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Neuntes Kapitel
Hans Jakob zerstört seine Stammburg

Der März war ins Land gekommen. Schmeichelnd strich lauer Föhn über den Winterschnee. Von dem Dache des alten Tores tropfte es schwer hernieder, als müsse er im Abschiedsweh gar bittere Tränen vergießen. Nur auf der Nordseite hielt der schmutzige, graue Gesell noch stand und ließ sich auch durch das lockende Werben des Südwindes nicht rühren, obwohl die alte Wetterfahne auf der Spitze des Tores mit längst verrosteter Stimme ihr eintönig Frühlingslied sang: »Kommst auch bald dran – kommst auch bald dran!«

Durch eine Spalte drang es in den oberen Speicherraum des Tores, wo in einem Winkel das seltsame Geschöpf unbeweglich hing, das die Träume des Mäusejünglings Fips belebt hatte.

Auf einmal rührte sich das kleine Ding im grauen Samtkleide.

Hätte Fips die bewunderte Unbekannte jetzt gesehen, so würde sein weiches Herz voll tiefen Mitleids gewesen sein; denn das damals so dralle, festanliegende Kleidchen hing nun in schlotternden Falten um einen abgemagerten Körper. Auch der dickste Fettmantel wird zuletzt aufgelöst!

So war Amanda, die Fledermaus, durch den Gruß des Frühlingswindes und den Gesang der Wetterfahne aus ihrem Winterschlafe aufgescheucht worden. Sie strich sich die Ohrmuscheln zurück und gähnte herzhaft. Dabei blitzten ihre Zähne, so daß ihr Maul aussah wie ein weit offenes Waffenlager mit spitzen, blankgeschliffenen Dolchen.

Nun rieb sie sich auch die Augen, um dem jungen Lenztag besser ins Angesicht schauen zu können. Es war aber umsonst, sie blieben kurzsichtig wie vor dem Winterschlafe.

Mit ihrem feinen Sopranstimmchen antwortete sie der Wetterfahne, ihrer alten Freundin:

»Winterschlaf ist nun vorbei!
Käfer kommt, fliegt schnell herbei!
Winterspeck ist längst verzehrt,
Frische Kost drum heißbegehrt!«

Nicht einmal der alte Jörg hätte das Lied vernommen, auch wenn er dicht neben der Sängerin gestanden wäre. Das Stimmlein war so wunderzart, daß nur ihre eigene Familie es hören konnte.

Amanda sang, denn sie freute sich über den neuen Frühling.

Plötzlich kam eine Antwort! Von der einen Wand des Speichers her, dort, wo der alte Schrank mit Jörgs abgelegten Kleidern stand, tönte ein seltsames Klopfen. Es war, als ob eine kleine Uhr in dem wackeligen Kasten aufgezogen worden wäre und nun ihr heimlich Tick-tack machte.

Amanda horchte auf, dann lächelte sie und rief: »Hans Jakob, seid Ihr der Klopfgeist, den ich höre?«

Aus dem Schrank drang ein leises Lachen.

»All Heil, Amanda! Auch schon Kopf oben? Wie habt Ihr überwintert, liebe Freundin?«

»Danke, Hans Jakob, es geht. Matt und elend ein wenig, mein Fettvorrat ist fast zu Ende!«

»Begreife«, kicherte der Klopfkäfer, »nach dem langen Fasten kein Wunder! Nun dürft Ihr Euch tüchtig aufkochen, damit Ihr bald zu Kräften kommt!«

»Ach«, seufzte Amanda, »wenn's nur nicht wieder Enttäuschungen gibt! Dem jungen Springinsfeld ist nun mal nicht zu trauen. Kommt ins Land mit Trari und Trara! Man wacht auf und meint, der ekelhafte Winter sei auf und davon und der Tisch gedeckt! Ja, Prost Mahlzeit!«

Hans Jakob war aus seiner Wohnung in den vordersten Hausflur gegangen, um Amanda näher zu sein.

