Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Lottchen Täppe

(1905)

Die Bekanntschaft mit dem merkwürdigen alten Frauenzimmer, das diesen Namen trug, reicht bis in meine frühe Knabenzeit zurück.

Ich war noch nicht sieben Jahr alt, als meine Mutter eines Sonntagnachmittags mich und meinen zwei Jahre älteren Bruder zu einem Besuch bei dieser ihrer Jugendfreundin mitnahm, von der sie uns oft erzählt hatte. Welche Bewandtniß es mit ihr hatte, wurde uns damals nicht recht klar. Wir wunderten uns nur, daß sie nie zu uns kam, die Mutter nur sie besuchte, und dann immer in einer Droschke, da sie ein umfangreiches Packet mitnahm, dessen Inhalt uns verborgen blieb. Dies geschah fast regelmäßig alle fünf oder sechs Wochen, und unsere Mutter brachte von diesen Besuchen stets eine besonders gute Laune mit nach Hause und hatte dem Vater allerlei muntere Histörchen oder drollige Bemerkungen zu erzählen, die auch ihn zu ergötzen schienen. Wir aber verstanden sie nicht, denn es war hin und wieder ein jüdisches Wort eingemischt, in dem gerade die Pointe liegen mußte.

Daß Mamsell Lottchen gleichwohl keine Jüdin war, sondern eine gute Christin, hatten wir schon damals herausgebracht. Erst später aber erfuhren wir, wie das zusammenhing. Sie hatte bis in ihr achtundzwanzigstes Jahr in frommen israelitischen Familien als Schabbesgoi gedient, womit bekanntlich eine christliche Magd bezeichnet wird, die am Sabbath, wo die nach dem Gesetz lebenden Juden sich jeder Arbeit enthalten müssen, die nothwendigsten häuslichen und Küchenarbeiten bei ihnen verrichtet. Nun glaube ich zwar, daß im Hause meiner Großeltern von mütterlicher Seite die mosaischen Vorschriften nicht mehr streng beobachtet wurden. Doch mag unsere Mutter vor ihrer Verheirathung in befreundeten Familien der aushelfenden Dienerin begegnet sein, die zwölf bis vierzehn Jahre älter war, aber von so jugendlich heiterem Temperament, daß sie dem lebhaften und witzigen Fräulein Julie Saaling sehr gefiel und späterhin, in der Erinnerung an diese Jugendjahre, mit Vorliebe auch des jüdischen Jargons sich bediente, der ihr bei ihren Sabbathpflichten so oft ans Ohr geklungen sein mußte.

Das hatte aber endlich aufgehört. Eine Erbschaft, vielmehr ein großes Geschenk, das ein Hagestolz, den sie treu gepflegt, ihr nach einer schweren Krankheit gemacht hatte, hatte sie auf einmal so gestellt, daß sie nicht mehr niedrige Dienste zu thun brauchte. Auch fand sich bald ein Bewerber, der ihr zusagte, ein Stubenmaler seines Zeichens, vor dem sie als vor einem »Künstler« großen Respekt hatte. Es war auch begreiflich, daß nicht bloß ihr bischen Geld, sondern ihre zierliche, nur etwas gar zu kleine Person und das hübsche Gesichtchen ihm eingeleuchtet hatten.

So wurde der Tag der Hochzeit festgesetzt, und auch meine Mutter, die damals noch nicht verheirathet war, dazu geladen worden.

Leider aber zerrann dieser schöne Traum.

Bei einer Landpartie, die sie an einem schwülen Hochsommertage mit ihrem Bräutigam und einigen guten Freunden und Freundinnen machte, wurde die lustige Gesellschaft auf offener Landstraße von einem mächtigen Gewitter und Hagelschlag überfallen. Sie fuhren in einem sogenannten Kremser, der kein Dach hatte, und da weit und breit ein schützendes Haus nicht zu erspähen war, blieben sie fast eine Stunde lang wehrlos dem wüthenden Unwetter ausgesetzt und mußten auch in den nassen Kleidern nach Hause fahren.

