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Das Tal des Amazonas und seiner Nebenflüsse – in Europa würden sie Ströme heißen, denn von den ungefähr zweihundert Stück, die bis jetzt erforscht und genau kartiert sind, ist keiner unbedeutender als zum Beispiel die Seine, und viele davon weisen Länge und Wasserreichtum von Donau und Wolga auf – dieses größte Stromtal der Erde, ist in seiner ganzen Ausdehnung von Urwald bedeckt, geschlossenem, dichtem Urwald, in dem keine Lichtung existiert, die auf einer Karte überhaupt noch erkennbar sein würde, und dieses Urwaldgebiet besitzt eine größere Flächenausdehnung als ganz Europa. Die nördliche Grenze dieser ungeheuerlichen Waldmassen liegt an der Karibischen See, im Westen verläuft der Waldsaum auf dreitausend Meter Höhe an den Abhängen der Anden; die südliche Grenze zieht sich durch die Wildnisse des Gran Chaco-Gebietes von Paraguay und Argentinien hin, die östliche wird von der Küste des Atlantik gebildet.

Unweit dieser Küste, dort wo der Riesenstrom sich bereits in die vielen Arme seines gewaltigen Deltas geteilt hat, eines Deltas, das ein Gebiet von beinahe der Größe Italiens einnimmt, erreicht ihn noch als letzter Zufluß der ungefähr fünfhundert Kilometer lange Rio Tocandins. An dessen drei Kilometer breiter Mündung lag ehemals ein winziges Indianerdorf. Im sechzehnten Jahrhundert landete eines Tages eine Bande von portugiesischen Conquistadores vor den Hütten des Dorfes, steckte sie nach guter alter Sitte unverzüglich in Brand, schlug die Einwohner, die danach noch lebend betroffen wurden, tot und gründete auf den rauchenden Trümmern ihrer Wohnstätte »das heilige Bethlehem von Parà«.

Die Stadt wuchs und gedieh und drängte den umklammernden Urwald in jedem Jahrzehnt um ein Kleines mehr zurück. Doch mehr als ein paar Kilometer ist er bis auf den heutigen Tag nicht gewichen. Jeder Straßenzug auf der Landseite der Stadt endet heute noch vor seinen schwarzgrünen, unerbittlich starrenden Mauern.

An vielen Stellen ist es allerdings nicht mehr der ursprüngliche, sondern auf alten Rodungen nachgewachsener Forst. Nur ein einziges Inselchen primären Urwaldes mit einem Durchmesser von etwa drei Marschstunden in unmittelbarer Nähe der Stadt ist fast so unberührt erhalten worden, wie es einst gewesen war, der Urwald von Utinga. Er wurde als Quellgebiet für die Wasserleitung von Parà und zugleich als Naturschutzpark vor jedwelcher Vergewaltigung bewahrt.

Auf diesem Gelände darf kein Blatt von einem Baum abgerissen, keine Fliege weggefangen und keine Vogelfeder vom Boden aufgeklaubt werden – das Gebiet ist tabu mit allem, was es an Lebendigem wie auch Leblosem enthält. Dieses Gebot gilt auch für die wenigen, denen durch eine schwer zu erlangende Spezialerlaubnis, die vom Bürgermeister und vom Direktor des Wasserwerkes unterzeichnet sein muß, der Zutritt gestattet worden ist. Für die Öffentlichkeit ist der Urwald von Utinga strikte gesperrt.

Das einzige, was an der Ursprünglichkeit dieses Stückes Erde verändert wurde, war die Anlage von vier gebahnten Wegen und darüber hinaus, unter Benutzung der natürlichen Wasserläufe, eines listigen Systems von Dämmen, Gräben, Röhren und Bassins, von denen jedes vom andern durch zahlreiche Rechen, Gitter und Filter getrennt ist. Was nun am fernsten Ende dieses Systems unter moosbepolsterten Baumwurzeln und wuchernden Stauden als bräunlichgrüne dicke Brühe aus modrigem Boden quillt und sickert, das läuft im letzten, sauber einzementierten Kanale durch ein abschließendes feines Gitter als kristallklarer Strom in ein weitschlündiges Rohr und dröhnt dann mit dumpfem Pulsschlag durch die Pumpen des gegenüberliegenden Maschinenhauses in das Rohrnetz der Stadt hinein.

Zwischen trüber Brühe und flüssigem Kristall aber liegt ein Stück Urnatur von unfaßbar wilder Üppigkeit, von sinnverwirrender Lebensfülle, von hier und da schlechthin ins Phantastische und Bizarre gesteigerten Formen und von unsagbarer, zauberhafter Schönheit. Zauberhaft in der Tat, denn diese Schönheit erglänzt in einem Zauberspiegel, wölbt sich aus der Atmosphäre hinab ins Unterirdische, Unirdische, läßt Wirklichkeit und Abbild zu einer Einheit verschwimmen in seinen Hunderten von Gewässern. Allüberall ruhen sie traumversunken in tiefen purpurnen und blauschwarzen Schatten oder ziehen leise heran aus undurchdringlicher grüner Nacht, blinken unter seltenem Sonnenstrahl einmal auf wie ein goldener Schild und verrinnen lautlos aufs neue in grüner Nacht.

Dieser Urwald strotzt von Wasser, er wächst zum größten Teile direkt aus Wasser und wässerigem Sumpf heraus – außer den erwähnten, auf Pfahlrosten angelegten Wegen gibt es auf dem Gelände von Utinga kein Stück Boden, auf dem man nicht zumindest bis über die Knöchel, allermeist aber bis an die Knie im Schlamm und Wasser versänke. Und nirgends ist es möglich, auch nur einen Schritt in die Randdickichte des Hochwaldes einzudringen, ohne sich erst mit Axt und Haumesser einen Tunnel auszuschlagen.

