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Zwölftes Kapitel

Ein neues, höchst bewegtes Kapitel, worin der Kriminalkommissar die Erfahrung macht, dass man mit Stelzen auf unbekannten Pfaden nicht gut vorwärts kommt; worin ferner Jaapje Eekhorn durch einen mitleidigen Helfer in der Not gerettet, aber dank seiner Mundstückmanie wieder verraten wird und in einem schwachen Augenblick selber an Verrat denkt; und worin endlich Nathan Marius Duporc sein Licht in Aerdenhout leuchten lässt.

 

Duporc schlief wie ein Bär und hätte vermutlich noch ein grosses Stück in den neuen Tag hinein geschlafen, wenn nicht das Diensttelephon in seinem Zimmer wiederholt geklingelt hätte.

»Hallo! Ist dort Siebenstern?«

In ganz Amsterdam gab es nur eine Stimme mit diesem Klang – die Stimme des Chefs der Geheimpolizei.

»Jawollja«, sagte er in dem etwas familiären Ton, den nur er sich allenfalls erlauben durfte, »hier ist Siebenstern ...«

»Was ist denn los, alter Junge, dass Sie sich das Leben so bequem machen? Ich verstehe Sie nicht! S. sagt mir soeben, dass Sie in Amsterdam sind, anstatt ...«

»S. soll sich gefälligst um seine eigenen Angelegenheiten kümmern!« sagte der Kommissar äusserst gekränkt. »Ich weiss, was ich zu tun habe! Ich habe die Sache fest in der Hand ...«

»Hier in Amsterdam ...?«

»Darüber kann ich telephonisch nicht sprechen ...«

»Haag hat angeläutet, verlangt Einzelheiten ... Auch dort glaubt man, Sie wären in Brüssel ...«

»Nein, ich bin hier, und bin soeben erst aufgestanden ... Die Telegramme ins Ausland habe ich noch spät in der Nacht persönlich aufgegeben ... Es ist eine fabelhafte Sache, eine so komplizierte Geschichte, dass man sich geradezu darein verlieben könnte ...«

Das letztere sagte er mit der leidenschaftlichen Interessiertheit eines Chirurgen, der einen abnormen Fall unter dem Messer hat und in seiner Freude darob gar nicht an den Patienten denkt, der mit aufgeschnittenem Leibe noch auf dem Operationstische liegt.

Allein aus der zögernden Antwort des ihm wohlgesinnten Chefs sprach ein gewisser Zweifel, der dem Kommissar gar nicht gefiel.

»Mein lieber Siebenstern, ich will Ihnen ja gern glauben«, sagte die Stimme von neuem, und er hätte darauf schwören mögen, dass noch ein anderer – natürlich Sier! – das Gespräch mitanhörte; »aber ich möchte mir doch auch selbst ein Urteil bilden ... Wie ist denn das eigentlich ... Hat man R.s Leiche schon gefunden?«

»Kein Gedanke ...«

»Aber Sie haben doch ein Diensttelegramm aus Dordrecht erhalten?«

»Ein fingiertes ...«

»Fingiert? ... Warum? ... Wozu? ...«

»Um der Tochter die Hölle heiss zu machen. K. R., der Tochter ...« – Namen wurden telephonisch nie angegeben – »Die Tochter korrespondiert mit dem Mann, den wir suchen, mit J. K. Ich weiss so ungefähr, wo sich der Kerl aufhält, aber das eilt nicht. Erst müssen wir J. E. aus dem gesunkenen Wohnschiff haben. Dieses Schiff war so solide gebaut, das kann unmöglich von selber gesunken sein. Ich habe Sieben und Acht beauftragt, beim Heben des Schiffes dabei zu sein; ich ahne noch nicht, was der Halunke ausgeheckt hat und was für eine Absicht er damit verfolgen kann. Aber das ist eigentlich mehr Nebensache. Das Haus der Witwe M. P. in der Sarphatiestrasse wird beobachtet ...«

»Wessen Haus?«

»Der Witwe M. (wie Moses), P. (wie Peter). Die hat gestern abend J. (wie Josef), E. (wie Eduard) in dem Schiff besucht ...«

»Bester Siebenstern!« unterbrach ihn hier die Stimme: »Sie müssen es mir nicht übelnehmen; aber ich verstehe kein Wort davon. Es ist wieder genau so wie das vorige Mal; da waren Sie auch in Ihre Sache so verliebt, behaupteten, alle Finessen schon zu kennen, und dann wurde Ihr Rapport zugleich mit den Tätern eingeliefert. Eine wunderschöne Methode; aber auf die Art wird die Polizei ganz ausgeschaltet ...«

»Mit Ihrer gütigen Erlaubnis ...«

»Nein, lieber Sohn, lassen Sie mich jetzt auch mal reden. Wenn Sie wissen, wo der Kerl, der diese Sache so raffiniert eingefädelt hat, sich aufhält, und zugleich behaupten, es eile nicht mit seiner Verhaftung, so bürden Sie uns eine Verantwortung auf, die ich unter keinen Umständen auf mich nehme! Und wenn Sie den kleinen Halunken aus dem gesunkenen Wohnschiff erst festnehmen wollen, weil Sie den Kerl, der doch den Mord natürlich nicht begangen hat – oder doch? ...«

»Nein, nein ...«, Duporc musste unwillkürlich lächeln.

»... Weil Sie der Ansicht sind, dass dieser Hochstapler ein besserer Fang ist als J. K., so behandeln Sie die Affäre eben nicht ... nicht mit jenem Scharfsinn, den wir bis heute an Ihnen gewohnt waren ...«

»Jetzt merke ich«, sagte Duporc lachend, »dass der mitzuhörende Kollege S., der Schubiak, ein Streichholz für Sie anzündet ... Guten Morgen, S. (wie Schurke!) – Wie geht's ... Gut geschlafen?«

»Hol Sie der Teufel!« klang es gedämpft und ungemein kollegial zurück.

»Hören Sie mal, Siebenstern«, sagte der Chef: »ich finde ja diese Scherze sehr nett und geistreich; aber Sie antworten mir nicht auf meine Frage, und darauf glaube ich doch ein Anrecht zu haben! Es ist bald 10, und Sie sind noch zu Hause – Sie warten auf den Freund des Hoteldiebes J. T. – Sie starren sich blind an Ihrer Juwelendiebstahlsgeschichte und vernachlässigen darüber die Hauptsache. Haben Sie was dagegen, wenn wir die beiden Dinge trennen, und wenn ich selbst den Mord weiterbehandle und Ihnen die Erledigung der – der –? Ist die Dame, die Sie da soeben nannten, dieselbe Witwe wie ...?«

»Jawohl«, sagte Duporc, der sich inzwischen gesetzt hatte. Dieses lange Verhör, und insbesondere der soeben erfolgte Vorschlag, ärgerte ihn gewaltig; das sah ja wie ein Misstrauensvotum aus! Aber er hatte alle Trümpfe in der Hand, und wer zuletzt lacht ...

»Und die Dame hat gestern abend in dem gesunkenen Wohnschiff des J. E. einen Besuch gemacht? ... Das ist doch nicht denkbar!«

»Volle 27 Minuten lang ...«

»Wenn Sie sich nicht irren«, fuhr der Chef fort, »so wäre es vielleicht am besten, wenn Sie diese Spur weiterverfolgen und alles Nähere über den ermordeten R. uns überlassen wollten, Siebenstern. Die beiden Sachen sind mir doch zu kompliziert, als dass ich sie von einem bearbeitet haben möchte. Ausserdem möchte ich Sie bitten, lieber erst einmal zu mir herüber zu kommen. Wir geraten in die grössten Verlegenheiten. Der Dordrechter Korrespondent der Handelszeitung schreibt heute morgen, dass Herr Hans Thyssen in der Tat in Dordrecht in einem Verein einen Vortrag hätte halten sollen, dass die Polizei sich auf unbegreifliche Weise vergaloppiert hätte, und dass – aber das will ich Ihnen lieber persönlich sagen – . Ich sehe Sie als meine rechte Hand an; aber – aber Sie dürfen mir nicht böse sein – ich habe erfahren, dass Sie sich heute nacht festgekneipt und dann später auf dem Damm so eigentümlich benommen haben ... Der Schutzmann 217 wollte Sie schon zur Ruhe mahnen, als er sah, wen er vor sich hatte. Das kann und darf nicht sein. Solche Haltung passt sich nicht bei einem äusserst bedenklichen Falle ...«

Nathan Marius Duporc hatte einen Augenblick Mühe, sich das Lachen zu verbeissen, und fragte dann zurück: »Sind Sie allein am Apparat?«

»Das tut nichts zur Sache«, sagte der Vorgesetzte ausweichend. »Ich bin allein, aber ich sage Ihnen nochmals, das tut gar nichts zur Sache ...«

»Es tut doch etwas zur Sache«, sagte Duporc, dem es Spass machte, dem liebedienerischen Kollegen eins auszuwischen, »weil es nämlich auf dem Präsidium werte Kollegen gibt, die sich wunder was einbilden, ohne dass viel dahinter steckt ...«

»Hol Sie der Teufel!« erklang zum zweitenmal eine nicht sehr liebliche Stimme.

»Wenn Sie gleich nach dem Aufstehen schon so zum Scherzen aufgelegt sind, so muss ich wohl glauben, dass Sie gute Neuigkeiten haben. – Ach, bitte, Sier, lassen Sie mich doch einen Augenblick allein ... So, jetzt höre ich; bitte, beichten Sie ...«

»So will ich Ihnen erst mal aus meinem Wörterbuch etwas höchst Seltsames mitteilen, nämlich, dass Rana soviel heisst wie Kikker oder Frosch. Es ist wirklich schade, dass so ein Wörterbuch so schwer ist, sonst würde ich es mitbringen ...«

»Sie machen mir wirklich Sorge,« sagte der Vorgesetzte; »ich halte es für mehr als notwendig, dass Sie sich ein paar Tage Ruhe gönnen, Siebenstern.«

»Das wird nicht gehen«, antwortete Duporc lachend. »Und weil ich jetzt ganz genau an Ihrem Ton höre, dass kein unerwünschter Zuhörer mehr da ist, will ich Ihnen auf mein Ehrenwort die ernsthafte Versicherung geben, dass diese beiden Sachen durchaus zusammengehören ...«

»Was schwatzen Sie da?«

»Dass an dem im D-Zug verübten Morde die nachfolgend bezeichneten Herren beteiligt sind oder wenigstens direkt oder indirekt damit zu tun haben: J. wie Joseph, K. wie Karl, als Haupttäter, lateinischer Artname Rana; ferner J. wie Joseph, B. wie Berta, als zweiter; H. wie Heinrich, T. wie Theodor, als dritter – der ist aber nur unfreiwillig mit hineingezogen, und den können wir wieder frei lassen, wenn wir nicht mehr zu fürchten brauchen, dass er in den Zeitungen Lärm schlägt. Dann kommt als vierter J. wie Joseph, T. wie Tulp, der berüchtigte Tulp, in Betracht, und als fünfter J. wie Joseph, E. wie Eduard in dem Wohnschiff. Insgesamt also vier mit dem Vornamen J. und einer mit H. ... Wir können die Dinge nicht voneinander trennen, weil ich entdeckt habe, dass sich Jantje, Joopje, Jaapje und Jantje II, wie ich sie der Deutlichkeit halber einmal nennen will – im Zuge kennengelernt haben, dass sie von A bis Z um die Einzelheiten des Mordes Bescheid wissen, und dass man logischerweise nun erstmal dem Herrn aus dem Wohnschiff die Daumenschrauben anlegen muss. Ist Ihnen das klar?«

»Nicht im mindesten!« sagte der Vorgesetzte kurz.

»Wenn Sie Lust haben, so kommen Sie doch in einer halben Stunde zu mir herauf; denn ich muss unbedingt noch in die Sarphatistrasse und weiss nicht, wie sich der Tag dann weiter entwickeln wird. Ich habe noch eine zweite Neuigkeit, über die Sie Augen machen werden; die kann ich telephonisch aber nicht einmal andeuten. Sie können sich dann leicht davon überzeugen, dass meine geistige Verfassung nichts zu wünschen übrig lässt, obwohl es Augenblicke gegeben hat, in denen ich an mir selber irre wurde ... Kommen Sie? ... Ich will mich rasch fertig machen ...«

»Schön, in einer halben Stunde«, antwortete der Chef, der noch immer nicht recht wusste, ob Nathan Marius Duporc nicht – milde ausgedrückt – ein wenig »überarbeitet« wäre. Als er dann aber pünktlich zur verabredeten Stunde von Duporcs Cousine in das Wohnzimmer geführt wurde und dort Nathan bei seinem vierten Brötchen, seinem zweiten Ei und seiner fünften Tasse Tee antraf, und als der Kommissar ihm etwas ins Ohr flüsterte, weil die Cousine hartnäckig im Zimmer verblieb – sie hatte den Vetter geradezu ange fleht, ihr etwas über den schauerlichen Mord zu verraten! –, da betrachtete er die Notizen seines besten Beamten mit einem so starken Interesse, als hätte er eines der edelsten Produkte der Literatur, einen Detektivroman in optima forma, vor sich! Immer wieder stiess er einen leisen Fluch aus – immer wieder blinzelte er über seinen Kneifer weg dem Kommissar zu.

»Unglaublich! Unmöglich!« sagte der Vorgesetzte, dieweil er das Zimmer vollpaffte.