Die übrigen Theilnehmer an dem verunglückten Sommervergnügen kamen mit verdorbener Toilette und ausgiebigen Katarrhen davon. Mamsell Lottchen aber, die von zarter Complexion und in einem dünnen Sommerfähnchen ohne Überwurf gefahren war, fiel in ein schweres rheumatisches Fieber, an dem sie acht Wochen lang daniederlag. Als sie endlich sich vom Bett erhob, zeigte sich, daß ihre Gestalt nach der linken Seite verkrümmt und ein seltsames Gliederweh in ihren Hüften und Beinen zurückgeblieben war, so daß sie nur mühsam am Stock herumhinken konnte und Spiel und Tanz für sie vorbei war.

Ihr feines Gesicht und der kluge Blick ihrer veilchenblauen Augen waren noch so anziehend wie zuvor, ja durch den leisen Zug eines unentrinnbaren Leidens noch verklärt. Auch zeigte sich ihr Verlobter unverändert gegen das nun so zwerghaft verunstaltete Figürchen und erklärte, er würde sie heirathen, auch wenn sie hinfort auf zwei Krücken gehen müßte.

Davon aber wollte Mamsell Lottchen nichts hören.

Ich habe ja immer gewußt, sagte sie zu meiner Mutter, mein Heinrich is 'ne Seele von einem Menschen, und daß er mich nu nich sitzen lassen will, obwohl ich so 'n krummpuckliges Alräunchen geworden bin, das macht ihm der Zehnte nich nach. Aber 's geht doch nicht, Fräulein Julchen, das müssen Sie einsehen. So 'n bildschöner Mensch, fünf Fuß zehn Zoll hoch und en Künstler dazu – wenn wir vorher auf der Straße untergefaßt gingen, blieben die Leute stehn und sagten: en schönes Paar! Die Braut man bloß 'n bischen kleinwinzig. Jetzt würden sie auch stehn bleiben, aber bloß sagen: Is der schöne Mensch meschugge, daß er sich so 'n garstig Schätzchen ausgesucht hat? Und sehn Sie, Fräulein Julchen, davor bin ich zu eitel dazu, und auch zu gescheit. Denn mit der Zeit, wenn die blinde Liebe verraucht wäre, würden meinem Heinerich doch die Augen aufgehn, da er ja en Künstler is und so sehr fürs Schöne, und bloß wegen meiner paar Thaler geheirathet zu werden, – nee, dazu ist Lottchen Täppe zu stolz. Er soll sich nach 'ner Andern umsehn, und wegen seinem Dalles braucht er nich ledig zu bleiben, dafür bin ich noch da.

Und sie war in der That dafür da.

Als sie merkte, daß ihr entlobter Freund, der sie immer noch besuchte, den Kopf hängen ließ und häufig seufzte, sagte sie ihm eines Tages ins Gesicht, daß er wieder verliebt sei, und ruhte nicht, bis er ihr gestanden hatte, in wen. Das Mädchen schien ihr nicht übel zu einer »Künstlerfrau« zu taugen, doch ehe der junge Mann sich als Meister selbständig machen und ein eigenes Geschäft etablieren konnte, war ans Heirathen nicht zu denken.

Da zog sie sich eines Tages sauber an, nahm ihren Stock in die Hand und humpelte zu dem Bankier, wo sie ihr Geld stehen hatte. Den größeren Theil zog sie zurück, um damit ihrem Bräutigam die Möglichkeit zu bieten, die Andere heimzuführen. Für sich aber behielt sie nur so viel, als ihr hinreichend schien, um nothdürftig damit auszukommen, wenn sie fortführe, ihre künstlichen Stickereien auf Seide und Leinwand zu machen, die in den größeren Luxusgeschäften sehr gesucht waren.

