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Die gute Tochter

(1906)

Es ging stark auf Weihnachten.

Den ganzen Tag über hatte es geschneit, gegen Abend aber war klarer Frost eingetreten, so daß die Menschen, die in unabsehbarem Strom durch die breite Leipzigerstraße fluteten, kein besseres Wetter für ihre christkindlichen Besorgungen wünschen konnten. Denn der Schnee auf dem Bürgersteig war längst festgetreten, und auf dem Damm konnten die Schlitten über eine glatte Bahn hinsausen und die Radfahrer ohne Stocken ihre Spur einhalten zwischen den hellen Wagen der Trambahnen, die auf spiegelblanken Geleisen ohne Unterbrechung an einander vorüberglitten.

Mit dem Menschenstrom, der vom Potsdamer Thor sich in die Stadt hineinwälzte, schwamm auch eine kleine schwarze Figur, der man auf den ersten Blick einen eben aus der Provinz Zugereisten ansah. Ein magerer, ältlicher Mann von Mittelgröße, in einem alten, dunklen, sogenannten Kutschermantel, der ihm fast bis auf die Knöchel herabreichte, auf dem dicken grauen Kopf ein Cylinderhut von vorsintflutlicher Façon, mit einem breiten Trauerflor hoch hinauf umwickelt, in der Linken, die in einem gestrickten Fausthandschuh steckte, ein altmodischer Reisesack, auf dem ein Hündchen gestickt war, in der Rechten ein großer baumwollener Regenschirm mit einem Messinggriff. Selbst in dem dichten Gewühl eiliger Menschen fiel das sonderbare Männchen auf, und hin und wieder sah ein belustigter Großstädter ihm nach wie einer humoristischen Figur aus den »Fliegenden Blättern«.

Das entging aber dem Alten vollständig. Langsam drängte er sich durch das Gewimmel, das ihn oft still zu stehen zwang, da er wegen der Reisetasche, die er trug, die Ellenbogen nicht frei hatte. Auch hätte der Respect des Provinzlers gegen die Leute der Reichshauptstadt es ihm gewehrt. Er sah aber sehr vergnügt aus, so verwundert wie ein Knabe, der aus einer ärmlichen Hütte zum erstenmal in den lampenhellen Saal eines Schlosses tritt.

Obwohl es nicht das erstemal war, daß er Berlin zu sehen bekam. Aber er erkannte es kaum wieder. Vor dreiundvierzig Jahren war er als wandernder Schuhmachergeselle hergekommen und hatte vier Monate bei einem Meister gearbeitet, bis er seinen Stab weitersetzte. Damals war's ja auch schon eine gewaltige Stadt gewesen, deren Pracht und Leben zu bewundern man nicht Augen genug hatte. Seitdem aber hatte sie sich zu so stolzer Größe und Herrlichkeit aufgeschwungen, daß es märchenhaft erschien, nach der langen dunklen Eisenbahnfahrt in der dritten Klasse plötzlich in diese von zahllosen Laternen und den elektrischen Flammen der Schaufenster taghell schimmernde Straße zu treten, umklingelt von dem Geläute der Schlitten, Trambahnen und Radler, während die geputzten Menschen lautlos wie ein Gespensterheer an ihm vorüberhasteten.

Manchmal stand er, wie um seiner Betäubung Herr zu werden, vor einer der glänzenden Auslagen still und betrachtete die schönen, zierlichen und prachtvollen Waaren, derengleichen die Kaufleute in seinem kleinen Nest nahe bei Magdeburg nicht aufzuweisen hatten. Besonders fesselte ihn ein Schuhladen, vor den er sich mit sachkundiger Miene hinpflanzte und wohl eine Viertelstunde stehen blieb, trotz alles Stoßens und Drängens der Vorübergehenden. Es wurde ihm aber auch trübselig zu Muthe, da er Wunderwerke seiner Kunst erblickte, von denen er sich nie hatte träumen lassen. Dann starrte er eine gute Weile in das Schaufenster eines Delicatessenhändlers hinein, wo er Leckerbissen ausgestellt sah, die er nur vom Hörensagen kannte. Er spürte dabei, wie der Hunger, den er mitgebracht hatte, sich dringender in ihm regte, und einen Augenblick fühlte er sich versucht, da er noch etwas Geld in der Tasche hatte, hineinzugehen und sich eine der appetitlichen kleinen Würste zu kaufen. Doch ließ er es, indem er vor sich hinmurmelte: Nee, bei der Rose werd' ich ja woll was zu essen kriegen.

So wandte er sich entsagungsmuthig ab und setzte seinen Weg fort.

*

Die Rose war nämlich seine Tochter.

Als der junge Schustergesell Fritz Langheinrich damals von der Wanderschaft heimgekommen war, hatte er Arbeit bei seinem früheren Lehrherrn erhalten, und etwa ein Dutzend Jahre war in seiner kleinen Geburtsstadt eine große Kundschaft in den Schuhen gewandelt, die er verfertigt hatte. Der Meister war dann gestorben, Fritz, der Obergesell, der schon immer die Seele des Geschäfts gewesen war, hatte es nun auf eigene Rechnung übernommen und die verwittwete Frau Meisterin geheirathet, eine noch ziemlich jugendliche und hübsche Person, die ihrem neuen Manne ein Töchterchen gebar und ihm auch sonst ein behagliches Eheglück bereitete. Das Erfreulichste darin war das Kind gewesen, ein ungemein liebliches, lebhaftes und verzogenes Geschöpfchen, das vom Vater vergöttert wurde. Es war auch schwer, seinem spitzbübischen Schmeicheln und Streicheln zu widerstehen, und besonders, wenn es schon mit sechs, sieben Jahren seine kleinen Liebesliedchen sang, die es von den Mägden gelernt hatte, noch eh' es den Text verstand, konnten die vernarrten Eltern ihm nichts abschlagen.

Zumal es bei all seinen Possen und Schelmereien ein gutherziges Dingelchen war und sich über jedes Leid eines Menschen oder Thiers aufrichtig betrübte.

Nun, als es herangewachsen war und den Vater mit Sorgen kämpfen sah, vergoß es keine hülflosen Thränen, sondern überlegte entschlossen, wie dem hereinbrechenden Unheil zu steuern wäre.

Im Ort hatte sich ein auswärtiger Schuhmacher niedergelassen, der ein Fabrikchen anlegte und sein Gewerbe im Großen betrieb. Zu dem waren Meister Langheinrich's Kunden nach und nach übergegangen, so daß sich sein Verdienst von Jahr zu Jahr verringerte. Und da er überdies ein leichtlebiges Naturell hatte, gern sich und Anderen einen guten Tag machte und auch die Frau in ihren früher reichlicheren Verhältnissen nicht gelernt hatte, auf den Pfennig zu sehen, waren sie mehr und mehr zurückgekommen. Sie hatten auf ihr schuldenfreies Häuschen Hypotheken aufnehmen, ihren Garten verpachten müssen, und als vollends die Gicht hinzukam, die des Meisters fleißige Hände verkrümmte, so daß er Pfriem und Ahle nicht mehr ohne Schmerzen brauchen konnte, sah es um Gegenwart und Zukunft des Langheinrichschen Hauses von Jahr zu Jahr trauriger aus.

Da war denn die gute Tochter vor den Riß getreten.

Sie hatte eines schönen Tages den Eltern erklärt, sie wolle fort, und zwar nach Berlin, wo eine ihrer Schulfreundinnen in einem großen Modegeschäft ihr Glück gemacht habe. Diese habe ihr geschrieben, sie werde mit ihrer schönen Stimme bei einem der vielen Theater dort leicht ein Engagement finden, und bis es so weit komme, werde die Freundin sich ihrer Unerfahrenheit annehmen und ihre ersten Schritte in der großen Stadt leiten. Da sie nun von einem Onkel der Mama die kleine Erbschaft gemacht habe, die für das erste Probejahr und die Lehrzeit bei einem Musikmeister ausreiche, brauche sie auch den Eltern nicht zur Last zu fallen und werde bald so weit kommen, bei den großen Gagen, die eine Sängerin erhalte, vielmehr aus der Ferne ihre Stütze zu sein.