»Ach verrate mir doch auch mal was!« bat die Cousine beharrlich weiter, »ich höre ja doch so vieles, worüber ich auch nicht ein Wörtchen weitersage!«

»Die Sache ist die,« sagte der Kommissar mit unerschütterlicher Ruhe, »dass wir selber, liebe Anna, nur erst Vermutungen hegen, und solange eine Vermutung keine offizielle Gewissheit bedeutet, bleibt es immer bis zu einem gewissen Grade gefährlich, eine Beschuldigung auszusprechen.«

»Also dann nicht!« maulte die Cousine gekränkt und warf die Tür hinter sich zu.

Das gleiche taten ein paar Minuten später auch der Polizeichef und der Kommissar, und dann fuhren sie mit der Elektrischen von der Schlossstrasse nach der Sarphatistrasse, wobei sie sich auf dem Perron des Wagens flüsternd unterhielten. Und der Vorgesetzte interessierte sich so sehr für Duporcs Vermutungen, dass er ihn bis zu dem Hause der Witwe Menzel Polack begleitete und sich persönlich davon überzeugen konnte, wie die Beamten in der Sarphatistrasse, ohne irgendwie die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, auf ihren Beobachtungsposten standen, um gegebenenfalls Hilfe leisten zu können.

»Sie sind doch ein Teufelskerl!« sagte er beim Abschied. »In jedem Falle möchte ich heute noch von Ihnen hören ... Ich bin gespannt, ob Marseille ein Resultat bringen wird ... Auf Wiedersehen.«

*

Ruhig, als wolle er einen Anstandsbesuch abstatten, zog Duporc an der Klingel zur oberen Etage, in die er am Abend zuvor keinen Zutritt hatte erlangen können.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Strasse standen hinter einem leeren Handwagen zwei seiner besten Beamten, als Dienstleute verkleidet, bei ein paar Kisten. Und da sie sich mit diesen Kisten zu schaffen machten, wusste er bestimmt, dass die Witwe Menzel Polack noch zu Haus sein musste, weil die Instruktion dahin ging, dass die Beamten der Dame folgen und sie unablässig im Auge behalten sollten, falls sie ihre Wohnung verliesse (und dass Jaapje Eekhorn angehalten werden sollte, falls er sich in dieser Gegend sehen liesse).

Nathan Marius klingelte zum zweiten Male, aber erst nach dem dritten Male wurde die Türe vorsichtig halb geöffnet, und eine Stimme fragte zögernd, was er wünschte.

»Sie kennen mich, gnädige Frau«, sagte der Kommissar mit seinem liebenswürdigsten Tonfall. »Ich muss Sie leider einen Augenblick stören, weil ich die Kleinigkeit, die ich Ihnen in Dordrecht lieh, gerade jetzt infolge besonderer Umstände dringend zurückhaben muss ...«

»Können Sie nicht heute nachmittag oder morgen wiederkommen?« fragte die Stimme hinter der Tür; »ich bin gerade beim Anziehen und habe kein kleines Geld zur Hand ...«

Sie zitterte am ganzen Leibe, denn Jaapje Eekhorn, der sie vor einer Stunde angeklingelt und seine Bedingungen gestellt hatte, sollte punkt halb zwölf ...

»Ich bedaure unendlich, gnädige Frau, aber ich habe bestimmt damit gerechnet; ich werde Sie in einer Minute wieder verlassen, wenn Sie nur so ausserordentlich liebenswürdig sein wollten, mir die zwanzig Gulden oder vorläufig die Hälfte ... Ich bin augenblicklich in einer argen Klemme – Sie als vermögende Dame können das natürlich kaum verstehen ...«

»So treten Sie einen Augenblick näher«, sagte sie äusserst nervös, weil ihr der Besuch des Kriminalkommissars gerade jetzt so ungelegen wie möglich kam, »und warten Sie, bitte, hier unten, ich bin gleich wieder da ...«

»Verzeihung,« sagte er in sehr verändertem Ton, sobald er den Hausflur betreten hatte, »mit den zwanzig Gulden hat es keine Eile. Ich komme dienstlich ...«

Starr vor Schrecken setzte sie sich auf eine der Marmorstufen des kleinen Vestibüls. Und durch die zwei Worte »O Gott!«, die sie mit bebenden Lippen vor sich hinmurmelte, verriet sie mehr, als er zu vermuten gewagt hätte.

»Beruhigen Sie sich,« sagte er beschwichtigend, »ich möchte nur ein paar ganz harmlose Auskünfte erbitten ... Sie besuchten gestern abend in einem Wohnschiff einen gewissen ...«

Sie nickte.

Ihr Schicksal ereilte sie ...

Jetzt lieber gleich alles beichten und nichts mehr verbergen; hatte sie doch ohnehin schon um neun Uhr der Versicherungsgesellschaft mitgeteilt, dass sie sich geirrt hätte! Und auch mit der Polizei hatte sie telephoniert und gebeten, sogleich den zuständigen Behörden alles Erforderliche mitzuteilen, nachdem sich herausgestellt hätte, dass die von ihr gemachten Angaben über den gestohlenen Schmuck auf einem übrigens für sie sehr beglückenden Irrtum beruht hätten: ihre Gesellschafterin, die von Perlen und Diamanten keine Ahnung hätte, sei so ungeschickt – oder in diesem Falle besser gesagt: so geschickt gewesen, ihr die imitierten Steine mit auf die Reise zu geben und die echten im Safe der Bank zu deponieren – das hätte sie heute morgen, als sie ein paar Papiere aus diesem Safe gebraucht, von denen die Coupons abzuschneiden waren, zu ihrer natürlich masslosen Freude entdeckt. Wer hätte einen solchen glücklichen Zufall voraussehen können!

Diesen nicht ganz unglaubwürdigen Bericht hatte sie sowohl der Versicherungsgesellschaft wie auch dem diensthabenden Beamten auf dem Polizeipräsidium aufgetischt – und obwohl sie ihre Angaben stockend und äusserst nervös vorgebracht hatte, waren sie weder von dem Angestellten der Versicherungsgesellschaft, noch von dem Polizeibeamten auch nur einen Moment bezweifelt worden: die Gesellschaft freute sich natürlich ungemein darüber, dass sie nun keine Prämie auszuzahlen brauchte, und der Polizeibeamte war kreuzfidel, weil er sich über den (vermeintlichen) Reinfall des raffinierten Jan Tulp freute.

Soweit also hatte die Witwe Menzel Polack ihr schweres Vergehen einigermassen wiedergutgemacht. Nach menschlicher Berechnung konnte der weltliche Richter ihr nichts mehr anhaben. Aber trotzdem hatte sie nach dem bedenklichen Fehltritt, den sie ja doch begangen hatte, noch nicht ihr seelisches Gleichgewicht wiedererlangt – und als sie nun gerade daran war, die unechten Ohrringe und Ringe und das Kollier gegen eine erpresserisch hohe Summe von Jaapje Eekhorn zurückzukaufen, fühlte sie sich plötzlich Nathan Duporc gegenüber wieder schuldig, weil seine durchbohrenden Augen in ihre angsterfüllte Seele ebenso rasch einzudringen schienen, wie seine unverschämten Füsse in den Hausflur eingedrungen waren.

»Darf ich Sie freundlichst bitten, gnädige Frau,« sagte er so schonend wie möglich, weil er aus ihrer ganzen Haltung zu entnehmen glaubte, dass sie einer Ohnmacht nahe wäre, »darf ich Sie in Ihrem eigensten Interesse bitten, mich einen Augenblick hinaufgehen zu lassen? ... Ich komme zu Ihnen als Freund und als ein Mann, dem Sie alles anvertrauen können ... Wenn eine Dame aus Ihren Kreisen des Abends einem übelbeleumdeten, unter Polizeiaufsicht stehenden Kunden in seinem armseligen Wohnschiff einen Besuch macht, so tut sie das doch vermutlich nicht zu ihrem Vergnügen. Und Sie, gnädige Frau, dürften nach meiner bescheidenen Meinung einem Gelichter in die Hände gefallen sein, das nach alter Methode auf Erpressungen ausgeht ... Habe ich recht oder nicht?«

Sie nickte von neuem, aber da ihr Bewusstsein ohnedies nur noch an einem seidenen Faden gehangen hatte und ihr schwerer Kopf auch diese leise Nickbewegung nicht mehr vertrug, so ward es ihr nun, als wenn sie tief, immer tiefer in einen bodenlosen Brunnen stürzte – ohne Halt, ohne Rettung – tiefer, immer tiefer – Stunden und Stunden lang ...

Als sie wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Wohnzimmer auf dem Diwan, und vor ihr stand Nathan Marius Duporc und schnaufte wie ein Blasebalg. Er hatte sie wie ein Held die 37 Stufen hinaufgetragen. Sie wog 143 Pfund brutto, dennoch hatte er der Versuchung widerstanden, den edlen Frauenleib schon nach den ersten paar Schritten auf die Treppe sinken zu lassen, war mit einer gewaltigen Anspannung aller seiner Muskeln und seines Willens bis in das zweite Stockwerk gekommen und hatte die Bewusstlose auf den Diwan im Wohnzimmer gebettet.

Zum ersten Male in seinem Leben hatte der eingefleischte Junggeselle ein Weib mit wogendem Busen und üppigen Armen so eng an sich gepresst – wäre er etwas jünger an Leib und Seele gewesen, und wäre ihres Lebens Blüte weniger hart von mancherlei Stürmen zerzaust gewesen, so würde er vielleicht die »Essenz ihrer Seele von ihrem schmachtenden Munde« zu sich genommen haben, wie Hans Thyssen so schlicht und poetisch in einem seiner Werke gesagt hatte. So aber dachte er, sehr viel weniger poetisch, dass 143 Pfund Bruttogewicht für seine Körperkräfte eigentlich doch ein wenig zu viel wären. Und dann schickte er sich an, die Puderspuren von den Aufschlägen seines Gehrocks zu entfernen, als Adele Esther Menzel Polack aus dem Nirwana in die irdische Zeitlichkeit, aus dem Traum zum Leben zurückkehrte.

Sie betrachtete den Besucher eine Zeitlang mit noch ganz abwesenden Augen, zog dann mit einer hastigen Bewegung ihren Rock über eine Wade, die neugierig darunter hervorguckte, und tat schliesslich, was jede Frau unter so peinlichen Umständen getan haben würde: sie heulte los.

»Gnädige Frau,« sagte Duporc, der ihr Zeit lassen wollte, ganz zu sich zu kommen, und mittlerweile ihre luxuriös eingebundenen Bücher bewunderte, »ich bitte Sie, gnädige Frau, seien Sie doch ruhig!«

»Ach, es war ein solcher Albdruck«, sagte sie und wollte zur Erläuterung noch einiges in einer ihm fremden Bildersprache dienen lassen, was er aber nicht verstand; ihm war die Hauptsache, dass sie nur überhaupt sprach!

»Was hatten Sie in dem Schiff zu suchen?« fragte er und nahm sich einen Stuhl.

Gequält schaute sie auf die kleine vergoldete Standuhr. Und er deutete sich diesen Blick richtig und fuhr darum, während er seine eigene Uhr zog, ruhig fort:

»Um welche Zeit erwarten Sie den kleinen Schurken hier, der übrigens siebzehnmal vorbestraft ist?«

»Er kann jeden Augenblick hier sein«, antwortete sie so leise, als fürchtete sie, dass Jaapje Eekhorn schon lauschend hinter der Tür stehen könnte.

»Famos!« antwortete der Kommissar lächelnd; »aber solange er noch nicht hier ist, können Sie mir doch noch ein paar Auskünfte geben ...«

Dieselbe Geschichte, die sie an dem Morgen schon zweimal am Telephon erzählt hatte, kam nun mit allerhand kleinen Abweichungen noch einmal von ihren zitternden und bebenden Lippen; sie fühlte sehr genau, dass dieser Mann mit seinem scharfen Blick sie durchschaute und ihr nicht glaubte. Am Telephon war ihr der Schwindel erheblich leichter geworden, weil man sie nicht sehen konnte!

Er nickte nur schweigend ein paarmal und heuchelte grösste Anteilnahme – dann hatte er wieder ein liebenswürdiges Lächeln, mit dem er sie ermutigen wollte, noch mehr zu sagen.

Wenn sie am Tage vorher die Versicherungsgesellschaft und seinen Kollegen auf der Polizei über den angeblichen Irrtum der nicht vorhandenen Gesellschafterin aufgeklärt hätte, so würde auch er ihr vielleicht geglaubt haben. Nun aber war er dessen gewiss, dass sie erst nach ihrem Besuch in dem Wohnschiff zu dem Entschluss gekommen war, den »Irrtum der Gesellschafterin« zu entdecken. Trotzdem hütete er sich, etwas darüber zu sagen. Für ihn war es ja schliesslich auch die Hauptsache, den gerissenen Banditen zu fassen und auf Grund seiner Aussagen die letzten Schlüsse für seinen Rapport ziehen zu können.

»Also gestern hat er Sie angeklingelt? Woher wusste er denn Ihre Nummer?«

»Die hatte ich dem ...«

»... dem scharmanten Gesandtschaftssekretär gegeben?«

»Ja ...« gestand sie leise.

»Was sagte der Kerl?«

»Dass ich die Steine und die Perlen bei ihm einlösen könnte, und dass er, wenn ich nur ein Sterbenswörtchen davon lautwerden liesse. – Ach, genau weiss ich nicht mehr, was er sagte; ich war ja halb irre vor Aufregung.«

»Und wenn er Ihnen nun in dem Schiff zu nahe getreten wäre?« fragte Nathan Marius.

