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Siebentes Kapitel

Die Vorlesung von Hans Willem Adriaan Thyssen in Dordrecht findet nicht statt, und Jaapje Eekhorn macht im Hotel Ponsen eine Entdeckung.

 

Die elektrische Taschenlampe des Geheimpolizisten hatte sich unwillkürlich auf die blutleeren Lippen des Schaffners gerichtet, der diese Hiobsbotschaft brachte. Und noch bevor er irgendein Wort weiter hörte, fiel ihm ein, dass jenes dritte Abteil im Schlafwagen – das einzige, das er bei seiner hastigen Jagd nach dem verschwundenen Charles Jean Tullipe nicht inspiziert hatte – für den Bankier Artur Rondeel reserviert gewesen war, und noch rascher blitzte der Gedanke in ihm auf, dass es wahr sein könnte, weil der Platz des Schlafwagens inmitten der anderen Wagen durchaus mit seiner Wahrnehmung übereinstimmte, wie er den menschlichen Körper über die eiserne Brücke hatte in die Maas fliegen sehen. Ohne dass er sich selber hatte recht geben wollen, war ihm schon der Gedanke gekommen, dass er, wenn wirklich mit dem internationalen Hoteldieb etwas geschehen war, den Sturz aus dem Fenster zu seiner Linken und nicht zu seiner Rechten hätte sehen müssen. Bei der geradezu beängstigenden Schnelligkeit, mit der seine Gedanken einander jagten, schien es ihm, bevor er auch nur einen Schritt in der Richtung zum Schlafwagen gemacht hatte, beinahe mathematisch sicher, dass ihm hier ein verteufelt glücklicher Zufall einen ganzen Komplex von Verbrechen an die Hand lieferte, dass Tulp den Zug noch nicht verlassen haben könnte, dass der kostbare Schmuck der Witwe Menzel Polack sich noch zwischen Lokomotive und Gepäckwagen befinden müsste, und dass der Ueberfall in dem dritten Abteil des Schlafwagens noch einen zweiten Kriminalfall darstellte. Die Laterne erlosch, und nun schritt er rasch vor dem Schaffner und dem Zugführer her und stiess die Reisenden, die das Gerücht von dem entsetzlichen Geschehnis vernommen hatten und in Scharen herbeieilten, mit seinen spitzen Ellenbogen rasch zur Seite. Vor der geöffneten Coupétür des Abteils, auf der ein Zettel »Bestellt« prangte, drängte sich ein Knäuel ängstlich starrender, neugierig flüsternder Leute, denen es gar nicht einfiel, dem Herrn mit dem kurzgeschnittenen roten Haar auszuweichen, wie sie sich auch kaum den Anordnungen des Zugpersonals fügen wollten.

»Platz machen! ... Polizei! ... Platz machen!« kommandierte Nathan Marius Duporc. »Kein Mensch darf hinein! ... Zurück!«

Er hätte ebensogut ein Gedicht aufsagen können. Kein Mensch rührte sich; die Neugierigen blieben stehen wie angewachsen. Nur dem energischen Auftreten der uniformierten Beamten, die nicht erst lange höflich baten, sondern gleich handelten, gelang es, die Tür frei zu machen. Was Nathan Marius Duporc dort gewahrte, hatte er in solcher Form noch nie vorher gesehen.

Der Schaffner hatte die eine Seite des Lampenschirms unter der Deckenbeleuchtung zurückgeschlagen, als etwas Feuchtes unweit der Tür seine Aufmerksamkeit erregt hatte, nachdem auf sein Klopfen nicht geantwortet worden war. Und er hatte sofort erschreckt darauf losgeflucht, weil das breite Fenster geöffnet und das Bett buchstäblich mit Blut getränkt war. Es musste ein wüster Kampf stattgefunden haben. Das knallrot gefärbte Kopfkissen lag auf dem Boden; von den kristallenen Fläschchen aus der Reisetasche lagen zwei in einer Ecke, und eine reichgeschliffene Seifendose war zu Scherben getreten. Der Ueberfallene war zweifellos überrascht worden, während er mit seiner Nachttoilette beschäftigt gewesen war. An dem Messinghaken hingen Rock und Weste, vor dem kleinen Spiegel lagen Kragen und Krawatte. Die Sicherung der Notbremse war durchgerissen, und an dem Griff klebte Blut. Das Unheimlichste aber war ein Zeichen am Fussende des Bettlakens, auf das die Reisenden angstvoll starrten: ein mit Blut gezeichnetes Dreieck mit einem blutigen Punkt in jeder der Ecken.