Dem Vater hatte das sofort eingeleuchtet, da er in sein Kind so vernarrt war, daß er sich nicht gewundert hätte, das Röschen auf einem Thron zu sehen. Die klügere Mutter hatte mancherlei Bedenken. Aber an dem festen Willen der Tochter scheiterten alle Einreden. So war sie vor fünf Jahren, da sie noch nicht zwanzig geworden, nach Berlin gereist.

Und ihre Hoffnungen schienen auch glänzend in Erfüllung gegangen zu sein.

Wenigstens hatte sie schon nach Jahr und Tag eine Stelle an einer Vorstadtbühne erhalten, mit einer freilich noch bescheidenen Anfangsgage. Bald aber war diese verdoppelt, ja verdreifacht worden, auf eine räthselhafte Art, da sie immer noch erst in kleineren Partieen verwendet wurde. Da sie aber von ihrem Überfluß freigebig den Eltern mittheilte, zerbrachen diese sich nicht den Kopf über das ungewöhnliche Glück, das ihr Kind machte, und rühmten unter ihren Bekannten das gute Herz ihrer Rose, die in ihrer glänzenden Künstlerlaufbahn so treu und aufopfernd an die Ihrigen zurückdachte.

Der Papa träumte nur immer davon, die gute Tochter einmal zu besuchen und sich an ihrem Glanz mit eigenen Augen zu weiden. Davon wollte das Kind aber nichts wissen. Ein solches Wiedersehen werde ihr nur Kummer machen, da sie ganz in ihrem Beruf aufgehe und ihren geliebten Eltern kaum eine einzige Stunde des Tages zwischen Proben, Lectionen und dem abendlichen Auftreten würde widmen können. Einmal hatte sie ihren Besuch in der alten Heimath angekündigt, was großen Jubel in dem Schuhmacherhäuschen erregte. Im letzten Augenblick kam etwas dazwischen, und die kleine Reise unterblieb.

Die Mutter hatte überhaupt nicht daran denken können, sich nach Berlin zu wagen. Sie war wie ihr jüngerer Mann mit der Gicht behaftet, doch viel heftiger und an allen Gliedern, so daß sie sich in den letzten Jahren von ihrem großen Stuhl nicht mehr erheben konnte. Das Leiden war zuletzt ans Herz getreten und hatte sie im Anfang des November plötzlich hinweggerafft, ohne daß sie ihre gute Tochter wiedergesehen hatte. Diese hatte auch zum Begräbniß keinen Urlaub erhalten, aber einen sehr schönen thränenreichen Brief geschickt und eine ansehnliche Summe zur Bestreitung der Begräbnißkosten, da sie wußte, daß es mit den Verhältnissen der alten Leute in den letzten Zeiten immer mißlicher gestanden hatte.

Der Wittwer war anfangs wie betäubt herumgegangen, und die Nachbarn hatten gefürchtet, er werde irrsinnig werden. In dem Zustand des Brütens aber, in dem er lange Wochen hingelebt, war endlich die Überzeugung durchgedrungen, daß seines Bleibens in dem verödeten Häuschen nicht länger sei, zumal seine Gläubiger Miene machten, es ihm über den Kopf weg zu versteigern. Wozu hatte er in Berlin eine gute Tochter, wenn er nicht seine wenigen letzten Jahre bei ihr zubringen sollte? Er mache ja keine höheren Ansprüche, als ein Bett in ihrer schlechtesten Kammer, einen Platz in der Küche, wenn sie vornehme Gäste habe, und den letzten Sitz auf der Galerie des Theaters, wenn sie auftrete, wofür er durch heftiges Klatschen seinen Dank abtragen werde.

*

So war er nach Berlin gekommen.

Er hatte es vermieden, sich bei seiner Tochter anzumelden. So zärtlich sie ihn liebte, fürchtete er heimlich doch, sie möchte mit diesem seinem Lebensplan nicht einverstanden sein und ihre Einwilligung versagen. War er einmal da, so würde sie nicht das Herz haben, dem alten Vater ihre Thür zu verschließen.

Trotz all der neuen Eindrücke, die der ungeheure Wandel der Zeit seit vierzig Jahren in ihm hervorgerufen, wußte er noch so viel Bescheid in dieser Gegend der Stadt, daß er, ohne nach dem Wege fragen zu müssen, als er die große Friedrichsstraße erreicht hatte, nach rechts einbog und die Taubenstraße fand, in der seine Tochter seit dem letzten Jahre ihre Wohnung hatte. Es war hier dunkler und stiller als in den Hauptadern des Verkehrs, die er eben verlassen hatte. Er athmete behaglich auf, als er in die Seitenstraße eingetreten war, setzte den schweren Reisesack einen Augenblick auf den Schnee, lüftete den ungewohnten hohen Hut, um sich die feuchte Stirn zu trocknen, und ging dann langsam weiter, mühsam die Hausnummern über den Thüren studierend, bis er die richtige fand.

Es war ein schmales altes Haus zwischen großen Zinshäusern. Drei Fenster neben der Hausthür, zu der ein paar Stufen hinaufführten, die Läden geschlossen. Doch durch die herzförmigen Ausschnitte in ihnen drang rother Lichtschein; die Bewohnerin war also zur großen Beruhigung des späten Besuchers zu Hause. Auch die Hausthür war, obwohl es auf Zehn ging, noch nicht verschlossen. Also trat der alte Mann hastig ein und wandte sich gleich nach links, wo er neben der Thür ein weißes Schildchen sah, dessen Aufschrift er freilich bei dem Helldunkel im Flur nicht lesen konnte. Es war auch nicht nöthig. Er wußte ja, was für ein Name darauf stand.

Er mußte zweimal anläuten, bis es drinnen sich rührte und eine Stimme durch das Schiebfensterchen sich vernehmen ließ, wer draußen sei. Es war nicht die Stimme der Sängerin, die er noch so gut im Ohr hatte, obwohl sie ihm seit fünf Jahren verstummt war. So antwortete er: Ich bin's, der Vater. Machen Sie nur auf. Ist Fräulein Langheinrich nicht zu Hause?

Hier wohnt kein Fräulein Langheinrich, kam die Antwort, sondern Fräulein Rosalinde del Longo, die berühmte Sängerin.

Das Prädicat klang dem alten Manne sanft ins Ohr. Ich weiß, sagte er, so nennt sie sich im Theater. Für den Papa bleibt sie aber das Röschen. Ich bin gekommen, meine Tochter zu besuchen. Wenn sie noch nicht zu Hause sein sollte, können Sie mich jedenfalls hineinlassen.

So dumm bin ich nicht, höhnte die Stimme drinnen. Das kann Jeder sagen, und wenn ich aufmache, fällt man über mich her und raubt die ganze Wohnung aus. Nee, mein Herr, gehn Sie man dahin, wo Sie hergekommen sind. Wenn das gnädige Fräulein den Papa erwartete, hätte sie mir's wohl gesagt. Und nun scheren Sie sich weg!

Sie klappte das Schiebfensterchen zu, der alte Mann aber klopfte kräftig mit dem Griff des Schirmes gegen die Thür.

Wenn Sie nicht aufmachen, rief er, mach' ich hier so lange Lärm, bis das ganze Haus zusammenläuft. Sapperment! Ich will doch sehen, ob ein alter Vater vor der Thür seiner Tochter frieren soll, weil eine Gans von Dienstmädchen Räuber und Mörder fürchtet.

Er redete noch eine Weile in diesem Tone weiter, da wurde eine Sicherheitskette ausgehoben und die Thür behutsam geöffnet. Das Mädchen hatte eine kleine Lampe geholt und beleuchtete nun den Eindringling.

Na, sagte sie, es scheint ja mit der Vaterschaft richtig zu sein. Sie sehn nicht danach aus, als ob Sie schlechte Absichten hätten, obwohl mein gnädiges Fräulein – hm! – ich hatte mir auch einen anderen Papa vorgestellt. Kommen Sie also meinetwegen 'rein. Übrigens bin ich weder eine Gans noch ein Dienstmädchen, sondern Kammerjungfer von Fräulein Rosalinde del Longo, daß Sie's nur wissen.

Verzeihn Sie, sagte der alte Mann treuherzig, ich war ein bischen aufgeregt. Sie haben nur Ihre Schuldigkeit gethan, liebes Kind. Man liest freilich so viel Räubergeschichten aus Berlin in der Zeitung.