In ewiger herzbeklemmender Schwüle, die keine Unterbrechung durch einen Wechsel der Jahreszeiten oder auch, nur einen von Tag und Nacht kennt, dampft und siedet der Urwald in seiner Treibhausluft, brütet ein Leben vegetativer wie animalischer Natur von grandioser, schier unheimlicher Intensität, von einem Reichtum der Erscheinungsformen, der jede Vorstellungskraft und jedes Aufnahmevermögen übersteigt. Alles in diesen dumpfdämmernden Gründen ist belebt, die heiße, unbewegte, von tausend Düften und Miasmen geschwängerte Atmosphäre ebenso wie der weiche schwarze, unter grünem Teppich begrabene Erdboden, wie die phantastischen buntfarbigen Blätter riesiger Staudengewächse, wie die Stämme und die mannshoch gebuckelten Pfeilerwurzeln der Bäume, gleichviel ob die Zellen ihrer Gewebe noch arbeiten oder sie nur als Stützen, Obdach und Nahrung dienen für wuchernde Massen tierischer und pflanzlicher Schmarotzer – sie alle sind ebenso belebt wie die lastenden lichtlosen Gewölbe der Baumkronen, wie die dunkeln, von farbigen Lichtern durchglühten Wasser der Lagunen, wie der brodelnde blasige Schlamm der Tiefen.

Ungeheuer ist die Fülle an Insekten, an Vögeln und Fischen hier in diesem Treibhaus der Natur – die Urwälder Amazoniens bergen ja mehr, den genannten drei Reichen zugehörende Arten, als die ganze Oberfläche der Erde zusammen genommen – ungeheuerlich auch das wilde, gierige, rastlose Drängen und Treiben, die millionenfache Mannigfaltigkeit ihrer Vegetation, ungeheuerlich und einzigartig in seiner Gesamtheit überhaupt ist diese Manifestation des Willens zum Leben!

Es war das erstemal, daß Frau Ruth an jenem Sonntagmorgen einen tropischen Urwald betrat, und ich beneidete sie fast um diese Erstmaligkeit. Wir hatten das Glück gehabt, im Maschinenhaus vorn am Eingang den Direktor des Wasserwerkes anzutreffen, einen Herrn, dem wir im Laufe der letzten Woche von Bittner vorgestellt worden waren, und mit der großzügigen herzlichen Freundlichkeit, der man in diesem Lande so erstaunlich häufig begegnet, hatte der Beamte nicht nur darüber hinweggesehen, daß wir den für unsere Expedition ausgestellten Erlaubnisschein daheim gelassen hatten, sondern uns ohne weiteres die technischen Einrichtungen und einen Plan des gesamten Geländes vorerst persönlich gezeigt und erklärt und uns sodann der weiteren Obhut und Führung seines Oberaufsehers anvertraut.

Dieser, in seinem besten Sonntagsstaat befindliche Mann mit seinem edelgeschnittenen, bronzenen Römerkopf sprach ein elegantes, geläufiges Französisch, und im übrigen war er Kavalier und nichts als Kavalier vom wohlgeölten Scheitel bis zur Sohle des Lackschuhes herab. Da ich auf alle seine höflichen Bemerkungen nur mit einem freundlichen Grunzen und Grinsen antworten konnte, hielt er mich natürlich bald für einen ausgemachten Trottel, und, was noch natürlicher war, außerdem für den mutmaßlichen Vater dieser gut aussehenden jungen Dame, und machte fortan nur noch mit ihr eine angeregte Konversation und immer häufiger auch verliebte Augen zu ihr hin. Warum aber die lustig lachende und schwatzende junge Frau, als wir, dem Hauptkanal folgend, in die grüngoldene Dämmerung des Waldes eintraten, plötzlich verstummte, warum sie stehenblieb, mit weitgeöffneten staunenden Augen in diese fremdartig-geheimnisvolle Welt hineinstarrte, nichts mehr sah als die wilde, verwirrende Lebensfülle ringsum, nichts mehr hörte als den dröhnenden, betäubenden, die letzte Nervenfaser durchdringenden Gesang der Zikadenheere in den brütenden Waldestiefen, warum sie auch die geschliffenste Redewendung des Caballero nicht mehr beantwortete und beachtete und seine und meine Anwesenheit überhaupt nicht mehr wahrzunehmen schien, das hat der Oberaufseher von Utinga trotz seiner edlen Gesichtszüge wohl nicht begriffen. So schwieg auch er zuletzt, offensichtlich ein wenig beleidigt, und ebenso geduldig wie ich setzte er sich fortan wieder in Bewegung und blieb aufs neue stehen, sooft Ruth nach einigen Schritten wiederum in atemloses Schauen und Staunen versank. Doch es dauerte nicht lange, bis dieser Urweltwald auch mich völlig in Bann geschlagen hatte. Er übertraf ja alles, was ich bis dahin in Afrika und Indien gesehen hatte, und so wurde dieser Sonntagsausflug nach Utinga doch noch so etwas wie ein erstmaliges Erlebnis für mich selbst. Allerdings würde es auch einem Genie der Schilderungskunst kaum möglich sein, nur einen ungefähren Eindruck von alledem zu vermitteln, was wir an jenem Morgen von dieser phantastischen Welt sahen, und selbst wenn eine solche Schilderung möglich wäre, so würde sie allein weit über den Rahmen dieses Buches hinausreichen.