»Ein Racheakt«, dachte der Polizeibeamte, ohne auch nur einen Moment zu schwanken. Er kannte diese Methode, Hieroglyphen zurückzulassen. Und während es ihm in den Sinn kam, dass der junge Mann, der mit dem Bankier gespeist hatte, im Haag ein Telegramm nach Dordrecht aufgegeben und das Geld hingelegt hatte, ohne sich auch nur die Zeit zu nehmen, bis zur Rückkehr des Telegraphenbeamten zu warten, warf er rasch entschlossen die Korridortür zu und befahl dem nervösen Zugführer, das zweite, für Artur Rondeels Begleitung reservierte Abteil aufzuschliessen.

»Wer ist da? ... Draussen bleiben ... nicht reinkommen!« rief eine ganz überreizt-nervöse Stimme, und eine Hand versuchte zornig, die Schiebetür wieder zuzumachen. Allein Duporcs kräftiger Fuss stand bereits wie ein Keil dazwischen.

»Weg von der Tür!« sagte der Polizeibeamte drohend.

»Zum Donnerwetter! Sie verdammter Kerl! Lassen sie doch die Leute in Ruhe!« brüllte der Schriftsteller, der sich im Schweisse seines Angesichts abmühte, Josephus Bok, der nach der Entdeckung halb ohnmächtig geworden war, mit aufmunternden Worten und einer Flasche Kölnisch-Wasser, die er in der Tasche des Direktors der All-Risk-Versicherungsgesellschaft gefunden hatte, wieder zu sich zu bringen. »Sie haben draussen zu bleiben und nicht überall Ihre Nase hineinzustecken!« Und von neuem versuchte er mit aller Kraft, die Tür zuzuschieben. Allein das ging nicht. Nathan Marius Duporc packte durch den Spalt sein Handgelenk mit der ausgefransten Manschette, bog es nach oben und drückte Hans Thyssen ins Abteil zurück.

»Keine Scherze, verehrter Herr, wenn ich bitten darf,« sagte er scharf, »oder Sie haben die Folgen zu tragen. Ich bin Polizeibeamter.«

»Was geht das mich an!« schnauzte der andere. »Sie haben sich hier nicht einzudrängen! Jedenfalls werde ich Ihnen Ihr unerhörtes Benehmen noch eintränken! Ich kenne den Polizeichef persönlich und bin Mitarbeiter unzähliger Blätter!« Diese Drohung, die noch selten ihre Wirkung verfehlt hatte, machte auf den Kriminalkommissar, der überhaupt nicht hinhörte, nicht den geringsten Eindruck.

»Halten Sie bitte Ihren Mund, mein Herr, und machen Sie die Sache nicht noch schlimmer«, sagte er, und seine kurze, bestimmte Art gab dem Schriftsteller doch zu denken. »Sie persönlich interessieren mich nicht im allergeringsten, mit Ihnen habe ich nichts zu schaffen. Im angrenzenden Abteil ist der Herr ermordet worden, dessen Bekanntschaft Sie zwischen Haag und Delft gemacht hatten. Ich bin zufällig im Zuge anwesend, tue meine Pflicht, untersuche – und im übrigen geht es mich nichts an, ob ich dabei einem Menschen lästig falle oder nicht. Was ist mit diesem Herrn hier los?«

Er meinte Joopie Bok, der auf den Knien lag, den Kopf auf den Rand des mit Gepäck belegten Bettes gepresst hatte und so heftig schluchzte, dass sein ganzer Körper davon erschüttert wurde.

»Das ist der Freund des Herrn Rondeel, der ihn nach Paris begleiten sollte«, begann Hans Thyssen, der allmählich seinen Groll vergass. »Der Mann ist ganz hin von dem furchtbaren Schrecken. Hätte ich ihn nicht zurückgehalten, so würde er eben aus dem Zuge gesprungen sein. Sie haben ja wohl selbst im Speisewagen gesehen, wie die beiden zueinander standen ...«

»Herr Bok, Herr Bok!« sagte Duporc, während er seine Hand auf die Schulter des Knienden legte, »können Sie mir ein paar Fragen beantworten?«

Josephus Bok hob einen kurzen Augenblick sein tränenfeuchtes Gesicht. Mit einer verzweiflungsvollen Gebärde, die mehr ausdrückte, als Worte vermocht hätten, deutete er an, dass aus seinem vom Schluchzen erschütterten Kehlkopf kein Laut käme, und sank dann von neuem mit dem Kopf auf den Bettrand zurück.

