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11

Als wir in der Frühe des nächsten Morgens aus dem letzten Dickicht des Waldes in den blendenden Sonnenglanz hineinstolperten, der auf dem gebahnten Wege am Kanal lag, entsprachen wir bestimmt nicht den Vorstellungen, die sich die Leute im allgemeinen von den Teilnehmern einer Filmexpedition in exotischen Wildnissen machen. Wir sahen durchaus nicht heldenhaft kühn und unternehmungslustig, sondern jämmerlich durchweicht und verdreckt, verstochen und verschwollen, übernächtig und verdrossen aus. Wenigstens traf das auf uns drei Angehörige der weißen Rasse zu.

Auch unser Pedro hockte sich tiefaufseufzend auf der Draisine nieder, die wir gestern zum Herweg benutzt hatten, und rieb sich seine mageren Knabenschultern. Sepp hatte seines unbrauchbaren Armes und ich meiner allgemeinen Elendigkeit wegen gerade genug damit zu tun gehabt, uns selbst durch das unbeschreibliche Gewirr von lebender und toter Vegetation und durch zahllose Wassergräben und Sumpflöcher dieses Waldstückes weiterzuschleppen, und so war es der kleine Kerl gewesen, der den gut dreißig Kilo schweren Kamerakoffer transportiert hatte. Aber ungeachtet seiner körperlichen Ermüdung verfolgten die schräg über den hohen Backenknochen stehenden Augen, die seinem Gesicht etwas Mongolenhaftes gaben, so wach und aufmerksam wie immer, was seine Senhora tat, und ungeheißen sprang er jetzt auf, nahm ihr den hervorgeholten Trinkbecher ab, schöpfte Wasser aus dem Kanal und goß es ihr in die aufgehaltenen Hände. Ich hatte den Eindruck, daß er ihr am liebsten auch noch die Puderdose und den Lippenstift, den sie unglaublicherweise hier im Urwald nach ihrer Katzenwäsche zutage förderte, abgenommen und ihr die Kriegsbemalung eigenhändig appliziert hätte, Mir schwebte schon eine sarkastische Bemerkung auf der Zunge, aber ich spürte, daß ich auch zu einer solchen zu müde war, steckte mir statt dessen kopfschüttelnd eine Zigarette an, warf sie aber, weil sie nicht schmeckte, sogleich wieder weg.

Nachdem dann auch wir beiden den gröblichsten Schlamm von uns abgeputzt und abgewaschen und unser Äußeres einigermaßen menschlich hergerichtet hatten, bestiegen wir mit steifen Beinen unsern Urwaldexpreß und pumpten uns in der kochenden Sonnenhitze, die bereits wieder über dem Wege lagerte, mühsam vorwärts. Auf der halben Strecke kam uns eine hochwillkommene Ablösung in Gestalt von Manuelo und einem Waldarbeiter entgegengehastet. Wie er berichtete, war er heute in aller Frühe im Spital gewesen, wo er seinen Vater außer Lebensgefahr, seine Schwester in zufriedenstellendem Zustande, unsern Kameramann aber in ziemlich übler Verfassung und noch üblerer Laune angetroffen hätte. Nach Hause zurückgekehrt, hatte er sodann zu seinem Schrecken gehört, daß wir seit gestern mittag überhaupt nicht wieder heimgekommen waren. Worauf er flugs nach Utinga hinausgefahren war, den Oberaufseher von unserm Verschwinden in Kenntnis gesetzt, und dieser daraufhin unverzüglich eine Anzahl von Arbeitern auf die Suche nach uns ausgeschickt hatte.

Wie er hinzufügte, wäre er selbst allerdings über unser Schicksal sogleich viel beruhigter gewesen, als er im Maschinenhaus erfuhr, daß sich Pedro in unserer Begleitung befunden hatte. »Dies klein Bursche kennen Wald verdammt gut, viel besser als ich. Ihm sehen alles, hören alles. Ihm immer finden Weg, Haus, Essen, – alles! Ihm schwimmen Wasser wie Fisch, klettern Baum wie Affe, schleichen wie Puma, schießen Blasrohr wie wildes Indianer, fangen alles Tier – ihm ›damned allright!‹« schloß er in seinem drolligen Kauderwelsch.

Es war gut, daß Dom Pedro kein Wort Deutsch und Englisch verstand, beziehungsweise sich überhaupt nie um das kümmerte, was geredet wurde, sofern es nicht aus dem Munde seiner erwählten Herrin kam, sonst hätte sich bei diesem Lobgesang seine gelblichbraune Gesichtsfarbe wahrscheinlich in eine schamrote verwandelt.