Meine Frau wurde sich schließlich bewußt, wie langweilig die Sache nach ihrem hoffnungsvollen Beginn für unsern Mentor geworden sein mußte und komplimentierte ihn mit Worten heißen Dankes für die geleisteten Dienste hinweg. Danach konnten wir uns vollends dem bloßen Schauen und Aufnehmen hingeben, und das erwies sich in dieser Umgebung als eine so anstrengende Beschäftigung, daß wir nach knapp zwei Stunden wie betäubt und ziemlich erschöpft und im gleichen Gedanken auf ein Fleckchen zusteuerten, das sich als einzig mögliches hier herum zum Rasten anbot.

Es war ein kleiner Hügel, der sich ein paar Schritte hinter dem Ende des gebahnten Weges über einem Haufen versunkener und vermodernder Baumstämme erhob. Zahllose Generationen von Blattschneiderameisen hatten ihn in wahrscheinlich jahrzehntelanger Arbeit errichtet. Von den kleinen Baumeistern war auf der exakt geglätteten Dachkuppel ihrer Wohnstätte und auch noch in einem breiten Streifen rings um die Basis jede Spur von Pflanzenwuchs sorgfältig ausgerodet worden. Von der übermannshohen Kuppe herab öffnete sich ein Ausblick über die ganze Länge des Hauptkanals, den wir entlanggewandert waren. Über seine glitzernden Fluten neigten sich die elfenbeinfarbenen schlanken Stämme von Assahi-Palmen, die gefiederten Büschelkronen von Bambusgruppen, die mächtigen lichtgrünen Riesenblätter von wilden Bananen, fielen die aus kirchturmhohen Baumkronen niederhängenden, blütendurchwirkten Gewebe von Schlinggewächsen herab. Eine gewaltige, mit scharlachroten Blüten überschüttete Bromelia warf einen flimmernden, lichtgesprenkelten Schatten über unser Ruheplätzchen, hinter dem flammenden Dome des Baumes ragten Weinpalmen bis in die Wipfel eingesponnen von weißblühenden Trichterwinden empor. Am Fuß unseres Hügels lag halb versunken ein meterdicker Baumstamm; er war wohl einst zum Bau des Weges gefällt, dann aber nicht mehr verwendet worden. Aus seinem morschenden Holz aber war ein Märchengärtlein in Miniaturausgabe entsprossen, winzige Kräuter, Farne, Moose und Flechten hatten sich gemeinsam darauf angesiedelt, und, in ihr feines Blatt- und Rankenwerk verwickelt, glühten feuerfarbene goldgeflammte, blau- und gelb- und orangegetupfte Orchideenblüten aus der ausgefaulten Höhlung des Stammes heraus.

So müde auch unsere Augen von der Großartigkeit dieses Natur-Kaleidoskopes und so trunken unsere Sinne von den tausend- und tausendfachen Eindrücken waren, konnten wir doch nicht anders als uns wiederum, wie fasziniert, in die Schönheit dieses Liliputreiches auf dem toten Baumstamm und sein wimmelndes Leben von vielgestaltigen Kerfen und Insekten zu versenken, und uns gegenseitig mit einem geflüsterten Wort auf jede neuauftauchende bizarre Form in jener Zwergwelt aufmerksam zu machen. Und als ich mir schließlich, dumpf im Gehirn und auch körperlich vor Müdigkeit wie erschlagen, eine Zigarette anbrannte, das erloschene Streichholz achtlos hinuntergeworfen hatte und die für ein paar Sekunden geschlossenen Augen wieder öffnete, mußte ich meinen, in die sonnenheiße Luft hineinträumenden Kameraden in die Rippen stoßen und ihn durch meinen schweigend deutenden Finger auf den Erdboden zurückrufen. Hier zu unsern Füßen war plötzlich etwas Neues, Wundersames in Erscheinung getreten – ein Strom von Saùvas, der berühmten Blattschneiderameise Brasiliens.

Es war ein Zug, der von der Arbeit heim in den Bau kehrte. Vornweg marschierte geordnet, wie es das Dienstreglement jedwelcher Armee der Welt vorschreibt, und mit drohend erhobenen Zangenwaffen, ein Trupp Soldaten, Kerle von fünf- bis sechsfacher Körpergröße der nachfolgenden Arbeiter. Jeder von diesen Tausenden trug ein wie ein Ahornsamen geformtes Stückchen Baumblatt aufrecht zwischen den Zangen. Es sah aus, als ob jedes der Insekten ein kleines grünes Segel aufgespannt hätte. Die Spitze der Kolonne hatte schon fast einen der Eingänge des Baues erreicht, das für uns unsichtbare Ende befand sich noch, in vielleicht zwanzig oder dreißig oder vierzig Meter Höhe, in der Krone irgendeines Baumes mit dem Aussägen der länglichrunden Stückchen aus seinem Laubwerk beschäftigt.

