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Zehntes Kapitel

Worin Jaapje Eekhorn den Flirt seines Busenfreundes fortsetzt, eine Verlobung auf niederträchtige Art aufgehoben und Klothilde Rondeel mit herzlichen Teilnahmebeweisen überschüttet wird.

 

Seien Sie vorsichtig, gnädige Frau,« sagte Jaapje und sah dabei aus wie ein behäbiger Krämer, »ich persönlich tue ja, was ich kann, um meine einfache Behausung so sauber wie möglich zu halten – den Luxus eines dienstbaren Geistes kann ich mir leider nicht gestatten; – aber es gehen hier Menschen aus und ein, die es für angebracht halten, ein sauberes Wohnschiff mit anderen Füssen zu betreten als das Portal eines Patrizierhauses. Noch einen Schritt, wenn ich bitten darf, und Sie haben's geschafft. Ich heisse Sie willkommen in der ›Rustenburch‹.«

»Nun – und?« sprach die Stimme hinter dem schwarzen Schleier, und die zwei Wörtchen kamen messerscharf heraus.

»Bitte – nehmen Sie Platz«, fuhr Jaapje fort, während er liebenswürdig einen Stuhl anbot, aus dessen Sitz die Binsen des Geflechtes emporstarrten. »Darf ich Ihnen etwas anbieten – vielleicht eine Tasse Tee – eine Tasse Kaffee – eine Zigarette?«

»Sie sind ein Schuft!« unterbrach ihn die Verschleierte, »und Ihr Freund ist der gemeinste Hochstapler, den man sich denken kann!«

»Es ist mir leider unmöglich, Ihnen zu widersprechen«, sagte der kleine Spitzbube; »nur möchte ich sagen, dass Sie mich doch allzu streng beurteilen – und wenn mein Freund in der Tat ein Hochstapler ist, so dürfen Sie dabei doch nicht übersehen, dass in jedem anderen Beruf in den letzten Jahren die grössten Schwierigkeiten zu überwinden waren. Alles verstehen, heisst alles verzeihen ...«

»Verschonen Sie mich mit Ihrem Geschwätz!« sagte die Dame mit bebenden Lippen, »sonst gehe ich sofort wieder!«

»Ich werde Sie nicht zurückhalten«, sagte Jaapje, während er sich auf den Tisch schwang, auf dem noch die Reste seiner luxuriösen Mahlzeit zu sehen waren. Dann steckte er sich eine Zigarette an und fuhr fort: »Wir wollen nun zur Sache kommen! Ich glaube, wir beide sind hier nicht zusammengekommen, um uns unangenehme Dinge zu sagen, sondern um nüchtern und geschäftlich miteinander zu sprechen. Haben Sie die Etuis mitgebracht?«

»Ich denke ja gar nicht daran! Auf so eine Erpressung falle ich nicht herein ...«

»Grosse Worte sind schlechte Argumente«, .sagte Jaapje philosophisch. »Heute morgen, nachdem ich aus Dordrecht zurückgekommen war, wo ich Sie in Ihrer Nachtruhe nicht stören wollte, hab' ich mir gestattet, Sie anzuklingeln und Ihnen telephonisch eine Nachricht zu übermitteln, die für Sie doch immerhin von einem gewissen Interesse sein durfte. Schwarz auf weiss tue ich so etwas nicht gern, weil die Post häufig etwas bummelig verfährt und Hausgenossen oft neugierig sind. Ich schlug Ihnen dieses Rendezvous vor und gab Ihnen in höflichen Worten zu verstehen, dass ich mich sonst genötigt sehen würde, die in unseren Besitz gelangten Gegenstände bei der Polizei zu deponieren ... Sie sind gekommen ... also ...«

»Ich selbst habe die Sache der Polizei mitgeteilt, und zwar dem rothaarigen Herrn.«

