlassen.

Mein nächster Gedanke war, in seiner Wohnung nach ihm zu fragen. Möglich, daß er, als er aufwachte, die Auseinandersetzung mit Hanno nicht einen Augenblick hatte aufschieben wollen. Als ich mich aber bei seiner »Phileuse« nach ihm erkundigte, hörte ich, er sei auch am Morgen nicht nach Hause gekommen, nachdem er die Nacht ausgeblieben. Nur der Herr Doctor sei um ein Uhr zurückgekehrt und scheine noch zu schlafen.

Ich wollte warten, bis er aufwache.

Sie führte mich in Florian's Zimmer. Ein seltsamer Schauer überlief mich, als ich in das kleine, sehr sauber gehaltene Gemach eintrat, wo mich alles an den Freund erinnerte, der jetzt vielleicht – ich mochte es nicht ausdenken. Ich setzte mich an seinen Schreibtisch, auf dem ein Bogen der Doctordissertation lag, an der er arbeitete. An der Wand darüber hing ein Aquarellporträt seiner schönen Mutter, von einem frischen Kranz umgeben. Es stammte aus ihrer Mädchenzeit. Die Augen waren mit einem fragenden Ausdruck stiller Andacht auf den Beschauer gerichtet, ein Bild süßer Unschuld. Ich verstand, daß der Sohn sie als eine Heilige verehrte.

Nebenan, nachdem ich wohl eine Stunde gewartet hatte, rührte sich's endlich. Dumpfe Laute drangen durch die Thür, dann schien der Schläfer sich schwerfällig zu erheben, aber sogleich hörte ich harte Tritte über den Fußboden hin und her gehen – er mußte in Stiefeln sich auf das Bett geworfen haben und so eingeschlafen sein.

Als ich dann klopfte und auf ein mürrisches Herein! die Thür öffnete, sah ich die lange Gestalt mitten im Zimmer stehen, in dem Anzug, wie er gestern nachts bei uns erschienen war. Nur die Halsbinde hatte er abgerissen und das Hemd über der Brust geöffnet, es war ihm heiß geworden. Das Haar hing ihm wirr um den Kopf, das Gesicht war fahl und gedunsen; er gähnte, da ich eintrat.

Was wollen Sie? Ich bin so früh nicht zu sprechen. Wie können Sie sich herausnehmen – – ah, Sie sind's! Ich erkannte Sie nicht gleich. Darf ich fragen, was Sie zu mir führt?

Er hatte rasch seine gewöhnliche kühle Haltung wieder gewonnen.

Ich komme – wegen Florian.

Wegen Florian? Der wird in seinem Zimmer sein.

Er ist nicht darin, er hat bei mir übernachtet und heut Morgen sich heimlich weggeschlichen. Ich bin in Sorge, daß ihm etwas zugestoßen sein möchte, nach der Aufregung, in die ihn gestern Abend der Auftritt mit Ihnen versetzt hat.

Der Auftritt mit mir?

Er starrte mich mit verglasten Augen rathlos an.

Ich entsinne mich wirklich nicht – Sie müssen mir schon auf die Sprünge helfen – gestern Abend –? Sie müssen wissen, ich hatte des Guten etwas zu viel gethan – also bitte, sagen Sie mir – aber wollen wir uns nicht setzen?

Seine Ruhe empörte mich. Nicht viel besser als ein Mörder kam er mir vor, der kaltblütig erklärt, er erinnere sich nicht, einem Wehrlosen den Dolch ins Herz gestoßen zu haben.

Er hatte sich auf den Stuhl am Bett gesetzt und wies auf einen Lehnstuhl ihm gegenüber. Ich blieb aber stehen, und nun brach Alles aus mir heraus, was ich gegen ihn auf dem Herzen hatte.

Er hörte mich an, ohne eine Miene zu verziehen.

Als ich zu Ende war, schwieg er noch eine Weile. Dann sagte er mit heiserer Stimme: Wenn sich das Alles so verhält, und leider kann ich nicht daran zweifeln, so habe ich eine Gemeinheit begangen, die nie wieder gut zu machen ist!