Soweit war bei dieser Arbeitskolonne alles in alltäglicher Ordnung, aber – etwa dreißig Zentimeter vom Nesteingang entfernt, hatte die sichernde Spitze einen vorher nicht dagewesenen und nicht dahin gehörenden Gegenstand erspäht. Es war mein gebrauchtes Zündholz. Drei Mann von der bewaffneten Macht wurden abgeordnet, marschierten darauf zu, betasteten das Objekt und taten einander durch Fühlerbewegungen ihre Meinung über den Fund kund. Zwei kehrten darauf zur Kolonne zurück, einer jedoch verschwand für einen Augenblick aus unserm Gesichtskreis, um dann mit zwei kleinen Arbeitern im Gefolge wieder zu erscheinen. Er führte sie bis zu dem Funde hin; durch seine Führersignale angewiesen, packten die beiden das Hölzchen – im Verhältnis zu ihrer Körpergröße war es ein Zimmermannsbalken und zu ihrem eigenen Gewicht eine wahrhaft gigantische Last – und trugen es, von dem Soldaten geführt, in den Bau hinein.

In dem ausgezeichneten Güntherschen Werke »Das Antlitz Brasiliens« hatten wir bereits einiges über die Blattschneiderameisen gelesen; die Vorgänge in ihren Bauten gehören zu dem Erstaunlichsten, was es auf dem an Staunenswertem so reichen Gebiete der staatenbildenden Insekten gibt, und somit konnten wir uns nicht recht vorstellen, was die drei denn in ihrem unendlich komplizierten und bis aufs kleinste geregelten Nestbetrieb mit einem Streichholz wollten. So lachten wir laut auf, als eine Minute später darauf die beiden Arbeitsmänner samt ihrem Fundstück buchstäblich wieder zur Tür herausgeworfen wurden. Ihr Auftraggeber war anscheinend drin zum Rapport bei einem Vorgesetzten befohlen worden, an seiner Stelle kamen zwei andere Soldaten zielbewußten Schrittes heraus, stupften die zwei Arbeiter, die fassungslos um ihren Balken herumliefen, energisch an; die zwei schulterten darauf das Corpus delicti und schafften es, geleitet von den zwei Fronvögten, aus dem Nestbereich weg.

»Hm«, sagte Ruth nachdenklich. »Meinst du, daß der Soldat auf diese verbockte Sache hin nun drei Tage Mittelarrest kriegt? – Ganz fehlerfrei läuft demnach auch das fabelhafte Staatsgebilde der Saùva nicht! Aber ich glaube, ich werde Essen und Trinken vergessen, wenn unser Maestro, wie er gesagt hat, eine dieser Bauten zum Filmen ausgraben läßt, und ich dann alles das Unglaubliche mit eigenen Augen sehen werde, was Günther davon schreibt. Geht's dir nicht auch so?«

»Ja, aber dein Essen und Trinken erinnert mich, daß es jetzt beinahe Mittag ist, und daß ich einen kannibalischen Hunger habe«, sagte ich, griff in die Tasche meines Khakirockes und machte ein dummes Gesicht. Die Blechbüchse mit der eingelöteten Cadburry-Tropenschokolade war nicht mehr darin, und jetzt wußte ich, was der Plumps zu bedeuten gehabt hatte, als ich mich vorhin auf unserer Wanderung einmal über einen Wassergraben bückte, um eine feierlich darin entlangziehende Makropodenfamilie zu betrachten.

Ich weiß zwar nicht, warum eigentlich meine Galle immer sogleich mitknurren muß, wenn mir der Magen knurrt, sie tut es jedenfalls, und so wurde mir angesichts des langen Weges, den wir bis zu den Fleischtöpfen Lucys zurückzulegen hatten, bänglich im Gemüte. Es war Ruth, die den gescheiten Vorschlag machte, doch vorn in der Arbeiterkantine bei den Maschinenhallen im Vorübergehen nach etwas Eßbarem zu fragen. Wir trabten sofort los, konnten in der Pinte wirklich ein paar Biskuits, eine Büchse Ölsardinen und sogar eine herrliche Papayo erstehen und machten uns sofort darüber her. Und während wir es uns noch schmecken ließen, trat ein junger, breitschultriger Mann in den dämmrigen Raum herein, der uns höflich grüßte und sich bei schärferem Hinsehen als unser Außendienstmann Manuelo erwies. Ich forderte ihn auf, an unserm Mahle teilzunehmen, und dabei stellte es sich zu unserer Freude heraus, daß dieser unbezahlbare Bursche genug Kenntnis der deutschen und der englischen Sprache besaß, um sich notdürftig verständlich machen zu können.

Noch voll von Begeisterung über ihren Urwaldbummel, überschüttete ihn Ruth sogleich mit einem Hagelschauer von Fragen, die alles mögliche betrafen, was sie unterwegs gesehen und nicht recht verstanden hatte, Fragen, auf die Manuelo, soweit er sie überhaupt verstand, in einem sonderbaren Kauderwelsch von Deutsch, Englisch und Portugiesisch bereitwillig Auskunft gab. An der ganzen Art, wie er auf Ruths leidenschaftliches Interesse reagierte, spürte ich, daß in diesem ruhigen, jungen Menschen mit dem Athletenkörper die gleiche tiefe Liebe und Verbundenheit mit der Natur lebendig war, eine Erscheinung, die bei den halbzivilisierten Eingeborenen der Amazonasregion nicht gerade häufig ist. Auf die reinblütigen Indianerstämme der Urwälder trifft das natürlich, wie auf alle völlig unzivilisierten Völkerschaften, nicht zu.

Aus den holprigen, nach Ausdruck ringenden Antworten unseres Manuelos sprach neben dem starken Interesse auch eine gründliche Vertrautheit mit den Dingen seiner heimatlichen Umwelt heraus, und so brauche ich wohl kaum zu erwähnen, daß wir seinem schließlichen Vorschlag begeistert zustimmten: »Nicht können sagen mit Wort, besser zeigen! Sie will mitkommen zu klein Ausflug mit Kanu, Senhora e Senhor?«

Er strahlte vor Vergnügen ob unserer Zusage, bat uns noch um einen Moment Geduld und zog sich zu einer murmelnden Zwiesprache mit einigen Werksangestellten zurück, die hier ihre Mittagspause machten.