Mein Name, Herr, ist Francine, versetzte sie, ich bin keines Menschen »liebes Kind«. Da links hinein, wenn's beliebt!

Sie öffnete eine Thür, die aus dem Vorplatz in ein hell erleuchtetes Wohnzimmer führte. Auf den ersten Blick sah man, daß hier eine Theaterprinzessin geringeren Ranges hauste. Zwischen den beiden Fenstern, die mit rothen Gardinen verhängt waren, ein großer Stehspiegel, der bis auf den Fußboden reichte, an den Wänden das Bild der Sängerin in verschiedenen Rollen, dazwischen verdorrte Kränze und Blumenkörbe, ein Pianino nebst einem offenen Rollenschränkchen und auf dem Tisch vor dem Sopha eine große Lampe mit einem geschmacklosen Broncefuß. Es war aber warm, und ein frischer Blumenstrauß durchduftete den Raum, so daß Meister Langheinrich einen Laut ehrerbietiger Verwunderung und tiefen Behagens ausstieß und ein Gefühl des Stolzes empfand, daß er in der Wohnung seiner leiblichen Tochter all diese Herrlichkeiten betrachten konnte, deren sich keine geborene Prinzessin zu schämen gebraucht hätte.

Die Thür zu dem einfenstrigen Nebenzimmer stand auf. In seiner Mitte sah man ein für Zwei gedecktes Tischchen mit glänzendem Tafelgeräth, blauem Service und blanken Bestecken. Ein kaltes Souper war aufgetragen, eine Wildpretpastete, italienischer Salat, kleine, goldschimmernde Fischchen und ein Aufsatz mit allerlei Kuchenwerk. Dazu in einer Krystallflasche ein purpurrother Wein.

Darf ich auch da hinein? hatte der alte Mann die Zofe gefragt, die mit einer überlegen lächelnden Miene schweigend ihre Erlaubniß gab. Meister Langheinrich war an das Tischchen getreten und hatte dann schmunzelnd gesagt: Sieh, sieh! Da hat mein Röschen am Ende doch eine Ahnung gehabt, der alte Papa würde sie heute noch überraschen.

Bitte sehr, versetzte Fräulein Francine, Fräulein erwarten einen anderen Gast.

So spät? Na, es reicht ja wohl auch für Drei. Wer ist es denn?

Die Zofe zuckte die Achseln.

Na, ich werde ihm ja wohl vorgestellt werden. – Und einen Blick nach der anderen Seite werfend: Das ist wohl das Schlafzimmer meiner Tochter? Nee, da will ich doch nicht –

Als ob es sich selbst für einen Vater nicht schicke, das Schlafgemach einer gefeierten Schönen zu betreten, blieb er an der Schwelle der halb geöffneten Thür stehen und warf nur einen raschen Blick hinein.

Sapperment! sagte er, indem er das aufgeschlagene breite Bett mit den spitzenbesetzten Kissen bestaunte, das von einer rothen Ampel an der Decke geheimnißvoll bestrahlt war – ich wußte gar nicht, daß die Rose so große Mittel hat, solchen Luxus zu treiben. Nee, da wäre ihr's zu Hause wunderlich vorgekommen. Na, wir mußten uns nach der Decke strecken. Wo aber schlafen Sie, liebes – entschuldigen Sie! – Fräulein Francine?

's is noch ein hübsches Zimmer neben der Garderobe. Übrigens ziehen wir zu Ostern aus. Der Wirth hat uns – heißt das, wir haben dem Wirth gekündigt, es wohnen so gemeine Leute im Haus, und der Graf hat auch gesagt –

Sie verstummte und wurde roth. Der Alte hatte es überhört. Er war wieder in den Anblick der Schüsseln auf dem Eßtisch versunken. In einem silbernen Körbchen auf dem Buffet lagen ein paar Weißbrödchen. Gar zu gerne hätte er eins davon gegessen und sich ein Glas Wein eingeschenkt. Er wagte es aber nicht, obwohl er es als Papa wohl hätte verantworten können. Auch mußte sie ja bald aus dem Theater kommen, wo sie heut, wie Francine ihm mitgetheilt, die schöne Helena gespielt hatte. Dann würde er seinen Hunger behaglicher stillen können.

Richtig hörte man eben jetzt einen Wagen auf der Straße heranrollen, und dann erklang die Glocke im Flur draußen. Verzeihen Sie, sagte das Mädchen rasch, da ist mein gnädiges Fräulein. Die wird aber Augen machen!

Sie lief hinaus und ließ ihn allein.

Der Alte war aus dem Eßzimmerchen sacht in die Wohnstube zurückgeschlichen, wie ein Dieb, der ertappt zu werden fürchtet. Mantel, Schirm und Reisesack hatte er schon im Entree abgelegt und den großen Hut abgenommen, den hielt er nun verlegen in der Hand und fuhr sich mit zitternden Händen über den Kopf, sein dünnes graues Haar zu glätten. So stand er mitten im Zimmer und starrte nach der Thür, aus der seine Tochter eintreten sollte.

Sie ließ aber auf sich warten.

Im Vorplatz hörte er ein Gemurmel von Stimmen, von denen er die der Zofe deutlich unterschied. Sie schien ihrer Herrin sehr eifrig zu etwas zuzureden, was dieser nicht einleuchtete. Dann wurde es eine Weile still, und endlich ging die Thür auf, und die Tochter trat ein.

Sie hatte den leichten Pelzmantel draußen abgeworfen, die seidene Kapuze aber aufbehalten, die war ihr in den Nacken geglitten, so daß ihr reiches blondes Haar, noch in der Schönen Helena-Frisur, frei war, mit blanken Glasperlen durchflochten, vorn über der weißgepuderten Stirn ein kleines goldenes Diadem mit dunkelrothen Steinen. Überhaupt trug sie noch das luftige Kostüm ihrer Rolle, Hals und Arme entblößt. Sie hatte sich vorgesetzt, den Gast, den sie erwartete, da er heute nicht ins Theater kommen konnte, in diesem verführerischen Anzuge zu überraschen. Aber der Kälte wegen hatte sie einen weichgefütterten seidenen Schlafrock übergezogen von zarter wasserblauer Farbe, reich mit Spitzen besetzt, der ihre schlanke und doch volle Gestalt aufs Vorteilhafteste hervorhob. Sie mußte jeden Mann bezaubern, dem sie so gegenübertrat. Und nun erst den alten Vater, der sie nur als ein schmächtig aufgeschossenes, etwas bleichsüchtiges Figürchen in der Erinnerung hatte.

Er stand auch so versteinert, als traue er seinen Augen nicht, daß diese Märchengestalt seine eigene Tochter sein sollte. Sie schien ihm – oder war sie's wirklich? – noch um einen halben Kopf gewachsen. Und was sie für ein rosig blühendes Gesichtchen hatte und wie funkelnde Augen, denn sie hatte sich noch nicht abgeschminkt. Wer die Beiden einander gegenübersah, konnte allerdings kaum glauben, daß es Vater und Tochter waren. Erst wer die Züge näher verglich, sah, daß das schöne junge Geschöpf in der That die Züge des Alten hatte, nur weicher und feiner, da auch Herr Fritz Langheinrich ein hübscher junger Bursche gewesen und sein Gesicht nur durch Noth und Alterssorgen vergröbert und verkümmert war. Er hatte sich am Morgen des Reisetages frisch rasiert, das machte seine Züge noch faltiger und welker. Jetzt aber stieg ihm eine Röthe bis an die Stirn vor Schreck und Freude, wie er das große schöne Mädchen hereinstürmen sah.

Papa! rief sie mit einer hellen, melodischen Stimme, bist du's denn wirklich, alter Papa? Nein, eine solche Überraschung!

Eh' er sich besinnen und ein Wort vorbringen konnte, hatte sie ihre Arme um ihn geschlungen und ihn drei, viermal auf die kalten Backen geküßt.

Ein Zucken wie von verhaltenem Schluchzen ging durch die Glieder des alten Mannes. Röschen! stammelte er halblaut, meine gute Tochter!