Ich hatte eigentlich im Sinn gehabt, daheim nach Baden und Essen und einem aufpulvernden Mokka sogleich ein paar Proben von unsern Teufelskrallenaufnahmen zu entwickeln, aber meine Galle reagierte auf die feuchtfröhliche Nacht im Urwald oder, wie Ruth behauptete, auf den Kaffee jetzt derartig, daß ich mich still in meine Hängematte zusammenrollte und zwei volle Tage lang krumm wie ein Fragezeichen darin liegen blieb.

Sepp und Ruth entwickelten tags darauf ein paar Abschnitte, und die Bildchen, die sie mir dann zeigten, waren so scharf und gut gelungen, daß vor lauter Freude sogar mein Bauchweh prompt ein bißchen nachließ und ich am folgenden Tage wieder herumwackeln konnte. Jedoch nur, um am selben Abend mit einem neuen und noch schwereren Anfall wieder in die Hängematte kriechen zu müssen. Es nützte mir auch nichts, daß ich die ganze folgende Woche hindurch keine Utingafahrt mehr unternahm und nur kleine Arbeiten daheim in Labor und Menagerie verrichtete – meine vertrackte Galle konnte mir die Anstrengungen der letzten Zeit und das abschließende Nachtquartier im Urwald einfach nicht verzeihen und attackierte mich immer häufiger und vehementer. Bis ich mich schließlich vor lauter Verzweiflung zu einer Chologenkur entschloß. Womit zwar die Revolution in dem Sitz des Übels selbst bald aufhörte, dafür aber eine ständige in den Eingeweiden begann. Neben den lästigen Störungen bei der Arbeit durch das vielmalige hurtige Verschwindenmüssen aufs nächste Örtchen oder ins nächste Dickicht, brachte die Geschichte bei mir naturgemäß auch eine zunehmende körperliche Schlappheit mit sich. Und die innere Wut über meine verminderte Leistungsfähigkeit hat dann, wie mir heute wohl bewußt ist, auch mancher Bemerkung gegenüber meinen Gefährten einen überflüssigen Unterton von Schärfe und Ungeduld gegeben und damit zu der Zuspitzung unseres gegenseitigen Verhältnisses und dem schließlichen Bruche beigetragen.

Sepp zog in Begleitung von Manuelo und manchmal auch von Ruth und ihrem unzertrennlichen Leibpagen Pedro in diesen, für mich unsagbar niederdrückenden Tagen fast alltäglich in unsere Jagdgründe hinaus, und wenn es auch nicht immer etwas Brauchbares war, was unser Junior bei seiner mangelnden Erfahrung draußen zusammengekurbelt hatte, so brachte er doch immerhin manche gute kleine Szene aus dem unerschöpflichen Kaleidoskop der niederen, und in letzter Zeit auch der gefiederten Welt heim. Ruth hatte ihn eines Tages zu jener Lagune geführt, wo wir damals in Manuelos Kanu eine Anzahl Standaufnahmen von den mannigfaltigen Wasser- und Watvögeln gemacht hatten. Wie sie mir am Abend ganz außer Rand und Band vor Begeisterung erzählte, war jenes stille Gewässer statt der damaligen Dutzende jetzt mit Hunderten und aber Hunderten der verschiedenartigsten Vogelgestalten besetzt, und eine sei immer farbenprächtiger im Gefieder als die andere.

Am andern Tage zogen sie in aller Herrgottsfrühe wieder in ihr neuentdecktes Vogelparadies hinaus, Sepp mit dem Kurbelkasten und Ruth mit einer Standkamera und Farbplatten. Ich sah ihnen ziemlich traurig nach. Da ich mich an diesem Morgen aber nicht ganz so elend fühlte wie in den letzten Tagen, fuhr ich in die Stadt, um wieder einmal das bunte Treiben am Ver-o-peso zu genießen. Und, als wollte mich das Schicksal ein bißchen entschädigen, bot sich mir ganz unerwarteterweise Gelegenheit, auch meinerseits einige Einblicke in das märchenhafte Vogelleben, in etliche andere Eigentümlichkeiten des Amazonas, und gleichzeitig auch solche in ein merkwürdiges Menschenschicksal zu tun.

Der erste dieser Einblicke war freilich nichts weniger als schön und erhebend. Ich war zuerst ein bißchen in der Markthalle herumgeschlendert, doch die darin feilgehaltenen Massen von Fischen, Früchten, Gemüsen und Gewürzen stellten eine Orgie von Farben und Düften dar, der mein labiles Befinden nicht gewachsen war. Halb betäubt und mit einem neuen Übelkeitsanfall kämpfend, stolperte ich wieder hinaus, ließ mich auf einen der hinausgestellten Stühle vor einem kleinen Kaffeehaus fallen, beorderte einen Mokka und ein Glas Wasser und schloß, weil es mir trübe vor den Augen geworden war, für ein paar Sekunden die Lider. Als ich sie wieder öffnete, fiel mein Blick auf etwas, was ich im ersten Moment für eine Halluzination hielt. Erst als mir von dem Objekt her ein entsprechender furchtbarer Geruch in die Nase drang, wußte ich, daß es Wirklichkeit war, was ich da sah.