»Was Sie nicht sagen!« meinte Jaapje Eekhorn; »wenn dem wirklich so wäre, würden Sie mir wohl nicht die ganz besondere Ehre Ihres Besuches angetan haben ... Eine Dame Ihres Standes stürzt sich doch nicht in ein Abenteuer dieser Art, wenn sie sich auf andere Weise aus einer fatalen Situation befreien kann ... Bitte, setzen Sie sich doch ...«

»Ich danke ... Das Sitzen überlasse ich später Ihnen ...«

»Hübsch gesagt!« meinte Charles Jean Tullipes bester Freund und griente. »Ich hätte Ihnen gar nicht so viel Geist zugetraut. Aber ich habe so eine leise Ahnung, als ob Sie nicht bloss deshalb hierhergekommen sind, um mir einen heiteren Augenblick zu verschaffen ...«

»Im Gegenteil, Sie werden binnen zehn Minuten verhaftet werden ...«

»Das fährt mir ordentlich in die Glieder ... Sie nehmen also wirklich keine Zigarette ...? Aber Sie gestatten, dass ich rauche ...?«

In aller Gemütsruhe zündete er sich dann ein Streichholz an, und mit noch grösserer Gemütsruhe tat er dann, was er in allen Lebenslagen zu tun pflegte und was ihm zum Verhängnis werden sollte: er legte das Zigarettenmundstück neben eine Reihe anderer auf den Rand des Tellers, auf dem noch die mit Sachkenntnis ausgekratzten Hummerschalen lagen.

Während sie voller Nervosität schwer atmete und sich die Lippen mit ihren Goldzähnen zerbiss, dachte sie einen kurzen Augenblick daran, wieder zu gehen und wirklich die Polizei anzurufen. Aber sie hatte ihre Diebstahlsanzeige schon eigenhändig unterschrieben, sie hatte – in der festen Ueberzeugung, dass sie sich nicht irrte – einen Menschen beschuldigt –, sie hatte die gestohlenen Gegenstände genau beschrieben – das hatte schon in allen Blättern gestanden, – sie konnte, sie durfte nicht mehr zurück – sie war für immer blamiert, wenn ...

»Was für eine Abstandssumme wollen Sie haben?« begann sie mit festerer Stimme.

»Machen Sie mir einen Vorschlag«, sagte Jaapje, während er sich nachlässig am Tische niederliess und den Rauch seiner Zigarette über die Zeitung hin blies, die er sich in einem Kiosk gekauft hatte. Da stand mit auffallend fetten Lettern zu lesen:

Mord im Pariser Express!

Die Leiche aus dem Schlafwagen geworfen. – Ein bekannter Amsterdamer Bankier und eine Amsterdamer Dame beraubt. – Mörder und Dieb ins Ausland entflohen. – Die mutmasslichen Helfershelfer verhaftet.

»Merkwürdig ist doch unsere moderne Zeit«, begann der kleine Schurke von neuem, während er die Gläser seiner Hornbrille unter der sanft schaukelnden Lampe putzte: »es kann sich nichts, aber auch gar nichts ereignen, ohne dass sich die Menschen mit einer Aktivität darauf stürzen, die in meiner Jugend noch unbekannt war. Unser Beruf wird mit jedem Tage schwieriger. Ich muss immer an das erstemal denken, da ich unschuldig verdächtigt wurde ...«

»Sind Sie mit zweihundert zufrieden?« fragte die Stimme hinter dem Schleier.

»Wenn Sie mir gestatten wollen, auszureden, verehrte Dame. Ich erinnere mich ganz genau, dass damals in Amsterdam noch keine Elektrische fuhr, dass ich auf dem Perron der Pferdebahn irrtümlich die goldene Remontoireuhr des neben mir stehenden Herrn ans Ohr hielt ... ja, ja, die Zeit vergeht ... wie alt war ich damals eigentlich? ... vielleicht so fünfzehn, sechszehn Jahre ... und für wie alt halten Sie mich jetzt?«

»Dreihundert ...«, erhöhte die Dame ihr Angebot.