»Ich lasse mir nicht zu nahe treten!« sagte sie kühnlich; »ich hatte den Browning meines seligen Mannes zu mir gesteckt, einen Browning, der immer des Nachts unter meinem Kopfkissen liegt, weil bei den Nachbarsleuten schon mal etwas vorgekommen ist ...«

»Sie sind eine tapfere Frau«, lobte sie der Kommissar. »Also er bringt die falschen Steine hierher? Und gegen welches Lösegeld?«

»Achthundert Gulden ...«

»Darf ich mir die Nummern der Scheine notieren ...?«

»Ist das nötig?« fragte sie mit leisem Misstrauen, griff dann aber doch in ihren Busen, der so fest an dem seinen geruht hatte, und zog einen Umschlag mit Banknoten aus der Bluse hervor.

»Das sind ja tausend Gulden!« sagte er verwundert.

»Ich hatte ihm fünfhundert geboten – heute morgen hat er telephonisch um tausend ersucht. Für weniger könnte er's nicht machen. Aber ich wollte versuchen, ihn bis auf achthundert herunterzudrücken ...«

»Wenn er kommt, lassen Sie ihn ruhig in dieses Zimmer. Ich stelle mich versteckt auf, und wenn ich unerwartet dazwischenkomme, so kümmern Sie sich, bitte, weiter um nichts mehr. So, jetzt hätte ich die Nummern. Und jetzt muss ich mich noch rasch orientieren, wenn Sie gestatten ...«

»Aber bitte sehr«, antwortete sie nun sichtlich erleichtert.

In einem Augenblick hatte Duporc die Situation überschaut. Wenn er durch den Salon hereinkäme, konnte Jaapje Eekhorn, der als sehr geschmeidiger, aalglatter Geselle bekannt war, vielleicht noch versuchen, die Treppe hinunterzukommen. Da aber würde er den auf Posten stehenden Polizisten in die Arme laufen, die auch keine Kinder waren und ihre ganz genauen Instruktionen hatten.

Noch während Duporc seinen Schlachtplan überlegte, klingelte das Telephon.

»Da ist der junge Mann,« sagte der Kommissar, »er will sich erst noch rasch vergewissern. Jetzt ruhig Blut, gnädige Frau. Sagen Sie ihm, dass Sie ihn lieber in seinem Wohnschiff besuchen möchten, weil Sie Angst hätten, mit ihm allein in der Wohnung zu sein. Und wiederholen Sie immer laut, was er antwortet – Bitte, nehmen Sie jetzt den Hörer ab ...«

Das kurze Gespräch ging nun so:

»Hallo ... Ah, Sie sind es? ... Ich glaubte schon, Sie würden nicht mehr kommen ... Sie sind drüben im Zigarrengeschäft? ... Das ist aber dreist! Hätten Sie was dagegen, dass ich Sie unten treffe? Ich kann doch wirklich nicht so allein zu Hause ... Nein, wirklich, ich trau mich nicht! Bitte, lassen Sie mich doch herunterkommen ...«

»Zu ihm ins Wohnschiff ...« flüsterte Duporc, wie aus dem Souffleurkasten.

»Oder zu Ihnen ins Wohnschiff? ... Wie meinen Sie? ... Das ist gesunken? ... Ach, was für ein Pech! Aber zu Hause trau ich mich doch wirklich nicht! ... Nein, Herr – wie heissen Sie doch gleich? ... Ich bin mutterseelenallein ... Wirklich? ... Auf Ihr Wort? ... Also, dann läuten Sie zweimal, nein, dreimal ... Dann öffne ich von oben, und Sie bleiben unten hinter der Glastüre ... Wahr und wahrhaftig? ... Schön, dann aber nicht mehr als achthundert ...«

»Das haben Sie fein gemacht, gnädige Frau!« sagte der Kommissar ermutigend, »Frauen Ihres Schlages könnten wir bei unseren Recherchen brauchen: gewandt, gescheit, ohne Furcht vor Schusswaffen ...«

»Nebbich«, sagte sie, dieweil sie in grösster Aufregung nach dem gegenüberliegenden Zigarrengeschäft starrte.

Auch Duporc beobachtete es durch einen Spalt der Vorhänge. Und als sie ihre Lippen öffnete, um noch ein Wort zu sagen – es war ihr ganz unerklärlich, dass die Ladentür so fest geschlossen blieb –, fuhr er sie barsch an: »Mund halten! Nur hinschauen! Einen ängstlichen Blick! ... Nein, verdammt nochmal! Natürlich nicht zu mir hin! ... Mit der Stirn gegen die Fensterscheiben, sonst riecht er den Braten, und unsere ganze Mühe ist umsonst ... Ich werde schon reden ... aber sehen Sie nicht zu mir her. Der Schurke ist natürlich gar nicht in dem Laden. Glauben Sie etwa, dass dieses Gesindel sich solche Blössen gibt? Ich wette tausend gegen eins, dass er von dieser Seite der Strasse telephoniert hat ... Stimmt! Meine Leute, die all die Zeit untätig bei ihrem Wagen standen, fangen jetzt an, ihre Kisten aufzuladen. Also haben sie ihn gesehen. Klappt grossartig! ... Jetzt kommt er über die Strasse.«

»Wo?« fragte sie leise und gespannt.

»Nicht fragen!? ... Nicht bewegen!« zischte Duporc. » Sie sieht er, mich nicht! ... Sie kommen zu zweien ... alle Wetter nochmal!«

Seit undenklichen Zeiten hatte er sich nicht so unparlamentarischer Ausdrücke bedient. Die Geschichte wurde spannend! Zwei Männer gingen quer über die Strasse, sahen sich erst die Geschäftsauslagen an und versuchten dabei anscheinend, durch die Spiegelung der Schaufenster die obere Etage, der sie den Rücken zukehrten, zu beobachten. Dann schaute sich der Grössere von den beiden vorsichtig um.

»Recht so!« sagte Duporc beinahe vergnügt; »der zweite ist David der Stelzvogel, eben erst entlassen. Der wird Schmiere stehen. Gerissene Burschen! ... Rühren Sie sich nicht! ... Verhalten Sie sich ganz ruhig. Meine Leute sind soeben mit dem Aufladen fertig geworden und ziehen nun mit ihrem Wagen in der Richtung nach dem Weesper Bahnhof los ... Geschicktes Manöver ... Jetzt schaut Jaapje herauf ...«

»Ist das ...?«

»Mund halten! ... Jawohl! ... Der Laufbursche mit dem Henkelkorb am Arm, der sich jetzt wieder suchend umsieht, als könnte er die Hausnummer nicht finden, ist unser Freund ... Mir scheint, dass er Ihnen zu Ehren sich einen falschen Schnurrbart angeklebt hat. Sonderbare Freunde hat Ihr Gesandtschaftssekretär, das muss ich sagen ...«

»Machen Sie doch jetzt keine Witze«, sagte sie ganz bleich vor Nervosität, aber sie hatte noch gerade genügend Selbstbeherrschung, um sich nicht nach ihm umzusehen.

»Nicht sprechen! Nicht bewegen!« rief Duporc heftig, denn Jaapje Eekhorn, dessen schläfrige Augen jetzt unter dem Schirm der Mütze genug ausbaldowert zu haben schienen, liess nun den langen Schlingel im Stich, der mit den Händen in den Hosentaschen vor dem Zigarrengeschäft stehen blieb, ging wieder schräg über die Strasse in derselben Richtung wie die Dienstmänner, an deren Wagen etwas entzwei zu sein schien, und läutete zweimal.

»Nicht zu schnell!« sagte Nathan Marius Duporc. »Er kommt sicher herauf, auch wenn Sie ihn hundertmal bitten, unten hinter der Tür zu bleiben. Dann gehen Sie hier in das Zimmer zurück und geben Sie die Türöffnung frei ... Und verhandeln Sie ganz ruhig, sehen Sie mit keinem einzigen Blick nach der Tür des Wohnzimmers, hinter der ich mich aufstelle ...«

Diese Frau war in der Tat wie geschaffen zur Polizeibeamtin! Von dem Augenblick an, in dem sie von oben die Haustür öffnete, zeigte sie in all ihren Bewegungen vollkommene Ruhe.

Die Tür fiel dröhnend ins Schloss, und – genau, wie es Duporc vorausgesagt hatte, hielt sich der dreiste Kerl nicht an die Verabredung!

Ruhig schloss er die Tür hinter sich zu, und dann sprang er trotz aller Proteste der Frau, die ganz in ihrer Rolle blieb, zwei, drei Stufen auf einmal die Treppe hinauf.

Seinen Korb hatte er unten im Hausflur gelassen; die Hände staken in den Hosentaschen.

»Jetzt bitte ich Sie um alles in der Welt! Nennen Sie das etwa hinter der Tür bleiben?« fragte Frau Menzel Polack ängstlich und wich zurück.

Jaapje Eekhorn folgte ihr schweigend ins Wohnzimmer, schaute sich mit Späheraugen um, zog sicherheitshalber und für alle Fälle die Schnur des Telephonapparates aus dem Steckkontakt und öffnete, ehe die Frau, der das Herz bis in den Hals hinauf schlug, es auch nur vermuten konnte, plötzlich die Tür zum Salon, liess seine Augen durch das Speisezimmer gehen und bückte sich sogar, um unter die tief herabhängende Tischdecke zu sehen.

Das war ein ganz gerissener Junge! Wer dem über sein wollte, musste früher aufstehen!

»So!« sagte er dann und machte die Tür zum Salon wieder zu. Und dann sprach er zu der Frau, aus deren weitgeöffneten Augen die ungeheuchelte Angst über das rätselhafte Verschwinden des Kommissars blickte: »Also, nun wären wir endlich allein. Darf ich Sie bitten – obwohl ich hier weniger zu Hause bin als in meinem Wohnschiff, Gott hab es selig –, darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen?«

Er ging selber mit gutem Beispiel voran, stellte aber seinen Stuhl wohlbedacht so geschickt auf, dass er sowohl die leichenblasse Dame des Hauses wie das andere Zimmer und endlich auch die Tür des soeben von ihm inspizierten Speisezimmers und die Treppe genau im Auge behalten konnte.

»Wo sind die Steine und die Perlen?« fragte sie, und unwillkürlich flüsterte sie nur, als ob sie Indiskretionen von Gott weiss wo lauschenden Horchern befürchtete.

»Erst muss ich das Geld in der Hand haben«, antwortete er; »und zwar ein bisschen rasch, denn ein Genosse wartet unten auf mich. Wenn ich einen Vorhang herunterlasse, ist das für meinen Freund das Zeichen, unten zu schellen. Ich lasse ihn genau so herauf, wie Sie mich hereingelassen haben. Also bitte, zählen Sie mir das Geld auf den Tisch des Hauses und ersparen Sie uns alle weiteren Geschichten und Bedingungen!«

»Legen Sie erst mein Eigentum auf das Tischchen dort, sonst gebe ich keinen Cent her!« sagte sie tapfer.

»Ich möchte eine wohlgemeinte Warnung aussprechen«, entgegnete er; »ich bin nicht willens, mir mein Konzept verderben zu lassen! Ich habe bewiesen, dass ich Ihnen vertraue, denn ich habe mich persönlich hierher bemüht, wovon mir jeder Fachmann mit einiger Erfahrung abgeraten haben würde. Wenn Sie mir jetzt nicht genügend trauen, um die 1200 Gulden vor mir aufzuzählen ...«

»Zwölfhundert? ... Sie sagten tausend ...«

»Möglich, bestreite ich auch gar nicht. An der Börse rasen die Effekten in fünf Minuten oft sprungweise um mehr als zwanzig Prozent in die Höhe, sobald gute Nachrichten einlaufen. Je länger ich auf diesem übrigens recht bequemen Stuhl warten muss, um so stärker werden die Kursschwankungen. Also bitte – fangen Sie jetzt an zu zählen, oder nicht?«

»Und mein Eigentum ...?«

»Sollen Sie sofort haben, obgleich es klüger wäre, wenn ich es Ihnen erst nach 24 Stunden zuschickte.«

»Nein!« sagte sie bestimmt; »Zug um Zug!«

»Sehr schön!« sagte er, schob seinen Stuhl zurück und schritt, ohne sie aus den Augen zu lassen, auf das Fenster zu. Er schaute hinaus und erschrak sichtlich, denn David der Stelzvogel auf der gegenüberliegenden Seite der Strasse steckte sich eine Pfeife an – ein bedenkliches Zeichen! Es musste also in der Sarphatistrasse nicht geheuer sein!

Mit einem einzigen Sprung war Jaapje Eekhorn an der Korridortür. Er war bleich vor Wut.

»Wenn Sie mich etwa reinlegen wollen, Sie Hochstaplerin, Sie Verbrecherin«, schrie er wie toll, »so gebe ich Ihnen mein Wort drauf, dass Sie genau so reinfallen sollen wie ich, und dass Sie hier so in der Klemme sitzen, dass Sie nicht lebendig aus meinen Klauen kommen! ... Das Geld her ... Vorwärts ...!«

»Ich habe die Polizei nicht verständigt«, verteidigte sie sich, während er, aufs schärfste gespannt, die Ohren spitzte und auf jedes Geräusch im Korridor achtete. »Und hier sind die tausend Gulden ...«

Wie ein Raubtier stürzte er sich auf das Geld und riss es an sich; aber im gleichen Augenblick ertönte auch schon hinter ihm die freundliche Stimme des Nathan Marius Duporc: »Hände hoch, Jaapje! Hände hoch, oder ...«

»Schwein!« kreischte Jaapje Eekhorn und blickte die Frau vernichtend an, so wie es die betrogenen Gatten in französischen Ehebruchsdramen zu tun pflegen.