Gesättigt und ausgeruht und mit dem Gefühl, wieder aufnahmefähig für ein paar tausend neue Eindrücke zu sein, erhoben wir uns auf seine einladende Verbeugung hin. Trotz aller Abenteuerlust war uns bei dem Gedanken an den bevorstehenden Fußmarsch in der flammenden Mittagshitze nicht übermäßig wohl, und um so freudiger war unsere Überraschung, als wir zu einem kleinen Trolleywagen hinkomplimentiert wurden, der, mit einem Arbeiter bemannt, auf den Feldbahngeleisen vor dem Maschinenhaus bereitstand. Mit der angeborenen Ritterlichkeit seiner Rasse hatte unser junger Führer in den paar Minuten auch noch ein Sitzkissen und einen Sonnenschirm für seine »Senhora padrona« hergezaubert. Wir stiegen ein, er ergriff den rechten, der Arbeiter den linken Treibhebel des Mechanismus, und in erfrischend rascher Fahrt legten wir binnen einer Viertelstunde denselben Weg längs des großen Kanales zurück, zu dem wir heute morgen über zwei Stunden gebraucht hatten.

Unweit unseres Saùvahügels, wo Weg und Schienenstrang zu Ende waren, fuhr der Arbeiter, nachdem er sein Trinkgeld mit herablassender Grandezza entgegengenommen hatte, mit dem leeren Wägelchen zurück. Manuelo, der zu unserer nicht geringen Verblüffung neben einer Umhängetasche und einem schweren Haumesser auch einen leibhaftigen Indianer-Jagdbogen samt Pfeilköcher in der Hand hielt, wies mit einem lächelnden »Viel naß hier, aber ich sehen, Sie hat gut Schuh, Senhora!« auf einen kaum erkennbaren Pfad hin und schritt, alles Hindernde wegschlagend oder beiseitebiegend, führend vor uns her.

Es war wirklich »viel naß« hier, der erste Teil unserer Wanderung bestand nur aus einem elend mühevollen Stapfen in fußtiefem Schlamm. Schon nach ein paar Minuten hatten wir keinen trockenen Faden und auch kaum noch eine Stelle am Leib, wo uns nicht irgendein Insekt oder ein tückisches Gewächs gestochen, gebissen oder gebrannt hätte. Wir schnappten in der schwülen Mittagshitze des Dickichts nach Luft, und ich konnte durch meine schweißüberströmten Brillengläser bald so gut wie gar nichts mehr sehen und deshalb auch nichts von den Erklärungen profitieren, die unser Führer auf die nimmerendenden Fragen Ruths von sich gab. Doch es war nur eine kurze Strecke, bis das Vorwärtskommen leichter wurde, es sind ja immer die Säume der Wälder, die am dichtesten verwachsen sind. Ich konnte allgemach wieder etwas von der Umgebung erkennen, und das erste, was mir ins Auge fiel, war – eine Riesenschlange! Ganz deutlich sah ich die Windungen des gewaltigen faßdicken Leibes sich an einem grünbepolsterten Baumriesen hochschieben; mit vorgestrecktem Halse tat ich einen Schritt auf das Ungeheuer zu und – wischte mir unter einem schielenden Blick nach den andern hin, beflissen die Augengläser ab. Es war keine Boa, sondern eine geschuppte und gefleckte Liane von unwahrscheinlichem Umfang, die sich da emporwand!

Zu meiner Befriedigung erlebte gleich darauf auch meine Frau trotz ihrer falkenscharfen Augen denselben Reinfall: plötzlich hemmte sie ihren Schritt und deutete mit einem sichtbarlich wackelnden Zeigefinger auf ein ähnliches Monstrum hin, das sich über eine brettförmige Wurzel aufwärtsschlang und vom untersten Ast mit einem Knick herabhing, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem weitaufgerissenen Schlangenrachen zeigte.

»Manuelo, Anakonda!« rief sie halblaut aus. Doch der Bursche wandte ihr lächelnd sein dunkles, schweißglänzendes Gesicht zu und schüttelte den Kopf. »Nein, Senhora! Da, und da, nix Schlange, alles Liane! Anakonda, was heißt ›Sucury‹ in Portugies, lebt in Wasser. Wenn Sucury, ich fange! Ein Meter kosten zwanzig Milreis, zwei Meter fünfzig, drei Meter hundert, vier Meter zweihundert Milreis! Ich ein Tag fangt Sucury fünfmetersiebzig lang, kosten vielleicht fünfhundert, vielleicht sechshundert Milreis, weiß nicht. Ich bringt in Kanu drei Tag weit, viel Arbeit mit Paddel Tag und Nacht, viel Hunger. Wenn einfahren in Ver-o-peso, kommt englisch Priester mit Motorboot heraus, ihm immer sehr besoffen. Er rammen meine Kanu, ich fallen heraus, Sucury auch. Ich schnell packen ihn, ich aber zu schwach von Hunger, Sucury sehr stark, ich nicht kann halten. Sucury futsch!«

Es war herzlos in Anbetracht der großen Enttäuschung des armen Teufels, aber seine drollige Redeweise und besonders das unerwartete »Sucury futsch« am Ende war so komisch, daß wir laut auflachten. Was unser Begleiter über die progressive Preissteigerung für den laufenden Meter Riesenschlange sagte, stimmte übrigens; Sepp hatte vor unserer Abreise mit einer Berliner Tierhandlung einen Vertrag auf Lieferung von allerlei amazonischem Getier abgeschlossen, und dabei war ihm gesagt worden, daß von Boas und Anakondas nur ausgewachsene Tiere für Menagerien und Schaubuden in Frage kämen, und zum Beispiel für eins von sechs Meter Länge fünfmal soviel bezahlt würde, wie für ein nur vier Meter langes.