»Der Schreck ist ihm auf die Stimme geschlagen«, sagte Hans Thyssen, der plötzlich das Bedürfnis empfand, dem anderen zu Hilfe zu kommen. »Uebrigens kann er Ihnen ja auch nicht mehr sagen als ich. In meiner Gegenwart, zwei Schritte von mir entfernt, öffnete er die Tür, weil er auf sein Klopfen keine Antwort bekam, und sagte: ›Verzeihen Sie bitte, Herr Rondeel, wenn ich Sie störe ... ‹ Ich wollte mich gerade zurückziehen, ich kenne die Herren nur flüchtig. Da prallte Herr Bok wie ein Wahnsinniger zurück, taumelte gegen die Wand und stiess leichenblass einen Schrei aus, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Darauf sah ich natürlich auch hin, konnte aber nicht genau erkennen, was geschehen war – na und dann kam der Schaffner vorüber, der erst Licht machte und zum Zugführer raste, um Meldung zu erstatten und anzufragen, ob der Zug halten sollte.«

»Wo ist denn der junge Mann, der den Herrn begleitete?« fragte der Kommissar.

»Verschwunden ...«

»Ist das sicher?«

»Positiv. Und das ist eben beängstigend ...«

»War der zuletzt im Coupé?«

»Ja, das war er.«

Einen Augenblick versuchte der Polizeibeamte, Ordnung in das Gewirr seiner wild jagenden Gedanken zu bringen, dann packte er den noch immer am Bett kauernden stöhnenden Josephus höchst unsanft bei der Schulter.

»Mein Herr,« schrie er so laut, dass seine Stimme den Lärm des Zuges übertönte, »hören Sie auf mit Ihrem Gejammer! Dazu haben Sie später noch Zeit. Verstehen Sie mich nicht? Sie sollen aufhören und mir Antwort geben!«

Das tat Josephus Bok denn auch, aber in fast erschrecklicher Art. Plötzlich richtete er sich mit einem Ruck auf, gab dem Polizeibeamten einen Stoss und schrie, hochrot vor Zorn und so heiser, dass seine Worte fast unverständlich waren:

»Lassen Sie mich doch in Ruhe, Sie Hundekerl! Sie sehen doch, wie elend ich bin! O, ich könnte mir das Leben nehmen! Mein bester, mein einziger Freund auf so abscheuliche Weise aus der Welt geschafft! Und ich begleitete ihn, um über ihn zu wachen! Seiner Tochter wage ich nicht mehr vor die Augen zu treten! Allmächtiger! Die Aermste, die alles für die Hochzeit ...« Seine Stimme schlug um; überwältigt von dem, was er soeben beim Oeffnen der Tür gesehen hatte, und schaudernd bei dem Gedanken, was alles sich in Amsterdam bei seiner Rückkehr ereignen würde, warf er sich wieder auf das Bett, so dass Nathan Marius Duporc seine Untersuchung für einen Augenblick unterbrechen musste. Ohne sich um den vom Schmerz Ueberwältigten weiter zu kümmern, liess er seine Augen rund im Raume herumgehen.