Hätte er Zeit gehabt, so hätte er zweifellos auf dieses »Schwein« noch eine Reihe anderer, nicht minder deutlichere Ehrentitel folgen lassen. So aber warf er, ohne auf den Befehl »Hände hoch« zu achten, mit der Behendigkeit eines Taschenspielers dem Gegner die Tischdecke über den Kopf. Der zögerte keine Sekunde – es fiel ein Schuss, es fiel eine Frau vor Schrecken um – aber der Erpresser war verschwunden. Und weil er Davids Zeichen vor dem Zigarrengeschäft so aufgefasst hatte, als könne auch unten »dicke Luft« sein, so kletterte er mit einer geradezu verblüffenden Geschicklichkeit die Bodentreppe empor, versuchte einen nach der Hinterseite des Hauses gehenden Fensterladen aufzureissen, riegelte, als ihm das nicht glückte, kurz entschlossen das Fenster einer nach der Sarphatistrasse hinausgehenden unbewohnten Dienstbotenkammer auf und flüchtete auf das Dach.

Duporc, der erst fälschlich nach unten gerannt, dann über den Korb gestolpert war, endlich auch noch durch das Aufschliessen des Hauses Zeit verloren hatte, alarmierte die beiden Geheimpolizisten, die wartend vor der Türe standen. Und während dann der eine Hilfstruppen holte und der ganze Häuserblock im Handumdrehen durch uniformierte Beamte abgesperrt wurde, unternahm der Kommissar mit dem andern eine abenteuerliche Reise über die Dachrinnen und die Häuser.

Das war an sich schon nicht ungefährlich, wurde aber für den wohlbeleibten Kommissar auch noch deshalb besonders unerquicklich, weil die Strassenreinigung sich wohl um die Rinnsteine unten, doch nicht um den Schmutz auf den Dächern kümmerte.

Nathan Marius Duporc, der alles zu beobachten gewohnt war, wunderte sich nebenher über die ungeheure Menge von Haarbüscheln in lauter verschiedenen Farben, Mandelschalen, Apfelsinenresten, Fetzen Stanniolpapier, die in Schlamm und zusammengewehte Blätter geradezu eingebettet lagen. Der Vorteil bei dieser ganzen Geschichte war, dass sich die Spur des Entkommenen auf dem wenig begangenen Boden ausserordentlich scharf abzeichnete, der Nachteil, dass man nach allen Seiten hin scharf aufpassen musste, um nicht herunterzustürzen.

Vor der Dachluke eines Kontorraumes hörten die Fussabdrücke plötzlich auf.

»Also hier ist er hineingegangen«, sagte der Geheimpolizist, hielt sich mit der Hand an der herausgesteckten Fahnenstange fest, beugte sich über den Dachgiebel und rief hinunter: »Hallo, aufgepasst!«

Von unten aber stieg das murmelnde Stimmengewirr einer Menschenmenge empor, die ohne Entree einem interessanten Schauspiel beizuwohnen hoffte. Im Film konnte man es ja nicht besser haben.

Eine ganze Strecke weit war die Strasse abgesperrt, und auch auf verschiedenen anderen Dächern sah man Schutzleute, die zur Hilfe herbeigeeilt waren, weil die wahnsinnigsten Gerüchte umliefen: Ein Schuss sollte gefallen sein. Die Einbrecher oder Mörder sollten scharenweise auf den Dächern sitzen, und das am hellerlichten Tage ...

Nathan Marius Duporc kletterte an das Bodenfenster heran, von dem aus ein dienstbarer Geist mit grösster Aufmerksamkeit seine gymnastischen Uebungen verfolgte, zeigte seine Marke, erhielt gnädigst die Erlaubnis, über ein noch nicht gemachtes Bett zu steigen, und begab sich dann auf die Strasse, um weitere Instruktionen zu erteilen.

Das Haus, in dem das Kontor lag, wurde von oben bis unten durchsucht, ebenso die benachbarten Häuser: Jaapje Eekhorn war verschwunden.

Endlich wurde, nach stundenlangem, vergeblichem Suchen, die Strasse wieder für den Verkehr freigegeben, und nur ein paar Geheimpolizisten blieben unauffällig auf ihrem Posten.

»Wie schrecklich«, sagte die Witwe Menzel Polack, die aus ihrer zweiten Ohnmacht erwacht war und dem Himmel dafür gedankt hatte, dass die Sache so ohne viel Aufsehen verlaufen war! »Ich gehe heute nacht nicht zu Bett ... der Mann wird mich morden ... der Mann kommt bestimmt durch das Dach herein ... Der Mann ist imstande, mir Gewalt anzutun und das ganze Haus in Brand zu stecken ... Ich zittre am ganzen Leibe, wenn ich nur an ihn denke ... Ich sterbe, wenn Sie mich allein lassen.«

Duporc versuchte, ihr Mut zuzusprechen, allein ihre Nerven waren derart überreizt, dass sie bei jedem Geräusch von der Strasse aufschrak, zusammenfuhr, wenn geklingelt wurde, und sich nicht traute, den Hörer aufzunehmen, wenn das wieder eingeschaltete Telephon läutete.

Duporc gab die Sache noch nicht auf. Seine ganze Karriere hatte er seiner Polizeihundnatur, seiner zähen Ausdauer zu verdanken. Ganz allein kletterte er zum zweiten Male bis an das Bodenfenster, und jetzt, da er nicht gehetzt war, nicht aufs Geratewohl losrennen musste, während er sich auf die Lippen biss, weil das kleine Scheusal ihm über gewesen war, ihm einen Streich gespielt hatte, jetzt durchforschte er von neuem das Dachterrain, nun aber mit der überlegenen Ruhe eines Dominospielers, der durch die schwarzen Rücken der Steine hindurch die Punkte der Gegenpartei berechnet.

Es war die grösste Wahrscheinlichkeit, dass der bisherige Bewohner der »Rustenburch« mit seinem Raub in der allgemeinen Verwirrung auf die eine oder andere Art entkommen war, vielleicht sogar schon in irgendeinem Zuge sass. Eine der Hundert-Gulden-Banknoten sofort zu wechseln, würde er sich wohl gehütet haben, denn da die Kriminalpolizei ihn in diesem Hause angetroffen hatte, konnte er damit rechnen, dass die Nummern der Scheine notiert waren. Es bestand darum immer noch eine ganz kleine Chance, dass der mit allen Wassern gewaschene Halunke sich vielleicht doch noch irgendwo zwischen den Dachtraufen versteckt hielt, um dann erst gegen Abend zum Vorschein zu kommen.

Dieses letzte Moment durfte nicht übersehen werden.

»Wenn ich ihn nicht zu fassen bekomme«, dachte der einsame Forscher vor dem Dachfenster, »so habe ich einen meiner besten Trümpfe verloren – da hätte ich mich also ins eigene Fleisch geschnitten, als ich ihn gestern abend in seinem Wohnschiff unbehelligt liess.«

Nach dieser Betrachtung zündete sich der schlaue Kommissar in der Dachrinne eine frische Zigarre an.

Vor der Dachluke des Kontors hörte die Spur der Fussabdrücke auf. In jenem Bodenraum, in dem eine Anzahl verschlossener Archivschränke stand, war nichts entdeckt worden; die Luke war von innen mit einem Hängeschloss verschlossen gewesen.

Also war der kleine Spitzbube, der in seiner Art eine ebenso »vortreffliche Nummer« war wie Jan Kikker, genannt René Rana, entweder über die Dachrinnen weitergeklettert, oder er musste durch das gleiche Bodenfenster verschwunden sein, durch das er, der Kommissar, mit freundlicher Genehmigung des alten dienstbaren Geistes hereingeklettert war.

Ruhig stieg Duporc wieder herunter, wurde von der Witwe Menzel Polack mit einem ängstlichen Aufschrei und dem verrosteten Revolver (der immer noch nicht konfisziert war) empfangen und rief, nachdem er sie zum soundsovielten Male beruhigt hatte, die Kriminalpolizei an.

»Sie sprechen mit Siebenstern«, sagte er in seiner Geheimsprache, »ich bin noch immer hier in der Sarphatistrasse bei Frau M. wie Maria, P. wie Peter. – Schicken Sie mir Nummer Drei hierher mit Tommy ... ich warte hier ... Schluss!«

»Wen bestellen Sie?« fragte ängstlich die Dame, die ihr soundsovieltes Stück Zucker mit Hoffmannstropfen zerknabberte.

»Einen meiner besten Freunde, der sich durch philosophisches Schweigen auszeichnet«, erklärte er. Und bei einer Tasse Kaffee, die sie ihm eingoss, und einem Stück Butterkuchen wartete er nun, bis es klingelte und dann Etwas plötzlich in beängstigendem Tempo die Treppe herauf gestürmt kam: ein riesengrosser deutscher Polizeihund!

»Mein Freund Tommy!« stellte Duporc vor.

»Wie in Gottes Namen ist das möglich?« sagte die Witwe; »wie kommen Sie nur auf solche genialen Einfälle?«

Mit der halb aufgerauchten Zigarre in der Hand – der Mann konnte keine Nerven haben, denn die Asche haftete noch in einem Stück daran! – sprach der Kommissar auf den wedelnden Hund ein, der sich auf das Kommando »Kusch!« sofort zu seinen Füssen niedergelegt hatte.

Duporc befahl dem Hunde, Jaapje Eekhorns Korb zu beschnüffeln, wies ihm die nach oben führende Treppe und stand selbst einen Augenblick später mit Tommy, der keinen Augenblick zögerte, wieder vor der verschlossenen Luke, die das Tier beschnüffelte, ohne sich besonders aufzuregen. Vor dem Fenster, von dem aus der dienstbare Geist die Vorgänge auf dem Dach verfolgt hatte, knurrte der Hund und begann, mit den Vorderpfoten zu graben.

»Kusch!« sagte Duporc und schaute durch das geschlossene Fenster nach innen. Dasselbe noch nicht gemachte Bett, das er bereits einmal gesehen hatte. Zwei Stühle mit Decken und Laken. Acht nackte Stuhlbeine, ein noch nicht in Ordnung gebrachter eiserner Waschtisch, eine offenstehende Schranktür, eine kleine Wanduhr.

Der Hund knurrte leise weiter. Es war nicht daran zu zweifeln: durch dieses Fenster musste Herr Jaapje Eekhorn verschwunden sein. Aber anwesend war er bestimmt nicht mehr.

Danach nahm Duporc vor dem Hause in der Sarphatistrasse eine zweite Spur auf.

Das Tier fand gleich den rechten Weg, rannte in den Laden, von dem aus Jaapje telephoniert hatte, setzte quer über die Strasse, lief an dem Zigarrengeschäft vorbei und entdeckte David, den Stelzvogel, der an einer Litfasssäule stand und die Plakate studierte.

Nathan Marius Duporc beachtete den Mann nicht, ging unauffällig an ihm vorüber und kehrte pfeifend zum Hause der Witwe zurück.

Er hätte es auf seinen Eid genommen, dass der Entflohene sich noch innerhalb dieses Häuserblocks befinden musste ...

Tommy wurde dem unten wartenden Polizisten anvertraut, und der Kommissar, der ruhig dahinschlenderte, als ob ihn die Sache gar nicht mehr interessiere, trat langsam in den Zigarrenladen, kaufte sich eine Manila und fragte dann so nebenher, wer denn eigentlich in dem Haus mit den lachsfarbenen Vorhängen wohne.

Darauf suchte er im Telephonbuch die Nummer und wurde nach dem üblichen falschen Anschluss mit dem Rechtsanwalt verbunden, der das Haus bewohnte.

»Es wäre mir sehr lieb«, sagte er, nachdem er sich vorgestellt hatte, »wenn Sie in dem Zigarrengeschäft gegenüber ein paar Zigarren kaufen würden; ich muss Ihnen etwas Vertrauliches mitteilen und habe meine Gründe dafür, nicht persönlich zu Ihnen zu kommen. Ich werde Ihnen das alles mündlich erklären ...«

Zunächst machte der andere einige Einwendungen; aber endlich kam der Rechtsanwalt, den die Neugierde plagte, doch über die Strasse.

»Ich höre, dass Sie um ½3 nach Hause gekommen sind, und dass die gnädige Frau bettlägerig ist ...?«

»Das stimmt«, sagte der Advokat, »aber warum fragen Sie mich hier auf so geheimnisvolle Art danach?«

»Hat Ihr Dienstmädchen – eine Aushilfe, wie ich ebenfalls erfuhr – Ihnen, als Sie nach Hause kamen, erzählt, dass auf der Strasse ein grosser Auflauf war, dass man einen Verbrecher verfolgte und dass mehrere Polizeibeamte über Ihr Dach heruntergekommen sind?«

»Nein, kein Wort ... Ich fragte sie noch, ob was Besonderes vorgefallen sei – und da meinte sie: »Nein!«

»Dann gestatten Sie mir wohl, dass ich Sie begleite, ohne dass Ihre Aushilfe mich eintreten sieht. Ich glaube, ich erweise Ihnen damit einen guten Dienst. Sobald Sie mich in Ihre Wohnung hineingelassen haben, schicken Sie die Person unter irgendeinem Vorwand weg, und ich verhafte den jungen Menschen, der sich bei Ihnen versteckt halten muss, ohne dass Ihre Frau Gemahlin auch nur das geringste davon merkt ...«

»Sie glauben?« sagte der Rechtsanwalt erstaunt.

So kam Nathan Marius Duporc unhörbaren Schrittes in das hochherrschaftliche Haus, und während das alte Dienstmädchen zur Post geschickt wurde, um ein paar Marken zu holen, ging er auf den Gummischuhen des Hausherrn hinauf und durchsuchte vollkommen geräuschlos die im zweiten Stockwerk des Hauses gelegenen Zimmer.

Ohne Erfolg!

Der Herr, der ihm in Hausschuhen auf Schritt und Tritt folgte, lächelte über die Ideen des Besuchers.

Weder auf dem Boden, noch in der Dienstbotenkammer, noch in der Rumpelkammer war etwas Verdächtiges zu finden. Ueber dem Boden war eine Luke verriegelt. Dort konnte sich niemand aufhalten, oder es hätte jemand von aussen den Riegel vorlegen müssen.