»Ja, trau, schau, wem! Der kecke Bursche muß ein paarmal Sturm laufen, bis er den alten Griesgram fortjagen kann, unsereins muß viel Vorsicht und Geduld haben!«

»Ach, vorsichtig! Ihr habt gut predigen! Wenn mir das Kleid um den Leib schlottert! Nur ein kräftiger Schluck, ein einziger! Dann schlafe ich meinetwegen nochmal ein.«

Hans Jakob fühlte warmes Mitleid mit seiner großen Freundin. Er richtete sich in seinem Flur auf, legte Fühler und Vorderbeine dicht an den Körper und schlug mit seinem dicken Kopf gegen die Decke.

Dadurch beteuerte er Amanda seine herzliche Teilnahme.

Schon sank die Dämmerung hernieder.

Da flatterten zwei Nachtschmetterlinge durch den halbdunklen Raum. Eben waren sie aus ihrem Winterhäuschen geschlüpft und übten sich im Tanzen.

»Herrlich! Wunderbar!« jubelte Flick, der eine.

»Großartig! Entzückend!« antwortete Flock, der andere.

»Hast du dir das Leben eigentlich so schön vorgestellt?« fragte Flick und machte die verwegensten Luftsprünge.

»Nein, niemals, nicht einmal im Traum«, sprach Flock, »und diese Freiheit, diese tolle, goldene Freiheit!«

»Ja, das ist mal etwas anderes als die enge dumpfe Puppenwiege, in der man sich nicht rühren und regen konnte. Hast du eigentlich viel geträumt?«

»Es tut sich«, antwortete Flock, »am meisten träumte ich vom Vogelsein. Das war mir auch der liebste Traum, und doch hätte ich nicht gedacht, daß das Fliegen etwas so Entzückendes ist. Immer lustig, Brüderlein!«

»Tanz nur, tanz!« rief Flick, »wohin geht morgen die Reise? Ein neues Leben führen wir. Dazu brauchen wir eine neue Welt. Nach Amerika gefällig?« Dabei machte Flick einen Purzelbaum. Dicht an seiner Seite breitete Flock im gleichen Jubel seine Flügel weit aus, als wollte er die ganze Welt umarmen.

Hans Jakob hatte sein Klopfen eingestellt, um dem Gespräch der beiden Falter zu lauschen.

»Dumme Jungen«, sagte er mit leichtem Hohn und ging durch den langen Gang in seine Hinterstube zurück.

Amandas feiner Mantel zitterte in der Erregung, die ihr der Flug der beiden Falter verursacht hatte. Weit breitete sie ihren Mantel aus, sperrte das Maul auf – und Flick und Flock waren tanzend zwischen den aufgepflanzten Bajonetten im Abgrund verschwunden.

»Klein meine Beute, kurz eure Freude!« sang Amanda mit ihrer leisen Stimme und schwang sich wieder auf ihren alten Platz.

»Na, hat's geschmeckt?« rief Hans Jakob, dem es in seiner Stube zu schwül geworden war.

»Danke!« antwortete die Fledermaus, »armselig Kleinzeug nur! Kaum ein Voressen! Macht Appetit nach mehr. Ist aber noch nicht viel zu haben. Drum gute Nacht, Hans Jakob! Ich will nochmal einen langen Schlaf tun.«

Als der Klopfkäfer am nächsten Morgen Ausschau nach dem Weltgeschehen hielt, sah er seine Freundin regungslos am Reck hängen, den Kopf tief zur Erde gesenkt.

»Gute Nacht nochmal für kurze Zeit, Amanda!« sagte leise Hans Jakob, »und auf ein fröhlich Erwachen!«

Dann ging er wieder in seine Wohnung, nicht ohne vorher etwas Kehricht vor die Türe geworfen zu haben. Es sah aus, wie feines, gelbes Maismehl.