Bei diesen Worten stand er mühsam auf und ging ein paarmal, die Hände in den Hosentaschen, durch das kleine Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor mir stehen.

Sie kommen von ihm als sein Kartellträger?

Nein. Er hat mir Abends kein Wort mehr über Sie gesagt, und daß ich ihn heut' morgen nicht mehr gesehen habe, wissen Sie bereits.

Hm, machte er, was sollt' es auch helfen? Wenn er mir mit der Pistole einen vernichtenden Vortrag darüber hält, was man einem Freunde schuldig ist – ich natürlich würde in die Luft schießen – die Sache selbst wird dadurch nicht aus der Welt geschafft. Der arme Junge – es ist niederträchtig! Wie konnt' ich Elender – aber nein, ich war's ja nicht, der verfluchte Wein, der hat's auf dem Gewissen! Und freilich – auch er selbst war schuld daran. Warum hat er mich belogen? Glauben Sie, man schluckt eine solche Blamage so gleichmüthig hinunter wie ein Glas Limonade? Und doch, es war infam!

Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar und nahm sein Hin- und Herrennen wieder auf. Endlich trugen ihn die Kniee nicht mehr, und er ließ sich aufs Bett fallen.

Da Sie mal hier sind, sagte er, sollen Sie wenigstens erfahren, wie's zugegangen ist. Ich erwarte von Ihrer Ehrenhaftigkeit, daß Sie keinen Gebrauch davon machen werden, gegen niemand, Sie verstehen. Ich will Ihnen, damit ich Ihnen wenigstens nicht schlechter erscheine, als ich bin, Alles sagen, wie's zwischen mir und ihm gestanden hat. 's ist ein Fall für einen Psychologen. Sehen Sie, dieser mein Jugendfreund – ich hab' ihn schon in den Schuljahren, wo ich ihm um zwei Classen voraus war, zugleich geliebt und gehaßt, nein, nicht gehaßt, nur beneidet. Er hatte Alles, was mir fehlte, seine Anmuth, seine Liebenswürdigkeit, eine reiche Mutter – meine war in sehr mäßigen Verhältnissen – eine ganz reine Seele voller Menschenliebe – bloß in einem war ich ihm über: an Verstand und Kenntniß der Menschen und der Weiber. Was ihn zu mir hinzog, habe ich nie begriffen, vielleicht das heimliche unverstandene Gefühl, daß ich im Innersten unselig war und von niemand so recht geliebt wurde. Es ärgerte mich, ihm dankbar sein zu müssen. Hundertmal wollt' ich ihm seine zudringliche Freundschaft vor die Füße werfen, dann bracht' ich's nicht übers Herz, wenn ich ihm in das gute, ahnungslose Gesicht sah.

Haben Sie je von einem so verrückten Freundschaftsverhältniß gehört?

Mit seiner Mama ging mir's ähnlich. Ich konnte mich dem Zauber ihrer sanften Schönheit nicht entziehen und fühlte mich doch heimlich unwohl in ihrer Nähe, wie ein Mensch, der mit schmutzigen Schuhen in einen Tempel tritt. Meine Mutter war von früh an mit ihr befreundet gewesen, aber auch in ihr schien ein ähnlicher Zwiespalt zu bestehen, eine Art Eifersucht, da sie selbst weder hübsch noch von den Leuten so gepriesen war wie die Andere. Als eine simple Professorswittwe konnte sie keine sonderlichen Ansprüche machen.

Und so kam's einmal zu einer Aussprache zwischen uns über die verehrte Stadtheilige. Ich war sechzehn Jahre, hatte eben wieder davon reden hören, was Florian's Mutter an einer verarmten Familie gethan. Sie hat es freilich dazu, sagt' ich, aber Andere haben's auch und thun's doch nicht. Sie ist wirklich eine himmlische Frau!

Nun, sagte meine Mutter, so ganz ohne einen irdischen Zusatz ist sie Gottlob auch nicht. Es wäre ja sonst mit ihr nicht auszuhalten.