»Dreihundert ...«, sagte Jaapje Eekhorn lächelnd, dann wäre ich ja, wenn ich nicht sehr irre, noch zur Zeit des Dreissigjährigen Krieges geboren ... Ja, wirklich ... Der Friede zu Münster wurde im Jahre 1648 geschlossen ...«

»Sie sind das infamste Subjekt, das mir je vor die Augen gekommen ist«, rief die Dame leidenschaftlich, »Sie und Ihr Freund sind zwei ganz gerissene Schurken ...«

»Ganz falsch!«, sagte der Herr des Wohnschiffs, der sich allmählich als ein Märtyrer hinzustellen begann; »es ist nicht das richtige, sich einen guten Freund durch unliebenswürdige Worte zu entfremden ... Habe ich etwa, obwohl ich doch dazu das vollste Recht gehabt hätte, Ihren Ruf auf ähnliche Weise angetastet? ... Wenn Sie so fortfahren, werde ich unverzüglich dieser im übrigen entzückenden Konversation ein Ende machen ... Teufel nochmal, verehrte Dame, glauben Sie vielleicht, dass es für uns nicht ein Schlag ins Gesicht war, als wir unsere Mühe, unsere Zeit und unsere hohen Reisespesen mit so ordinären falschen Steinen und falschen Perlen belohnt sahen?! Schämen Sie sich nicht, Ihre Mitmenschen damit in Versuchung zu führen, dass Sie um den Hals, in den Ohren und an den Fingern so wertloses Zeug mit sich herumtragen? Meinen Sie vielleicht, wir hätten unsere Zeit nicht besser verwenden können? Es ist ein Skandal, gnädige Frau, dass Sie Menschen mit begehrlichen Seelen auf solche Weise zu Fehlgriffen verleiten, und es wird bis in alle Ewigkeit hinein eine Schande bleiben, dass Ihre eigenen verbrecherischen Neigungen Sie dazu vermocht haben, das unwahre Gerücht auszustreuen, man habe Ihnen echte Juwelen und Diamanten geraubt, während Sie die Sünde begingen, Simili zu tragen ... Pfui! ... Das hätte einen Unglücklichen ein paar Jahre kosten können!

»Wenn Sie mir die falschen Steine wiederverschaffen«, begann die verschleierte Dame von neuem, »will ich Sie reichlich belohnen ... Glauben Sie mir, ich hatte keine bösen Absichten ...«

»Jetzt will ich Ihnen einmal etwas sagen«, sprach Jaapje erzürnt. »Das sind Ausflüchte, mit denen Sie vor Gericht nicht kommen dürften. Ich habe auf diesem Gebiet meine Erfahrungen. Sie haben Ihren echten Schmuck hoch versichert; Sie haben erklärt – steht es etwa nicht so in den Blättern? –, dass Ihnen ein ganzes Vermögen geraubt worden ist. Sie haben also erstens die Versicherungsgesellschaft betrügen und zweitens einen meiner Freunde einsperren lassen wollen! Ich glaube, das genügt fürs erste! Ich habe für geringere Vergehen ein Jahr gekriegt ...«

Der geheimnisvollen Dame wurde hinter ihrem Schleier so unbehaglich zu Sinne, dass sie von dem angebotenen Stuhl mit den herausstehenden Rohrenden Gebrauch machte und sich die Tränen trocknete, ohne indessen ihren Schleier zu lüften und ihr Gesicht sehen zu lassen.