Wir hatten uns nach diesem kleinen Schwatz kaum wieder in Marsch gesetzt, als die erste wirkliche Schlange unsern Weg kreuzte. Wie ich schon aus ihren gleichgültig-langsamen Bewegungen geschlossen hatte, war es laut Manuelo eine giftige, und zwar eine Cascavel, die südamerikanische Art der Klapperschlange, gewesen. Soweit mir bekannt ist, beherbergt das Amazonasgebiet acht Giftschlangenarten neben zwölf ungiftigen. Wie auch anderwärts, sind die gefährlichen Arten im allgemeinen nicht besonders groß, und die allergefährlichsten sind gerade die kleinsten; eine Ausnahme macht hier nur die gewaltige Surucucù, die bis vier Meter Länge und eine dementsprechende Dicke erreicht und dabei tödlich giftig ist.

In den Wildnissen dieses Landes gibt es, wie in jeder Wildnis, natürlich allerwärts Schlangen, harmlose wie giftige, und alljährlich finden in Brasilien Dutzende, vielleicht auch Hunderte von Menschen durch Schlangenbisse den Tod. Dennoch aber bleibt es wahr, daß bei der ausgesprochenen Trägheit fast aller giftigen Reptilien und ihrem überwiegend nächtlichen Treiben die meisten Unfälle durch einige Achtsamkeit seitens der Menschen vermieden werden könnten. Bei meinem insgesamt dreizehnjährigen Aufenthalt in tropischen Ländern habe ich nur sechs derartige Unglücksfälle miterlebt, und nur zwei davon sind tödlich verlaufen. Außerdem könnte sich gerade in Brasilien jedermann, der viel im Freien zu tun hat, leicht vor dem schlimmsten Ausgang eines Schlangenbisses schützen, wenn er ständig ein Fläschchen mit Serum und die dazu gehörige kleine Spritze bei sich führte, denn im Süden des Landes, in Butantan, befindet sich die größte Schlangenfarm der Welt, wo zur Gewinnung von Serum viele Tausende von Giftschlangen aller einheimischen Arten gehalten werden und Serum zum Selbstkostenpreis abgegeben wird. Auch der berufsmäßige Tierfänger Manuelo führte das praktische Ledertäschchen mit Serum und Spritze nicht bei sich, wie ich durch eine Frage feststellte. Es war einer der zahllosen Fälle von unbegreiflicher Indolenz, die ich hierzulande auf so vielen Gebieten angetroffen habe, und die mich manchmal einfach zur Jacke hinausgejagt hat.

In den schweren Massen des Unterholzes tat hier und da einmal ein unerkennbares Lebewesen seine Anwesenheit durch ein plötzliches Rauschen, Rascheln oder Flattern kund, von einem gestürzten, wildüberwucherten Stamm schnellte sich bei unserm Näherkommen ein anderthalb Meter langer bräunlich-grüner Leguan mit gezacktem Rückenkamm herunter, ein buntstrahlender Tukan fuhr mit wüstem Geschrei aus einem Gebüsch wilder Bananen heraus, Morphidenfalter mit handgroßen blauschimmernden Flügeln taumelten durch das grüne Dunkel, aber außer den allgegenwärtigen, ebenso massenhaften wie absonderlichen Insektenformen und den seltsamen Lauten aus Vogelkehlen droben in den himmelhohen Kronengewölben bemerkten wir auf unserm halbstündigen Marsch eigentlich wenig vom tierischen Leben des Urwaldes. Um so mehr allerdings von seinem vegetativen, und unter den unglaubhaft gigantischen und bizarren Pflanzengestalten ringsum waren es die Orchideen, deren abenteuerliche Formen und märchenhafte Schönheit uns immer wieder den Schritt innehalten ließ.

Mit der allerherrlichsten dieser Blüten, einer, für die in Europa vielleicht eine beachtliche Summe Geld bezahlt worden wäre, erlebte mein begeisterter Kamerad zuletzt noch einen zwiefach unerwarteten Reinfall. Es war ein Wunder von purpurnen Flammen auf mattgoldenem Grunde, das da mit einer dämonenhaften Fratze aus einer Astgabel herablugte.

»Oh, die muß ich haben! Wenn ich sie mit Wurzeln und Baumrinde herauskriege, können wir sie daheim in einer Ampel auf der Veranda aufhängen!« rief sie, lief hin und begann unverzüglich an dem mannshohen Wurzelstock des Baumes emporzuklettern. Manuelo, der gerade die Zweige einer Stechpalme aus dem Wege hackte, warf einen spähenden Blick auf die lianenumsponnenen Äste hinauf und stieß ein warnendes »Nao, Senhora, nao, Taoca!« aus.