Der Hut fiel ihm aus der Hand, als sie ihn freigab. Er zog ein blaugewürfeltes Schnupftuch aus der Tasche seines fadenscheinigen schwarzen Rocks, schneuzte sich ausführlich und trocknete sich dann die Augen.

Sie war zurückgetreten, hob den Hut auf und legte ihn auf den Tisch. Dann betrachtete sie den Alten von Kopf bis zu den Füßen. Francine war leise eingetreten, ein Wink ihrer Herrin bewog sie, das Zimmer wieder zu verlassen.

Nun setz dich aber, Papa, sagte die Tochter, hier auf das Sopha. Ich habe nicht viel Zeit. Wie bist du nur auf den Einfall gekommen, nach Berlin zu fahren, ohne mir's erst zu schreiben? Ich hatte dir doch früher gesagt –

Kind, stotterte er stehen bleibend, während sie sich auf das Sopha warf, du mußt nicht böse sein, ich konnt's zu Hause nicht aushalten. Im Haus, seit Mutter gestorben – 's is so kalt und leer wie im Grabe – keine Menschenseele – die alte Hanne hat mir auch gekündigt – ihren Lohn seit fünf Monaten konnt' ich ihr nich mal ganz auszahlen – zu Holz reicht' es auch nicht mehr –

Ich hatte dir doch gleich nach Mutters Tode geschickt – Wenn's nicht genug war –

O, es war so viel gewesen, ich wollt' nich wieder bitten, obwohl mein gutes Röschen – nee, lieber den Schmachtriemen fester schnallen – es mußte ja gehen, ich konnt' noch allerhand verkaufen, was Muttern gehört hatte, aber zuletzt, wie's gegen Weihnachten ging und ich dachte: Wie sollst du den Heiligabend überstehn ohne deine Alte? Das Herz im Leibe wird dir ersticken – und in Berlin, da hast du dein einziges Kind, die putzt sich vielleicht auch ganz einsam ein Weihnachtsbäumchen und denkt zurück, wie schön sie's als Kind gehabt hat bei ihren Eltern – du solltst dich aufrappeln und zu ihr reisen, zwei einsame Menschen sind ja nicht gottverlassen, wenn sie beisammen sind – und da, da verkauft' ich die alte Standuhr auf der Kommode – du erinnerst dich – die mit dem goldenen Engel – und hier bin ich nun und danke Gott, daß er mir den gescheidten Gedanken eingegeben hat.

Er hatte das immer freier und zuversichtlicher herausgesprudelt, seine Stirn war heiß geworden, er versuchte zu lächeln, als wollte er die Tochter, die vor sich hin sinnend im Sopha lag, einladen, das ganze Abenteuer von der lustigen Seite aufzufassen. Das schöne Gesicht aber blieb regungslos.

Es war Recht von dir, Papa, sagte sie endlich, jedes Wort langsam sich abringend, ich begreife, daß du Sehnsucht hattest, mich wiederzusehen, nachdem die arme Mama von dir gegangen war. Und ich freue mich auch, daß du noch so gut bei Wege bist, mit deinen Dreiundsechzig. Aber was soll nun weiter werden? Hast du dir das schon klar gemacht?

O, versetzte er, nun schon ganz guter Dinge, da er wegen seines eigenmächtigen Streiches wenigstens nicht gescholten worden war, wie's werden soll, das hängt ganz von dir ab, Röschen. Ich habe mir gedacht, wo meine Tochter so herrlich und in Freuden lebt, wird auch ein Plätzchen sein für den alten Papa, der ja ganz zufrieden ist, wenn er einen Winkel zum Schlafen hat und einen Bissen Brod. Das Essen, fügte er mit einem wehmüthigen Lächeln hinzu, habe ich mir ohnehin in der letzten Zeit so ziemlich abgewöhnt. Und dann, da ich noch leidlich frisch bin, wenn ich auch mein Handwerk nicht mehr betreiben kann – er wies ihr die verkrümmten Finger vor – zu allerlei Diensten bin ich noch zu brauchen; ich kann dir dein Schuhwerk putzen, Gänge machen, die Ofen heizen und dir die Droschke besorgen, wenn du ins Theater fährst. Brauchst auch keinem Menschen zu verrathen, falls es dir genierlich wäre, daß der alte Hausdiener dein Vater is. Sind wir unter vier Augen, so können wir ja »du« zu einander sagen.

*

Er schwieg, und es wurde ihm doch wieder bange, was sie zu diesem Vorschlag sagen möchte. Es schien eine beklommene Ahnung in ihm aufzudämmern, daß er in diese glänzende Umgebung vielleicht sogar als Schuhputzer nicht hineinpasse. Doch athmete er wieder erleichtert auf, als er sie sagen hörte: Nee, Papa, so geht's nicht. Das ginge mir gegen's Gefühl, dich auf deine alten Tage wie einen Bedienten zu behandeln. Aber freilich, nach Hause darfst du nicht wieder. Für dasselbe Geld, das du mich dort kosten würdest, kann ich dir hier ein Zimmerchen miethen, bei guten Leuten, wo du deine Abwartung hättest, dein Essen und den warmen Ofen, und so oft ich Zeit hätte, käm' ich und besuchte dich und ließe dir's an nichts fehlen. Auch bessere Kleider sollst du haben, dafür laß nur mich sorgen. In dem Anzug – sie konnte sich eines kleinen Lachens nicht enthalten – siehst du aus wie auf dem Theater ein alter Küster oder Dorfschullehrer, und die Straßenjungen liefen dir nach. All das wollen wir morgen weiter bereden. Jetzt aber mußt du gehn, ich kann dich nicht länger hier behalten.

Über das Gesicht des Alten fiel ein schmerzlicher Schatten.

Ich soll – wieder gehn? Kannst du mir nicht wenigstens für diese Nacht eine – es ist so kalt, und wo soll ich denn auch hin? Wenn du mir erlaubst, in deiner Küche – ich brauche kein Bett, bloß eine Decke zum Zudecken und ein Kissen unterm Kopf –

Nein, Papa, sagte sie entschieden und erhob sich vom Sopha, es geht wirklich nicht. Ich kann heute nicht für dich sorgen, ich erwarte noch Jemand – sie stockte einen Augenblick – 's ist nur der Kapellmeister von meinem Theater, der will noch eine neue Rolle mit mir durchnehmen – er hat den ganzen Tag so furchtbar zu thun, da kann er nur spät Abends kommen. Aber du begreifst, es ist so wichtig für mich – meine Colleginnen beneiden und hassen mich, weil ich so beliebt bin beim Publikum, da muß ich mir die Freundschaft des Kapellmeisters erhalten.

Weißt du was, Papa? fuhr sie fort, als sie die traurig enttäuschte Miene sah, mit der er zu Boden starrte, du gehst jetzt gleich und fährst in einer Droschke nach dem kleinen Hôtel, wo ich die ersten Wochen gewohnt habe, als ich vor fünf Jahren herkam. – Sie nannte den Namen. – Aber wart, ich schreibe ihn dir auf, du könntest ihn sonst vergessen. Hast du ein Notizbuch?

Er holte mit zitternder Hand eine unförmlich dicke, uralte Brieftasche aus seinem Rock, ganz angefüllt mit allerlei Papieren, und reichte sie ihr hin. Ein Bleistift stak darin, den ergriff sie rasch und sagte, indem sie den Namen des Hôtels hineinschrieb: So, Papa! Da wirst du gut aufgehoben sein; es ist ein reinliches und billiges Haus, nicht allzu weit von meiner Wohnung. Morgen nach der Probe komm' ich, und wir besprechen dann alles Weitere, und bis du das andere Quartier gefunden hast, kannst du im Hôtel essen. Hast du noch Geld?

Er griff in die Tasche und holte ein sehr abgenutztes Portemonnaie hervor. Es waren nur ein paar kleine Silbermünzen und einige Nickel darin.

O, sagte sie lachend, damit könntest du kaum weit reichen, wenn du noch auf der Walze wärst. Komm! halte mir's her!

Sie zog ein reizendes kleines Geldtäschchen heraus und schüttete den ganzen Inhalt, ein paar Goldstücke und mehrere Mark, in sein schmutziges Portemonnaie. So! Das wirst du bis morgen nicht durchbringen, denk' ich, wenn du auch eine Flasche Sekt hinter die Binde gießen möchtest. Und jetzt – sie horchte auf die Straße hinaus, wo eben ein Wagen anfuhr und vor dem Hause stillhielt – geschwinde fort! Da kommt mein Kapellmeister. Dem kann ich dich heute nicht mehr vorstellen.