Es war ein Kaiman, ein ausgewachsenes Tier von reichlich zwei Meter Länge. Er lag im vollen Sonnenbrande zwei Schritt vor meinem Tischchen auf dem Pflaster der Straße. Die Beine, der zurückgebogene Schwanz und die spitze lange Schnauze des Reptils waren mit Riemen aus Rohhaut umschnürt, und zwar derart umschnürt, daß die Fesseln an manchen Stellen durch die Panzerhaut der Echse, dann durch das Fleisch hindurch und bis buchstäblich auf die Knochen eingeschnitten hatten. Es waren Wunden entstanden, in die ich Hand und Unterarm hätte hineinlegen können, und diese Wunden wimmelten von Fliegen und Maden und strömten einen atemzersetzenden Gestank aus –!

Mich überlief ein Schauer. Wie gelähmt von dem Anblick, stand ich auf und sah mich um. Hinter mir, in den Schatten der Hausmauer gedrückt, hockte, eine Zigarette zwischen den Lippen, ein stoppelbärtiger Caboclo, der mich aus verschlafenen Augen anblinzelte.

»Gehört Ihnen dieses Tier da, Senhor?« fragte ich, bebend vor Empörung.

»Si, Senhor!« antwortete er ruhig, stand, der landesüblichen Höflichkeit entsprechend, sofort auf und nahm die Zigarette aus dem Mund. »Das Jacaré ist zu verkaufen, Senhor«, setzte er hinzu. »Aber es ist wohl nichts für Sie, denn ich weiß, daß Ihre Landsleute Kaimanfleisch nicht essen.«

Es trieb mich, ihn an der Kehle zu packen und ihm das Gesicht mit Faustschlägen zu traktieren, aber meine Kräfte reichten nicht dazu. Ich konnte ihm nicht einmal meine Meinung sagen, weil meine kümmerlichen Brocken Portugiesisch nicht ausreichten.

»Was kostet es? Schnell, sagen Sie, was kostet es?« fragte ich und holte die Brieftasche hervor.

»Fünfundzwanzig Milreis, Senhor!«

»Hier ist das Geld. Aber töten Sie dieses Tier sofort! Hören Sie, sofort.« In dem Blick, den er auf mich richtete, lag nichts als Staunen und völlige Verständnislosigkeit über meine Erregung.

»Sie wünschen, daß ich es hier töte, Senhor?« fragte er ungläubig. »Warum nicht in Ihrem Hause? Ich schaffe es Ihnen gern hin!«

»Mann, machen Sie keine Worte weiter! Holen Sie ein Beil, ein Buschmesser oder sonst etwas, aber töten Sie augenblicklich dieses Tier!«

Er schüttelte den Kopf und wandte sich dann achselzuckend mit einer Frage an den Wirt und einige Gaffer, die sich mittlerweile eingefunden hatten. Mir war durch den Anblick des grauenhaft malträtierten Geschöpfes wieder furchtbar übel geworden; ich hatte eigentlich nur das mitbestellte Wasser trinken wollen, aber ich fürchtete, ohnmächtig zu werden und goß nunmehr doch den starken Kaffee hinunter. Ein junger Bursche brachte schließlich ein Metzgerbeil aus der Markthalle herbei; ich wandte mich ab, bis nach zahllosen Schlägen auf den Kopf das unfaßbar zähe Reptilienleben endlich erloschen war.

»Fertig, Senhor!« sagte der Caboclo, und wischte sich die blutigen Hände ab. »Wohin wünschen Sie, daß ich den Kadaver nun bringen soll?«