Zwei neue Jahreswochen zogen über dem alten Stadttor dahin. Die Sonne grüßte es jeden Tag um einige Minuten früher am Morgen und blitzte die alte Wetterfahne am Abend etwas länger an. Auch begann sie hungrig und mit großem Eifer den Schnee aufzulecken, der in den schattigen Winkeln lag.

Das leise Rieseln der fallenden Tropfen klang wie ein heimlich Geläute in die Spalten und Ritzen des alten Bauwerkes, und in tausenden von Kinderwiegen wurde es lebendig. Schier nimmer halten ließ sich das kleine Gesindel. Mit Ungestüm riß es die letzten Vorhänge auseinander, die ihm noch die goldene Freiheit versperren wollten.

Gleich tolpatschigen Kindern, die ihre ersten Gehversuche machen, schlüpften und krochen und kollerten sie aus ihren heimlichen Bettchen, rieben und putzten sich die Augen, tasteten mit ihren Fühlern in die unbekannte Welt hinein, falteten die Flüglein auseinander und schüchtern wieder zusammen, setzten sich auf einen Balken und probierten den ersten Flug.

Auf einmal kam zu diesem kleinen Käfergesindel ein prächtiger Falter. Mit vier großen Augen auf seinen Flügeln, die eigentümlich gezackt waren, stellte er sich als Tagpfauenauge vor.

»Mein Name ist Notburga«, sagte der schöne Falter und drehte sich einmal im Kreise.

»Ein hübscher Name«, sprach Hans Jakob, den auch die laue Frühlingsluft vor seine Haustüre gelockt hatte, »aber er bedeutet etwas Schweres, Trauriges. Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen gleichfalls vorstelle. Hans Jakob, Ältester des ruhmreichen Geschlechtes der Trotzköpfe.«

»Sehr angenehm«, sprach der Falter mit zierlichem Zusammenklappen der Flügel und ließ sich dicht bei Hans Jakob nieder. »Sie gehören wohl zu einer alten langlebigen Familie? Trotzköpfe sind wohl besser zum Kampf ums Dasein ausgerüstet als wir mit unseren zarten, zerbrechlichen Gliedern.«

»Wie lang wir schon hier im alten Tore hausen«, erzählte in stolzer Haltung der Käfer, »kann ich Ihnen nicht genau sagen. Aber lange ist es, lange, das dürfen Sie mir glauben. Unsere Lebensaufgabe braucht eben Zeit, viel Zeit! Wir leben nämlich mit den Menschen in Fehde und zerstören, was sie bauen. Ist Ihnen das bekannt?«

»Aber nein, Herr Trotzkopf! Woher sollte ich dies wissen? Bitte, erzählen Sie mir davon! Ich bin aufs äußerste gespannt!«

Dabei faltete sie weit ihre Flügel auseinander, und die Augen darauf schauten wie neugierige Fragezeichen Hans Jakob an. Der berichtete ruhig weiter:

»Also, meine Urahnen bewohnten schon diese Burg. Sie sehen hier das Stammschloß meiner Väter, das die Menschen in verächtlichem Tone einen alten, wurmstichigen Schrank zu nennen belieben. Dumm und einfältig, nicht wahr?«

»Sie werden es ja wohl am besten wissen, wie die Menschen sind. Ich habe noch gar keine Erfahrung«, warf Notburga schüchtern ein. Bei diesen Worten hatte sie sich dicht in der Nähe des alten Schrankes niedergelassen.

»Im allgemeinen taugen die Menschen nicht viel«, sagte Hans Jakob und stieß eine Schaufel voll Kehricht aus seinem Haus, »doch keine Regel ohne Ausnahme! Unser Turmherr ist eine solche. Dem fiele es niemals ein, Sie zum Beispiel aufzuspießen.«

»Aufzuspießen? Mein Gott! Was soll dies bedeuten?« fragte heftig zitternd Notburga.