Hierauf miethete sie ein paar Dachstübchen im vierten Stock des Eckhauses, das an der Stechbahn gelegen war und den Blick auch nach der anderen Seite auf die Schloßfreiheit hatte, die heute verschwunden ist, um dem Kaiser Wilhelm-Denkmal Platz zu machen. Als das neue Brautpaar die steile Treppe hinaufkletterte, seiner Gönnerin und Wohlthäterin zu danken, wurde es abgewiesen, ohne daß Mamsell Lottchen sich herbeiließ, anders als durch die Thür ihnen Glück zu wünschen.

Daß sie es nicht übers Herz brachte, die Einladung zur Hochzeit anzunehmen, wird man begreifen.

*

Dann trat eine Pause in dem Verkehr der beiden »Jugendfreundinnen« ein, da meine Mutter mehrere Jahre in Frankfurt lebte, auch hernach, als sie nach Berlin zurückgekehrt war, ihr Lottchen aus den Gedanken verlor. Erst als sie sich verheirathete, fiel es ihr aufs Herz, daß ihr ein sanfteres Loos gefallen war, als der alten Einsamen, und statt ihr eine Vermählungsanzeige zu schicken, ging sie zu ihr und fand sie über Erwarten mit ihrem Schicksal ausgesöhnt und auf ihre Weise thätig.

Denn sie behalf sich ohne Magd, und nur alle Sonnabende kam das Mädchen einer guten Frau, die unten im Hause wohnte, um gründlicher reinzumachen, als es der gebrechlichen Einsiedlerin möglich war. Von dieser Hausnachbarin, die sie sehr schätzte, erhielt sie auch jeden Mittag eine Suppe und Sonntags ein Fleischgericht, was sie redlich bezahlte. Im übrigen beschränkte sie sich auf Kaffee, Brod und Butter und erhielt sich bei dieser frugalen Lebensweise frisch und gesund.

Ihre Wohnung hatte sie in all den Jahren nicht ein einziges Mal verlassen und behauptete, die Stadt komme ja zu ihr, da sie in den draußen angebrachten zwei Fensterspiegeln das ganze Leben und Treiben auf dem Schloßplatz und den Straßen unten beobachten konnte. Auch fehlte es nicht an Besuchern, weil sie mit vielen Menschen Freundschaft gehalten hatte und allen nur noch werther geworden war, seit das Unglück, das über sie gekommen, an ihrer heiteren Menschenfreundlichkeit nichts geändert hatte.

So war sie auch meiner Mutter ganz als die Alte erschienen, in aller Dürftigkeit immer noch reich genug, um Ärmeren wohlzuthun, aber gegen Wohlthaten reicher Gönner sich mit fester Beharrlichkeit wehrend. Es war eine besondere Gunst, wenn sie jemand erlaubte, ihr kleine Geschenke zu machen, nur was meine Mutter sich ausdachte, um sie ein wenig zu erfreuen, nahm sie, ohne viel Wesens davon zu machen, mit Dank wie von einer Freundin an, der man nichts abschlagen kann.

Dies alles war mir noch ziemlich dunkel, als wir in einer Droschke zu dieser »Tante« hinfuhren, die wir uns wie irgend eine geheimnißvolle Figur aus einem Grimmschen Märchen vorstellten.

Die Wirklichkeit entsprach auch diesem Bilde.

Das kleine, nach der linken Seite gekrümmte alte Weibchen, das am Stock uns entgegenhinkte, sah in der That einer Märchenfrau gleich, halb Hexe, halb gütige Fee. Denn der Blick ihrer etwas verblichenen blauen Augen in dem ganz milchweißen feinen Gesicht, das von einer weißen Tüllhaube umrahmt war, verscheuchte sofort jede Befangenheit, während freilich der welke, zahnlose Mund, so freundlich er lächelte, an die Grimasse der Waldhexe erinnerte, die Hänsel und Gretel in ihr Pfefferkuchenhaus lockte.