»Erst bin ich«, so versuchte sie krampfhaft sich zu entschuldigen, »auf niederträchtige Art und Weise im Zuge beraubt worden. Ich wusste gar nicht mehr, was ich sagte, so elend fühlte ich mich ... Ich war so krank, dass ich glaubte, ich müsste sterben ...«

»Ach was«, erklärte Jaapje Eekhorn, der in seiner Jugend in einem Laboratorium gearbeitet hatte, »man stirbt nicht vor Freude, gnädige Frau, und man stirbt noch weniger an einer fachmännisch verabreichten Dosis Formyltrichlorid ...«

»Reden Sie doch nicht solchen Unsinn!« sagte die Beichtende aufs höchste gereizt – hätte sie es sich wohl tags zuvor träumen lassen, dass sie nun in einem schmutzigen Wohnschiff den bösartigen Launen eines Erpressers und Diebes preisgegeben sein würde? »Gewiss glaubte ich, sterben zu müssen, und bestohlen war ich ausserdem. Ob der Schmuck nun falsch oder echt war: bestohlen war ich, und auch meine Börse und all mein kleines Geld und meine Fahrkarte waren verschwunden. Dann habe ich allerdings, und ich gebe zu, dass das nicht korrekt war, der Polizei vorgelogen, die Steine seien alle echt gewesen, weil der Dieb im Ausland doch nicht zu fassen sein würde, und weil es mir plötzlich durch den Kopf ging, dass die Versicherungsgesellschaft ja für den Schaden aufkommen müsste. Ich habe in der letzten Zeit durch die Schuld meiner Verwandten wahnsinnig viel Geld verloren ...«

»Sehr tragisch!« bemerkte Jaapje Eekhorn; »aber deswegen hätten Sie noch immer nicht behaupten dürfen, man hätte Ihnen echte Steine und echte Perlen geraubt ...«

»Das würde ich auch nicht getan haben. Aber dieser Kriminalbeamte sagte mir gleich, dass der wertvolle Schmuck nun natürlich spurlos im Auslande verschwinden würde, weil die internationale Bande ihre festen Abnehmer hätte – und da spielte ich eben die hässliche Komödie, weil man bei dem anderen doch nichts gefunden hätte ...«

»Bei welchem anderen?« fragte Jaapje, der nun sehr gespannt war, nähere Einzelheiten zu vernehmen.

»Bei dem blassen kleinen Herrn, der sich auf der Damentoilette Papiersohlen in die Stiefel gelegt und eingestanden hat, dass er mit Chloroform ...«

Weiter kam die verschleierte Dame nicht, denn Jaapje Eekhorn fiel unter den schmutzigen Tisch auf den noch schmutzigeren Boden – die Zigarette entfiel seinen Fingern – er lachte so laut, dass die losen Planken dröhnten.

»Nehmen Sie mir's nicht übel«, sagte er, »das ist ja wirklich zum Totlachen ... nein, diese Reise werde ich mein Lebtag nicht vergessen ... Jetzt sitzt also ein armer Kerl, der mit der Sache gar nichts zu schaffen hat, an meiner Stelle ... Haben Sie Shakespeare gelesen, gnädige Frau? ... Das ist ja die ›Komödie der Irrungen‹ in schönster Neuauflage ... Sie schwindeln Fachleuten üblen Schund, eine Börse mit 10 Francs und einem durchlöcherten Cent in die Hände ... Sie kosten uns an Reisespesen und Hotelrechnungen sehr viel mehr ... und ein anderer, den die ganze Geschichte nichts angeht, muss es büssen ... Wie kommen wir aus dem Wirrwarr heraus ...?«

»Das weiss ich auch nicht«, seufzte die Dame hinter ihrem feuchten Schleier. »Hätten Sie mir lieber meine echten Steine gestohlen, dann wäre dies wenigstens nicht geschehen ...«

»Dem ist leicht abzuhelfen«, sagte Jaapje Eekhorn diensteifrig. »Wenn Sie mir die Etuis mit den echten geben, gebe ich Ihnen die falschen, und Sie können dann unter Ihrem Eid aussagen, dass Sie ein Kapital verloren haben, genau so, wie es in den Abendblättern zu lesen ist!«

»Ich besitze die echten nicht mehr«, sagte die Dame gar kläglich; »die wurden vor anderthalb Jahren in Brüssel verkauft, weil mein Bruder in Verlegenheit war.«

»Eine üble Komplikation«, sagte Jaapje Eekhorn, indes er leise vor sich hin pfiff.