Sie drückte ihm rasch den Hut in die Hand, half ihm draußen den Mantel umhängen und den Reisesack und Schirm wieder erfassen und drängte ihn nach der Thür, die Francine schon offen hielt. Gute Nacht, Papa! flüsterte sie. Er hätte sie gern noch umarmt, voll Dankbarkeit, daß sie so töchterlich für ihn sorgte, aber sie war schon ins Zimmer zurückgeschlüpft. Er schob sich auf der Schwelle an einem großen, stattlichen Herrn in einem prachtvollen Pelz vorbei, der ihn erstaunt zu betrachten schien. Dann war er im Flur, stand wie entgeistert und machte keine Miene, zu gehen, bis er die Zofe sagen hörte: Ich muß bitten, Herr, ich kann hier nicht länger im Zuge stehn – da schritt er aus dem Hause und hörte die Thür hinter sich verschließen, und die eisige Nachtluft fuhr ihm unsanft gegen das erhitzte Gesicht, so daß er den Kragen seines groben Mantels aufschlug und dann unten an der Haustreppe tief aufathmend stehen blieb.

Wo kam er denn her? War's wirklich von seiner Tochter, die's drinnen warm hatte, während ihr alter Vater hier draußen in der schauerlichen Winternacht obdachlos – verloren in der großen Stadt – hungernd und frierend – –

Nein, er mußte es nur geträumt haben. Er hatte oft von seinem Röschen geträumt – manchmal, daß er sie nur von weitem sah und nicht zu ihr hin konnte, so heftig es ihn zu ihr trieb – aber dann auch wieder, daß sie als ein kleines, mageres Kind ihm auf dem Schooße saß, ihm die Backen streichelte und ihre kleinen Liedchen trillerte – Und nun dieser Traum!

Und doch mußte er's wieder nur geträumt haben. Das sollte seine Tochter gewesen sein, diese große, prachtvolle Dame mit Perlen im Haar und in einem so eleganten Zimmer, wo ein einziger Stuhl mehr werth war, als alle Kleider, die er auf dem Leibe trug? Er entsann sich, daß sie einmal den seidenen Schlafrock mit den Spitzen vorn an der Brust aufgeknöpft hatte, als ob ihr zu heiß würde. Sie hatte ihn freilich gleich wieder zugeknöpft, da sie den erschrockenen Blick sah, mit dem er ihren nackten Hals und den tiefen Ausschnitt ihres rosafarbenen Florkleides anstarrte. Er hatte aber genug gesehn. Konnte das wirklich seine Rose sein, die er in Zucht und Ehren auferzogen hatte, und die jetzt – nein, das war nicht zu glauben!

Und doch – hatte sie ihn nicht umarmt und geküßt und lieber alter Papa! gerufen? Sie kam ja eben vom Theater, da gingen, wie er aus seiner Lehrzeit in Berlin wußte, die Schauspielerinnen und Sängerinnen in Balltoiletten, wie sich Keine in einem ehrbaren bürgerlichen Hause gezeigt hätte, und Niemand fand etwas dabei. Auch der Kapellmeister, den sie erwartete, hatte sie ja gewiß oft so gesehen. Wenn er, der Alte, nicht da gewesen wäre, hätte sie sich gewiß gleich umgezogen.

Und daß sie ihn nicht bei sich behalten konnte, war ja begreiflich. Wenn sie sich geschämt hätte, ihn dem Herrn vorzustellen, war's ja um seinetwillen gewesen. Sie hatte ihm die Verlegenheit ersparen wollen. Er sah auch wirklich gar zu altmodisch und abgetragen aus. Wenn's nicht Nacht gewesen wäre, hätten die Straßenjungen ihn verhöhnt. Und wollte sie ihm nicht morgen andere Kleider machen lassen? Überhaupt – wie zärtlich hatte sie für ihn gesorgt, ihm ein gutes Hôtel genannt und das viele Geld in sein Portemonnaie geschüttet. Nein, sie war doch seine »gute Tochter«, er that ihr sehr Unrecht, morgen wollte er ihr's abbitten!

Das bittere Gefühl, das ihn überfallen, als er aus dem Hause getreten war, wich in seiner bescheidenen, arglosen Seele einer dankbaren Befriedigung, daß er's auf seine alten Tage noch so gut hatte. Nun würde es ein schönes Leben werden, zwar nicht Thür an Thür mit seinem vornehm gewordenen Kinde, aber doch voll stolzer Vaterfreude. Wenn er sie auch nur flüchtig am Tage sähe, Abends dagegen würde er Zeuge sein, wie das Publikum sie vergötterte. Wenn seine Alte das noch erlebt hätte!

Ein scharfer Windstoß riß ihn aus diesen Gedanken auf, er mußte nun Ernst damit machen, sein Nachtquartier aufzusuchen. Indem er jetzt aufblickte, ob nicht eine Nachtdroschke gefahren käme, sah er einen Mann auf sich zu kommen, der ihn schon eine ganze Weile aus einiger Entfernung beobachtet hatte. Der Mann trug einen dunklen Überzieher, der ihm zu eng zu sein schien. Wenigstens waren ein paar Knöpfe vorn ausgerissen, und der Rock reichte ihm nur bis an die Knie. Auf dem Kopf saß eine etwas schäbige Pelzmütze, die Hände aber hatte er in einen eleganten kleinen Damenmuff gesteckt, der an einem schwarzen ledernen Bande ihm vom Hals herabhing. Wie er jetzt langsam sich näherte, konnte Meister Langheinrich auch sein Gesicht deutlich erkennen, das von der Kälte oder vielleicht vom Trinken geröthet und aufgeschwemmt war. Vor den Augen aber hatte er eine blaue Brille mit großen runden Masern.

Auch der unerfahrene Kleinstädter hatte eine dunkle Empfindung, daß der Herankommende keine sehr vertrauenswürdige Persönlichkeit sei.

Der blieb aber ruhig vor ihm stehen, griff leicht an die Mütze und sagte mit etwas heiserer Stimme: Entschuldigen Sie die Frage, mein Herr: warten Sie hier auf Jemand?

Nur auf eine Droschke, antwortete der Alte. Ich möchte in mein Hôtel fahren. Ich bin eben von der Reise gekommen.

Eine Droschke? sagte der andere. Die verirren sich selten in diese Straße. Vielleicht aber, wenn Sie fremd sind, kann ich Ihnen behülflich sein, auch zu Fuße in Ihr Hôtel zu gelangen, wenn Sie mir sagen wollten, welches Sie meinen.

Die zuvorkommende Art des Fremden und seine gebildete Sprache machten den Alten zutraulich. Er hielt was auf gutes Deutsch, da er auf seiner langjährigen Wanderschaft den Dialekt seines kleinen Geburtsortes fast gänzlich abgeschliffen hatte.

Ja, sagte er, mit einem verlegenen Lächeln, den Namen des Hôtels – den hab' ich weiß Gott wieder vergessen, obwohl meine Tochter ihn mir erst vor einer Viertelstunde genannt hat. Aber da sie meinem alten confusen Kopf nicht traute, hat sie ihn mir auch aufgeschrieben. Warten Sie! – und er zog die dicke Brieftasche hervor – da muß er stehen.

Er trat, seinen Reisesack auf den Boden stellend, unter die Laterne, die am Nebenhause stand, und versuchte, den Namen zu entziffern. Es geht nicht! murmelte er. Die Gasflamme ist zu trübe und flackert zu stark, wenn Sie mir vielleicht behülflich sein wollte –

Mit Vergnügen.

Der Fremde nahm ihm die Brieftasche aus der Hand und sah auf das Blatt.

Nehmen Sie sich aber in Acht, lieber Herr! warnte der Alte. Der Wind ist so stark und könnte ein oder das andere Blatt fortwehen. Mein Paß ist darin und der Todtenschein meiner Frau und der Gepäckschein über den Koffer, den ich im Bahnhof gelassen habe.