Sie mochte etwa sechzig Jahre alt sein, ihr Haar hatte einen merkwürdig silbernen Glanz, ihre Bewegungen waren trotz ihrer Gebrechlichkeit ungemein rasch und lebendig, und sie bezeigte ihre Freude, daß die Mutter uns mitgebracht hatte, auf die rührendste Art. Einer nach dem anderen mußten wir auf ihrem Schooß sitzen und auf eine Menge Fragen Antwort geben. Dann wollte sie uns durchaus von den kleinen Kuchen essen lassen, die sich in Mutters Packet befanden. Ich entsinne mich noch deutlich, daß es mich sehr wurmte, als die Mutter das entschieden verbot. Doch wurden wir durch eine Tasse Milchkaffee und ein großes »schwarzes« Butterbrod entschädigt, wie wir's niemals zu Hause bekamen. Nach dieser Vesper saßen wir auf den Stühlen am Fenster und schauten über den Schloßplatz nach der Brücke mit dem Reiterbilde des Großen Kurfürsten, dann auch die lange Schloßfreiheit hinunter bis in den Lustgarten. Wir hatten das alles ja oft schon unten gesehen. Aber hier aus der Vogelperspective machte es einen ganz neuen, phantastischen Eindruck, wie wenn wir in die Zwergenwelt da unten gar nicht hineingehörten.

Tante Täppe saß unterdeß mit unserer Mutter auf dem kleinen, schmalen, mit großblumigem Kattun überzogenen Sopha, und aus ihrem Lachen und Plaudern ist mir nichts erinnerlich, als daß es mir auffiel, daß die Mutter sie duzte, von ihr aber Frau Professorn genannt wurde.

Als ich genug hinuntergeschaut hatte, sah ich mich auch im Zimmer um, weiß aber nur noch, daß es sehr hell war trotz der niedrigen Decke, sehr reinlich, der Fußboden blank gescheuert und mit Sand bestreut, überall wohlfeile Blumen auf der Kommode und den Fenstersimsen, und über dem Sopha hing ein Porträt, einen jungen Mann darstellend in einer Samtjacke mit offenem Hemdkragen und langen Haaren, wie damals die Künstler herumgingen. Ich fragte, wer es sei, und hörte, während die Mutter mir einen Wink gab, den ich nicht verstand, es sei das Bild eines Malers, Herr Heinerich, und er habe es selbst gemalt.

Außer diesem ziemlich großen Zimmer war da noch eine düstere Kammer mit abgeschrägtem Dach, die in einen engen brunnentiefen Hof sah. Hier stand das Bett und ein tragbares Kochherdchen, auch Blumen, die einen süßlichen Duft ausströmten zugleich mit dem muffigen Hauch eines alten Schrankes. Doch behauptete die Alte, das mache ihr nichts, sie schlafe ohne Träume und sei gesund wie ein Fisch.

Nachdem wir das alles betrachtet hatten, gingen wir bald wieder, obwohl Mamsell Lottchen uns noch zu halten suchte. In dem Packet hatte sich außer den Kuchen eine warme seidene Hausjacke befunden, die meine Mutter lange getragen hatte, ein Päckchen Schnupftabak und ein Roman der Frau von Paalzow.

Denn die »Tante« war eine eifrige Leserin. In früheren Jahren schien sie die alten Volksbücher bevorzugt zu haben. Ich hatte auf einem kleinen Bücherbrett »Die vier Heymonskinder«, »Die schöne Magelone« und den »Hürnenen Siegfried« gesehen; daneben freilich ein paar Bände der Henriette Hanke und der Karoline Pichler, der Marlitt jener Zeit, so daß ihre litterarische Bildung wohl eine Entwicklung durchgemacht hatte.

So nahmen wir Abschied und versprachen, bald wiederzukommen.