Duporc legte den Finger auf die Lippen, weil der Herr des Hauses im Begriff war, etwas zu sagen.

Behutsam hob er die Luke empor, spähte um sich, sah nichts.

Das tiefe Dachgeschoss zog sich über die ganze Breite der Wohnung hin.

An der Vorderseite hing die Schnur der hineingezogenen Fahnenstange.

Weiter hinten, im dämmrigen Dunkel, standen Kisten und alte Möbel, ein verschlissener Sonnenschirm lag da und lauter Gerümpel, an dem schon die Ratten und Mäuse genagt haben mussten, denn der Boden war mit den Fasern von zerfressenem Papier bedeckt.

Dem auf so mysteriöse Art in seiner ersehnten Ruhe gestörten Rechtsanwalt wurde die Sache nun zu dumm. Er sprang nach dem Boden zurück und sagte sehr unangebracht: »Legen Sie den Riegel nur ruhig wieder vor, Verehrtester. Sie sehen ja, hier hält sich kein lebendes Wesen auf, weder hier, noch im ganzen übrigen Dachgeschoss.«

Duporc stiess den Advokaten mit dem Fuss an, um ihn zur Ruhe zu mahnen. Und weil der sich auf so unsanfte Weise angegriffen fühlte, bekam er, der erst so freundlich gewesen war, ihm die Haustür aufzuschliessen, den Eindruck, dass Nathan plötzlich verrückt geworden wäre.

Der Mann, der mitten auf den Stufen zum Dachgeschoss stand, sprach plötzlich mit donnernder Kommandostimme: »Ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gefragt! Bleiben Sie auf dem Posten! Und Sie, van Zanten, stehen Sie nicht so verschlafen da! Und beim geringsten Widerstand schiessen Sie ihn über den Haufen! Pardon wird nicht gegeben!«

Gerade wollte der Herr des Hauses hinunterflüchten und die Bodentür hinter sich zuwerfen, da besann er sich eines Besseren, weil der Kriminalkommissar ihm durch eine Handbewegung zu verstehen gab, dass er jetzt wirklich was gefunden hätte. Und schon griff er nach seinem Browning und begann höchst liebenswürdig in den obersten Bodenwinkel hineinzureden.

Das allein würde aber noch nicht überzeugend genug gewirkt haben, wenn nicht in der Tat in dem entlegensten Winkel über dem Kopf des Juristen ein Gegenstand plötzlich umgefallen wäre.

»Nun, mein bester Jaapje«, sagte Duporc, der plötzlich wieder ganz obenauf und infolgedessen äusserst lustig war, »nun, mein verehrter Freund, wie wär's, wenn Sie Ihr Versteckspiel jetzt lieber aufgäben? Ich sehe Sie ganz genau; aber ich würde Sie ganz bestimmt nicht bemerkt haben, mein Teurer, der Sie mich jetzt schon mehr als drei Stunden lang in Atem halten, wenn Sie nicht infolge Ihrer alten Liebhaberei wieder mehrere Goldmundstücke so hübsch geordnet neben die Kiste gelegt hätten. Soviel Rauchen kann auf die Dauer nicht gesund sein, Jaapje ... Und jetzt kommen Sie zum Vorschein, ehe ich bis fünf zähle! Hände hoch, und nichts aus den Taschen zurücklassen oder verstecken! Ich habe jetzt das Spiel satt! – Aufgepasst, Leute! Ich gehe jetzt auf den Dachboden und fange an zu zählen: Eins ... zwei ... drei ...«

Oben fiel eine Kiste um, und man hörte Schritte.

»Mahlzeit!« sagte Jaapje Eekhorn, und sein Japanesengesicht zog sich zu einem Grinsen so zusammen, dass seine Augen aus dem klein gewordenen Antlitz gerade nur noch wie ein paar verirrte Rosinen in einem gelben Pudding sichtbar blieben.

»Hände hoch, mein Sohn!« sagte Duporc, während er ihn innig umarmte. Mit geschickter Bewegung kam er dann hinter den kleinen Spitzbuben zu stehen, band ihm beide gar nicht weiter widerstrebenden Hände mit Handfesseln auf den Rücken und machte mit einem ebenso flinken Griff die Hosenträger seines Schlachtopfers los, da er aus langjähriger Erfahrung wusste, wie schwierig und genierlich es war, weiterzulaufen, wenn die Anziehungskraft der Erde auf ein paar lose Beinkleider wirkte.

Jaapje Eekhorn war vernünftig genug, einzusehen, dass diese force majeure jedes weitere Abenteuer ausschloss, und begnügte sich mit neuerlichem breiten Grinsen.

»Sie gestatten«, sagte Duporc, während der jetzt neugierig gewordene Rechtsanwalt den Kopf durch die Luke der Bodenkammer steckte, »dass ich in Ihrer Tasche rasch Inventur mache ... Sehen Sie mal an, Sie leichtsinniger junger Mann ... Sie haben also auch das Gesetz über Waffentragen übertreten ... Ihr Browning ist gar nicht übel! ... Ein Walther Nr. 67 999, wo haben Sie denn den mitgehen heissen? ... Aha, sehr schön, die Hundert-Gulden-Scheine, deren Nummern mir bekannt sind, auch noch komplett vorhanden! ... Und in diesem kleinen Etui ohne Firmennamen stecken wahrscheinlich die bewussten Diamanten und Perlen ... Ihre Brieftasche werde ich aufs sorgfältigste verwahren, und den Rest Ihres Inventars kontrolliere ich dann später, wenn ich etwas mehr Ruhe habe ... Und nun vorwärts, bitte! Aber vergessen Sie nicht, dass ich im Augenblick zwei Brownings besitze, und dass Ihnen für jeden Schritt vom rechten Wege eine wohlgezielte Belohnung sicher ist!«

»Mein Kompliment!« sagte der Herr des Hauses unten an der Haustür, während Jaapje, immer noch mit dem allerfreundlichsten Grinsen, das telephonisch herbeigerufene Auto bestieg, »es wird mir ein Vergnügen sein, später noch Näheres über diese Angelegenheit zu erfahren ...«

»Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung«, antwortete Duporc, »schicken Sie, wenn ich bitten darf, Ihren dienstbaren Geist in einer Stunde zu mir. Sie muss mir noch ein paar Auskünfte geben.«

Das Auto fuhr zum Polizeibureau, und die Witwe Menzel Polack, die ebenfalls telephonisch verständigt worden war, seufzte erleichtert und ganz überglücklich so laut auf, als hätte sie infolge all der ausgestandenen Aufregung Herzbeklemmungen bekommen.

Nathan Marius Duporc, der alle äusseren Formen in derartigen Fällen trefflich beherrschte, steckte sich eine neue Zigarre an und hatte für seinen Gefangenen Eekhorn kein Wort übrig, bevor sie an das Ziel ihrer Fahrt gekommen waren. Da aber wurde er gemütlich, liess dem Arrestanten, human wie er war, erst eine Tasse Kaffee und zwei belegte Brötchen bringen, schloss dann die Tür von innen sorgfältig ab und plauderte nun los: »Sie werden sich nach diesem kleinen Imbiss sicherlich etwas wohler fühlen, und weil jeder Mensch, vornehmlich aber ein so besonders intelligentes Exemplar wie Sie, doch wohl das Bedürfnis empfindet, sich nach einem so aufregenden Abenteuer erst mal mit einem rechtschaffenen Mitmenschen ein bischen auszusprechen, so gebe ich Ihnen hierzu ganz unter uns Gelegenheit, ehe wir Ihnen offiziell auf Staatskosten Kost und Logis geben müssen. Sitzen Sie auch bequem, solange Sie noch nicht unbequemer sitzen müssen? Eine Zigarre gefällig?«

Jaapje Eekhorn grinste noch immer und schwieg hartnäckig und beharrlich. Er prüfte erst mit Kennermiene die Zigarre, taxierte die Preislage, biss dann leidlich befriedigt die Spitze ab, spuckte sie aus, zündete bedachtsam ein Streichholz an und zwinkerte, während er den Rauch durch die zugespitzten Lippen blies, dem Kommissar verschmitzt zu, der so väterlich mit ihm umging, aber dabei vor der gefügig-philosophischen Haltung des Arrestanten einen Augenblick in Gefahr kam, die Leitung der Begebenheiten aus der Hand zu verlieren.

Aber Duporc schwankte nur einen Augenblick. Er kannte seine Pappenheimer.

»Es tut mir wahrhaftig leid, junger Mann«, fuhr der Kommissar fort, »dass wir unsere alte Bekanntschaft gerade auf diese Weise fortsetzen müssen, und die kleine Connie vom Notar, die längst ein Auge auf Sie geworfen hatte, aber viel zu sehr Weib ist, um sich das merken zu lassen, hat hier heute morgen bitterlich geweint, weil sie ihren Freund nun so lange Zeit nicht wiedersehen wird.«

Das sass. Der schmerzende Nerv war berührt worden. Jaapje sah das muntere hübsche Mädel in ihrem baumwollenen Kleidchen plötzlich greifbar deutlich vor sich. Für ein niedliches Tippfräulein mit verschleierten grauen Augen hatte er das erste Mal in einem Juweliergeschäft einen kleinen Ring gestohlen – für eine Choristin aus dem Metropoltheater hatte er sich in einem Modemagazin eine Boa und ein halbes Dutzend Handschuhe zu eigen gemacht – und bei weiterem Fortwandeln auf dem Pfade der Sünde hatten ihn bald blaue, bald schwarze, bald schmachtende, bald stechende Frauenaugen dazu getrieben, in lyrischen oder platonischen Stimmungen die Gesetze der menschlichen Gesellschaft zu übertreten und nur denen der Natur zu folgen, wenn er für die Frau, das Weibchen, eine kleine Ueberraschung – einen blitzenden Stein, eine Hutfeder oder was sonst – ins Nest schleppte.

Hätte es auf der Welt keine liebespendenden Frauen gegeben, so wäre Jaapje die Freude seiner Mutter und der Trost seiner Familie geworden – so aber lockten ihn jedesmal vor den vielen Verurteilungen immer wieder ein Paar reizende Augen zum Verbrechen.

»Mein Junge«, fuhr Nathan Marius Duporc fort, nachdem er eine Weile schweigend geraucht hatte; »ich habe schon viele Menschen kennengelernt und dann einfach mit eiserner Strenge meine Pflicht getan. Aber bei Ihnen wird mir das verhältnismässig schwer, weil Sie mir eigentlich ganz gut gefallen. Wären Sie nicht so früh mit allerlei schlechtem Gesindel in Berührung gekommen, und wären Sie nicht, allzu frühreif, so sehr auf die Weiber versessen gewesen, so brauchten wir beide uns jetzt nicht hier gegenüber zu sitzen. Wie schmeckt Ihnen übrigens die Zigarre? Hat der Schreck Sie taubstumm gemacht? ... Ein Jammer ... Wann haben Sie Ihre Mutter zum letztenmal gesehen?«

Dieses Mal hatte der Kommissar eine sehr empfindliche Stelle getroffen. Der Patient kaute so wild an seiner Zigarre, dass sich das Deckblatt ablöste. Das Grinsen verschwand, wie sich eine Schnecke in ihr Häuschen zurückzieht, wenn man es von aussen berührt, und über die Züge des Verbrechergesichts glitt ein Schatten, wie er sich so manches Mal über einen im tiefsten Grunde seines Herzens noch nicht ganz verdorbenen Menschen herabsenkt, wenn er in aller Hässlichkeit des von ihm gewählten Daseins plötzlich einen Rest besserer Gefühle verspürt. Zum ersten Male seit seiner Verhaftung in der Mausefalle der Sarphatistrasse öffnete Jaapje Eekhorn, der sich fest vorgenommen hatte, keinen Laut von sich zu geben, die Lippen.

»Das ist meine Sache«, sagte er unwirsch. Seine Augen, in denen jetzt nicht mehr der Abglanz des krampfhaften Lächelns lag, richteten sich auf seinen rothaarigen Peiniger und liessen erkennen, dass er ihn am liebsten auf der Stelle ermordet hätte.