Ich wollte schon mit einer angewiderten Handbewegung das Ganze abtun und davongehen, als mir einfiel, daß das ein Fehler sein würde. Die Folge wäre lediglich gewesen, daß in Zukunft um so mehr Kaimane und möglichst in noch entsetzlicherer Verfassung auf den Markt gebracht und so hingelegt worden wären, daß Europäer oder Amerikaner sie sehen und vielleicht ebenfalls, um die Qual der Tiere abzukürzen, sie ihren Eigentümern abkaufen und abtun lassen würden. Worauf die Unmenschen dann natürlich das Fleisch weiterverhökern und somit einen doppelten Profit machen würden. So bedeutete ich dem Kerl, den Kadaver auf einen Handwagen aufzuladen und mir damit zu folgen. Er tat das auch bereitwillig genug, doch als ich am Hafenkai stehen blieb und ihn aufforderte, seine Ladung hier ins Wasser hinunterzuwerfen, guckte er mich nur verblüfft an, ob er recht verstanden hätte. Und als er schließlich begriff, daß es mein Ernst war, bekam er die Sache satt, warf mit einem ärgerlichen Fluche den Kadaver vom Wagen herunter auf die Kaimauer, spie darauf und schob, vor sich hinmurmelnd, mit dem leeren Wagen ab. Da ich viel zu zitterig auf den Beinen war, um den schweren Saurier selber in den Amazonas zurückzubeordern, blieb mir nichts übrig, als die Frage an die sich ständig vergrößernde Zuschauermenge zu richten, wer von ihnen für zwei Milreis diese Aufgabe übernehmen wolle. Der Sinn der halblaut geführten Diskussion, die darauf entstand, wurde mir durch die Blicke, das Lächeln und Achselzucken der Leute eindeutig klar: »Un estrangero alienado – ein verrückter Ausländer!«

Zuletzt erklärten sich zwei junge Burschen grinsend bereit, mein »Jacaré«, und zwar völlig umsonst, ins Wasser respektive auf den Schlick hinunterzuwerfen, denn es herrschte gerade Ebbe, und mir wurde klar, daß sich dann die ganze Meute natürlich sofort drunten über das Fleisch hermachen und meine Absicht damit doch am Ende vereitelt sein würde. Neben meinem unseligen Jacaré stehen bleiben, bis es ungenießbar geworden war, konnte ich aber auch nicht; ich sah ein, daß ich hier eine komische Figur spielte, und ich wollte schon klein beigeben und mich davonmachen, als hinter dem Kreis der hoffnungsfreudigen Zuschauer eine lange, schwarze und barhäuptige Gestalt auftauchte, der eine silberne Lockenfülle vorn und hinten herniederwallte.

»Halloh, it is you!« rief sie, mich erkennend mit sonorer Stimme aus, puffte sich rücksichtslos eine Bahn durch die Menge und trat mit einem: »Now, what are you doing here, old boy?« –«Was machen Sie denn hier?« auf mich zu. »Nanu, ist Ihnen plötzlich ein Appetit auf Krokodilslende gekommen oder was wollen Sie sonst mit dem Vieh machen? Es gehört doch Ihnen, nicht wahr?«

»Leider gehört es mir«, sagte ich bekümmert und erläuterte ihm mit kurzen Worten die Sachlage.

»Confound these buckers!« brummte er. »Wenn es sich um Tiere und um Wilde handelt, waren es immer Bestien und werden Bestien bleiben. Wollen Sie sich aber länger hierzulande aufhalten, so müssen Sie sich angewöhnen, bei solchen Gelegenheiten woanders hinzugucken. Sonst werden Sie gar nicht fertig und am Schluß ebenso dumm dastehen, wie jemand, den ich verdammt gut kenne. – Aber Sie haben recht, das Fleisch von diesem armen Vieh soll die Bande sich nicht in den Bauch schlagen! – Warten Sie mal, mir kommt ein Gedanke. Haben Sie heute Zeit? – Gut, ich habe eigentlich keine; ich sollte mit meiner Köchin Markteinkäufe machen und Anita daheim wird heute abend Krach schlagen, daß der Kalk von der Decke fällt. Aber soll sie. – Einen Augenblick!«

Er winkte die Köchin, eine unmenschlich dicke Mulattin, herbei und gab ihr in rapidem Portugiesisch einen Auftrag. Sie nickte, postierte sich dann als Wächterin neben dem toten Kaiman, und ihr Herr zog mich in ein gegenüberliegendes Lokal, wo ich, trotz meiner entsetzten Hinweise auf meine schwergereizte Galle, einen »Morningglory« mit ihm genehmigen mußte, und dabei setzte er mir auseinander, daß wir diesen angebrochenen Tag noch ganz gut zu einer gemeinsamen Fahrt mit seinem Motorboot benutzen und dabei meinen konsequenzenreichen Kaiman mitnehmen und ihn draußen dem Vater Amazonas übergeben könnten.

Ich stimmte dem verlockenden Vorschlag natürlich sofort bei; in bänglichem Gedanken an den Kaffee und den noch draufgesetzen Whisky machte ich ihn jedoch darauf aufmerksam, daß ich auf der Fahrt wohl kein sehr ermunternder Gesellschafter sein würde.