Dies Versprechen wurde auch redlich gehalten, und zwar ließ uns die Mutter das nächste Mal allein zu der guten Tante gehen und ihr die Liebesgaben, die sie ihr zugedacht, überbringen.

Es ereignete sich bei diesem Besuch nichts Besonderes, als daß wir eine Menge kleinen Erinnerungskram betrachten mußten und mit anhören, was für Ereignisse oder bedeutsame Gelegenheiten sich damit verknüpften. Das Wichtigste war uns aber, daß wir diesmal eben doch von den Kuchen essen durften, die wir selbst ihr gebracht hatten.

Als wir dann in die Schule gekommen waren, hörten diese Botengänge auf. Auch war uns Tante Täppe nicht interessant genug, um die Mutter zu bitten, daß sie uns oft wieder zu ihr mitnehmen möchte, was nur noch ein paarmal geschah, um ihr zu ihren Geburtstagen zu gratulieren.

Da wurden wir – ich mochte zehn oder elf Jahr alt geworden sein – auf eine erschreckende Weise an die alte halbvergessene Märchenfrau erinnert.

*

Als wir eines Mittags aus der Schule kamen, fanden wir die Mutter nicht vor, die sonst nicht unterließ, bei unserm Essen zugegen zu sein, da sie selbst mit dem Vater, der um zwölf Uhr Vorlesung hatte, erst einige Stunden später zu Mittag aß.

Sie kam endlich in großer Verstörung und erzählte uns, während ihr die Thränen oft die Stimme erstickten, daß sie vom frühen Morgen an bei ihrer alten Freundin gewesen sei, doch nicht in deren Wohnung, sondern im Hause ihres ehemaligen Verlobten, des Herrn Malermeisters, von wo sie Botschaft erhalten hatte, so schnell wie möglich zu kommen, da Fräulein Tappe sie vor ihrem Ende zu sprechen wünsche.

Dies plötzliche Unglück hatte sich folgendermaßen zugetragen.

Der Verkehr mit ihrem »Heinerich« und seinem Hause war in den langen Jahren nicht allzu lebhaft fortgesponnen worden. Doch hielt der glückliche Meister und Hausvater darauf, daß er wenigstens zu Neujahr und Ostern seiner Wohlthäterin wieder einmal ein Zeichen unveränderlicher Dankbarkeit geben durfte, indem er sie mit ihrer Nachfolgerin besuchte und alles mitnahm, was diese inzwischen an jungem Nachwuchs in die Welt gesetzt hatte. Jedes Kind brachte ihr dann ein Blumentöpfchen, Goldlack oder Levkoien, die ihre Lieblingsblumen waren, sagte entweder einen Vers auf oder zeigte seine guten Censuren, alles zur Beurkundung, daß, was in dem Hause des alten Freundes grünte und blühte, im Grunde der hochherzigen milden Stiftung der alten Mamsell zu verdanken war.

Die kleine Festgesellschaft wurde dann mit Chokolade und Kuchen bewirthet, und so bescheiden die Inhaberin des Dachstübchens an der Schloßfreiheit von ihren Verdiensten dachte, an solchen Tagen war doch ein gewisser Glanz um ihre dürftige kleine Person verbreitet, und ihre Rede hatte etwas Feierliches, Getragenes, was den Respect ihrer Nachfolgerin nur noch erhöhte.

Das ließ sich die Gefeierte denn auch in Gnaden gefallen. Doch obwohl man Menschen, die einem Dank schuldig geworden, gern zu sehen pflegt, ließ sie sich deutlich merken, daß sie für die Frau ihres Heinerich kein sonderliches Wohlwollen hegte. Auch verbat sie sich jedes Geschenk von ihr und jeden Besuch, außer jenen beiden obligaten.