Zwischen den beiden für Herrn Rondeel reservierten Abteilen befand sich eine Verbindungstür, die an beiden Seiten verschlossen war, aber während der Reise geöffnet worden sein musste; denn die halbe Flasche Kognak und die drei Gläser, die sie aus dem Speisewagen mitgenommen hatten, standen hier auf dem Tischchen. Und hier waren wohl auch die Handkoffer geblieben, in denen die Wertpapiere gewesen waren. Duporc konnte es vor Nervosität kaum noch aushalten. In einer Viertelstunde sollte der Zug schon in Dordrecht einlaufen. Und nun fiel ihm auch ein, wie er entweder kurz vor oder kurz nach Delft ein schallendes Gelächter gehört hatte, das aus dem Schlafwagenabteil des Herrn Artur Rondeel kam; wie man dort im Halbdunkel wohl nach dem üppigen Diner einen Kognak nach dem anderen getrunken hatte, und wie er dabei zum letztenmal den Ausruf: »Verrückter Hering!«, offenbar den gern gebrauchten Spitznamen für Josephus Bok, gehört hatte. Zwischen Delft und Rotterdam war der dicke Freund des Bankiers im Korridor des D-Zuges auf und ab gegangen, hatte den blassen Schriftsteller, der sich in so seltsamer Weise bei der Damentoilette zu schaffen machte, angesprochen, und dann waren sie zusammen nach dem Schlafwagen zurückgegangen. Halt: »Dränge mir doch nicht derartige Bekanntschaften auf«, hatte der Direktor der Internationalen Bank gesagt, nachdem der blasse Schriftsteller mit der Weinkarte in seiner Tasche verschwunden war. Und der untersetzte rotwangige Freund mit der zu weiten Reisemütze, der jetzt wimmernd und wehklagend dalag, hatte geantwortet: »Damit verfolge ich eine ganz besondere Absicht.«

Hier stimmte etwas nicht. Vor dem Coupé des Bankiers hatte der Schriftsteller eine frische Zigarre geraucht, während er selber auf der Suche nach Jan Tulp gewesen war. Den Herrn Josephus Bok hatte er in dem Augenblick nirgends bemerkt. Als nun der Zug plötzlich mit einem Ruck auf der Maasbrücke hielt, waren alle Leute aufgeschreckt, und jeder hatte gefragt und sich erkundigt – ausser dem Bankier und seinem verschwundenen Sekretär. – Das alles wurde nach der Katastrophe natürlich ganz klar. – Wo aber hatte sich inzwischen der dicke Freund aufgehalten? War die Verbindungstür zwischen den beiden reservierten Abteilen in jenem Augenblick geöffnet gewesen? In welchem der Abteile waren in diesem Augenblick die Handkoffer mit den Wertpapieren gewesen, die zugleich mit dem aus dem Zuge geworfenen Millionär und dem Sekretär verschwunden waren? War es möglich, dass der Sekretär das Verbrechen begangen, den Körper allein und ohne Hilfe aus dem Fenster geworfen hatte, und dass der Ueberfallene sich vorher noch hatte zur Wehr setzen und die Notbremse ziehen können?

Nathan Marius Duporc vom Amsterdamer Sicherheitsdienst, der sich in der Regel auf seinen ersten Eindruck verliess, schnüffelte wie ein Polizeihund, der eine Spur verfolgt. Seine blitzschnelle Gedankenfolge hatte kaum eine halbe Minute ausgefüllt. Er fragte den Schriftsteller nur noch, ob er mit Herrn Rondeel, nachdem er ihn im Speisewagen kennengelernt hatte, ein zweites Mal in oder vor seinem Coupé gesprochen hätte? Und als Hans Thyssen gelangweilt die Achsel zuckte und mit einem kurzen Nein antwortete, sah er noch einmal auf den zuckenden Rücken des Mannes, der quer über dem Bette lag, und glaubte dabei, auf dem Bettlaken des Josephus Bok einen kleinen roten Flecken zu bemerken.

»Ich danke Ihnen für Ihre Mitteilungen«, sagte er, während er die Tür hinter sich schloss. In dem anderen Abteil, wo Artur Rondeel mit seinem Angreifer oder seinen Angreifern gerungen hatte, ersuchte er den Schaffner, ihn allein zu lassen und dafür zu sorgen, dass der Korridor des Schlafwagens frei bleibe. Zunächst schloss er geräuschlos das Fenster, wobei er die sichtbaren Fingerabdrücke sorgfältig unberührt liess. Dann horchte er scharf, ob Geräusche hinter der fest verschlossenen Verbindungstür hörbar wurden. Nichts. Der rasende Lärm des dahineilenden Zuges – der Lokomotivführer versuchte, die Verspätung von der Maasbrücke wieder einzuholen –, machte es ihm unmöglich, auch nur ein Wort der Unterhaltung aufzufangen. Doch während er noch mit dem Ohr an der dünnen Füllung dastand und dabei das Schloss fast unwillkürlich mit seinem Blick streifte, wurde es ihm plötzlich klar, dass seine erste Vermutung Wahrheit sein musste. Wenn man sich zwei Abteile reservieren liess und so grosse Werte mit sich führte, schloss man sich nicht allein ein, sondern behielt eben die Verbindung miteinander. Folglich musste die Zwischentür erst nach dem Attentat geschlossen worden sein. Als sich der Bankier so früh entkleidete, und als die Koffer in seinem Abteil standen, hatte er natürlich die Korridortür verschlossen. Der Freund, der jetzt einen Nervenchok bekommen zu haben schien, wollte aber in Gesellschaft des merkwürdigen Schriftstellers gerade durch diese Tür hineingegangen sein. Hier stimmte also etwas nicht. Und es erschien auch höchst verdächtig, dass der Millionär das Licht abgedämpft haben sollte, bevor er noch mit seiner Nachttoilette fertig war.