Sie hörte nicht, und ich verstand nicht, was er meinte, aber in der Gewißheit, daß da irgend etwas verkehrt war, sprang ich mit einem »Laß das sein! Geh da runter!« auf sie zu. Doch da hatte sie schon mit einem Satz die Pflanze samt einem Stück der modernden Baumrinde heruntergerissen, aber im selben Augenblick prasselte es wie ein Schauer von glühenden Metalltropfen auf uns herab. Unter gellendem Jammergeschrei und mit der kostbaren Orchidee um sich schlagend, brauste Ruth davon, Manuelo ihr mit lauten Rufen »Halt, Senhora, halt! Nix laufen!« hinterher, und ich warf blitzschnell Hut und Rock ab und begann mir mit wilder Hast über Nacken, Gesicht und Hände zu fahren.

Ich hatte es schon einmal gewußt, was Taoca waren, und jetzt wußte ich's wieder. Wenn es mir eine Minute früher eingefallen wäre, hätten mich keine zehntausend Teufel unter den Baum gebracht – das Wort bedeutet »Feuerameise«, und diesen Namen hat sie nicht umsonst!

Manuelo half mir beim Absuchen der Biester, die nicht loslassen wollten, und mit ein paar Feuerameisenköpfen in der Haut und fluchend wie ein Türke machte ich mich schließlich auf die Suche nach meiner entschwundenen Frau. Die auf der Flucht weggeworfene Wunderorchidee geleitete mich zu dem Gebüsch hin, in dem sie, noch leise vor sich hinwinselnd, Bluse, Rock und Strümpfe auf verschlüpfte Beißer durchforschte.

»Was Taocas sind, wird dir unterdessen klar geworden sein«, hub ich grinsend an. »Diese Art – sie gehört zur Gattung der Raubameise, auch Treiber- oder Wanderameise genannt, in Äquatorialafrika unter dem Namen ›Siafu‹ allgemein bekannt und gefürchtet – ist der Schrecken und der unvermeidliche Tod jedes lebenden Wesens, das durch irgendwelche Umstände gehindert, vor den herannahenden Heersäulen dieser fleischfressenden Insekten nicht rechtzeitig die Flucht ergreifen konnte. Bates führte zum Beispiel Fälle an ...«

Welche Fälle Bates zum Beispiel anführte, konnte ich meiner Frau und damit auch meinen Lesern leider nicht vermitteln, weil sie mir, sprühend vor Wut, plötzlich ihre Bluse über den Schädel schlug.

Ich hatte unterwegs aus reinem Bedauern die weggeworfene Orchidee aufgeklaubt und bis dahin wirklich keine Ahnung gehabt, wo die Schwaden von pestilenzialischem Aasgestank herrührten, die mir zeitweilig in die Nase drangen, sonst hätte ich der gereizten Ruth natürlich nicht in lachender Abwehr die Märchenblüte unter die Stumpfnase gehalten. Mir fuhr ein ernster Schrecken ins Gebein, als sie, mit einem Aufschrei zurücktaumelnd, die Hände vors Gesicht schlug und mich selbst auf einmal eine Duftwolke umnebelte, daß mir auf der Stelle brechübel wurde.

Es war die Orchidee, dieses Wunder an Schönheit, die den Verwesungsgeruch ausströmte. Ruth mußte sich tatsächlich übergeben, und für sie war die Sache damit erledigt, mir aber hat der schlechthin unsagbare Gestank für einen ganzen Tag den Appetit und sogar die Freude an dem letzten Teil unseres Ausfluges erheblich verdorben.

Der brave Manuelo schien sehr bekümmert, daß er unser Mißgeschick nicht hatte verhindern können; da ich vor Übelkeit nicht sprechen konnte, schnitt ich seine Entschuldigungsreden mit einer beschwichtigenden Handbewegung ab, und gleich darauf traten wir aufatmend aus der stickigen dunkeln Schwüle des Waldes in den unsäglich wohltuenden kühlen Luftstrom hinaus, der über die stillen glitzernden Fluten einer Lagune strich. Am jenseitigen Ufer strebten die geschuppten Stämme hoher Palmen direkt aus dem Wasser heraus. An ihren untersten Wedeln hatten Webervögel ihre kugelrunden Nester aufgehängt. Zu Hunderten umflatterten sie, Atzung herbeibringend oder mit der Reparatur ihrer Behausungen beschäftigt, die pendelnden Nestkugeln, grellgelb leuchtete das Kleid dieser gefiederten Kunstgewerbe in den schrägeinfallenden Strahlen der Nachmittagssonne. Ein buntfunkelnder Schwarm von Papageien erhob sich laut schimpfend aus der Krone eines mit roten Früchten übersäten wilden Feigenbaumes hinter uns und fiel lärmend in die von den Webervögeln zerfetzten Wipfel der Palmgruppe ein; auf einem abgestorbenen Stamm, der schräg aus dem Wasser aufragte, stand mit weitausgebreiteten reglosen Schwingen ein Edelreiher, er sah aus wie ein aus Silber getriebener Wappenvogel.

Ich hatte mich für ein Weilchen niederhocken müssen und meinen von dem Orchideengestank benommenen Kopf auf die emporgezogenen Knie gesenkt; als ich wieder aufschaute, sah ich Manuelo, in einem Kanu kniend auf uns zu paddeln. Schweigend und mit sehr angebrachter Vorsicht stiegen wir in das schwankende Fahrzeug ein und wie ein Geisterschiff trieb es dann unter den kaum wahrnehmbaren Paddelschlägen unseres Führers durch die stille Schönheit dieser Wasserlandschaft dahin.