Sie war deßhalb unliebsam überrascht, als die gute Frau gestern Abend plötzlich bei ihr erschienen war. Aber die Bestürzung über das, was sie zu ihr geführt hatte, überwand jene stille Abneigung, so daß sie sie zum erstenmal mit einer warmen Empfindung unter Thränen umarmte.

Der Malermeister, obwohl ein paar Jahre jünger als seine alte Freundin, war freilich auch schon ein Graukopf und in der letzten Zeit etwas wacklig geworden. Er hatte vor, seinem Ältesten das Geschäft zu übergeben und sich nur noch auf das Ölmalen zu verlegen, wofür er ein verkanntes Talent zu haben glaubte. Bei einem der letzten Aufträge, die er selbst noch übernommen, hatte er an einer schwierigeren Decoration mithelfen wollen und deßhalb die Leiter zu einem hohen Gerüst erstiegen. Seine unsicheren Füße versagten ihm aber den Dienst, er that einen Fehltritt und stürzte aus ziemlich beträchtlicher Höhe auf den Fußboden herab.

Der rasch herbeigerufene Arzt erklärte sogleich, daß wenig Hoffnung sei, den alten Herrn am Leben zu erhalten, ja es handle sich vielleicht nur um wenige Tage. So hatten sie ihn in sein Haus transportiert, wo er erst nach einigen Stunden wieder zum Bewußtsein gekommen war.

Sein erster Wunsch, als er seine Lage begriff, war, daß man zu Mamsell Täppe gehe und sie bitten solle, zu ihm zu kommen, so schwer es ihr sein möchte, sich nach so langen Jahren zum erstenmal aus ihrem Stübchen hinauszuwagen. Das hatte die trostlose Frau niemand anders auszurichten überlassen und beschwor nun die Alte, diese letzte Bitte zu erfüllen.

Sie hatte gleich eine Droschke mitgebracht und erbot sich, die gebrechliche Greisin die hohen Treppen von Dienstmännern hinuntertragen zu lassen.

Aber die Einsiedlerin hatte sich entschieden geweigert. Sie war so in ihrem Zustand eingerostet und verknöchert, daß sie es als etwas Ungeheures, Unmögliches ansah, noch einmal »in die Welt hinauszutreten«, ehe man sie im Sarge über die Schwelle ihrer Wohnung trüge. Kein Bitten und Flehen half, so sehr ihr Gemüth in Aufruhr war bei dem Gedanken, den einst so herzlich Geliebten ohne ein letztes Lebewohl scheiden zu lassen. Zuletzt hatte sie nur immer den Kopf geschüttelt und Nein! nein! es geht nicht – ich kann nicht! vor sich hin gemurmelt.

Erst als die weinende Frau sie verlassen, kam es über sie, daß sie doch eine heilige Pflicht versäumen würde, wenn sie dem letzten Willen des Sterbenden sich nicht fügte, mochte es sie selbst ein noch so großes Opfer kosten.

So stand sie plötzlich aus ihrem Brüten auf, holte aus dem Schrank einen leichten schwarzen Mantel, den sie seit dreißig Jahren nicht mehr getragen, und da sie ihren Hut weggeschenkt hatte, zog sie nur den Mantelkragen über den Kopf und verließ ihre Wohnung.

Wie beschwerlich und zitternd sie die steilen vier Treppen hinunterkroch, kann man sich vorstellen. Doch diese Gemüthsbewegung war noch gering gegen das Gefühl, mit dem sie aus dem Hause trat. Es war Abend, ein feiner Regen sprühte ihr entgegen, vermummte Gestalten unter Schirmen eilten an ihr vorbei, und durch die neblige Luft flackerten die rothen Flämmchen der Laternen, die kaum auf den nächsten Kreis um sie her ein unsicheres Licht warfen. Einem von den Todten Auferstandenen, der sich plötzlich in einer fremdgewordenen Welt findet, konnte nicht schauerlicher zu Muthe sein.