Mit unnachgiebiger Konsequenz setzte Duporc seine Untersuchung fort. Auf dem polierten Holz der Verbindungstür waren keine Blutspritzer zu sehen; sämtliche Spuren führten von dem benutzten Bett zu der Notbremse, die leider im gleichen Augenblick gezogen worden war, in dem auch er sie gezogen hatte. Mit seiner elektrischen Taschenlaterne beleuchtete der Kriminalkommissar jeden einzelnen Gegenstand im Coupé, ebenso wie er es kurz zuvor in dem Abteil der Witwe Menzel Polack getan hatte. In der Innentasche des Jacketts, das an dem messingnen Haken hing, fand er die Brieftasche des Vermissten. Darin befanden sich ein paar Schreiben, sowie ein Kreditbrief auf eine Pariser Bank. In der Weste stak eine goldene Remontoiruhr, und aus einer kleineren Tasche kam ein goldener Füllfederhalter zum Vorschein. In einer weiteren Tasche fand sich ein zweites Portefeuille mit dem Bild einer dekolletierten jungen Frau und einem 1000-Gulden-Schein. Folglich konnte der Raubmord nicht wegen derartiger Dinge von immerhin geringerem Wert verübt worden sein, sondern nur wegen der Koffer. Nun war der Mörder allem Anschein nach durch das Ziehen der Notbremse in seinem Vorgehen gestört worden. Der Notbremse ... der Notbremse ... Auch hier stimmte etwas nicht ganz. Als er, Nathan Marius Duporc, die Notbremse gezogen, hatte er sofort das Fenster der Toilette geöffnet, und während er den Kopf hinaussteckte, hatte er den Körper schon fallen sehen. Folglich musste der Mörder in dem gleichen Zeitraum das viel schwerer zu öffnende Fenster des Schlafwagenabteils mit den herabgelassenen Vorhängen aufgemacht und die gewaltige Kraft besessen haben, sein Schlachtopfer, das sich an dem Griff der Notbremse festhielt, hochzuheben und über die Eisenbahnbrücke zu werfen.

Das konnte unmöglich ein Mann allein getan haben. Der schwer Verwundete oder vielleicht bereits Tote war nicht aus dem Zuge gefallen, sondern mit einer solchen Wucht aus dem Zuge geworfen worden, dass er erst gegen den Pfeiler schlug und dann in den Fluss stürzte. Es musste also ein Helfershelfer mit im Spiele sein. Und der war wohl nicht allzu weit zu suchen – denn der Schmerz des Freundes war zu auffällig, zu geräuschvoll, zu lärmend, um echt zu sein. Und der kleine rote Fleck auf dem Bettlaken konnte auch nicht sorgfältig genug untersucht werden.

Nachdem der Kommissar sich noch ein paarmal flüchtig umgeschaut hatte, betastete er den Pelz des Herrn Artur Rondeel, der auf das Oberbett des Abteils gelegt worden war. Das deutete schon zur Genüge darauf hin, dass der Ermordete das Coupé für sich allein hatte behalten wollen, und dass der junge Mann mit Herrn Josephus Bok im angrenzenden Abteil übernachten sollte. Duporc nahm noch ein paar Papierschnitzel auf, die neben dem Bett lagen. Ja, sogar auf den Aschenbecher warf er einen flüchtigen Blick – viel Zeit blieb ihm nicht mehr: darin lagen viele Endchen einer ganz besonderen Sorte Zigaretten und mehrere Zigarrenringe. Seltsam – neben zwei Ringen von Ein-Gulden-Zigarren eine Banderole zu vier Cent! Die gleiche Zusammenstellung, die ihm schon im Speisewagen aufgefallen war! Also musste auch der Schriftsteller hier gewesen sein!