Ich wurde hitzig, und es fuhr mir so heraus, daß ich nicht begriff, wie sie so sprechen könne, da ja von einem Vergleich mit solch einer einzigen Erscheinung überhaupt keine Rede sei. Das regte sie auf, und nun gab ein Wort das andere, und sie vertraute mir unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit, was dem makellosen Engel für eine Teufelsgeschichte begegnet sei.

Ich war außer mir und verteidigte sie leidenschaftlich. Daß ein so junges Wesen einem abgefeimten Verführer zum Opfer gefallen sei, einem Seelenfänger von Profession, der keine großen Künste brauchte, auch zarte Leiber in sein Netz zu ziehen, könne der armen betrogenen Unschuld nicht zur Last gelegt werden. Was daran auch ihr zur Sünde gerechnet werden möchte, sei durch ihr ferneres tugendhaftes Leben überreich gesühnt worden.

O, sagte die Mutter, das wäre alles gut und schön, aber wirst du auch das entschuldigen, daß sie dem guten einfältigen Manne, der sie schon früher hoffnungslos geliebt hatte und den der Verführer leicht dazu brachte, seine eigene Sünde zu bemänteln, daß sie dem nie gestanden hat, was sie ihm in die Ehe mitgebracht hatte?

Ich wollte erwidern, sie habe das aus Schonung gethan. Der Gatte habe sich's nun einmal selbst zuzuschreiben, daß er die Katze im Sack gekauft habe. Ich hatte aber doch nicht den Muth dazu, denn allerdings war das ein Makel auf dem Heiligenbilde, den ich mit keiner Sophistik wegzuwaschen wußte.

Sobald es heraus war, fiel es meiner Mutter schwer aufs Herz, daß sie das Geheimniß verrathen hatte. Der edle Pater hatte die Sache so fein eingefädelt, daß sie wirklich völlig geheim geblieben war, und in Düsseldorf wußte außer der einen intimsten Freundin kein Mensch darum. Nun ließ sie sich von mir die heiligsten Versprechungen geben, es solle nie über meine Lippen kommen, und Sie werden mir hoffentlich glauben, daß es mir nicht schwer wurde, mein Wort zu halten. Wie ich Florian kannte, wußt' ich, was es auf ihn für einen Eindruck machen mußte, wenn er nur eine Ahnung davon bekam, wie auf einen Gläubigen, dem plötzlich sein Himmel zusammenstürzt. Es ist ja eine übertriebene Sentimentalität, aber gerade die besten Menschen schließen mit ihrem Aberglauben keine Compromisse.

Und nun die Scene gestern Nacht! – –

Er fuhr vom Bett wieder auf, ging zu seinem Waschtisch und trank ein großes Glas Wasser aus. Erst nachdem er wieder eine Weile herumgerannt war, konnte er in seiner Beichte fortfahren.

Nur knirschend und widerstrebend gestand er mir, daß sich Alles so zugetragen, wie Florian es sofort vermuthet hatte: seine Werbung bei dem Katrinchen, der Ingrimm über die Abweisung, die Wuth gegen den Freund, dem er die beschämende Lection verdankte. Ich fühlte meinen eigenen Zorn gegen ihn verrauchen, das tiefste Mitleid überkam mich mit dem Armen, der sich in den heftigsten Selbstvorwürfen Luft machte, und ich wußte nicht, wer mir beklagenswerther erschien, er oder der Freund, den er so tödtlich verletzt hatte.

Wir saßen noch eine Weile beisammen, doch ohne viel zu sprechen. Was der nächste Tag bringen würde, war nicht abzusehen. Alles hing davon ab, wie Florian sich betragen würde. Wenn er nur überhaupt erst wieder zum Vorschein kam, nicht etwas Verzweifeltes gethan hatte!

Darüber beruhigte mich Hanno. Wie er ihn kenne, werde er der Mutter einen solchen Schmerz, ihren Sohn als Selbstmörder betrauern zu müssen, nie anthun.

*

Aber trotz seiner Versicherung, daß das Schlimmste nicht zu befürchten sei, konnte ich mich einer schweren Bangigkeit nicht erwehren.