Aber so heftig diesem kleinen Gespenst das Herz klopfte, die erste Regung, sofort wieder umzukehren, verschwand alsbald, und nun wankte das tapfere alte Weibchen resolut ins Freie, ruhte unten an einem der Häuser der Stechbahn aus, da ihre Kniee denn doch unter ihr einzubrechen drohten, und riß sich dann gewaltsam in die Höhe. Das schlimmste Stück Weges aber war der weite, dunkle Schloßplatz, wo ihr nirgend eine Stütze zum Rasten begegnete, bis sie die Kurfürstenbrücke erreicht hatte. Da ruhte sie wieder bei dem mächtigen dunklen Reiterbilde und sammelte neuen Muth. Es war ihr wie ein finsterer Traum, den sie halb bewußtlos erlebte, und der einzige klare Gedanke nur, daß sie es ihrem alten Freunde schuldig sei, ihm noch einen letzten Liebesbeweis zu geben.

Die kühle, freie Luft aber, die sie umfing, stieg ihr zu Kopf, zumal als sie die Königstraße erreicht hatte, wo sie sich wieder in ein Menschengedränge wagen mußte. Die Wohnung des Malermeisters lag in der Poststraße. So lange Jahre vergangen waren, seit sie leichtfüßig als Schabbesgoi diese Straßen gewandelt war, hatte sie doch den Weg noch genau im Gedächtniß. Auch schien ihr, je länger sie an ihrem Stocke hinging, desto mehr die Kraft zu wachsen, ja ein heimliches Gefühl, wie wenn ihre Jugend wieder erwachte und sie ein lustiges Abenteuer erleben ließe. Eine Art Rausch überkam sie, so daß sie ganz dreist, ohne rechts und links zu spähen, durch das finstere, stumme Gewühl hinschritt. Sie ließ sich vom Strome forttragen, nur bedacht, die Poststraße, in die sie einlenken mußte, nicht zu verfehlen. Da staute aber plötzlich die Menschenwelle, die ihr entgegenkam, da mehrere Wagen sich in entgegengesetzter Richtung bewegten. Ein Theil der Fußgänger wurde vom Bürgersteig auf die Straße gedrängt, unter diesen auch das alte Lottchen, und da sie den Mantelkragen über die Ohren gehüllt hatte, hörte sie nichts von dem Schelten und Schreien, mit dem die Kutscher auf ihre Pferde und die Menschen, die sie aufhielten, einhieben, sondern stand mitten in dem Knäuel wie betäubt. Auch noch, nachdem er sich zu entwirren begonnen hatte und Alle um sie her sich auf das Trottoir in Sicherheit zu bringen suchten. So kam es, daß sie hülflos auf der Straße stehen blieb, taub gegen den warnenden Zuruf der Nächststehenden, bis ein heranstürmendes Gespann sie zu Boden warf und Hufe und Räder über sie hinweggingen.

Als sie in das nächste Haus gebracht und ein Arzt gerufen worden war, dauerte es noch eine Stunde, ehe sie wieder zur Besinnung kam. Wie durch ein Wunder war an ihrem dürren alten Gebein kein Knöchelchen verletzt, aber aus gewissen Anzeichen ging hervor, daß eines der inneren Gefäße durch den Sturz zerrissen worden war, und der Arzt gab wenig Hoffnung, das Leben über die nächste Nacht zu erhalten.

Man hatte sie natürlich um Namen und Wohnung befragt. Ersteren hatte sie richtig angegeben, dann aber verlangt, daß sie in das Haus gebracht werde, wohin sie hatte gehen wollen und wo man sie erwarte.

Dort lag der schwer Kranke in wachsender Schwäche und schrak entsetzt aus seinem Halbschlaf auf, als das arme kleine Wesen, das noch einmal zu sehen er schon aufgegeben hatte, in so zerrütteter Gestalt ihm ins Zimmer getragen wurde.