»Never mind, old chap, machen Sie es sich auf meinem Troge nur so gemütlich oder auch so ungemütlich wie Sie wollen. Und außerdem habe ich auch ein Fläschchen herzstärkende Medizin an Bord«, sagte das alte Rauhbein, schlug mich auf die Schulter, daß ich beinahe vom Stuhl gefallen wäre, hakte mich dann unter und bugsierte mich über die Straße und eine Kaitreppe hinunter. Drunten stieß er einen Pfiff aus, ein Bursche kam daraufhin mit einem Kanu herbei und danach wurde ich von den bärenhaften, aber zuverlässigen Fäusten dieses sonderbaren Seelenhirten sorgsam in die Mitte des kippligen Fahrzeuges verstaut.

Sein großes, weißgestrichenes und blendend sauber gehaltenes Motorboot ankerte an einer Boje in der Hafeneinfahrt. Wir gingen an Bord, der Bursche erhielt den Auftrag, sein Kanu am Heck des Bootes festzumachen, der Alte setzte die Maschine in Gang und fuhr, soweit es der Wasserstand erlaubte, in den Hafen hinein. Dann schickte er den Jüngling mit dem Kanu hinüber zum Kai, das Jacaré herbeizuholen. In einer Viertelstunde kam er damit an, und wie dann dieser alte, doch mindestens fünfundsechzigjährige Mann den schweren Kadaver des Reptils an Deck hievte, ließ mich nur staunen. Er mußte Riesenkräfte besitzen, und mir wurde bei dem Gedanken, daß ich damals im Barbiersalon beinahe in eine Schlägerei mit ihm geraten wäre, noch nachträglich schwül unter der Jacke.

Es war ein Prachtfahrzeug, alles an Bord in peinlichster Ordnung, das Messing blitzblank geputzt, die kleine Kajüte mit herrlichen einheimischen Hölzern getäfelt, und die Maschine des Bootes anscheinend enorm stark. Genau so draufgängerisch und rücksichtslos wie sein ganzes Verhalten, war auch das Fahren des Alten; mit voller Kraft und oft nicht mehr als handbreitem Zwischenraum schoß er zwischen den zahlreichen Fahrzeugen hindurch, die jetzt mit dem letzten Ebbwasser den Hafen verließen, um sich dann draußen von der neuen Flut stromaufwärts schieben zu lassen.

Meiner Sünden bewußt, hatte ich eine Zeitlang angstvoll in meinen Bauch hineingehorcht, doch der erwartete Anfall blieb verwunderlicherweise aus, mir wurde bei dem kühlenden Fahrtwind im Gegenteil so viel besser, daß ich draußen im offenen Strom Vater Murphy sogar helfen konnte, meinen Fünfundzwanzigmilreis-Kaiman über Bord zu werfen. Mit hochaufschäumender Bugwelle sauste das Boot dann weiter, immer weiter hinaus in die glitzernde, wogende Unendlichkeit – es war so schwer, daran zu glauben, daß es ein Fluß, ein Süßwasserstrom, und nicht eins der Weltmeere war, in dessen Uferlosigkeit wir hinausschossen.

Ein silbriger Dunst wob über dem Riesenstrome, allerwegen am hellblauen, ungeheuren Rund des Himmels standen die weißen Türme von Gewitterwolken, die weit hinter uns zurückgebliebene Flotille von ausfahrenden Fahrzeugen erweckte durch die Brechung des Lichtes den Eindruck, als ob sie auf den Flügeln ihrer bunten Segel über der Wasserfläche dahinschwebte. Nach einer Weile lösten sich verschwommene Konturen seitlich vor uns aus dem Glast, und enthüllten sich bald als eine dunkelbewaldete Insel.

»Floating! – Schwimmend!« rief mich der Alte an. »Wollen Sie sie ansehen?«, und auf mein Nicken wirbelte er das Steuerrad so ungestüm herum, daß sich das Boot schwer nach Backbord überneigte.

Diese schwimmenden Eilande sind eine Alltagserscheinung auf dem Amazonas, vielleicht die einzige, woran jemand, der auf seinen Fluten westwärts fährt, erkennen könnte, daß er sich nicht mehr auf hoher See befand. Die alljährlichen Überschwemmungen des Stromes reißen immer wieder Stücke, die manchmal mehrere Quadratkilometer groß sind, von seinem Uferlande los. Mit Baum und Busch und allem ungeflügelten Getier, das sich im Augenblick gerade darauf befand, werden sie von den Fluten erfaßt, langsam in den offenen Strom hinaus, und gegebenenfalls Tausende von Kilometern weit hinunter und in den Atlantischen Ozean getragen.