»Na, meist das Schicksal schöner Falter, hoffe, daß Sie davon bewahrt bleiben! Hier sind Sie sicher. Unser Turmherr ist nämlich ein Sonntagskind. Werdet wohl wieder nicht wissen, was das ist? Ich habe es mir gedacht. Also Sonntagskinder sind Menschen, die ein Herz und eine Seele auch für uns Tiere haben. Und für solche gehen wir durchs Feuer, durchs Wasser und durchs Holz.«

»Euren Turmherrn liebe ich!« sagte Notburga, und ihre Flügel bebten vor Erregung, »ist er schön?«

»Daß ihr doch immer am Äußeren hängen bleibt, ihr kurzlebig Volk!« sprach Hans Jakob in mißbilligendem Tone, »immer aufs Bunte, Schillernde los, und wäre es das Verderben! Von außen ist nun unser alter Jörg nicht schön, aber um so schöner im Herzen. Wir alle im Turme dienen ihm und bauen an seinem Glück.«

»Darf ich da nicht mittun?« fragte Notburga, »ich möchte so sehr gern.«

»Vielleicht«, antwortete Hans Jakob vorsichtig, »wenn Ihr lang genug lebt, nimmt man Euch in unseren geheimen Bund auf.«

»Wie schön wäre das!« lispelte Notburga, »ich wäre Euch wirklich von Herzen dankbar. Ihr seid ein starker König hier in der Welt, das habe ich gleich bemerkt.«

»Ja«, sagte der Trotzkäfer, »stark und fleißig ist mein Geschlecht. Unsere Kinder, die mit kräftigen Kinnbacken ausgerüstet sind, bauen unablässig lange Gänge in unserer Burg, natürlich unter meiner Oberaufsicht und nach vorgezeichnetem Plane.«

»Sind Ihre Jungen niedlich?« fragte Notburga.

»Darauf kommt es bei uns nicht an«, antwortete Hans Jakob zurechtweisend, »im übrigen ist es bei uns wie bei den Menschen, auch wir halten unsere eigenen Kinder für die schönsten der Welt. Begreiflich, nicht wahr? Aber ihr Handwerk verstehen unsere Buben und Mädel vortrefflich. Mit ihren sechs Beinen dringen sie stets weiter vor, und jedes Hindernis wird von ihnen überwunden. Durch unsere Burg zieht schon eine ganze Menge von Gräben.«

»Ja, fällt sie denn da nicht ein, wenn Ihre Kinder sie unterhöhlen?« warf Notburga ängstlich dazwischen.

»Gewiß, meine Liebe!« sagte der Trotzkopf in unerschütterlicher Ruhe, »dann ist eben das Ende da, und an Stelle unseres schönen Schlosses liegt ein Trümmerhaufen, eine traurige Ruine. Aber wir freuen uns, denn unser Feind, der Mensch, klagt und trauert auf den verfallenen Überresten.«

»Da muß aber Ihr Turmherr auch trauern, wenn Ihre schöne Burg hier einfällt?« fragte der Falter.

»Damit hat es seine besondere Bewandtnis«, sagte Hans Jakob mit listigem Lächeln, »in unserer Burg ist ein Geheimnis eingeschlossen, und das wird frei, wenn sie in Trümmern liegt. Dies Geheimnis aber wird ein Glück für unseren Turmherrn sein. Mehr kann und darf ich Ihnen nicht verraten, habe ohnehin schon zuviel aus der Schule geplaudert. Sonst ist der alte Kasten für die Menschen nicht viel wert, da haben wir schon ganz andere Kunstwerke zerstört, Kunstwerke, bei deren Tod ich kluge und gelehrte Menschenkinder weinen, wirklich weinen sah. Wir haben sogar schon einmal die ganze Welt eingeschmissen, was sagen Sie dazu?«

Hans Jakob warf stolz den Kopf zurück, um den Eindruck zu beobachten, den seine Worte auf das Pfauenauge gemacht hatten.