Rasch kniete der Polizeibeamte nieder. Mit seiner Laterne beleuchtete er den Bodenbelag aufs sorgfältigste. Da war nichts anderes zu sehen, als der feuchte Fleck des schon eingezogenen Blutes und ein wenig zertretene Asche. Unweit des Spiegels lag noch eine Haarsträhne, die so trocken aussah, als hätte sie schon lange dagelegen. Haar, das sich nicht wie natürliches anfühlte. Zuerst liess Nathan Marius es wieder fallen; dann steckte er es aber doch zu sich. Man durfte schliesslich nichts verabsäumen.

»Schliessen Sie die Tür«, sagte er zu dem Schaffner, der sich sehr darüber verwunderte, dass der Beamte schon so rasch fertig war: das Ganze hatte kaum zwei Minuten gedauert. Und im Nu hatte der Beamte das Schloss so geschickt mit dem Stein seines eigenen Ringes versiegelt, als gehöre dies zu seinen alltäglichen Beschäftigungen.

»Ich werde von Dordrecht aus drahten«, flüsterte er noch rasch, »dass der Schlafwagen in Roosendaal abgehängt und der Behörde zur Verfügung gestellt wird. Ich bedauere sehr, dass den anderen Reisenden dadurch Unbequemlichkeiten verursacht werden, aber dieser Waggon darf unter keinen Umständen über die Grenze – unter gar keinen Umständen ...«

Ohne die Antwort des Schaffners abzuwarten, öffnete er ganz plötzlich das zweite Abteil, um Josephus Bok und den Schriftsteller zu überraschen. Doch damit hatte er wenig Erfolg. Der Intimus des Bankiers lag noch immer in fast der gleichen Stellung da und hatte den Kopf in die Hände vergraben, und der Schriftsteller, der nicht recht wusste, was er mit ihm anfangen sollte, stand am Fussende und war eifrigst damit beschäftigt, ein ausführliches Telegramm für eine Amsterdamer Zeitung aufzusetzen, und hocherfreut, dass er der Morgenausgabe den ersten Bericht übermitteln konnte. Aus dieser sensationellen Angelegenheit liess sich etwas herausholen!

Gerade hatte er geschrieben, dass er sich nähere Einzelheiten für die Abendausgabe vorbehalte – da stand der dreiste Polizeimensch schon wieder in der Türöffnung!

»Ich darf Sie wohl höflichst ersuchen, in Dordrecht den Wagen zu verlassen«, sagte der Mann mit dem kurzgeschnittenen roten Haar.

»Gewiss,« sagte Hans Thyssen, »ich reise ohnehin nicht weiter.«

»Und dieser Herr dort muss auch aussteigen.«

»Sagen Sie ihm das gefälligst selbst!« Der Schriftsteller schob es von sich ab.

»Mir ist alles recht«, sagte Josephus Bok stöhnend. »Was soll ich denn allein in Paris anfangen ... was soll ich da ohne diesen guten, braven Menschen! ...«

»Ich danke Ihnen«, sagte Nathan Marius Duporc zu Hans Thyssen. »Ich muss Sie noch um Ihre Zeugenaussage ersuchen; im übrigen werde ich Ihnen nicht weiter zur Last fallen.«

»Verfügen Sie ganz über mich,« sagte Hans Thyssen, »aber bitte erst nach elf Uhr, denn ich habe hier heute abend einen literarischen Vortrag zu halten.«

Er stand jetzt dem Polizeibeamten gerade gegenüber und hielt die in nervöser Hast zerbissene Zigarre zwischen den Zähnen.

»Sie haben also Herrn Rondeel nicht mehr gesprochen, nachdem Sie ihn im Speisewagen kennengelernt hatten?« fragte der Inspektor nochmals.

»Das haben Sie mich bereits einmal gefragt,« antwortete der andere scharf, »und ich habe Ihnen bereits einmal geantwortet: Nein!«

»Entschuldigen Sie,« sagte Duporc höflich, »darf ich Sie nun noch um ein wenig Feuer bitten?«

»Bitte sehr!« sagte der Autor unwirsch. Dieser aufdringliche Mensch, der einen Reisenden in einem solchen Augenblick mit einer solchen Bagatelle belästigte, durfte mit Sicherheit auf eine aussergewöhnlich liebevolle Beschreibung in seinem ausführlichen Berichte rechnen!