Der Tag verging, ohne daß der Unglückliche selbst sich blicken ließ oder irgend eine Nachricht von ihm zu mir kam. Meine Freunde, die sich früh bei mir einfanden, um zu erfahren, wie wir die Nacht zugebracht hätten, waren in gleicher Sorge. Wir forschten unter der Hand nach ihm, überall, wo er sonst sich gelegentlich blicken ließ. Selbst im Hause Katrinchens wurde eine discrete Erkundigung angestellt. Niemand hatte ihn gesehen.

Am Abend des dritten Tages endlich kamen wir, da wir in unserer Stammkneipe beisammen saßen und die Sache hin und her erwogen hatten, zu dem Beschlüsse, wenn bis zum nächsten Morgen keine Nachricht von seinem Verbleib gekommen, die Hülfe der Polizei anzurufen. Denn daß er sich etwa durch eine Wanderung ins Gebirge uns entzogen haben sollte, war nicht anzunehmen, da er im leichten Anzug fortgegangen und die Witterung noch rauh und unfreundlich war.

Als ich aber in sehr trauriger Stimmung ziemlich spät nach Hause kam und in mein Zimmer trat, fand ich die Lampe darin angezündet und unsern Verlorenen ruhig am Tische sitzend und in einem Buche lesend.

Ein Stein fiel mir vom Herzen. Ich begrüßte ihn wie einen von den Todten Auferstandenen und beschaute ihn vom Kopf bis zu den Füßen, ob es auch kein Gespenst sei, sondern der richtige Florian in Fleisch und Bein. Nur in seinem Gesicht war etwas, das mir nicht geheuer vorkam, ein aufgeregtes nervöses Lächeln, das seinen Mund seltsam verzerrte, ein fieberhaftes Leuchten in den Augen, die beständig zur Seite blickten. Auch drückte er mir matter die Hand, als er sonst zu thun pflegte.

Verzeih, sagte er, daß ich mich wie ein Dieb in der Nacht fortgeschlichen und dir sogar deine Mütze gestohlen habe. Es litt mich aber nicht hier, ich mußte die Luft wechseln. Wohin anders sollte ich aber, als in meine Heimath, zu meiner Mutter? Ich wußte, der Ekel vor der Welt, der schneidende Schmerz, daß ich den Menschen verloren hatte, der mir der Theuerste gewesen war, das alles würde von mir abfallen, wenn ich mich wieder wie ein verirrtes Kind zu meiner Mutter flüchtete. Nun – das ist denn auch –

Er stockte. Erst als er durch einen Seufzer seine Brust erleichtert hatte, konnte er weitersprechen.

Das ist denn auch eingetroffen – natürlich – alles ist von mir abgefallen – ich bin wieder ganz gesund, ganz glücklich, jawohl, und sehe die Sache nun mit vollkommener Ruhe an. Es konnte ja nicht fehlen, daß ich der Mutter erzählte, was geschehen war, was mich zu ihr getrieben hatte. Die gute Frau – natürlich war sie empört – eine so furchtbare Verleumdung, so aus der Luft gegriffen – denn daß es gegen mich kaum der ausdrücklichen Versicherung bedurfte, der ganze abscheuliche Roman sei nichts als ein verrücktes Hirngespinst, vom Wein erzeugt – natürlich, das wirst du mir glauben, nicht wahr? Aber nun überkam sie die Angst, die alberne Geschichte möchte Folgen haben, ich würde ihn fordern, sie würde mich am Ende verlieren, und da drang sie mir das feierliche Versprechen ab, ihn nicht vor die Pistole zu fordern, ihn irgend sonst dazu zu bringen, daß er revociere und in einem demüthigen Schreiben für die unerhörte Beleidigung ihrer Ehre Verzeihung erbitte. Ich versprach Alles, bloß um sie zu beruhigen, die in einem Zustand war – ich kann dir das nicht beschreiben. Den ganzen Tag hatt' ich nichts zu thun, als sie zu trösten. Für mich selbst – wenn ich auch keinen Augenblick an das Märchen geglaubt hatte – schon der bloße Gedanke, daß so etwas möglich sei, daß meine angebetete Mutter – mein guter Papa – und daß ich selbst die Frucht eines solchen Verbrechens –! O mein Gott, es war zu viel! Jetzt aber – jetzt natürlich war ja alles gut – alles wieder gut – und wie's nun auch weiter gehen mag –

Er verstummte wieder und starrte mit einem so düsteren Blick in die Flamme der kleinen Lampe, daß ich nicht daran glauben konnte, es sei wirklich alles gut, und er selbst glaube an Alles, was er mir gesagt hatte.