Auch mit diesem Stück Urwald trifteten verschiedene seiner angestammten Bewohner ihrem Schicksal entgegen, denn als sich unser Fahrzeug mit abgestoppter Maschine langsam seinem Ufer näherte, wurde es droben im Laubwerk der Bäume lebendig, Zweige schnellten, Blätter flogen, und in weitem Sprunge setzte eine Rotte von ungefähr einem Dutzend Kapuzineraffen, einer nach dem andern, in die abgeknickt herunterhängende Krone des nächsten Baumes hinüber. Still trieb das Boot an zweimannshohen, bloßgespülten Wurzelgeflechten entlang; hinter einem Lianengehänge, dessen Rankenspitzen mit leisem Geplätscher durch das Wasser glitten, kam allmählich ein gewaltiger alter Baum in Sicht, der auf seinem freigelegten Wurzelstock wie auf Stelzen stand.

»Da sitzt noch ein anderer Schiffbrüchiger und hält Ausguck nach Land! Einer von Ihren speziellen Freunden!« lachte der Alte ingrimmig. Aber seinem ausgestreckten Arme mit dem Blicke folgend, sah ich nur noch einen grauen Schatten auf einem weit über das Wasser hinausragenden Ast in das Laubgewölbe hineinhuschen.

»Was war es?« fragte ich enttäuscht.

»So ein Mistvieh von Ozelot, natürlich!« grollte er, in Erinnerung an seine gemordete Mary.

Aus einem Dickicht von blutrotblühenden Büschen erhoben sich die elfenbeinfarbenen Stämme einer Palmenart, um ihre zartgefiederten hellgrünen Kronen flatterten Hunderte und Hunderte von kleinen, strahlendbunten Papageien und pickten so hingegeben und unbekümmert von den winzigen roten Palmfrüchten, als ob in ihrer Welt alles in schönster Ordnung wäre, und derselben Überzeugung schien auch eine große Schlange zu sein, die neben dem Boot leise aus den Fluten auftauchte und sich gelassen auf einen gestürzten Stamm emporwand, dessen abgebrochenes Astwerk gurgelnd durch das Wasser strich.

Mit einem Male verschleierte sich das Licht, einer der Gewittertürme war allgemach über unsere Köpfe emporgewachsen, von der dahinterstehenden Sonne beleuchtet, blinkte seine Spitze in ungeheurer Höhe, als wäre sie aus Silber getrieben. Mein Gastgeber warf die Maschine wieder an, und auf ihr einsetzendes Dröhnen hin erhob sich unversehens ein Geprassel und Gegrunz über uns im Uferdickicht und verlor sich rauschend landeinwärts – demnach hatte sich auch eine Familie von Wildschweinen auf diesem Stück Erde befunden, als es seine Fahrt in die Unendlichkeit antrat.

Während unser Boot im Tempo eines Schnelldampfers einen weiten Halbkreis pflügte, hing mein Blick noch immer an dem losgelösten Fleckchen tropischer Urnatur, das da, in magischen Silberglanz getaucht, träumerisch stromabwärts glitt. Ich sah in Gedanken, wie sich draußen auf See sein Schicksal langsam, aber unerbittlich vollzog, wie Sturm und Wogen Stück um Stück von dem schwimmenden Garten abrissen, wie die vielhundertjährigen Riesenbäume an seinen Rändern, einer nach dem andern, krachend niederbrachen, in Gischt und Strudeln untertauchten, von den schweren Wogen des Ozeans herumgewirbelt, zerfetzt und zerschlagen wurden, wie die verängstigten Tiere sich immer enger auf ihrer ständig abnehmenden Scholle zusammendrängten, bis eines Tages auch die letzten mit dem letzten Fußbreit Boden in den grünen Fluten des Atlantik versanken, und ihre Leiber von Fischen und bizarren Ungeheuern der Tiefe verzehrt wurden. Doch damit war die kleine Welt der schwimmenden Insel noch lange nicht restlos und letzten Endes auch durchaus nicht nutzlos untergegangen. Denn eines Tages, möglicherweise erst nach vielen, vielen Jahren, bog sich vielleicht an einem sturmüberheulten öden Gestade der Arktis das braune Gesicht eines Indianers der Hudsonbai oder eines grönländischen Eskimos oder auch das blondbärtige eines Bewohners von Island auf einen angeschwemmten Stamm herab, beklopfte erfreut sein eisenhartes, längst von der Rinde entblößtes Holz, schnitt sein Zeichen hinein, das den Fund für jeden andern »tabu« machte, und verarbeitete dann in der langen dunkeln Polarnacht den Riesenstamm aus dem fernen heißen Amazonien zu Bootsplanken, Waffen und Hausgeräten ...