»Nein, mein Freund«, sagte Duporc verbindlich; »vermutlich ist das auch unsere Sache; denn ich nehme an (und ich möchte wetten, dass ich den Nagel auf den Kopf treffe), dass Sie diese arme Frau, der Sie in Ihrem Leben mehr Kummer als Freude gemacht haben, noch heute morgen vor 12 Uhr unter ungewöhnlich dramatischen Begleitumständen gesehen haben. Ich an Ihrer Stelle würde lieber nicht so beharrlich schweigen. Sie können sich kaum noch mehr ins eigene Fleisch schneiden, als Sie es schon getan haben. Und da würde ich doch wenigstens so vernünftig sein, nicht die Witwe Johanna Bertha Eekhorn auch noch mit der Polizei in Berührung zu bringen. Diese Frau hat sich ja, als Sie noch ein ganz kleines Wurm waren, auch nicht träumen lassen, dass Sie sich einmal auf solche Art und Weise vor anderen hervortun würden ...«

»Woher wissen Sie denn«, sagte Jaapje Eekhorn langsam, während er mit seiner auffallend langen Zunge das zerstörte Deckblatt der Zigarre wieder in Ordnung zu bringen suchte und dabei einerseits seine Gedanken konzentrieren konnte, andererseits den Gegner nicht anzusehen brauchte: »woher wissen Sie, dass meine Mutter, die ich seit Monaten nicht mehr gesehen habe, Johanna Bertha heisst? ... Das ist doch ganz einfach ein Versuchsballon ...«

»Bestreite ich durchaus nicht, Jaapje. Ich kenne vom Hörensagen eine Frau, die sich redlich geplagt hat, um sich nach dem Tode ihres Mannes mit ihren drei Kindern anständig durchzubringen. Das wäre ihr auch geglückt, wenn der jüngste Sohn – der älteste ist in Amerika – nicht so vom rechten Wege abgewichen wäre, dass er bereits ein paarmal verurteilt werden musste. Das brachte sie bei den Nachbarn um ihr ganzes Ansehen. Ihr kleines Geschäft ging zugrunde, und sie musste wieder eine Stellung annehmen. Von ihrem Sohn, der nur an sich dachte, wollte sie nichts mehr wissen. Sie ahnte nicht einmal, wo er sich befand. Doch eines Morgens – man könnte ein Trauerspiel in fünf Aufzügen mit einem Vorspiel daraus machen – Jaapje, wenn ich den Herrn, der statt Ihrer irrtümlich verhaftet wurde, zu sehen bekomme, werde ich ihm den Stoff überlassen! –, eines Morgens also wurde plötzlich an das Fenster geklopft, während sie gerade dabei war, in einer Bodenkammer das Bett zu machen. Ihr Sohn, der gerade eine feine Erpressungssache hatte durchführen wollen, sagte ihr – ich habe die Worte nicht genau verstanden, aber das ist ja auch wohl Nebensache – die Polizei sei ihm auf den Fersen und es würde ihm teuer zu stehen kommen, wenn man ihn fasste. Und weil sie entweder Mitleid mit ihm hatte oder aber fürchtete, dass sie selber ihre Stellung verlieren würde, duldete sie es, dass er sich auf die Bodentreppe flüchtete und schob den Riegel vor die Luke, nachdem er oben sicher und geborgen war. Kaum zehn Sekunden später führte sie einen ziemlich gewitzigten Beamten, der auch nicht entfernt an solche Möglichkeit eines dramatischen oder melodramatischen Kampfes zwischen Mutter und Sohn hatte denken können, aufs Glatteis. Die Mutter wurde, wir wollen mal sagen: zum soundsovielten Male in ihrem Leben das Opfer; der Sohn, ein gewissenloser Schlingel, machte sie zur Mitschuldigen. Ende des vierten Aufzuges. Grosse Pause, während der ich meine Zigarre wieder anzünde. – Im fünften Aufzug führt die Spur dank der Nase eines gewissen Tommy in das Haus, in dem die Mutter als Aushilfe beschäftigt ist. Sie wird zum Postamt geschickt, um Briefmarken zu holen und eine Postanweisung in Empfang zu nehmen – zu dem Zweck stellt der Herr des Hauses eine Vollmacht auf den Namen Johanna Bertha Eekhorn aus ... War das also Ihre Mutter? ... Und jetzt einmal ernst!«

»Es war ein verdammter, elender Zufall«, sagte Jaapje Eekhorn.

»Ein Zufall, über den Sie sich etwas reichlich spät beklagen! Irgendein x-beliebiges Dienstmädchen würde gebrüllt und keine Sekunde gezaudert haben, Sie sofort anzuzeigen ... Nun hat die Jagd nur so viel Stunden länger gedauert, nun wird sie mit uns in Konflikt kommen, und der wird nicht gerade leicht zu lösen sein. Und wenn der Herr des Hauses mich nach Einzelheiten fragt und erfährt, dass sie einen Edelmann Ihres Schlages in seinem Hause verborgen hielt, während die Gnädige krank zu Bette liegt, so können Sie sich ja wohl an Ihren fünf Fingern abzählen, dass er keine Entschuldigung dafür gelten lassen wird ... Na, was meinen Sie zu alledem?«

»Es war abscheulich von mir; aber wenn Sie so in der Patsche gesessen hätten wie ich, würden Sie genau so gehandelt haben, Herr Duporc ... Lässt sich denn da gar nichts machen?«

»Nichts. Voraussichtlich sitzt sie schon auf der Polizeiwache. Ich habe sie sofort dorthin holen lassen ...«

Jaapje Eekhorn dampfte wie ein Schlot, und auch Nathan Marius Duporc rauchte mit einer Gier, als sei eine Prämie für den ausgeschrieben, der das Amtszimmer am schnellsten vollpaffte.

Da wurde an die Tür geklopft. Ein Polizeibeamter brachte einen Brief, den der Kommissar mit grösster Freude zu lesen schien.

»Ich danke«, sagte er; »sie soll warten; ich stehe in fünf Minuten zur Verfügung. Gehen Sie nur ... Also, Freundchen, sie ist da, und wie hier auf diesem Zettel zu lesen steht, weint sie sich erst mal tüchtig aus ... Aha! da wäre ja wieder das beliebte Lächeln ... Sind Sie nicht ein ganz aus der Art geschlagener Schurke, dass Sie sich sogar noch darüber freuen, wenn Ihre Mutter ...?«

»Wenn ich Ihnen einen kolossalen Tip gäbe, Herr Duporc, wollen Sie dann dafür sorgen, dass die alte Frau ungeschoren bleibt ...?«

Duporc stiess eine ungeheure Rauchwolke aus, hinter der er seine Züge verstecken konnte. Er wäre bereit gewesen, Jaapje sogar mit Geld zu bestechen, wenn er ihn dafür in die vermuteten letzten Gründe der komplizierten Geschichte hätte hineinblicken lassen. Sein ganzer Schlachtplan stand und fiel ja mit dem, was der kleine schlaue Bursche aussagte. Und jetzt kam ihm wahrhaftig der unglaublichste aller Zufälle zu Hilfe! Um seine Freude zu verbergen, erhob er sich, ging mit schweren Schritten im Zimmer auf und ab, und erst als er dessen gewiss war, dass kein Zittern seiner Stimme ihn verraten würde, sagte er in dem ruhigen, unerschütterlichen Ton eines Beamten, der sich nicht zum besten halten und weder durch Geld noch durch gute Worte gewinnen lässt:

»Mit solchen Scherzen, junger Mann, erreichen Sie gerade das Gegenteil von dem, was Sie erreichen möchten. Wenn ich eine Sache einmal in der Hand halte, lasse ich sie nicht mehr los, nicht um alle Tips der Welt ... Aber – aber – ich will Ihnen noch was sagen: Wenn Sie mir auf meine ehrlichen Fragen ehrliche Antworten geben wollen, ohne Umschweife und ohne Winkelzüge, so kann ich Ihnen, und zwar ohne dass Sie die geringste Pression auf mich ausüben, insofern entgegenkommen, als ich die Witwe Johanna Bertha Eekhorn vorläufig entlasse und dem Herrn in der Sarphatistrasse mitteile, dass die Frau ... nun, die Sache werde ich schon deichseln. So was ist bei mir in besten Händen. Aendern Sie Ihre Taktik, dann kann ich meine auch ändern ... verstanden?«

Jaapje Eekhorn fühlte, dass er ein wenig festeren Boden unter die Füsse bekam. Er nickte; der Kommissar gab dem Polizeibeamten eine entsprechende Anweisung, und einen Augenblick später ging die arme alte Frau beruhigt zu ihrer Dienststelle zurück.

»Noch eine Zigarre gefällig?« fragte Duporc, um das Verhör in möglichst jovialer Weise einzuleiten. »Sagen Sie nicht so ohne weiteres Nein, Freundchen; wer weiss, wann Sie wieder einmal so einen guten Zug tun können! Recht so: jetzt bewähren Sie doch die Weisheit eines Menschen, der in der nächsten Zukunft zu lesen versteht ...«

»Danke verbindlichst,« sagte Jaapje Eekhorn, während er das höflich angebotene Streichholz nahm. »Es ist geradezu ein Vergnügen, von Ihnen persönlich verhaftet und behandelt zu werden. Ich glaubte schon, meine Mutter wäre so gemein gewesen, mich zu verraten ...«

»Nein, mein Bester, die Aermste hat ihren Mund gehalten. Aber ich stand hinter der Tür, als der Herr ihr auftrug, die Postanweisung einzukassieren, und bei der Gelegenheit musste sie eben für die Vollmacht, die er ihr ausstellte, ihren Namen nennen ... Na, darüber wollen wir jetzt nicht weiter reden ... Erste Frage: Was für Possen haben Sie sich denn eigentlich mit dem Wohnschiff geleistet? ...«

»Darüber war ich ebenso verblüfft, wie Sie selbst. Ich denke mir, der eine oder andere Schubiack, der mir was anhaben wollte, hat mich in der Meinung, dass ich schon in meinem Bett läge und pennte, bequem aus dem Wege räumen wollen. Zum Glück war ich gerade bei einem guten Bekannten zu Gaste, sonst wäre ich zweifellos Hops gegangen ...«

»Wer war denn dieser gute Bekannte, mein junger Freund?«

»Danach dürfen Sie mich nun wirklich nicht fragen, mein bester Herr Duporc, denn es handelt sich hier um die Ehre einer verheirateten Frau ...«

»Schön, also will ich darauf nicht weiter bestehen,« sagte Duporc lächelnd, »aber ich muss wohl annehmen, dass es die Frau eines Kolonialwarenhändlers war, weil Sie sich in so origineller Weise als Bote eines Kaufmannsgeschäftes verkleidet und mit einem Korb bewaffnet hatten, und es dürfte der Polizei nicht allzu schwer fallen festzustellen, welcher Kaufmann heute nacht auf Reisen war ...«

»Ganz recht,« sagte Jaapje Eekhorn grinsend. »Eigentlich jammerschade, dass Sie nicht zu unserer Zunft gehören! An Ihnen hätten wir wahrhaftig unsere Freude gehabt ...«

»Und eigentlich auch jammerschade,« antwortete Duporc, »dass Sie nicht einen Posten bei der Polizei annehmen wollen ... Wir könnten Ihnen da so mancherlei nachsehen ...«

»Ach nein ...«

»Ach ja ...«

Einen Augenblick sahen die beiden einander an wie zwei Schachspieler, die auf den nächsten Zug gespannt sind. Darauf liess Duporc geschickt ein Rössel springen.

»Wie kommen Sie eigentlich zu dem Walther-Browning Nr. 67 999?«

»Bekommen ...«

»Jaapje, mein Freund, ich habe es Ihnen vorhin zur Bedingung gemacht, dass Sie ehrliche Fragen ehrlich beantworten sollen. Sie aber fahren fort, auf eine nicht allzu vorsichtige Art mit mir zu spielen ...«

»Das sind keine ehrlichen Fragen,« verwahrte sich der kleine Spitzbube geschickt, »das sind hinterhältige Fragen, und auf die antworte ich mit ebenso hinterhältigem Bescheid.«

»Wenn Sie die Sache so auffassen, will ich es Ihnen leicht machen, einen Vergleich mit Ihrem Gewissen zu schliessen. Auf dem gleichen Zettel, durch den mir der Wachtmeister mitteilte, dass Ihre Mutter eingetroffen sei, finde ich die Meldung, dass der Browning, den ich Ihnen abgenommen habe, vor zwei Monaten durch einen gewissen Herrn Artur Rondeel bei Bastet in der Kalverstrasse gekauft worden ist. Diese Firma besitzt noch den Waffenschein, den der Herr dort zurückgelassen hatte. Die Nummer 67 999 ist auf der Registernummer dieses Ausweises vermerkt. Jener Herr Artur Rondeel wurde vorgestern nacht im D-Zug Amsterdam – Paris ermordet ...«

»Jesus Christus ...«

»Lassen Sie den aus dem Spass, und spielen Sie nicht mit dem Feuer ...«

»Ich habe noch nie eine Feuerwaffe benutzt ...«

»Um so verdächtiger ist es, dass Sie mit einem Browning herumlaufen, den der ermordete, grässlich zugerichtete Bankier bei sich trug. Sie kennen sich in Strafsachen doch genügend aus, um zu wissen, was ein derartiger Fund für Sie bedeutet ...«

»Ich habe die Stadt nicht verlassen ...«

»Sie fuhren in demselben D-Zug!«

»Ach nein ...«

»Mit diesem ›Ach nein‹ haben Sie's nun schon dreimal probiert! ... Bei dem Browning ist jeder Irrtum ausgeschlossen. Also – Sie waren in dem Zuge, nicht wahr ...?«

»Nicht dass ich wüsste ...«

»Sie erinnern sich auch nicht, dass Sie mit jener verheirateten Frau, die Ihnen in so reizender Art ihre Gastfreundschaft anbot, während Sie sonst mit Ihrem Wohnschiff umgekommen wären, in Dordrecht logierten ...?«

»Ich kann einen Eid darauf schwören, dass ich die letzte Nacht nicht in Dordrecht war!«

»Die letzte Nacht nicht, aber die vorletzte ...«

»In der vorletzten Nacht habe ich im Schiff geschlafen ...«

»Dann war ein Doppelgänger von Ihnen im Hotel Ponsen, mit einer anderen Dame als der Frau des Kolonialwarenhändlers ...«

»Was ein Doppelgänger tut, interessiert mich nicht!«

»Sie haben mich also gestern morgen nicht beim Frühstück gesehen?«

»Wo?«

»In Dordrecht? ... Sie haben nicht soundso viel säuberlich nebeneinandergelegte Zigarettenmundstücke dort zurückgelassen? ... Sie haben sich nicht bei einer Flasche Wein behaglich niedergelassen, vermutlich, um zu kontrollieren, wer ein und aus ging? ... Sie haben sich nicht als Henri Aimard aus Boulogne-sur-Mer ins Fremdenbuch eingetragen? Sie sind nicht mit nüchternem Magen abgereist? Na, Freundchen, wir sind ja alle mal jung gewesen – wir haben alle mal einen kleinen Seitensprung gemacht. Nur heraus mit der Sprache! Wer war die hübsche, schlanke junge Frau, mit der Sie dort eine Nacht verbrachten? Ich würde doch der Connie vom Notar sicherlich einen grossen Schmerz antun, wenn ich mich indiskret verplapperte! Oder wollen Sie als Gentleman lieber keinen Namen nennen?«

»Nein«, sagte Jaapje Eekhorn unwillkürlich. Und mit diesem einzigen Wörtchen – diesem einen dummen, törichten, unvorsichtigen Wörtchen ›Nein‹, das nun wider Willen seinen sonst so behutsamen Lippen entschlüpfte und nicht mehr zurückzuhalten war, sass er an der geschickt hingehaltenen Leimrute des Vogelfängers fest, der dieses simple ›Nein‹ mit einem solchen Wohlbehagen wiederholte und so wahrhaft geniesserisch über seine Zunge gleiten liess, wie ein Feinschmecker den zarten Reiz einer ersten Frühjahrsdelikatesse auskostet.