»Unmöglich«, sagte dieser und zitterte am ganzen Leibe, »wir gehören doch auch zur Welt. Oder sind wir außer der Welt? Erklären Sie es mir! Ich verliere rein noch den Verstand.«

»Na«, sprach der Trotzkopf, »allzuviel hat Ihre Sippe wohl nicht zu verlieren. Ihr Geschlecht ist kurzlebig und besitzt darum wenig Erfahrung, ist auch nicht so gründlich wie unsereins, dem das Forschen und Grübeln und Bohren nun einmal im Blute liegt. Aber nur keine Angst! Der alte Hans Jakob erlaubt sich gern ein Späßchen mit jungen Damen. Die Zerstörung der Welt! Haha! Sie müssen wissen, daß die Menschen Bilder von der Erde machen, große, runde Kugeln, bunt bemalt. Sie glauben nämlich, daß sich die Welt stets drehe. Komische Vorstellung, nicht wahr?«

»Das muß aber nett aussehen«, meinte Notburga.

»Ja, für Sie wäre der Tanz auf der Weltkugel ein Vergnügen«, sagte Hans Jakob, »weil Sie gerne an der Oberfläche bleiben. Wir wollen in die Tiefe und ziehen das Nahrhafte dem Schönen vor. Die Menschen machen diese Kugeln nämlich aus Papier und Kleister. Wissen Sie, wie Kleister schmeckt?«

»Aber nein«, entgegnete Notburga, »so etwas gab es in unserer Puppenküche nicht. Wenn es aber wie Honig und Blütenduft schmeckt, habe ich wohl eine Ahnung. Dann muß es etwas Gutes sein.«

»Pappe«, rief Hans Jakob in verächtlichem Tone, »unsereins braucht kräftige Kost, wie könnten wir sonst unseren ritterlichen Panzer tragen? Also der Kleister ist nun einmal die Lieblingsspeise in unserer Familie., Da ist es doch ganz natürlich, daß wir uns in solch einer Weltkugel ansiedeln, finden Sie nicht auch?«

»Gewiß, ich begreife es sehr gut«, sagte lächelnd das Pfauenauge, »da bauen Sie dann ihre Gänge und Höhlen mitten in die Welt hinein?«

»Freilich«, antwortete Hans Jakob, »bis auch hier eines Tages oder Nachts –«

»Ach«, rief Notburga traurig aus, »mir wird schon wieder ganz bange, wenn ich daran denke.«

»Warum denn? Eines Tages kommt der Weltuntergang. Dann stürzen die Erdteile ins große Weltmeer und das Liedlein ist aus.«

»Mich wundert nur«, sprach der Falter, »daß Sie die Menschen so ungestört wühlen lassen. Oder stellen sie Ihnen nach?«

»Kleinigkeit für mich!« erwiderte stolz der Käfer. »Umsonst heißen wir nicht Trotzköpfe. Unser Schädel ist hart, das haben Sie doch an meinem Klopfen gehört, nicht wahr?«

»Freilich«, stimmte Notburga zu, »gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft bewunderte ich Ihren harten Kopf.«

»Nun also«, sagte Hans Jakob, »und wissen Sie, was ich tue, wenn ich das Unglück habe, in Gefangenschaft zu geraten, oder fürchten muß, getötet zu werden?«

»Nein«, entgegnete der Schmetterling zitternd, »aber ich möchte es sehr gerne erfahren.«

»Da stelle ich mich einfach tot, mausetot!« sprach stolz der Trotzkopf.

»Tot, das verstehe ich nicht«, lispelte Notburga.

»Doch sehr einfach, tot ist, na, wie soll ich es Ihnen erklären, tot ist ausgeblasen, zerdrückt, zertreten! Ich liege eben still und gebe keinen Schnaufer von mir.«

»Das ist aber kolossal bewundernswert! So etwas brächte ich nicht fertig«, sagte der Falter.