*

Wir blieben noch ein paar Stunden auf. Ich erzählte ihm von meiner Unterredung mit Hanno und daß ich ihn voll Reue und zu jeder Buße bereit gefunden hätte.

Das schien aber wenig Eindruck auf ihn zu machen. Wenigstens erhellte sich seine Stimmung nicht.

Siehst du, sagte er, was nun einmal geschehen, ist nicht aus der Welt zu schaffen. Ich muß dir gestehen, daß ich, obwohl ich das brutale sogenannte Gottesurtheil verabscheue, dennoch am liebsten ihn auf die Mensur forderte. Denn so lange einer von uns lebt, kann ich nicht zur Ruhe kommen. Einen Teufel in meinem liebsten Jugendfreund hassen zu müssen – denn ob er gelogen hat oder nicht, das bleibt doch, daß er die Absicht hatte, mich tödlich zu verletzen – das kann ich nicht verwinden. Und auch sonst – aber genug davon – mit Schwatzen wird es nicht besser. Wir wollen schlafen gehen – ich habe seit jenem Abend nicht recht schlafen können – aber endlich wird die Natur mir doch zu Hülfe kommen – Schlaf ist ja ihr Balsam für alle Lebenswunden – der einzige!

Auch das alles klang unheimlich.

Aber wir legten uns endlich zur Ruhe, und wirklich war er früher eingeschlummert, als ich selbst. Nur daß der Schlaf sein Fieber nicht gestillt hatte.

Denn als wir morgens zusammen frühstückten, fing er an, mich durch erzwungene Lustigkeit und vieles Reden über den Zustand seines Gemüths täuschen zu wollen. Vor Allem wollte er sich eine andere Bude suchen. Ich sollte ihm den Gefallen thun, gleich mit ihm auf Wohnungsschau zu gehen.

Doch da wir uns eben zum Ausgehen anschickten, brachte ihm sein Stiefelputzer ein Billet – von Hanno.

Er zitterte, da er das Couvert aufriß, und schickte den Mann hinaus, auf die Antwort zu warten. Lies du! sagte er dann. Es liegt mir ein Nebel vor den Augen.

Den Wortlaut des Schreibens habe ich nicht behalten. Es lautete aber ungefähr so: »Lieber Florian! Was ich Dir angethan habe, wirst Du mir nie vergeben können, wie ich selbst es nicht kann, obwohl der Rausch mich unzurechnungsfähig gemacht hatte. Der Himmel weiß, welcher Hintertreppenroman gegen die Jesuiten, den ich vor Jahren einmal gelesen, in meinem Gehirn noch eine Spur gelassen hatte, mir zu der niederträchtigsten Lüge und Beleidigung den Stoff gab, die ich gegen Deine allverehrte Mutter schleuderte. Ich erkläre hiemit, daß es eine schnöde Erfindung war, die ich zerknirscht revociere. Vielleicht begnügst Du Dich mit der Satisfaction, diese Erklärung denen mitzutheilen, die Zeugen meines unqualificierbaren Benehmens waren, so wie ich auch bereit bin, dieß mündlich zu wiederholen. Solltest Du damit nicht zufrieden sein, so versteht es sich, daß ich mich Dir unter jeder Bedingung, die Du vorschreiben möchtest, zur Verfügung stelle.«