»Trauern Sie dem zum Versaufen bestimmten Katzentier da drüben nach, daß Sie ihm so tiefsinnig nachgucken? Oder ist Ihnen wieder flau geworden?« rief mich der Alte an.

Ich schüttelte lächelnd den Kopf, warf einen Blick zu dem sich rasch verdüsternden Himmel hinauf und trat zu ihm ans Steuerrad. »Soll ich Sie einmal ablösen? Sie halten wohl wegen des Gewitters auf Land zu?«

»Well, es gibt dabei manchmal so plötzliche und so gemeine Böen hier draußen, daß man schon nach drei Minuten nicht mehr weiß, was oben und unten ist. – Ja, übernehmen Sie das Rad einmal für ein paar Minuten. Will das vorhin erwähnte Medizinfläschchen herausholen. – Halten Sie vorläufig Kurs auf den schwarzen Punkt da vorn. Scheint ein Kanu zu sein.« Er strich sich die weißen Locken aus der Stirn, die in dem aufkommenden Winde flatterten und kniff die Augen zusammen. »Was macht denn der Kerl darin? – Aha, Nüsse!«

»Nüsse –? Was für Nüsse und wie kommen die hierher?« fragte ich erstaunt.

»Parànüsse natürlich. Und hierher kommen sie mit dem Überschwemmungswasser. Sehen Sie nicht den großen braunen Fleck da auf dem Wasser? Alles Parànüsse von prima Qualität! Viele hundert Kilo, das Kilo zu drei Schilling in den Läden von Dublin. Auch das läßt man hierzulande aus überlebensgroßer Dummheit und stinkiger Faulheit einfach verkommen. Wie so vieles andere auch.«

»Ja, ich verstehe nur nicht, warum die Eigentümer der Bäume ihre Nüsse nicht ernten«, sagte ich und blickte kopfschüttelnd auf die weitausgedehnten braunen Massen hin, die da stromab trieben.

»Der Eigentümer der Bäume ist Gott, dear boy, und der braucht die Ernte nicht. – Es ist doch eine wildwachsende Frucht – naja, Sie sind zu kurz hier, um das alles wissen zu können. – Ich habe die Bäume allerwärts, bis über Manaos hinaus, im Urwald angetroffen. Die Nüsse fallen ab, wenn sie reif sind, und das zurückweichende Oberschwemmungswasser nimmt sie dann mit in den Strom, und die Triften der Ozeane tragen sie sodann bis ans Ende der Welt. – Da, schauen Sie sich bei dieser Gelegenheit einmal diesen würdigen Repräsentanten des brasilianischen Handels- und Gewerbefleißes an!« fuhr er fort und gab dem Rad eine Drehung, so daß unser Boot in knapp zwei Meter Abstand an dem einsamen Kanufahrer vorbeirauschte. »Nebenbei bemerkt, ist es auch eines der unfaßlichen Wunder Gottes, wie das drei Schock Löcher, aus denen sein Hemd und seine Hose besteht, immer noch zusammenhält. Sehen Sie, was das Faultier von diesem Segen geschöpft hat? Genau drei Hüte voll –! Damit fährt er jetzt heim und morgen und übermorgen, und wenn's sein muß, noch acht Tage lang können Sie ihn dann hinter seinem Nußhäufchen am Ver-o-peso sitzen sehen, und wenn er es schließlich für fünf Milreis losgeworden ist, so hat er genug, um abermals eine Woche in der Hängematte liegen, sich die Läuse absuchen und Zigaretten rauchen zu können. Danach fährt er eben wieder einmal hinaus und holt weitere drei Hüte Nüsse herein. Warum er nicht mehr holt? – Ja, Mann, aus Faulheit natürlich! – Haben Sie übrigens gesehen, daß der Kerl einen Fuß mit einem Lumpen umwickelt hat? Wahrscheinlich hat er Sandflöhe in den Zehen, und Sie wissen ja von Afrika her, was die anrichten können! Und Sie wissen auch, daß der beste Schutz gegen diese Pest in gutem Schuhwerk besteht. Aber damit kommen wir zu einem weiteren aufschlußreichen Aspekt dieser Sache und der brasilianischen Volkswirtschaft überhaupt. Vielleicht ist Ihnen bekannt, daß in diesem ganzen ungeheuren Land keinerlei Schuhe fabriziert werden; sie kommen durchweg aus Europa und den Staaten. Und dank der Wertzölle kostet ein anständiges Paar hier mindestens achtzig Milreis; für einen Caboclo, selbst wenn er arbeiten wollte, tatsächlich eine fast unerschwingliche Summe. Haben Sie sich aber schon einmal die Emballage angesehen, in der diese Paranüsse exportiert werden? Nein? – Nun, es sind Säcke aus rohen Rindshäuten, und diese Emballage wird dem Empfänger nur mit ein paar Cent berechnet! Die Häute kommen von der Insel Marajò, sie liegt da drüben, keine hundert Kilometer von hier entfernt. Auf den Pampas der Insel gibt es ungefähr anderthalbe Million Stück Rinder und, soviel mir bekannt ist, kostet auf Marajo ein ganzer Ochse mit Haut und Haar zwischen fünfzig und sechzig Milreis. Was eine Haut dort wert ist, weiß ich nicht, wahrscheinlich gar nichts. Und aus einer einzigen Ochsenhaut ließen sich nach meiner Schätzung doch sicherlich zehn bis fünfzehn Paar Schuhe machen! – Klingt unglaublich, nicht wahr?«