»So geben Sie mir doch die unechten zurück«, bat die Dame flehentlich, »dann werde ich an die Versicherungsgesellschaft schreiben und ihr mitteilen, dass der Herr aus dem Zuge von Antwerpen aus alles zurückgeschickt hat, und dass ich auf jeden Schadenersatz verzichte.«

»Das dürfte kaum gehen«, antwortete Jaapje, »denn ich bin natürlich nicht so dumm, den Schund hier aufzubewahren. Und wenn ich ihn aus den Händen gäbe, wäre ich mit Haut und Haaren den Launen einer Frau ausgeliefert. Ich bin im allgemeinen sehr für Frauen, aber in solchen ernsthaften, geschäftlichen Angelegenheiten traue ich ihnen nicht über den Weg.«

»Also Sie trauen mir nicht ...?«

»Nicht die Bohne! Eine Dame, die sogar die Versicherungsgesellschaft hereinlegen wollte, wird sich keinen Augenblick genieren, einen armen Teufel in einem Wohnschiff hochzunehmen ...«

»Aber was wollen Sie denn?« fragte die Verschleierte nervös.

»Ich will nichts«, sagte Jaapje. »Ich habe mir nur erlaubt, Sie höflichst um annehmbare Vorschläge zu bitten.«

»Ich habe kein Geld bei mir ... aber wenn Sie mir morgen früh die falschen Steine zurückbringen, können Sie fünfhundert Gulden gleich mitnehmen. Aber mehr keinen Cent. Ich will morgen um zwölf Uhr allein zu Hause sein und werde Ihnen persönlich die Tür öffnen. Sie geben mir die Ringe, das Collier, die Perlenboutons – und ich gebe Ihnen fünfhundert Gulden in bar ...«

»Ich werde mir die Sache überlegen und Ihnen meine Entscheidung morgen telephonisch mitteilen. Ich muss auch noch mit meinem Kompagnon reden.«

»Was bin ich doch für eine unglückliche Frau«, sagte die Verschleierte mit einem tiefen Seufzer, während sie sich schon anschickte, zu gehen.

»Das sind Sie allerdings«, tröstete Jaapje Eekhorn. »Aber Verzeihung, verehrte Dame, darf ich vorangehen? Man kann nie wissen, ob draussen nicht irgendein Neugieriger steht ...«

Er löschte die Lampe, liess die Besucherin in dem verqualmten Hinterzimmer und schloss die Tür. Dann warf er einen lauernden Blick über den verlassenen Kai und lootste endlich die geheimnisvolle Dame, der das Herz bis zum Hals hinauf klopfte und die schon aus Angst vor einem noch komplizierteren Abenteuer nervös mit den Fingern an die kleinen Fenster des Wohnschiffes getrommelt hatte, über die schwankende kleine Leiter in die heimliche Stille des Nicolaas-Witsen-Kais hinaus.

»Morgen vormittag zwischen 11 und 12«, sagte er und verbeugte sich tief und mit ausgesuchter Höflichkeit, die einigermassen im Widerspruch zu dem verwahrlosten Aussehen seines Wohnschiffes stand. Sie grüsste, holte schwer Atem und bog in die erste beste Seitenstrasse ein – er stieg wieder in die Kajüte hinab, ohne zu merken, dass die Connie vom Notar einen Herrn, mit dem sie im Hausflur – noch dazu im dunklen! – geflüstert hatte, vorsichtig herausliess. Der Herr schien es plötzlich sehr eilig zu haben; er ging mit hastigen Schritten den gleichen Weg, den die kompromittierte Dame eingeschlagen hatte. Bei einer Laterne eilte er an ihr vorüber, ohne sich umzuschauen; aber an der Haltestelle der Elektrischen stiegen sie im Gedränge zusammen ein – sie war hinter ihrem Schleier unkenntlich – er war ein asthmatischer alter Herr mit einer blauen Brille und einem Schal, den er bis hoch um die Ohren gezogen hatte. Als sie dann raschen Schrittes in ihr am Ende der Sarphatistrasse gelegenes Haus getreten war, zündete er sich unter dem Eingang ein Streichholz an, um einen Zigarrenstummel, den er in der Hand hielt, wieder in Brand zu setzen, und suchte darauf nach einem Namensschild. Nichts. Nur eine Hausnummer, kein Name. Leise drückte er auf die elektrische Klingel; einmal, zweimal, dreimal, kurz, dann immer anhaltender. Es wurde nicht geöffnet. Aber Beharrlichkeit führt zum Ziel! Und nachdem er erstaunlich lange gewartet hatte, wurde endlich im ersten Stock ein Fenster geöffnet.