»Glaube ich«, meinte Hans Jakob und richtete sich steil auf, »ist eine Kunst, die wir auf Kind und Kindeskinder vererben.«

»Tun Ihnen dann die Menschen nichts mehr, wenn Sie wie ein ausgeblasenes Licht dort liegen?«

»Nein«, antwortete der Käfer, »aber sie trauen uns nicht, und da quälen sie uns, nur um uns zu einem Lebenszeichen zu zwingen. Doch unser Wahlspruch heißt: standhaft und trotzig! Man stammt nicht umsonst von einem tapferen Rittergeschlecht ab.«

»Aber dann, wenn sich die Menschen täuschen ließen und Sie für echt tot halten?« warf Notburga neugierig ein.

»Nun, dann ernte ich rasch den Lohn für meine Geduld und meine Standhaftigkeit und reite spornstreichs in ein sicheres Verlies.«

»Ach«, sprach aufseufzend das Pfauenauge, »das wäre mir doch ein zu aufregendes Leben. Nehmen Sie sich nur in acht! Es würde mir um Sie furchtbar leid tun.«

»Unbesorgt«, rief Hans Jakob mit übermütiger Stimme, »schließlich lebt man überall nur einmal in der Welt. Vorerst aber will und muß ich noch eine Zeitlang leben, denn meine Aufgabe ist noch nicht vollendet. Bis Schwalb und Storch uns wiederkehrt, auf alle Fälle.«

»Warum gerade bis dorthin?« fragte Notburga rasch.

»Ach das betrifft unser Turmgeheimnis. Wenn Sie lange genug leben, werden Sie es vielleicht noch erfahren, daß ich die allerwichtigste Rolle in unserem Turmschauspiel habe.«

»Schade, daß unser Leben gar so kurz ist, oft nur ein einz'ger schöner Sommertag.«

Hans Jakob kannte die Welt im allgemeinen und das Falterleben im besonderen. Darum hatte er auch Mitleid mit Notburga. War sie doch erst aus der Kinderstube geschlüpft und stand nun hilflos in der Welt, die ihr einen wunderbaren Sommertag im winterlichen März vorgetäuscht hatte. Wie lange mochte es dauern, und der blaue Himmel überzog sich mit einem dunklen Vorhang, und statt auf bunte Blüten herunterzulachen, warf er weiße, kalte Flocken auf sie nieder. Der Trotzkopf sah mit klaren Augen den frühen Tod des Falters voraus, und es tat ihm in seinem Käferherzen ordentlich leid um den schmucken Schmetterling. Endlich sagte er: »Liebste Freundin, ein kurzes Dasein auf dieser Erde ist nicht das schlechteste Los. Sogar die Menschen preisen die glücklich, die in der Blütezeit vollenden. Und ich sage Ihnen: wer jung stirbt, hat doppelt schön gelebt. Wenn Sie ein Methusalem werden wollten, dann durften Sie ihre Kinderstube nicht so früh verlassen. Vorwitz wird nun einmal nicht alt. Wenn mich nicht alles täuscht, so ist der nichtsnutzige Bengel, der Lenz, wieder davon, und der alte Griesgram, der Winter, fängt noch einmal zu regieren an. Dann ist's mit Blühen und Sonnenschein vorbei und in Ihrem leichten Fähnchen muß Ihnen ja ihr Herz erfrieren. Sie sind Ihrer Zeit voraus, und das ist immer ein Elend. Kennen Sie den Vers nicht, der Ihr Schicksal besingt?«

»Ach nein«, sagte in gespanntem Tone Notburga, »was ist das? Ich habe keine Ahnung von einem Verse.«

»Ein Vers«, sprach belehrend der Trotzkopf, »ist das Wort eines Dichters.«

»Was ist nun wieder das?« fragte der Falter und fing an, sich seiner Dummheit zu schämen.

»Ja«, antwortete Hans Jakob und schüttelte den Kopf, »das ist auch für mich schwer zu erklären. Dichter, hm, Dichter sind eine besondere Sorte von Menschen, schon Menschen, aber eine andere Art, so ähnlich, wie es auch bei uns verschiedene Arten gibt, Mehlkäfer, Mistkäfer. Sie verstehen mich doch?«

Notburga verstand zwar noch nicht, aber sie wagte nicht, es einzugestehen, darum schwieg sie.