»Nein, nein – vortrefflich, mein Freund«, sagte Nathan Marius Duporc. »Ich finde es begreiflich und höchst lobenswert, dass Sie die Dame nicht kompromittieren wollen, aber mit diesem Nein geben Sie doch nach menschlicher Berechnung zu, dass Sie da waren! Sie brauchen mir deshalb nicht gleich wieder so liebenswürdig zuzulächeln, denn im Grunde genommen ist diese Entdeckung ja nicht allzu wichtig, nicht wahr?«

»Wenn ich Ihnen damit eine Freude machen kann, will ich sogar noch weitergehen«, antwortete das durchtriebene Kerlchen lächelnd. »Ich war da, und sie heisst: Charlotte Angelika Eleonore Mathilde Ganifet und war bis vor einem Vierteljahr mit einem gewissen Auguste Aimard aus Boulogne-sur-Mer verheiratet ...«

»Famos«, sagte Duporc lächelnd: »Ganz famos! Ich will nicht weiter indiskret in die zarten Geheimnisse dieser Liebesnacht eindringen, aber – sie hatte kalte Füsse, nicht wahr?«

»Eiskalte, gar nicht warm zu bekommen, hahaha!«

»Ich habe in derartigen Abenteuern nur geringe Erfahrung,« fuhr Duporc fort, »aber es will mir doch so scheinen, als ob diese Charlotte Angelika Eleonore Mathilde Ganifet – wenn ich ihren etwas komplizierten Namen richtig behalten habe – Ihre Liebe nicht gerade allzu heftig in Glut brachte, da Sie doch so ruhig bei Ihrer Flasche Wein unten sitzen blieben und die Aermste während der ganzen Zeit mit einer prosaischen Wärmflasche einsam oben lag!«

»Ach,« sagte Jaapje gefühlvoll, »es gibt zartbesaitete Frauen, die in erster Linie eine gleichgestimmte Seele suchen und die man durch allzu brutales Auftreten geradezu abstösst ... Darüber könnte ich Bände erzählen. Die Teure sagte zu mir: Geh du ruhig hinunter und trink noch ein Gläschen, währenddessen lese ich »Den König der dunklen Kammer« von Rabindranath Tagore aus!«

»Was für eine gebildete junge Dame ...«

»Nicht wahr ...?«

»Jetzt möchte ich von dieser Dordrechter Liebesgeschichte nur noch eins wissen, lieber Junge: Sagen Sie mir doch, wie es kam, dass die Wärmflasche leer war?«

Bei all seinen Hypothesen und Schlussfolgerungen war es Duporc noch nicht gelungen, dieses kleine Rätsel zu lösen; bevor er aber einen Anlauf nahm und auf die Hauptsache losging, wollte er sich unbedingt über diese Einzelheit orientieren. Aber gerade darüber schien Jaapje Eekhorn sich nicht äussern zu wollen. Misstrauisch blickte er den Kommissar an, vor dessen Schlauheit er als Sachverständiger allerhand Hochachtung hatte, und antwortete sehr berechnet nur so ganz obenhin:

»Wie soll ich denn das wissen? Ich habe nicht hineingeschaut ...«

»Wurde der Inhalt der Flasche vielleicht zum Rasieren benutzt, mein Junge?«

»Ausgeschlossen – ich war schon rasiert ...«

»Das vielleicht – aber sie?«

»Ein reizender Einfall ...«

Die Unterhaltung stockte. Wieder schauten die beiden sich an wie zwei Schachspieler, die auf den nächsten Zug warten.

Duporc paffte, Jaapje Eekhorn verschwand ganz hinter seinen Rauchwolken.

»Das klingt ja ganz nett,« begann der Kommissar von neuem; »aber um weiter zu kommen – nachher haben Sie das Licht ausgelöscht.«

»Das stimmt ...«

»Und da waret Ihr beiden nun zu zweien in der dunklen Kammer, die französische Dame und Sie – und nach einer Weile fingt Ihr an, Euch zu langweilen – und sie hielt Ihnen wohl eine Gardinenpredigt, etwa, weil Sie so ungalant lange unten bei Ihrem Wein gesessen hatten.«

»Nicht zu glauben, wie Sie das alles so raten ...«

»Darauf sind Sie sehr missgestimmt aufgestanden, und weil Sie ein wenig frische Luft schöpfen wollten und das in dem Hotelkorridor nicht gut ging, haben Sie das Fenster geöffnet und sind auf dem Glasdach der Veranda ein wenig spazierengegangen ... Kann das sein?«

» Sein kann alles mögliche; aber jetzt tappen Sie doch daneben ...«

»Halt, einen Augenblick, nicht so ungeduldig, Jaapje. Darauf wurde jene Charlotte Angelika usw. unruhig und kletterte Ihnen nach. Sie sagte: ›Jaapje, Geliebter, du wirst dir deinen teuren Hals brechen‹ ... und schon wollten Sie sich wieder beide in die dunkle Kammer zurückziehen, als Ihr Blick plötzlich auf den zerbrochenen Schliessriegel eines erleuchteten Nachbarzimmers fiel. Wie soll ich nun bloss die Geschichte rekonstruieren? ... Nicht so düster dreinschauen, mein Sohn! Wenn Sie lächeln, sehen Sie viel jünger aus! ... Sie beide warfen also nun, gemeinsam oder jeder für sich, einen Blick in das Innere des Zimmers, und Sie sahen eine junge Frau, eine Engländerin, und einen anscheinend sehr viel älteren Herrn mit weissem Haar ... Aber es wäre mir, offen gestanden, lieb, wenn Sie jetzt auch mal etwas sagen wollten ... Sie überlassen mir so ausschliesslich das Wort.«

»Ich kann ja 'ne ganze Masse, aber solche Geschichten erfinden kann ich nicht, dazu muss man ein besonderes Talent haben ... Reden Sie nur allein weiter ...«

Bei dieser Antwort gab er sich die grösste Mühe, seinen scherzhaften Ton beizubehalten und sein wahres Empfinden hinter seinem Grinsen zu verstecken – aber im Grunde seines Herzens hegte der mit allen Wassern gewaschene Knabe doch so etwas wie Bewunderung für diesen rothaarigen Schlaukopf, der einem gegenübersitzen und einen so dumm ansehen konnte, als könnte er nicht bis drei zählen, während er doch die besten Trümpfe noch zurückhielt.

»Wenn ich nicht irre, wollten Sie mir einen Riesentip geben, falls ich Ihre Mutter unbehelligt liesse? ... Ich bin dafür vollständig unempfänglich geblieben, weil ich derartige Mittelchen nicht liebe. Ich frage Sie nach den einfältigsten Dingen, weil ich Ihnen bloss beweisen will, dass Sie gar keinen Menschen zu verraten brauchen und dass ich ja doch schon ganz allein hinter alles gekommen bin ... Jetzt müssen Sie mich aber nicht durch Ihre Schweigemethode anhaltend reizen ... In Dordrecht, in jenem Hotel, wo ich Dutzende Ihrer Zigarettenmundstückchen gefunden habe ... Dutzende auf dem Waschtisch und noch ungezählte andere auf einem Nachtschränkchen ...«

»Warum müssen das meine gewesen sein? ... Kann ein anderer nicht ebenso gut ...?«

»Davon ist jetzt nicht die Rede. Wir wollen uns doch nicht bloss im Kreise herumdrehen ... Sie besitzen nicht nur die sehr lobenswerte Angewohnheit, diese Mundstücke immer hübsch ordentlich nebeneinander aufzubauen, sondern Sie haben auch die anmutige Eigenschaft, bei allem, was man Ihnen sagt, zu lachen. Und wenn man lacht, zeigt man unwillkürlich seine Schneidezähne. Sie rauchen links. Wissen Sie das? In dem Zahn neben Ihrem Augenzahn fehlt ein kleines Dreieckchen. Das sollten Sie sich in Ordnung bringen lassen, sonst werden Sie eines schönen Tages diesen Schneidezahn einbüssen. Hier in dieser Schachtel habe ich eine ganze Kollektion Ihrer Zigarettenmundstücke. Es ist nicht eines dabei, in dem nicht das Dreieck sichtbar seine Spur hinterlassen hat! Putzig, nicht wahr? Aber nun reizen Sie mich nicht länger mit Ihrem: ›Reden Sie nur allein weiter‹ ... Mein Freund: jetzt ist die Reihe an Ihnen ... Was sahen Sie in dem erleuchteten Zimmer? Und wie kamen Sie auf den genialen Gedanken, gerade dort hineinzuschauen? ... Nebenbei bemerkt: Wie kamen Sie zu dem Quittungszettel aus einem Friseurgeschäft, in dem der ermordete Bankier einige Einkäufe machen liess, bevor er den Zug nach Paris nahm? ... Sie werden mir sicherlich zugeben, dass dieser Zettel, nächst dem Revolver, einen zweiten klaren und überzeugenden Beweis dafür darstellt, dass Sie während oder nach dem Morde mit der ganzen Angelegenheit doch etwas zu tun hätten ...«

Auf diese so beiläufig an ihn gerichtete Frage hatte Jaapje Eekhorn nicht gerechnet.

»Den Fetzen,,« sagte er, als die beste Antwort, die ihm unter diesen Umständen möglich schien, »habe ich gefunden ...«

»Zugleich mit dem Browning Nr. 67 999 ...?«

»Ein bischen früher oder ein bischen später ...«

»Wieviel früher?«

»Ich habe nicht auf meine Uhr geschaut ...«

Duporcs Faust sauste dröhnend auf den Tisch. Für jedes Verhör hatte er sein ganz bestimmtes Programm mit allerhand Steigerungen. Jetzt wurde es Zeit, die Daumenschrauben anzulegen!

»Lassen Sie nun die Scherze«, sagte er unfreundlich. »Wenn Sie glauben, dass Sie mir etwas vormachen können, irren Sie sich! Lag dieser Quittungszettel in dem Zimmer mit dem defekten Fensterrahmen?«

»Wenn ich nein sage, ist es nein!« sagte Jaapje Eekhorn, und um die Aufmerksamkeit des unerbittlichen Fragestellers abzulenken, überwand er sich selbst in beinahe übermenschlichem Masse und gab wirklich der Wahrheit die Ehre. »Ich habe diesen wertlosen Fetzen vorgestern abend einem Herrn aus der Tasche gezogen, der vor dem Friseurladen ins Auto stieg!«

»Das sagen Sie so, um sich herauszureden!« schrie Duporc – erstens glaubte er ihm nicht, und zweitens bedeutete es, wenn es wirklich so gewesen wäre, für ihn eine grosse Enttäuschung. Er hatte schon gehofft, so wunderschön ein neues Glied in die Kette seiner Entdeckungen einfügen zu können!

»Wenn wir lügen, heisst es: Sagt die Wahrheit, und wenn wir nun mal wirklich die Wahrheit sagen, brüllen Sie einen an: Ihr lügt!«, antwortete Jaapje Eekhorn philosophierend. »Es war kurz vor halb sieben, als der Herr mit einer Menge Pakete aus dem Friseurgeschäft kam. Als höflicher Mann öffnete ich ihm den Wagenschlag, und dabei steckte ich ganz unwillkürlich meine linke Hand in die Tasche seines Ueberziehers. Das sind nun einmal so abscheuliche Angewohnheiten, die man los zu werden sucht, und vielleicht auch los wird, wenn man erst mal ein paar Jahre älter ist, von denen man aber jetzt noch nicht gut lassen kann ... Er trug nun aber leider seine Börse rechts, so wie ich meine Zigaretten links – und da war es diesmal nichts – das ist alles – und ich kann es ehrlich beichten, weil ja das Gesetz nicht die Absicht, sondern nur die Tat bestraft ... Wenn Sie das etwa mit dem Mord in dem Zuge in Zusammenhang bringen wollen, sind Sie schief gewickelt ...«

»Wir werden mal sehen, junger Mann, ob das Gericht diese Geschichte so einfach hinnimmt! Ich muss zu meinem Bedauern gestehen: Sie sind schlechter dran, als je einer von Ihrer Zunft gewesen ist! Sie waren im Zuge, als der Mord geschah. In Dordrecht sind Sie ausgestiegen. Sie haben den Browning des Ermordeten und ferner Papiere, die ihm gehörten, in Ihrem Besitz. Sie sind zurückgekommen, um Ihr Wohnschiff zum Sinken zu bringen und sich mit dem Geld jener unglücklichen Frau Menzel Polack und der Versicherungsprämie ins Ausland zu verziehen. Sie haben die Handkoffer mit den grossen Werten irgendwo untergebracht, Sie durchtriebener Schurke! ... Heute noch werde ich Sie vor die Leiche stellen lassen!«

»Vor was?« stotterte Jaapje Eekhorn verblüfft, während er das Ende seiner zerkauten Zigarre aus der Hand legte.