»Wer ist da?« fragte eine nervöse Stimme; sie klang ängstlich und verriet das unruhige Gewissen der Frau, die offenbar allein zu Hause war. »Wer ist da?«

»Wohnt hier Herr van Zetteren?« rief es von unten herauf. »Ich habe einen Brief persönlich abzugeben ... Wie? ... Wie? ... Wie?«

»Nein, das ist parterre ...«

»Er sollte doch oben wohnen!« ertönte die Stimme unten wieder zwischen zwei Hustenanfällen.

»Nein, hier wohnt Menzel Polack; lassen Sie uns in Ruhe!« tönte es misslaunig von oben.

»Bitte nehmen Sie nur die Störung nicht übel«, sagte der alte Herr unten; und während er nun langsam weiterging, fasste ihn beim blossen Wiederholen dieses Namens ein Schwindel. Er fragte sich allen Ernstes, ob er denn bereits an Gehirnerweichung litte. An der Weesperspoort nahm er sich ein Auto, gab die Adresse eines Hauses auf dem Museumsplatz an, lehnte sich dann ins Polster zurück und rang nach Luft. Da hörte doch wirklich alles auf! Die Witwe Menzel Polack besuchte Jaapje Eekhorn in seinem Wohnschiff, während Jan Tulp von der Bildfläche verschwunden war? Man konnte sich den Kopf zerbrechen, soviel man wollte – eine auch nur irgendwie annehmbare Erklärung liess sich nicht finden.

»Ich glaube wahrhaftig«, grübelte Nathan Marius Duporc, »dass die Dame, die doch sicherlich schon über die Vierzig hinaus ist, sich in den Gesandtschaftssekretär Charles Lenormand leidenschaftlich verliebt hat und nun alles anstellt, um diese Bekanntschaft fortzusetzen – oder dass sie gar den Versuch machen will, ihn aus den Händen der Justiz zu befreien ... In jedem Falle aber ist Jaapje Eekhorn in sein Domizil zurückgekehrt. Ich will ihn jetzt noch ein wenig in Ruhe lassen, bis das kleine Dienstmädchen des Notars telephoniert, dass mein Freund Jan wieder in seinen Taubenschlag zurückgekehrt ist, oder dass die Post Briefe in das Wohnschiff bringt. Ich möchte doch zehn gegen eins wetten, dass wir in allerkürzester Zeit Ueberraschungen erleben ...«

Auf dem Museumsplatz, am Gitter vor dem Hause des verstorbenen Bankiers Artur Rondeel, stieg er aus, bezahlte den Chauffeur, klingelte und gab seine Visitenkarte ab. Das ganze Haus war in Trauer. Die Vorhänge waren herabgelassen, und nach vorn heraus war kein einziges Fenster erleuchtet.