Nachdem ich gelesen hatte, saß er noch eine Weile, die Arme auf den Knieen und den Kopf in die, Hände gestützt, regungslos vor sich hinstarrend. Dann ging er nach meinem Schreibtisch, nahm ein Blatt aus der Mappe und schrieb hastig die wenigen Zeilen: »Ich danke Dir für das, was Du mir geschrieben. Was bedarf es nach dieser Erklärung eines Weiteren zwischen uns? Wir werden es Beide nie verwinden und für ewig getrennt sein. Lebe wohl! Der Mensch ist nicht Herr seines Schicksals. Möge Deines leichter sein als das meine, da ich Dich mehr geliebt habe als Du mich. Leb wohl!«

Er steckte das Blatt hastig in den Umschlag und gab es dem Boten. Als er aufsah, schwammen seine Augen in Thränen, er warf sich auf das Sopha und schluchzte wie ein Mensch, den nichts wieder trösten kann.

*

Noch an demselben Tage hörten wir, daß Hanno abgereist sei. Gleichwohl wollte Florian nicht in die alte Wohnung zurückkehren. Wir fanden eine andere, ganz in meiner Nähe, doch vermied er es sichtbar, gute Nachbarschaft zu halten. Auch den anderen Freunden wich er aus und schützte vor, daß er keine Zeit verlieren dürfe, um allerlei Versäumtes zum Examen nachzuholen.

Als ich mir einmal zu fragen erlaubte, ob er seine Braut wiedergesehen habe, erröthete er und brauchte denselben Vorwand. Dann fügte er hinzu: Ich bin überhaupt noch nicht wieder so frei von der schweren Verstimmung, daß ich mich ihr zeigen könnte wie früher. Das heißt, heiter bin ich ja – warum sollte ich auch nicht? Es ist ja wieder alles gut – aber du begreifst, zuweilen fällt doch ein Schatten mir übers Herz, mit dem möchte ich das holde Geschöpf verschonen.

Heiter oder vielmehr lustig war er in der That, oder stellte sich so, wenn er einmal nicht umhin konnte, sich wieder unter uns sehen zu lassen. Hanno's Brief hatte ich in seiner Gegenwart den Freunden vorlesen müssen, keiner hatte eine Bemerkung daran geknüpft, auch unter uns hatten wir keine weiteren Betrachtungen über den Vorfall ausgetauscht, doch dachten wir wohl im Stillen alle dasselbe.

So gingen die Wochen hin.

Es war endlich voller Frühling geworden. In uns allen regte sich die Wanderlust; Florian aber war nicht zu bewegen, an unseren Streifereien durch Siebengebirg und Ahrthal theilzunehmen, immer sein »Ochsen« vorschützend.

Um so mehr wunderte mich's, daß er eines Tages, als wir zusammen durch die Stadt gingen, die Einladung eines guten Bekannten zum Stiftungsfest seines Corps mit einem gewissen Eifer annahm, der seltsam von seiner sonstigen Scheu vor lärmender Geselligkeit abstach.

Man muß zuweilen über die Schnur hauen, wenn man nicht ganz versimpeln und versauern soll, sagte er mit einem leichtsinnigen Lachen, das mir unheimlich war. Unter solchen Larven eine fühlende Brust zu sein, giebt einem das Gefühl seiner Menschenwürde wieder. Meine Mutter klagt ohnedies, daß ich ihr zu eintönige und ernsthafte Briefe schriebe. Eine recht vergnügliche Beschreibung dieser Suite wird ihr beweisen, daß ihr Sohn noch kein Philister geworden ist.

An dem bestimmten Tage holte ich ihn ab und fand ihn schon in einer munteren Laune wie lange nicht. Das Lokal des Festcommerses war der obere Saal eines Hôtels, das vorm Thor nah am Rhein gelegen war, und auf dem Wege dahin schien sich die ausgelassene Stimmung Florians mehr und mehr zu steigern. Er summte allerlei Gassenhauer vor sich hin, nickte hübschen Mädchen zu, die uns begegneten, und betrug sich so ungebunden, wie wenn er schon von einem Gelage käme.