Keine Angst! Da hab' ich's schon! versetzte der andere. Ja, das ist ein ganz gutes, solides Haus, wenn auch ein bischen theuer. Ich wüßte Ihnen ein ebenso gutes, das bedeutend billiger wäre.

Nee, nee, lieber Herr, ich danke Ihnen. Aber meine Tochter wird morgen kommen, mich zu besuchen, die wüßte ja nicht, wo ich geblieben wäre.

Auch gut! Da nehmen Sie Ihr Portefeuille zurück. Ich hatte Ihnen nur einen Gefallen thun wollen.

Sie sind sehr gütig. Mit wem habe ich die Ehre, wenn ich fragen darf?

Mein Name ist Müller, eigentlich kein Name, sozusagen, da müssen's die Vornamen thun: Kaspar, Helmuth, Hieronymus. Und Sie, mein Herr?

Fritz Langheinrich aus – er nannte den Namen seines Städtchens. Ich habe mich aber entschlossen, nach Berlin zu ziehen, wo ich eine Tochter habe, die Sängerin Rosalinde del Longo, wie sie sich auf dem Zettel nennt. Sie ist sehr berühmt, Sie werden von ihr gehört haben.

Ich entsinne mich doch nicht. Ich komme selten ins Theater. Bei welchem ist sie denn?

Bei dem großen Operettentheater. Aber sie will ins Opernhaus. Es sind ihr auch schon vortheilhafte Anerbietungen gemacht worden, wie sie uns geschrieben hat. Sie hat ein großes Talent, aber ein noch besseres Herz. Es wird in Berlin wenige Väter geben, die eine so gute Tochter haben.

Freut mich für Sie. Aber was haben Sie in Berlin vor, außer Vaterfreuden zu genießen?

Ich? O, ich habe mich zur Ruhe gesetzt – mein Geschäft aufgegeben – dreiundsechzig Jahre sind kein Spaß, wenn man redlich gearbeitet hat. Aber wenn ich fragen darf: was ist Ihr Beruf?

Der Mann lachte heiser in sich hinein. Ich bin Rentier, aber ich habe mein altes Geschäft doch nicht ganz aufgegeben – bei den schlechten Zeiten. Es fällt hie und da noch immer was für unsereinen ab, und 's läppert sich zusammen. Aber wollen wir wirklich hier Posto fassen wie ein paar Laternenpfähle? Kommen Sie mit, lieber Herr, ich bringe Sie nach Ihrem Hôtel oder bis wir eine Droschke finden. Und geben Sie mir Ihren Reisesack zu tragen. Nein, machen Sie keine Sperenzchen. Sie sind älter als ich, und das Ding ist schwer.

Wenn Sie wirklich die große Güte haben wollen – ich bin allerdings – meine sämmtlichen Hemden sind drin, mein Nachtzeug und ein Paar neue Stiefel – alles andere ist im Koffer. Den Reisesack habe ich schon vor vierzig Jahren mit mir geführt – damals war er nicht so schwer – ich hatte nur ein Hemde zum Wechseln – es waren nicht sehr gute Zeiten. Aber geht's denn hier nach der Mauerstraße? Ich dachte doch –

Verlassen Sie sich nur auf mich, ich weiß Bescheid.

Er nahm den Reisesack in die Linke, faßte mit dem anderen Arm den Alten unter und zog ihn mit sanfter Gewalt vorwärts. Sein Muff baumelte leer vor seiner hageren Figur.

Sie werden sich die Hände erfrieren, Herr Müller, sagte der Alte. Ist das übrigens jetzt Mode in Berlin, daß die Herren einen Muff tragen?

Wenn sie einen haben! lachte der Andere. Warum auch nicht? Aber so'n Ding ist sehr nützlich. Handschuh sind hinderlich, wenn man in eine Tasche greifen will, um ein Schnupftuch 'rauszuholen oder ein Portemonnaie, und in so 'nem Muff werden die Finger nicht steif und bleiben gelenkig. Übrigens auf dem kurzen Weg spüre ich die Kälte nicht, und wenn ich Ihnen einen Dienst leisten kann –

Sie sind wirklich sehr gütig! Ja überhaupt, die Berliner –!

*

So gingen sie ein paar Straßen weit.

Es war für die große Stadt noch nicht spät, erst halb elf Uhr. Aber die grimmige Kälte scheuchte die sonst hier herumstreifenden Nachtvögel in ihre Nester.

Der alte Mann dagegen schien mit jedem Schritte munterer zu werden. Er ging so sicher und bequem am Arm seines gefälligen neuen Bekannten und Beschützers, der ihm ja auch den Reisesack abgenommen hatte. Alles, was er heute Abend erlebt, erschien ihm jetzt in rosigem Licht, und seine steifen Gliedmaßen thauten auf wie seine vorher so beklommene Kinderseele. Er fing an, seinem Begleiter allerlei Bekenntnisse zu machen, sprach jetzt auch offen von seinem früheren Geschäft, seiner verstorbenen Frau, vor allem von seiner Tochter, was sie für ein allerliebstes Kind gewesen wäre, aber freilich, daß sie eine so glänzende Carrière machen würde, hätte Niemand gedacht. Zwar wenn sie in seiner Werkstatt mit ihrer Puppe auf einem Schemelchen saß und sang, blieben die Leute, die draußen an dem offenen Fenster vorbeigingen, horchend stehen und sagten: Das ist Fritz Langheinrichs kleine Nachtigall. Ja, der liebe Gott hatte ihr diese reizende Stimme geschenkt und dazu das gute Herzchen. Denn niemals hatte sie ihren Eltern Kummer gemacht, bis auf den Tag, wo sie erklärte, sie wolle nach Berlin aufs Theater. Nu, auch das sei ja zum Segen ausgeschlagen, und diesmal baue der Segen der Kinder den Eltern Häuser, denn ohne seine Rose würde er auf seine alten Tage obdachlos sein.

Um die Rührung, die sich seiner bemächtigte, niederzuhalten, fing er jetzt an, zu singen, eines der Kinderliedchen seiner guten Tochter, mit einer hohen, dünnen Stimme, die kaum zehn Schritt weit zu hören war. Sein Begleiter aber stand still und sagte: Sein Sie stille! Das Auge und Ohr des Gesetzes wacht, und eh' Sie sich's versehen, hat Sie ein Schutzmann beim Kragen und schreibt Sie auf wegen groben Unfugs. Übrigens da sind wir auch.

Sie standen vor einem unansehnlichen Hause in der Mauerstraße. Über der Eingangsthür hing ein Schild mit der Inschrift: Destillation.

Ist das mein Hôtel? fragte der Alte.

Nee. Das liegt noch einen Hundeblaff weiter nach da unten. Dies ist man eine Speisewirthschaft, ein sehr anständiges, bürgerliches Lokal, das ich zuweilen mit meinem Zuspruch beehre. Ich dächte, eh' wir ins Hôtel gehen, kehren wir mal hier ein und nehmen einen warmen Tropfen zu uns. Im Hôtel sind schon Alle zu Bette. Wenn wir da so spät 'reinfallen, machen wir ihnen kein Vergnügen mit unserm Wolfshunger, und ich für meinen Theil, da ich mich in keiner pickfeinen Toilette präsentiren kann wie Sie, auch nicht da logiren will, werde am Ende gar nicht 'reingelassen. Hier aber ist's gemütlich. Sie werden schon sehn.

Damit klinkte er die Thür auf und schob den Alten hinein.

Ein dicker Qualm von schlechtem Tabak und der üble Dunst grober Speisen schlug ihnen entgegen. Herr Langheinrich, der eben aus der duftenden Wohnung seiner Tochter gekommen war, fuhr unwillkürlich zurück. Der Andere aber hielt ihn fest.

Kommen Sie man, Gutester! In der Hölle stinkt's noch mehr, und man gewöhnt sich auch daran. Übrigens wenn ich mir meine Upmann Regalia ins Gesicht stecke, verbessere ich die Luft. Sie rauchen doch auch?

Der Alte schüttelte den Kopf.

Na, wir bleiben auch nicht lange.