»Ich brauche erst gar nicht zu melden«, sagte der Diener, während er die Karte mit der einfachen Aufschrift

N. M. Duporc,
Kriminalkommissar

von allen Seiten betrachtete. »Das gnädige Fräulein ist erst heute morgen aus Aerdenhout eingetroffen. Sie empfängt keinen Menschen. Es hat gar keinen Zweck, dass ich erst frage. Schon unter gewöhnlichen Umständen war nicht daran zu denken, dass sie zu so später Stunde noch Besuch annahm. Aber im gegenwärtigen Augenblick, da ihr Vater ermordet ist und ihr Verlobter sich so schofel von ihr zurückzieht, fällt es mir nicht im Traume ein, Ihre Karte ...«

»Hat Fräulein Klothilde Rondeel sich bereits hingelegt?« fragte der Kommissar, der im Auto seine weisse Perücke, die Brille und den Halsschal abgenommen hatte. »In diesem Fall wär es natürlich selbstverständlich, dass ich meinen Besuch bis morgen verschiebe ...«

»Nein, das gnädige Fräulein ist noch auf; aber sie hat sich in das Arbeitszimmer des verstorbenen Herrn zurückgezogen. Wer oder was auch immer kommen mag – das gnädige Fräulein ist unter keinen Umständen zu sprechen. Sogar der Herr Subdirektor Cochefort, der heute morgen auf der Börse einen Nervenchok bekam, wurde kurz vor sechs Uhr abgewiesen. Die besten Freunde des Hauses wurden nicht vorgelassen. Wenn Sie sich bitte überzeugen wollen ... hier steht eine Schale mit über dreihundert Visitenkarten, aber das gnädige Fräulein hat noch nicht mal einen Blick darauf geworfen ... Sie hat noch keinen Bissen genossen. Trostlos.«

»Und ihr Verlobter, dieser Herr Jones junior?« fragte Duporc teilnehmend, »ist der auch nicht ...?«

»Den hätte ich gern beim Kragen gepackt und mit Wonne die Treppe hinuntergeschmissen!« sagte der Diener ganz erbost. »Um halb elf stürzt er mit dem Hut auf dem Kopf herauf und erzählt uns und ihr die schreckliche Neuigkeit ... Ich höre heftige Stimmen – sie weint – er benimmt sich wie ein Rasender – brüllt sie auf englisch an – gerade die einzige Sprache, die ich nicht verstehe. Ich winke dem Chauffeur, der immer bei Tisch serviert, wenn die Herrschaften allein sind, und in allen Sprachen der Welt zu fluchen versteht. Wir wollten nicht etwa horchen, um zu horchen, sondern nur, um uns ins Mittel zu legen, wenn es etwa notwendig werden sollte. Wir hassen ihn alle, den Aufschneider! Da klingelt das gnädige Fräulein – ich stürze herein. ›Führen Sie den Herrn hinaus!‹ sagte sie, und es wurde ihr schwer zu sprechen, so herunter war sie mit den Nerven, ›und was auch weiter geschehen mag – ich bin für den Herrn nicht mehr zu sprechen!‹ ... ›Das sagst du, Klothilde, in Gegenwart der Dienerschaft!‹ ... Er wurde kreidebleich, sie gönnte ihm keinen Blick mehr und sagte nur zum zweiten Male: ›Haben Sie nicht gehört, Johann? Herr Henry Jones hat mir nach der Mitteilung vom Tode meines Vaters so schändliche Dinge gesagt, dass er hier nicht mehr empfangen wird!‹ ... Er wollte noch etwas einwenden, aber sie schlug die Tür hinter sich zu, und darauf sagte ich: ›Wenn ich bitten darf ...‹, und wenn er nun nicht wie ein Rasender davongelaufen wäre, so hätte ich wohl ein wenig nachgeholfen, das können Sie mir glauben ... Dieses Giftgewürm; in solchem Augenblick; was sagen Sie ...?«

»Ekelhaft!«, sagte Nathan Marius Duporc, »geradezu ekelhaft! Aber tun Sie mir doch bitte den Gefallen und bringen Sie meine Karte rasch hinauf ... ich will ein paar Worte darauf schreiben ... sagt das gnädige Fräulein nein, so ziehe ich mich selbstverständlich zurück.«

»Ich riskiere, dass ich sofort entlassen werde«, sagte der Diener ängstlich, aber die auf die Karte gekritzelten Worte:

» Ich bringe Ihnen nähere Nachrichten über Ihren unglücklichen Vater«

machten doch Eindruck auf ihn.