Bei unserem Eintritt in den reichverzierten Saal fanden wir das Fest schon in vollem Gange. Gleichwohl machte das Erscheinen Florian's, der bisher an keinem Commers theilgenommen hatte, ein gewisses Aufsehen, zumal er, obwohl er sich immer zurückhielt, sich einer allgemeinen Beliebtheit erfreute. Ein paar von den Älteren riefen uns zu sich und gaben uns einen Platz in ihrer Mitte, Andere tranken uns zu, und Florian kam Allen ohne Zögern nach. Bei den Liedern, die gesungen wurden, stimmte er fröhlich mit ein, und sein heller, weicher Tenor schwebte wie der unschuldige Gesang eines Frühlingsvogels über dem Brausen des Rundgesanges.

Ich ließ ihn nicht aus dem Auge, und immer ängstigender wurde mir seine übermüthige Lustigkeit. Denn manchmal, mitten zwischen allem Reden und Lachen, zuckte eine tiefe Trübung über sein Gesicht, und er drückte die Augen ein, wie um ein häßliches Bild zu verscheuchen. Als eben das »Gaudeamus« gesungen worden war und hie und da Einzelne aufstanden, um sich ein wenig zu lüften, raunte ich ihm zu: Wir sollten jetzt nach Hause gehen; ich denke, wir haben genug von der Herrlichkeit, und morgen früh werden wir's bezahlen. Auch ist das Fest ja auf seiner Höhe.

Wo denkst du hin? rief er überlaut. Die Höhe sollen wir ja erst erklimmen. Aber du hast Recht, ein bischen frische Luft wird uns gut thun. Ein entsetzlicher Qualm! Mich verlangt nach einem freieren Athemzug. Komm!

Wir standen auf, er faßte mich unter den Arm, und ich führte ihn die lange Tafel entlang, von der uns allerlei Scherze zugerufen wurden, nach einem der Fenster, die auf den Rhein hinausgingen. Er riß die beiden großen Flügel hastig auf und sog mit einem tiefen Athemzug die reine Nachtluft ein, die über die Blütenbäume des Gartens unten süße Düfte herauftrug. Das thut wohl! lallte er. Ja, mein Liebster, »Gaudeamus«, so lange wir jung sind – wenn wir können. Aber warum sollten wir's nicht können? Nur weil es dumme Gespenster gibt, die uns das Leben verleiden möchten? Ha, mich sollen sie nicht unterkriegen! Wie sagt Heine:

Ich lebe und bin noch stärker
Als alle Todten sind.

Aber horch!

Vom Rhein herüber hörten wir Gesang, ein Mendelssohnsches Lied von weichen, klaren Mädchenstimmen gesungen. Ein Boot mit bunten Laternen glitt stromhinab, man konnte die jungen Gesichter unterscheiden.

Florians Augen waren fest auf das reizende Bild gerichtet. Er lehnte sich hinaus, um der dahinfahrenden Jugend nachzuschauen. Nimm dich in Acht, rief ich. Du verlierst das Gleichgewicht! und faßte ihn am Arm.

Er lachte mit einem Ton, der mir in die Seele schnitt.

Das Gleichgewicht? rief er. Ja, wer das verloren hat, der ist freilich übel dran. Aber weißt du ein Mittel dagegen? Sieh nur, die Nacht ist so schön, wer sich da hineinbettet, dem ist geholfen, der schläft ohne Traum, und darum will ich die Leutchen im Kahn da unten fragen, ob sie mich mitnehmen wollen, in die Nacht hinein, in das einzige Glück – den Schlaf –

Mit einem Ruck riß er sich von meinem Arme los, beugte sich über den Fenstersims und stürzte lautlos in die Tiefe.

*

Am anderen Tage brachte die »Bonner Zeitung« die Nachricht: Bei dem gestrigen Festcommers der XXX habe sich ein entsetzliches Unglück ereignet. Ein junger Gast, der, am Fenster stehend, sich die erhitzte Stirn habe kühlen wollen, habe das Gleichgewicht verloren und sei hinausgestürzt, wo die Freunde ihn unten entseelt aufgefunden hätten. Mitten aus dem glücklichsten, hoffnungsvollsten Leben sei er nach einer festlichen Stunde, die er voll genossen, in die ewige Nacht hinübergegangen, von Allen betrauert, die ihn gekannt, zu ewigem Gram seiner tiefgebeugten Mutter.

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