»Vor die Leiche des Mannes, den Sie und Ihr Mitschuldiger – denn Sie waren nicht allein – so schändlich überfallen haben, um sich der ungeheueren Werte zu bemächtigen ...«

»Ach ...,« sagte der Verdächtigte und zuckte gleichgültig die Achseln, »das alles geht mich kein bisschen an ...«

»Auf diese Weise können Sie Ihre Situation höchstens verschlimmern«, erwiderte der Kommissar und schob das Telegramm, das der Tochter des Ermordeten schon eine Ohnmacht verschafft hatte, dem kleinen Schurken hinüber.

Jaapje Eekhorn las den trockenen Bericht:

Der verstümmelte Körper des Bankiers Artur Rondeel gefunden. Von dem flüchtigen Mörder Jan Kikker noch keine Spur. Verduin, Kriminalkommissar, Dordrechter Polizei.

Er las es ein-, zwei-, dreimal, während Duporc seinen Zeigefinger auf den Geheimnamen »Siebenstern« hielt. Er blickte mit halb zugekniffenen Augen in das unbeweglich-strenge Gesicht des Beamten, griff nach dem Zigarrenstummel, der auf dem Tische lag, zündete ein Streichholz an, blies dann den Rauch so zart vor sich hin, als wolle er nur ja keinen Menschen damit stören, und während zwei lauernde Augen jede seiner Bewegungen unter die Lupe nahmen, pfiff er gemütlich das hier ausserordentlich angebrachte beliebte Lied: O du lieber Augustin, Augustin, Augustin, o du lieber Augustin, alles ist hin ...

»Stecken Sie sich lieber eine frische Zigarre an«, sagte Duporc in einem jener plötzlichen Anfälle von äusserster Leutseligkeit, die ihm einen so ausgezeichneten Ruf verschafft hatten. »Und machen Sie Ihrem Herzen Luft. Jan Kikker ist ja zweifellos der Hauptschuldige; aber Sie sind Nummer zwei ... Wenn Sie mir dazu verhelfen, diesen gewissenlosen Schurken zu fassen, können Sie bei mir viel erreichen ... Sie haben eine Mutter, Eekhorn, die früher in einem gewissen Wohlstand lebte und jetzt als Hausangestellte ihr Brot verdienen muss. Hat die arme Frau an Ihnen jemals auch nur die kleinste Freude erlebt? ... Was wird die arme Seele empfinden, wenn sie morgen in jeder Zeitung in allen Tonarten lesen kann, dass ihr Sohn, Jakobus Eekhorn, unter dem dringenden Verdacht des Raubmordes verhaftet worden ist ...?«

»Konfrontieren Sie mich zuerst mal mit dem umgebrachten Bankier«, sagte Jaapje – die schöne Moralpredigt des etwas pathetisch gewordenen Kommissars schien ihre Wirkung auf sein entartetes Gemüt völlig zu verfehlen.

»Soll geschehen,« antwortete Duporc, »und zwar sofort, nachdem der Richter Sie verhört hat. Aber nun zum letzten Male: Wie kommen Sie zu diesem Browning?«

Jaapje Eekhorn zögerte zum erstenmal in seinem Leben. Er war noch niemals durch ein Mitglied der Gilde verraten worden, und er hatte auch nie eines verraten.

Wenn er aus der Schule plauderte, war er fein raus. Er konnte dann auf Rückhalt bei der Polizei rechnen und blieb nur noch in der Klemme mit der Geschichte aus der Sarphatistrasse und der alten Schachtel, die ihn reingelegt hatte. Und wenn er noch nicht einmal selber der Dieb war – und das wusste ja Duporc! –, würde die Geschichte für ihn gut ausgehen. – Aber Jan Tulp war immer sein bester Kumpan gewesen, und darum dachte er auch nicht daran, dem sein wundervolles Konzept zu verderben.

Anstatt daher die Frage zu beantworten, streckte nun der mächtig weiterpaffende Delinquent listig und raffiniert seine Fühlhörner aus. Aber er sass einem gewiegten Menschenkenner von der alten Garde gegenüber, und ohne dass er es merkte, hatte er sich auch schon festgefahren.

»Ich muss nur immer wieder staunen, Herr Duporc ... Darf ich Sie mal etwas fragen?«

»Bitte genieren Sie sich gar nicht; nur machen Sie's kurz, denn ich muss heute noch verreisen ...«

»Wenn ich an dem Morde beteiligt wäre, würden Sie mir dann wohl Zigarren anbieten?«

»Warum nicht?«

»Ein oder zwei Stunden vor der Konfrontation mit der Leiche?«

»Warum nicht? ... Ich habe einer Giftmischerin, die zwei Morde auf dem Gewissen hatte, sogar eine ganze Schachtel Zigaretten angeboten, um ihr das Geständnis leichter zu machen ... und ein Einbrecher, der einen Komplicen niedergeschossen hatte, hat auch schon mal auf Ihrem Stuhl gesessen und eine noch viel feinere Zigarre geraucht ... Möchten Sie hinter unsere Methoden kommen?«

»Darf ich das Telegramm noch mal sehen?«

»Mit dem grössten Vergnügen ...«

»Aber ohne dass Sie den Daumen draufhalten, bitte ... es könnte ja eine falsche Depesche sein ...«

»Also schön«, sagte Duporc und gab den Chiffrenamen preis.

» Siebenstern ... Siebenstern ...« las Jaapje Eekhorn: »Sind Sie das?«

»Ja, das bin ich ...«

Der kleine Spitzbube grinste: »So, so, gestern abend in Dordrecht aufgegeben, was? ... Wollen doch mal sehen, um welche Zeit ... dreiviertel neun ... Bei Rotterdam in die Maas geworfen und in Dordrecht angetrieben ... und kein einziges Morgenblatt brachte etwas darüber ... Es ist ja schliesslich alles möglich; aber hier glaube ich doch kein Wort davon ... So arm ich bin, wette ich doch hundert Gulden, dass es nur Bluff ist, um einen armen Kerl hereinzulegen ... Konfrontieren Sie mich nur ruhig, hahaha!«

Vor Lachen wieherte er so wild und komisch, dass es ansteckend wirkte und auch Duporc schliesslich mitlachen musste, dass ihm der Bauch wackelte.

»Das tut einem wahrhaftig mal gut«, sagte Jaapje, der sich zuerst wieder erholte und sich die Tränen abwischte.

»Nicht wahr?« sagte der Kommissar: »Aber da wir nun doch einmal so vergnügt beisammen sitzen, sagen Sie doch: was ist denn nun wirklich mit diesem Browning Nummer 67 999 los, der Sie um Ihren guten Ruf als »unblutiger« Taschendieb bringen kann? Die Leiche ist nicht gefunden worden ...«

»Das hab' ich ja längst gewusst, hahaha!«

»Haben Sie das wirklich genau gewusst? Schneiden Sie jetzt nicht ein bisschen auf? ... Sie pfiffen so behaglich den »lieben Augustin«, als Sie das Telegramm dreimal von vorn bis hinten durchgelesen hatten ... Jeder andere mit einem verdächtigen Browning in der Tasche würde zu Tode erschrocken sein; aber Sie zündeten sich ruhig Ihren Zigarrenstummel wieder an ...«

»Weil ich gleich einen Eid darauf geschworen hätte, dass es Bluff war, hahaha ... es konnte ja gar nicht möglich sein, hahaha ...«

»Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Information,« sagte Nathan Marius Duporc plötzlich wieder im trockenen Beamtenton. Jetzt hatte er wieder Oberwasser ...

»Ich habe das nur so gerade hingeredet«, meinte Jaapje Eekhorn dann.

»Sie wollen also weiter nichts loslassen, wenn Sie auch selber losgelassen werden könnten?«

»Ich habe nichts ›loszulassen‹. Ich war mit einer Französin in Dordrecht. Das ist doch kein Verbrechen.«

»Sie haben nicht Jan Kikker in dem Hotel getroffen?«

»Ich kenne keinen Jan Kikker.«

»Sie haben nicht Whisky mit ihm getrunken?«

»Ich mag keinen Whisky, am allerwenigsten nach einer ganzen Flasche Wein ...«

»Sie haben nicht in dem anderen Zimmer Zigaretten geraucht, genau gezählt: neun Zigaretten? ... Denken Sie mal nach, mein Freund. Und nun zum allerletzten Male: wenn ich Sie in Freiheit setze, wollen Sie mir dann sagen, mit wem Sie dort zusammen waren?«

»Nein, nicht für zehntausend Gulden!« antwortete Jaapje etwas gar zu prompt – denn Duporc konnte aus dieser Antwort sogleich wieder seine Schlüsse ziehen.

»Dieses bestimmte ›Nein‹ beweist mir von neuem, dass ihr zusammen dort waret, und es beweist mir ausserdem auch, dass man Ihnen einen grösseren Betrag geboten hat, als wir ihn hier zur Verfügung haben. War das Fenster erleuchtet, als Sie über das Glasdach spazierten?«

»Das weiss ich nicht ...«

»Aber ich weiss es; es war erleuchtet, denn die anderen machten sich mit dem Wasser zu schaffen, als ich klopfte ... Jawohl, der Klopfende war ich! – Und erst als sie zu Bette gingen, löschten sie das Licht. Die englische Dame lag an der Fensterseite, sie hatte ihr reizendes Gesellschaftskleid gar nicht ausgezogen. Sie hatten gesehen, dass sie den Browning auf das Nachttischchen legte – das halte ich für eine falsche Methode, ich pflege ihn immer unter das Kopfkissen zu legen –, und als ihr so gut wie sicher waret, dass die beiden schliefen, machtet ihr das Fenster auf, und Sie hatten nun im Nu den Browning Nummer 67 999 in der Hand. Darauf nanntet ihr beide – Sie und die elegante Charlotte Angélika – eure Bedingungen, und die anderen machten euch keine grossen Scherereien, weil man nicht gern in der Sonne spazieren geht, wenn man Butter auf dem Kopfe hat ... Sagen Sie nun man ganz einfach Ja oder Nein ... Die ganze Sache ist für mich das reine Gesellschaftsspiel mit ausgesetzten Preisen.«

»Ich sage nicht Ja, ich sage nicht Nein«, sagte Jaapje Eekhorn nach kurzem Nachdenken. »Wenn ich Nein sage, lüge ich; wenn ich Ja sage, lüge ich noch mehr. Ich nehme nur eins auf meinen Eid, dass ich keinen Jan Kikker kenne ...«

»Seltsam,« sagte der Kommissar lachend, »sehr seltsam. In Ihrer Brieftasche fand ich doch einen Zettel mit dem Namen Rana ... Was bedeutet das?«

»Das bedeutet,« sagte Jaapje trocken, »das bedeutet wörtlich: ›Rate danach‹ hahahah! Das ist doch ganz klar; wenn man es rasch genug ausspricht, sagt man von selbst Rat'danach ... Rat'dana ... Rana ...« Er redete so rasch wie er konnte, während in seinem Innern die Bewunderung für seinen geschickten Gegner haushoch wuchs.

Und sie wurde noch grösser, als Duporc ihn, nachdem das Protokoll aufgenommen war, in der Tat auf freien Fuss setzen liess.

Der Kommissar hatte das scheinbar Unmögliche für ihn bewirkt, ohne dass Jaapje genötigt gewesen war, seinen treuesten Freund Jan Tulp zu verraten ...

Dem kleinen Schurken war an diesem Tage das Glück hold, denn er hatte noch nicht zwei Schritte gemacht, als er die Connie vom Notar gewahrte, die, sonntäglich angetan, die Auslagen eines Modemagazins betrachtete. Sie sah ihn in der Spiegelung der Schaufensterscheibe und wandte ihm den Rücken zu.

Aber da sie ihre Stelle losgeworden und Hals über Kopf davongelaufen war – wie sie ihm später erzählte –, so war sie doch ein wenig zugänglicher als sonst und liess sich von dem Scheusal, das doch eigentlich ein Paar ganz hübsche Augen im Kopf hatte, zu einer Tasse Kaffee und einem belegten Brötchen einladen.

Als Duporc beide kurz darauf in eifrigem Gespräch traf – sie berichtete Jaapje von dem gesunkenen Wohnschiff, und er hörte ihr mit liebenswürdigstem Lächeln hinter der Hornbrille zu –, zog der Kommissar äusserst verbindlich den Hut.

»Wer ist denn das?« fragte Connie.

»Wissen Sie's? Weiss ich's?« sagte Jaapje Eekhorn. »Ich dachte, es wäre einer von Ihren Bekannten.«

»Aber nein«, sagte sie und ging ein wenig verstimmt weiter neben ihm her.

Nathan Marius Duporc aber begab sich stracks nach Aerdenhout, wozu er wieder das Luxusauto des ermordeten Bankiers benutzte. Der Chauffeur hatte ihm ja am Abend zuvor gesagt, er sollte ihn nur anrufen, wenn er ihn wieder brauchte, und von diesem Anerbieten hatte er nun Gebrauch gemacht.

Als er in das fürstliche Landhaus des Herrn Artur Rondeel kam, das nun freilich einen trübseligen Eindruck machte, weil sämtliche Fensterläden geschlossen waren, fühlte er sich dank der gütigen Vermittlung des Chauffeurs, der ihn – seinem Wunsche gemäss – als seinen Bruder vorstellte, verhältnismässig rasch zu Hause.

In dieser Nacht schlief er, nachdem er mit dem Personal in der Küche gegessen, getrunken und geplaudert hatte, im zweiten Stock, im Bett des Dieners, der mit Fräulein Klothilde nach Amsterdam gereist war. Oder vielmehr: er schlief nicht. Denn es gab zu viel zu tun.


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