Der Kriminalkommissar besah sich ruhig die Visitenkarten, die in der geschmackvollen Halle auf dem Mahagonitisch in einer Schale lagen, während der Diener die mit mattrotem Läufer belegte Freitreppe hinaufstieg. In der Tat hatte Rondeels Tochter sich in ihrer verzweifelten Stimmung geweigert, Kondolenzbesuche zu empfangen. Auch hatte sie keinen einzigen Umschlag geöffnet. Die ungeheure Menge von Briefen und Karten, die eingelaufen war, bewies zur Genüge, welcher Beliebtheit der Verstorbene sich erfreut hatte. Und gerade während Duporc aus diesem Stoss von Briefen und Karten seine Schlüsse ziehen wollte, hörte er, wie ein neuer Stoss Postsachen in den draussen angebrachten Briefkasten gesteckt wurde.

»Darf ich bitten, mir zu folgen?« sagte der Diener. »Das gnädige Fräulein ist bereit, Sie zu empfangen, wenn Sie es kurz machen wollen – sie fühlt sich sehr elend ...«

Ueber die Treppe mit dem geschnitzten Geländer, durch einen weissgestrichenen Korridor mit Fresken und Gobelins, durch den sich der schwere Läufer wie ein mattrotes Band hinzog, führte der Diener den Kriminalbeamten in ein Zimmer an der Gartenseite des Hauses. Und noch bevor er angeklopft hatte, wurde die Tür geöffnet, und eine junge Frau erschien im vollen Licht der Deckenlampen des Flurs und sagte, während sie nur mühsam eine Frage zurückhielt, die ihr auf den Lippen lag: »Bitte treten Sie näher, Herr Duporc!« Aber kaum war die Tür ins Schloss gefallen, kaum hatte sich der Kommissar in dem halbdunklen Zimmer zögernd umgesehen, als sie auch schon sehr dringlich fragte: »Was für Nachricht bringen Sie mir? ... Ist schon eine Spur entdeckt?«

»Das noch nicht!« antwortete er, während er ihr mitleidig in das bleiche, junge Gesicht sah. »Der Fluss ist schon den ganzen Tag abgesucht worden – bisher ohne Ergebnis, und wenn ich es wage, Sie noch so spät am Abend zu stören, so geschieht es nur, weil ich mit den Gerichtsbeamten in Roosendaal war und man mir erlaubte, Ihnen das Portefeuille Ihres verstorbenen Herrn Vaters mit den darin enthaltenen Wert- und Familienpapieren auszuhändigen. Heute abend musste ich eine ganz eigenartige Spur verfolgen, sonst würde ich mich zweifellos meines Auftrages schon viel früher entledigt haben ...«

Er zog aus seiner Innentasche das Portefeuille mit den goldenen Initialen A. R. hervor, aus dem er einige Briefe zurückbehalten hatte; daneben legte er die aufgefundenen Wertsachen, die er sorgfältig zusammengepackt hatte. Sie wandte sich ab, um ihre Tränen zu verbergen.

Seine Augen gingen dreist im Zimmer umher – um Gefühle pflegte er sich nicht viel zu kümmern, wenn er im Dienst war. Er machte, noch bevor das junge Mädchen sich wieder gefasst hatte, drei rasche Beobachtungen: er hatte sie beim Schreiben eines Briefes gestört; auf dem Schreibtisch ihres verstorbenen Vaters lag ein ganzer Stoss geöffneter Telegramme (von dieser Art Kondolenzbeweise hatte sie also Notiz genommen); und auf einem kleinen Tischchen stand ein Teeservice mit Brotresten und einer abgenagten Hühnerkeule (sie hatte also doch etwas gegessen).


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