Währenddessen waren sie eingetreten, und Herr Müller hatte in dem langen, schmalen Raum einen noch leeren Tisch entdeckt und drückte seinen Begleiter auf die Bank dahinter. Es waren nur wenige Gäste dort, einige spielten Karten, einer saß vor einer Schnapsflasche in Schlaf versunken und schnarchte laut, im dunkelsten Winkel hockten drei junge Bursche von verdächtigem Aussehen bei einander, hatten Biergläser vor sich und dampften Cigaretten.

Zwei Gläser steifen Grog! befahl der neu Angekommene dem unsäuberlichen Schenkkellner, der ihn respectvoll, aber doch wie einen Wohlbekannten begrüßte. So, nun wollen wir's uns commod machen.

Er nahm die Pelzmütze ab, legte die blaue Brille vor sich auf den Tisch und zog aus der Tasche seines Paletots eine lange, schwärzliche Cigarre, die er sofort in Brand steckte.

Verzeihen Sie, sagte der Alte, könnte ich nicht eine Suppe bekommen? An was Festeres bin ich Abends nicht mehr gewöhnt.

Auch das, mein verehrter Gönner! Hier können Sie alles haben. Jean!

Der Kellner kam hurtig wieder heran. Nach einer Weile wurde auch die Suppe gebracht, ein trübes, nach schlechtem Fett duftendes Gericht, in dem ein paar Fleischstückchen schwammen. Der alte Mann, obwohl er nicht verwöhnt war, konnte nur ein paar Löffel hinunterbringen. Dagegen that er aus dem Glase mit dem starken, dampfenden Getränk einen tiefen Zug, obwohl es ihn husten machte.

Sein Begleiter ließ ihm Zeit, sich umzusehen. Alles, was er erblickte, erregte seinen Widerwillen, und zum erstenmal wurde ihm auch sein Begleiter unheimlich. Der hatte, trotz seines »Wolfshungers«, nichts zu essen bestellt, das Glas aber auf einen Zug ausgetrunken und ihre beiden Gläser dann neu zu füllen befohlen. Der Alte wollte für seine Person danken, aber es wurde nicht darauf gehört. Inzwischen war ein Mann, der ein Bekannter des Herrn Müller sein mußte, zu diesem getreten und hatte eine halblaute Unterhaltung mit ihm begonnen. Einzelne Worte davon drangen dem Alten ins Ohr, doch schienen sie aus einer fremden Sprache zu sein, er konnte nichts verstehen.

Immer unseliger fühlte er sich in dieser bedenklichen Gesellschaft. Endlich, da ihm schwül zu Sinne wurde, auch die Spieler einen heftigen Zank anhoben, stand er auf und erklärte, er wolle fort, er sei müde und müsse zu Bett, da er früh zu seiner Reise aufgestanden sei.

Wie Sie befehlen, mein hochverehrter Freund, erwiderte der Andere. Sie sollen bald zu Bett. Aber erst zahlen!

Er griff in die Tasche, holte die Hand aber leer heraus. Hol's der Teufel, rief er, ich habe mein Portemonnaie vergessen. Na, ich habe ja hier Credit.

Erlauben Sie mir, die kleine Zeche für uns Beide zu berichtigen, fiel ihm Meister Langheinrich ins Wort. Ich schulde Ihnen so viel für all Ihre Gefälligkeiten –

Meinetwegen, hochgeschätzter Wohlthäter. Jean!

Der Alte zog sein Geldtäschchen hervor, und aus seiner zitternden Hand rollten die Goldstücke auf den Tisch. Herr Müller fing sie ein und legte sie dem Alten wieder in die Hand. Mit Gold, sagte er, muß man fein umgehen, auch wenn man ein Rothschild ist. Zu unserem Grog reichen auch ein paar Nickel aus. Und das ist noch für Jean. Jetzt aber trinken Sie erst mal aus – nee, das müssen Sie partu. Ich werde sonst böse und glaube, daß Sie ein falscher Freund sind.

Der Alte war willenlos geworden, leerte das Glas mit Widerstreben und stand mühsam auf. Sein »Freund« gab ihm den Schirm in die Hand, belud sich wieder mit dem Reisesack und führte den unsicher auf seinen Beinen Schwankenden aus der dumpfen Höhle in die starre, von Schnee und tausend Sternen glitzernde Nacht hinaus.

Ich mache Ihnen so viel Mühe, sagte der alte Mann, als er sich wieder im Freien fand. Die Kälte beißt mir in die Augen, ich sehe meinen Weg nicht und muß mich auf Sie verlassen.

Machen Sie die Augen man feste zu, ich sehe für Zwei. Auch sind wir gleich an Ort und Stelle. Wenigstens werden Sie jetzt warm sein.

Nur zu warm! seufzte der Alte, dem der Kopf brannte. Er hätte den Hut gern abgenommen, der ihn unerträglich drückte, aber er hatte keine Hand frei. So schloß er die Augen und taumelte am Arm des Anderen in halber Bewußtlosigkeit die Straße entlang.

Der Weg schien ihm kein Ende nehmen zu wollen. Ein paarmal fragte er: Sind wir noch nicht da? Sie sagten ja: bloß einen Hundeblaff –

Gleich sind wir angelangt, nur Geduld! war die Antwort.

Auf einmal blieben sie stehen. Ich habe, wahrhaftig Gott! mich ein bischen verirrt – habe vergessen, meine Schneebrille wieder aufzusetzen – wir sind hier auf dem Wilhelmsplatz, und nu find' ich mich wieder zurecht. Aber wenn Sie vielleicht fünf Minuten ausruhen wollen – da ist eine Bank.

Ohne zu antworten, sank der Alte darauf nieder. Er stöhnte laut, dann saß er ganz still.

Der Andere war vor ihm stehen geblieben. Ist Ihnen nun besser? fragte er nach einer Weile.

Oh – sehr wohl! klang die heisere Stimme zwischen dem Mantelkragen hervor. Heute will ich schlafen – morgen – wenn meine gute Tochter kommt – mein – Röschen –

Der Kopf sank ihm auf die Brust. Nach ein paar Athemzügen hatte er das Bewußtsein verloren.

Der Andere betrachtete ihn eine Weile mit einem fast liebevollen Ausdruck, wie ein Vater, der das Einschlafen eines kranken Kindes bewacht. Dann warf er einen spähenden Blick nach allen Seiten und sagte befriedigt vor sich hin: Na, das Auge des Gesetzes scheint ja auch bei die Kälte eingenickt zu sein. Wir wollen beide schlafen lassen, diesen Biedermann aber davor bewahren, daß sich nicht irgend ein Gauner seinen Schlummer zu Nutze macht. Bei mir sind seine Sachen doch besser aufgehoben.

Er schlug behutsam den Mantel zurück, fuhr in die Taschen des Schlafenden und zog sacht Brieftasche und Portemonnaie heraus. Dann wickelte er die magere Gestalt des Alten wieder dicht ein und drückte ihm auch den Hut fester in die Stirn. So, mein Gönner, sagte er, nu gute Nacht! Es war mir sehr angenehm –

Und mit langsamen, aber weit ausgreifenden Schritten entfernte er sich von der Bank und verschwand im Schatten der Häuser.

*

Als die Sängerin am nächsten Tage nach ihrer Probe bei dem Hôtel vorfuhr und nach dem alten Herrn fragte, der gestern Abend ein Zimmer hier bezogen habe, wurde ihr zu ihrem Erstaunen geantwortet, ein Herr Langheinrich habe sich nicht blicken lassen.

Sie nahm die Sache nicht schwer. Wahrscheinlich hatte der alte Papa den Namen des Hôtels vergessen – er hatte ja einen etwas schwachen Kopf – und die aufgeschriebene Adresse mit seinen trüben Augen nicht entziffern können. So war er anderswo untergekommen und würde sich im Laufe des Nachmittags wohl bei ihr einfinden.

Schade nur, daß er dann zu spät kam, um mit ihr zu Mittag zu essen. Auch den Schneider, den sie schon bestellt hatte, um ihm neue Kleider machen zu lassen, mußte sie nun wieder wegschicken.

Der Nachmittag verging aber, ohne daß der Vermißte sich blicken ließ. Ehe sie Abends ins Theater fuhr, band sie Francinen auf die Seele, ihn ja nicht fortzulassen, wenn er sich doch endlich wieder melden sollte. Dem Grafen hatte sie ja auch abgeschrieben.