Die Alte war während des Transports die Treppe hinauf ohnmächtig geworden. Zum Glück aber befand sich der Arzt gerade noch bei seinem Patienten und brachte es dahin, daß auch die alte Freundin, die man auf das Sopha im Krankenzimmer bettete, sich ein wenig erholte, die Augen aufschlug und mit einer aufblitzenden Heiterkeit erkannte, wo sie war.

Nachdem sie etwas Stärkendes zu sich genommen hatte, ließ ihr Freund Alle hinausgehen, und so blieben die beiden alten Menschen in ihrer letzten Nacht unter vier Augen. Was sie sich da noch zu vertrauen hatten, hat Niemand erfahren.

Um Mitternacht schlich die Frau in das Zimmer und fand Beide in sanftem Schlaf, so daß sie schon Hoffnung schöpfte. Als sie aber am anderen Morgen, im Glauben, ihr Mann schlafe noch fort, wieder nach ihm sah, erkannte sie, daß er nie wieder aufwachen würde.

Seine Freundin dagegen lebte noch etliche Stunden und bat, daß man meine Mutter benachrichtigen möchte. Als diese in großer Erschütterung bei der alten Jugendfreundin eintrat, erstaunte sie, mit einem ganz heiteren Gesicht empfangen zu werden.

Sie sollen mich nich beklagen, liebe Frau Professorn, hauchte sie mit einer kaum hörbaren Stimme, sondern mir gratulieren, daß es so gekommen is. Ein schöneres Sterben hätt' ich mir nicht wünschen können; denn meinen Heinerich überleben zu müssen, das wäre mir schlimmer als Tod gewesen. Sehen Sie ihn sich nur an. Is er nich noch mit seinen achtundfünfzig Jahren und nach dem grausamen Sturz ein Bild von einem Menschen? Und was er mir gestern noch gesagt hat, daß er nie aufgehört hat, mich zu lieben, nee, das verrath' ich keiner Menschenseele, das nehm' ich mit ins Grab, und bin auch schon ganz reisefertig; bloß Sie, liebe Frau Professorn+...

Laß doch das dumme Zeug und nenne mich Julchen! hatte meine Mutter sie unterbrochen. Und sie freute sich, von der treuen Seele noch zuletzt geduzt zu werden. Denn, sagte Lottchen: Du hast Recht, Julchen, vor dem Tode sind alle Menschen gleich, und dich hab' ich nächst meinem Heinerich immer am liebsten gehabt, weil du eine so lustige und doch rechtschaffene Seele bist und zu klug, um dumme Vorurtheile zu haben. Jetzt aber+...

Und dann hatte sie ihr den Hauptgrund enthüllt, weßhalb sie sie noch sprechen mußte, nämlich ihre Armen ihr ans Herz zu legen, die sie ihr alle nannte, nebst ihren Wohnungen, ein ganz ansehnliches Häuflein. Ihr bischen Möbel und sonstige Habe sollten verkauft und unter diese ihre »Erben« vertheilt werden. Die regelmäßigen Unterstützungen aus dem Erlös ihrer Handarbeiten hörten nun freilich auf, aber in dem Punkt verlasse sie sich auf ihr Julchen und deren Schwester Marianne.

Und dann küßte sie meine Mutter und sagte ganz fröhlich: Nu will ich mich recht ausschlafen. Wenn wir aufwachen, haben wir's nicht weit zueinander. Du hast ja auch dein Grab auf dem Dreifaltigkeitskirchhof. Gute Nacht, und grüß deinen guten Mann und die lieben Jungens!

So sank ihr feiner grauer Kopf ins Kissen zurück. Noch einmal aber schlug sie die Augen auf und sagte: Nimm dich auch+... meiner Blumen an+... sie müssen täglich+...

»Begossen werden« brachte sie nicht mehr über die Lippen. Eine Stunde später war sie sanft eingeschlafen.

– – – – – –


 << zurück weiter >>