»Danke«, sagte der Beamte, während er ihm das zerkaute Zigarrenende zurückgab – aber ohne die Banderole. Diese sah er sich aufmerksam an, sobald er wieder in den Korridor zurückgelangt war. Eine Zigarre des Ermordeten! Der Mann log also! Der musste mehr wissen. Entweder musste er die Zigarre vor dem Attentat bekommen haben – dann hatte er also »Schmiere gestanden«, denn er hielt sich gerade vor der Coupétür auf und rauchte eine frische Zigarre, als der Kommissar vorbeikam – oder er musste diese neue Zigarre in Empfang genommen haben, kurz nachdem die Notbremse gezogen worden war, was allerdings noch seltsamer erschien. Während Duporc noch mit sich im heftigen Widerstreit war, wie er den Knoten durchhauen und ob er diesen Jan Tulp, den berüchtigten Hoteldieb, der sich zweifellos noch im Zuge aufhalten musste, über die Grenze entwischen lassen und das bestialische Verbrechen in Dordrecht sofort melden sollte, gab ein kleiner Zwischenfall den Ausschlag. Hans Thyssen, der ein Glas Wasser für Josephus Bok holen sollte, eilte an dem Detektiv vorüber und traf etwa drei Schritte weiter die Witwe Menzel Polack, die sich fertig gemacht hatte und die so elend begonnene Reise unterbrechen wollte. Die Dame stiess einen Schrei aus, wich zurück und liess den Schriftsteller an sich vorübergehen.

»Wer war das?« fragte Nathan Marius Duporc.

»Er!« sagte sie entsetzt, »er, der kleine Blasse mit der brennenden Pfeife ...«

»Steigen Sie in Dordrecht aus?«

»Natürlich tue ich das, natürlich.«

»Also tun wir es zusammen, gnädige Frau«, sagte der Polizeibeamte, den es ausserordentlich verstimmte, dass er infolge dieses notwendigen Entschlusses sich die prächtigen Trümpfe in Sachen Tulp entgehen lassen musste. Wäre er bloss auf den Vorschlag eingegangen, den ihm der Kollege Willems vom Haager Sicherheitsdienst gemacht hatte, und hätte er bloss die hilfreiche Unterstützung dieses Mannes angenommen!

Kaum hielt der Zug in Dordrecht, als er auch schon aus dem Schlafwagen sprang – und noch bevor einer der Reisenden die Sperre passiert hatte, war es ihm gelungen, dem Dordrechter Schutzmann, der draussen Wache hielt, in aller Eile die erforderlichen Instruktionen zu erteilen und sich selbst am Ausgang so aufzustellen, dass er kontrollieren konnte, wer den Zug verliess.

Es entstand ein erhebliches Gedränge, denn es waren verhältnismässig viel Reisende ausgestiegen.

Herr Josephus Bok, der sich keinen Augenblick widersetzte – im Gegenteil sogar selber die Absicht gehabt hatte, die Sache bei der Dordrechter Polizei zu melden –, wurde höflichst ersucht, sich mit zur Wache zu begeben, desgleichen Herr Hans Thyssen, der so geräuschvoll protestierte, dass ein Auflauf entstand. Er schrie, dass sein Vortrag nicht verschoben werden könnte, dass er Klage erheben würde, und dass er ... Und weil er eine so drohende Haltung annahm, packte ihn der Schutzmann einfach beim Kragen.

*

Einen Augenblick später stiegen im Hotel Ponsen zwei Paare ab – ein alter Engländer mit einer jungen blonden Frau, und ein kleiner Franzose, der sich in Begleitung einer eleganten, schlanken, brünetten Dame befand.

Ihr Gepäck gaben sie nicht aus den Händen.

Die Engländer zogen sich sogleich auf ihr Zimmer zurück, bestellten eine Kleinigkeit zu essen – die Französin, die nicht ganz wohl war, bat um eine Wärmflasche. Nur der junge Franzose blieb noch eine ganze Weile unten, um ein paar Briefe zu schreiben, und trank eine Flasche Bordeaux dazu.

Als er fertig war, ging er nach oben, stolperte über die herausgestellten Stiefel des englischen Paares, bückte sich und machte grosse Augen.

»Himmelsakrament«, sagte Jaapje Eekhorn, dieweil er auf die Geräusche im Innern des Zimmers schärfer hinhorchte ...


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