Als sie aber nach der Vorstellung in ihre Wohnung zurückkam, fiel es ihr doch aufs Herz, den Papa auch jetzt nicht vorzufinden. Sie konnte freilich im Augenblick ihm nicht weiter nachforschen. Am andern Morgen mit dem Frühesten mußte sie fort, um ein Gastspiel in einem kleinen Stadttheater ein paar Stunden weit von Berlin zu absolvieren. Auf zwei Abende war das berechnet. Sie schärfte es aber ihrer Zofe aufs Nachdrücklichste ein, ihr sofort zu telegraphieren, wenn sie irgend etwas von ihrem Vater zu sehen oder zu hören bekommen hätte. So fuhr sie ruhigen Herzens am dunklen Morgen davon.

Aus den zwei Menden ihres Auftretens waren drei geworden; man hatte sie durchaus nicht fortlassen und die Strafe für die Übertretung des Urlaubs an ihren Director gern bezahlen wollen. Als sie nun am Mittag des vierten Tages wieder heim kam, war ihre erste heftige Frage: Nun? Und der Papa?

Francine machte eine stumme Gebärde, daß sie umsonst auf ihn gewartet habe.

Da erschrak die gute Tochter ernstlich. Sie ließ die Droschke zurückrufen, die eben wieder abfahren wollte, und rief dem Kutscher zu: Nach der Polizei!

Eine Viertelstunde später trat sie bei dem Polizeidirector ein, der die reizende Operettendiva nicht hatte antichambrieren lassen.

Mit hastigen Worten, das schöne Gesicht blaß vor Aufregung, berichtete sie ihm den Grund ihres Kommens und bat dringend, dem Verschwundenen, dessen Äußeres sie genau beschrieb, nachforschen zu lassen.

Der Polizeidirector hörte sie theilnahmsvoll an. Er hatte sie genöthigt, auf seinem Sopha Platz zu nehmen, und behandelte sie mit ausgesuchter Höflichkeit. Dann drückte er auf den Knopf einer elektrischen Klingel und erklärte dem rasch eintretenden Beamten, um was sich's handle.

Als dieser sich wieder entfernt hatte, sagte er: Beruhigen Sie sich, mein schönes, verehrtes Fräulein! Ihr Herr Vater wird sich bei der sibirischen Temperatur erkältet haben und mit einem starken Katarrh oder gar einer Grippe das Bett hüten, so daß er nicht im Stande war, Ihnen Nachricht zu geben. Das werden wir gleich erfahren. Sie sind aber erst von einem Ihrer Triumphzüge wieder zu uns zurückgekehrt? Ich bin um so erfreuter darüber, als ich selbst mir vorgenommen hatte, da heute die »Schöne Helena« auf dem Zettel steht – nun, Hartmann, was bringen Sie?

Der Beamte war mit einem sehr ernsten Gesicht wieder eingetreten, hielt ein Blatt Papier, das ein amtliches Format hatte, und ein photographisches Kärtchen in der Hand und näherte sich seinem Vorgesetzten, dem er mit leiser Stimme Bericht erstattete. Der Polizeidirector warf einen Blick auf die Photographie und sagte dann mit einem Seufzer zu seiner schönen Besucherin, die mit angstvollen Augen zu ihm aufsah: Mein verehrtes Fräulein, das Ergebniß der Nachforschung ist leider ein sehr trauriges. Ihr werther Herr Vater – er muß in der verhängnißvollen Nacht allerdings den Weg in das Hôtel nicht gefunden haben und in seiner Hülflosigkeit in schlechte Hände gerathen sein, die seine Lage mißbrauchten. Eine Stunde nach Mitternacht hat ihn ein Schutzmann auf einer Bank auf dem Wilhelmsplatz schlafend gefunden, ihn mit Hülfe eines Collegen in einer Droschke nach dem nächsten Polizeiamt gebracht, dort aber – der wachehabende Arzt ist sogleich bei der Hand gewesen, aber alle Versuche, den Erstarrten ins Leben zurückzurufen – um Gottes willen, theuerstes Fräulein, fassen Sie sich. Es ist ihm ja nun wohl. Gestern, nachdem sein ehrwürdiges Gesicht noch photographisch aufgenommen worden, ist er auf dem Kirchhof –

Sie hörte nicht mehr. Ohne einen Laut von sich zu geben, war sie ohnmächtig vom Sopha herabgeglitten.

*

Man hatte ihr alle Fürsorge angedeihen lassen, und sobald sie wieder ein wenig zum Bewußtsein gekommen war, in einem bequemen Wagen nach ihrer Wohnung gebracht.

Dort lag sie nun seit vier Stunden stumm und starr auf ihrer Chaiselongue. Francine hatte umsonst alles aufgeboten, sie aus ihrer tiefen Schmerzversunkenheit herauszureißen. An der Tasse Bouillon, die die getreue Zofe ihr aufnöthigte, hatte sie nur genippt und sie dann mit Widerwillen weggestoßen.

Auf ihrem Schooß lag die kleine Photographie des alten Manns, der sie so sehr geliebt und den sie von ihrer Thüre weg in die menschenfeindliche Nacht geschickt hatte. Wie sollte sie das je verwinden!

Etwa um fünf Uhr wurde heftig an ihrer Thür geklingelt. Sie machte Francine ein Zeichen, daß sie für Niemanden zu Hause sei. Gleichwohl trat nach zwei Minuten ein Herr in ihr Zimmer, der Kapellmeister ihres Theaters, diesmal der wirkliche Kapellmeister. Sie hatte ins Theater geschickt, ihr Auftreten heute Abend abzusagen, auch den wahren Grund angegeben. Darum näherte sich ihr der Kapellmeister mit der besten Condolenzmiene, die ihm zur Verfügung stand.

Der Director begreife ja völlig ihre Seelenstimmung. Einen Vater unter so schaurigen Umständen zu verlieren, sei furchtbar, und Alle im Hause fühlten das innigste Mitleiden. Aber am Ende – man müsse doch weiterleben, das sei Pflicht, zumal der Jugend und vollends einer großen Künstlerin, die Unzähligen die herrlichsten Genüsse bereite. So möge auch sie sich tapfer zeigen und sich von ihrem gerechten Schmerz nicht niederbeugen lassen. Der Director lasse sie darum beschwören. Das Haus sei ausverkauft, ein Ersatz für den Abend nicht herauszubringen. Und wenn auch – der Herzog von Dessau habe sich ansagen lassen, weil er gerade ihrer Schönen Helena wegen nach Berlin gekommen sei. Wahrscheinlich werde ihn einer der kaiserlichen Prinzen begleiten. Wenn sie nicht spiele, würde der Director in Verzweiflung sein, und sie selbst verscherzte vielleicht eine Gelegenheit, die nicht wiederkehrte, da das Dessauer Hoftheater –

Er sprach noch eine gute Weile fort und zog alle Register, um seine Rede eindringlich zu machen. Ihr Ohr blieb verschlossen. Sie blickte, ohne ein Wort zu erwidern, unverwandt auf das kleine Bild, das sie in der Hand hielt, und schüttelte nur mit dem Kopfe.

Endlich mußte er sich entschließen, sie zu verlassen.

Kaum aber hatte er die Thür hinter sich geschlossen, als sie von ihrem Ruhebett sich erhob und nach Francine klingelte.

Die Zofe trat hastig ein. Geh ihm nach, sagte die Trauernde. Ich habe mich anders besonnen. Ich darf das meinem guten Director nicht anthun. Vor der Pflicht müssen alle anderen Gefühle und Rücksichten zurücktreten.

– – – – – –

Am Abend trat sie auf in dem losen rosa Costüm, mit dem tief entblößten Hals und den wundervollen nackten Armen. Alle fanden, daß sie nie besser gesungen und gespielt habe. Die Zeitungen meldeten am anderen Tage, der Herzog von Dessau habe sie im Zwischenakt in die Loge rufen lassen, ihr seine Bewunderung ausgesprochen, und ihr ein Armband geschenkt.

In derselben Nummer war unter den Anzeigen zu lesen, daß Herr Fritz Langheinrich aus ** plötzlich gestorben sei, von seiner einzigen Tochter und Allen, die diesen unvergeßlichen Ehrenmann gekannt, aufs Tiefste betrauert.

– – – – – –

 


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