Behutsam lenkte er das Boot durch ein Dschungel von wuchernder, doppelt mannshoher Pfeilwurz hindurch. Aus ihrem edelgeformten, dunkelgrünen Blattwerk leuchteten Hunderte von riesigen, elfenbeinweißen Blütenkelchen heraus. Dahinter öffnete sich die schmale Wasserbahn eines Kanals; jeden Einblick verwehrend erhoben sich an beiden Ufern die von Kletterpflanzen überwucherten Mauern des Waldes, die ineinandergreifenden Kronen der Baumriesen spannten ein goldgründurchflutetes Dach über dem still dahinfließenden Gewässer. Ein schillernder Eisvogel stieß plötzlich, auffunkelnd wie ein fallender Edelstein, von einem Ast herab und im nächsten Augenblick schon wieder mit einem blitzenden Fischlein im Schnabel empor. Eine Gesellschaft kleiner Kapuzineräffchen ergriff mit erschrecktem Geschnalze vor uns die Flucht und verschwand rauschend und blätterwirbelnd in der turmhohen, dunkeln Krone eines Urwaldgiganten. Hinter einer Windung des Wasserlaufes schimmerte in unnatürlich kalkigem Weiß ein einzelner Baumstamm aus dem tiefgrünen Labyrinth, wie Riesenschneeflocken umflatterten Hunderte von aufgeschreckten Ibissen diesen Nistbaum, Scharen von Flamingos und Störchen, von weißen, grauen und roten Reihern standen reglos im flachen Wasser einer Bucht, die schlanken Hälse in mißtrauischer Beobachtung unserm still vorübergleitenden Fahrzeug zugewendet.

Ein breiter Strom von Sonnenlicht überflutete die offene Wasserfläche. Schwärme von kleinen Bläulingen, von orangefarbenen größeren Faltern, von metallischschimmernden Fliegen und riesenhaft großen Libellen zuckten und flatterten über die goldgetönte Flut, drunten in ihren erleuchteten Tiefen glitten die schattenhaften Leiber von Fischen durcheinander, und auch sie glühten bei einer schnellen Wendung in den bunten strahlenden Farben auf, in die diese ganze märchenhafte Tropennatur gekleidet war.

Hier war ausnahmsweise einmal Licht genug zum Photographieren; leise bedeuteten wir unserm Führer, das Kanu treiben zu lassen, dann arbeiteten wir beide still und emsig mit Leica und Rolleiflex, bis der letzte Sonnenglanz über den Wassern der Bucht erlosch.

Bald nachdem Manuelo das Paddel wieder ergriffen hatte, deutete er auf einen kleinen weißen Fleck am rechten Ufer. Wir verstanden nicht, was er darüber sagte; er steuerte näher, und nunmehr erkannten wir, daß es eine auf einer eisernen Stütze montierte Emailtafel war. Ihre Inschrift verkündete, daß hier die Grenze des geschützten Gebietes von Utinga verlief.

»Fahren dort weiter, so, so und so!« sagte Manuelo mit erläuternden schlängelnden Handbewegungen. »Eine Stunde und ein bißchen, dann kommen klein Kanal, was geht mitten in Stadt Parà. Wollen bleiben in Kanu bis Stadt.«

Wir waren gerne einverstanden, da uns aber die Beine von dem gezwängten Hocken in dem engen Fahrzeug allmählich eingeschlafen waren, bat ich ihn, vorerst irgendwo hier in der Nähe auf ein Weilchen zu landen. Er nickte und trieb das Boot mit raschen Schlägen auf ein winziges Inselchen zu. Bis in den verdorrten Wipfel eingesponnen von violettblühenden Winden erhob sich ein einzelner mächtiger Baum auf dem Eilande. Die Spitze des Kanus war noch etwa fünfzehn Meter von den ins Wasser herablaufenden Wurzelpfeilern des alten Riesen entfernt, als unser Fährmann spähend den Kopf erhob. Seine Linke machte eine warnende Bewegung nach uns zu, die Rechte ergriff den hinter ihm liegenden Bogen und Pfeilköcher. Angestrengt lugten wir voraus, doch wir konnten nicht erkennen, was er sah. Die mächtigen Muskeln an seinem Rücken und Oberarm traten heraus, als er geräuschlos den Bogen spannte, mit einem scharfen »Pffft!« schwirrte der Pfeil von der Sehne. Aus einer Wurzelhöhlung da vorn schnellte etwas hoch in die Luft und fiel mit einem klatschenden Schlag ins Wasser. Zwei, drei rasche Paddelschläge trieben dann das Fahrzeug an die Beute heran, mit einem geschickten Griff packte er sie und hielt sie uns freundlich lachend vor die Gesichter. Es war ein Leguan, wie wir heute schon einen im Wald gesehen hatten.

»Warum haben Sie den armen Kerl totgeschossen? Sind Leguane nicht ganz harmlos?« fragte Ruth.

»Nix totgeschossen, Senhora!« lachte er, zog die Pfeilspitze aus der kleinen Wunde, raffte eine Bastschnur auf und umschnürte mit geübten Griffen den wild hin- und herschnellenden, meterlangen Körper des Reptils. »Dies Fangpfeil, nix Totpfeil! Ihm wieder gesund morgen oder übermorgen und bald sehr zahm. Schenken Senhora Padrona! Wollen haben?«

Mit seligen Augen und wortlos vor Glück bettete sie den gefesselten Leguan in ihren Schoß, schöpfte mit der Hand immer wieder Wasser, fing ihm Fliegen und hielt sie ihm vor das Maul, das er, eingeschnürt wie er war, ja gar nicht öffnen konnte, und während der beinahe zweistündigen Heimfahrt auf stillträumenden Urwaldgewässern sprach sie kaum noch ein Wort.


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