Hans Jakob fuhr fort:

»Also die Dichter sind besondere Menschen, die ausschauen wie die anderen, auch auf zwei Beinen durch die Welt laufen, aber mit ihrem Kopf ist es nicht ganz richtig, der ist meist wo anders als ihr übriger Körper.«

»Wie ist das nur möglich?« sagte Notburga, die regungslos saß und lauschte.

»Es muß bei ihnen möglich sein«, erklärte in bestimmtem Ton der Käfer, »mit ihren Gedanken, die im Kopfe wohnen, können sie fliegen, weit, weit!«

»Also haben sie Flügel wie wir?« fragte der Falter und hob plötzlich stolz die seinen empor.

»Das nun gerade nicht!« sprach Hans Jakob, »aber trotzdem können sie bis dicht zu den Sternen fliegen, und sie sind sogar so keck, daß sie sich unbekümmert den schönsten herunterholen.«

Notburga zitterte vor Erregung:

»Und dann?«

»Dann«, antwortete der Käfer in trockenstem Tone, »dann üben sie eben den Unfug aus, den sie dichten heißen. Sie machen Worte, ich sage Ihnen, nichts als Worte, die meist am Ende aufeinanderklappen wie Ihre Flügel, Verehrte! Das nennen sie dann einen Vers.«

»Ach«, flüsterte ergriffen der Falter, »wenn ich nur einen solchen hören könnte.«

»Nichts ist leichter«, sprach Hans Jakob und warf stolz sein Haupt zurück, so daß es hart an der Wand anschlug, »ich könnte Ihnen Verse von unserer Turmdichterin vortragen, aber da es sich um unser Geheimnis handelt, muß ich verschwiegen sein. Doch will ich Ihnen den Vers sagen, der von Ihnen selbst spricht. Hören Sie gut zu, damit Sie merken, wie es aufeinanderklappt. Also:

›Umsonst sein Flattern im bunten Kleid,
Umsonst sein Suchen und Lungern.
Vorläufer einer neuen Zeit,
Die müssen gewöhnlich verhungern.‹

Nun was sagen Sie dazu? Haben Sie das Zusammenklappen beachtet?«

»Ich glaube«, sagte leise und traurig Notburga, »aber ich finde diesen Vers entsetzlich ergreifend.«

»Je nun«, sprach Hans Jakob und warf eine Schaufel gelbes Mehl aus seinem Haustor, »so ist es nun einmal im Leben. Der eine sitzt mitten im Speck, der andere nagt am Hungertuch, und wir können's nicht ändern. Horchen Sie mal einen Augenblick! Ich muß tüchtig klopfen, meine Frau soll wissen, wo ich bin.«

Bald klang aus der Wohnung des Trotzkopfes ein Gehämmer, wie das Schlagen einer alten, müden Uhr: tick-tack, tick-tack.

Da wachte plötzlich Amanda, die Fledermaus auf. Noch halb im Traum ließ sie den Balken los und sank auf den Boden.

Der Falter, noch ganz unter dem Eindruck des traurigen Liedes, saß mit zusammengelegten Flügeln in der Nähe von Hans Jakobs Wohnung. Plötzlich fuhr er erschreckt auf, ihm ahnte Unheil.

»Ei, das lobe ich mir«, rief freudig Amanda, »schon ein schmuckes Vöglein! Nun wird es Zeit, daß ich mir den Winterstaub aus dem Rock bürste.«

Dabei breitete sie ihre Flughaut auseinander und flatterte in die Höhe. Ganz entsetzt über den schwarzen Mantel, der immer näher kam, schrie der Falter: »Was wollen Sie von mir, bitte? Ich heiße Notburga.«

»Nur nicht erschrecken, Kindchen«, lachte Amanda und zeigte dabei ihr blankes Gebiß, »nichts will ich von dir, dich selber!«

Im gleichen Augenblick schon war der Lebenstag des Falters zu Ende.


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