Er fuhr sich durch den Bart und spie ingrimmig über Bord – diese Dinge schienen ihm näherzugehen, als er sich anmerken ließ und ihn immer schon beschäftigt zu haben. Mit einem: »Well, wollen daraufhin nun endlich einmal einen Schluck nehmen!« verschwand er schließlich in der Kabine.

Was er gesagt hatte, klang gar nicht so unglaublich für mich, denn auf verschiedenen andern Wirtschaftsgebieten hierzulande herrschten, wie ich wußte, ganz ähnliche Verhältnisse. Was die den Strom hinabschwimmenden Paranüsse betraf, war mir nur nicht klar, wo denn bei dieser Erntemethode überhaupt exportwürdige Quantitäten herkamen.

In den letzten paar Minuten war es fast völlig Nacht geworden, und gerade als der Alte mit der Whiskyflasche und zwei Gläsern in der Hand wieder aus der Kabine trat, flammte der erste Blitz auf, ein Donnerschlag erschütterte die Luft und gleichzeitig fegte in rasender Geschwindigkeit eine Sturmbö über das hochaufschäumende Wasser und warf sich mit der Wucht eines Zehntonnenhammers dem Boot entgegen. Völlig gelassen richtete der alte Herr einen Blick auf Himmel und Wasser und einen zweiten auf den Kurs, den ich hielt, nickte mir zu, tauchte nochmals in die Kajüte zurück, und kam gleich darauf mit Ölanzug und Südwester bekleidet und einer zweiten Schlechtwetterhülle über dem Arm wieder heraus. Breitbeinig auf Deck stehend, schenkte er sich vorerst ein Glas ein und trank mir grinsend und mit den wasserblauen Augen zwinkernd zu. Dann übernahm er das Rad und drückte mir das zweite Ölzeug in die Hand. Im Augenblick, da ich es am Leibe hatte, setzte der Regen oder, besser gesagt, die herniederstürzende Sintflut ein, aber unerschüttert reichte mir der Alte Flasche und Glas, und mit brüllender Stimme, um das unaufhörlich schmetternde Krachen der Schläge zu übertönen, rief er mir zu: »Treten Sie zum Einschenken unter die Tür! Sonst saufen Sie nur pures Wasser, und das ist höchst schädlich für einen Christenmenschen!«

Mit dieser Aufforderung erwies er mir einen großen Gefallen, denn ich hatte erhebliche Bedenken, ob mein unberechenbares Gedärm auf ein zweites Glas Schnaps ebenso wohlwollend reagieren würde wie auf jenes erste am Ver-o-peso. Und anderseits wußte ich aus Erfahrung, daß viele, und oft sogar ganz vernünftige Männer, und ganz besonders solche von angelsächsischer Abkunft, es verdammt krumm nehmen, wenn man ihnen die Einladung zu einem »Drink« abschlägt, aus welchen Gründen auch immer.

So tat ich, im Eingang stehend, nur so, als ob ich mir das Glas füllte, hob es, von der Hand umschlossen, ihm zu – und in diesem Augenblick wirbelte er plötzlich wie ein Wahnsinniger das Rad herum, und das Boot holte dadurch so abrupt und so schwer über, daß ich das Gleichgewicht verlor. Bemüht, die Flasche nicht fahren zu lassen, konnte ich mich nicht festhalten, taumelte beiseite und erhielt auf einmal einen furchtbaren Schlag auf den Hinterkopf, bei dem mir sogleich die Sinne vergingen. Und als letztes, neben dem absurd-verbissenen Bestreben, nur der Flasche nichts geschehen zu lassen, nahm mein Bewußtsein noch einen jäh geöffneten brüllenden Abgrund von ungeheurem blendendem Licht wahr, in den ich mit dem Gedanken hineinstürzte: »So hat dich schließlich doch noch ein Blitzschlag getötet!«


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