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Achtes Kapitel
Heimchen bei der Arbeit

Der Lenz blinzelte aus den verschlafenen Augen das alte Stadttor an, so daß dieses nicht wußte, woran es sei. Sollte es den schmutzigen Schnee auf der Zinne noch liegen lassen oder war es Zeit, sich festlich herauszuputzen?

Der alte Jörg traute jedenfalls dem jungen Frühling nicht; denn in seiner Stube prasselte am Abend ein lustig Feuer im Ofen. Der Turmherr saß dicht an der Wärme, las und sann. Auf der Diele beim Ofen klaffte ein fingerbreiter Spalt. Dort war die Haustüre der Familie Ambros Grille und Kreszenz, geborene Heim. Eben fing Ambros mit seinem Geigenspiel an. Er hatte seine Wiegenlieder schier alle verlernt, seit ihm vom Geheimbund der Text zu seinen Liedern vorgeschrieben worden war. Der Kanker Sepp hatte ihm wortgetreu die Botschaft Isidoras überbracht.

Zuerst wollte sich zwar sein Künstlerstolz gegen diese Bevormundung auflehnen, aber schließlich siegte die Überlegung, daß die Kunst immer nach Brot gehen müsse. Er aß nun einmal vom Tische des Turmherrn, so war es nicht mehr wie recht und billig, daß er zu seinen Diensten spielte und sang.

Seinen Lärvlein war eben ein neues Gewand angemessen worden. Vor kurzem lagen sie noch in der Wiege, aber sie wuchsen außerordentlich rasch. Während sich Kreszenz in zärtlicher Sorge für ihre Brut nicht genugtun konnte, suchte Ambros durch ein Schlummerlied sie in den Schlaf zu singen.

Er legte dabei seine Flügeldecken kreuzweise übereinander und rieb sie im Takt hin und her. Das Geigen und Flöten klang gar süß in den stillen Abend hinein. Wie ein zartes Kinderstimmchen tönte der Gesang durch das alte Mauerwerk.

Ambros hatte das Lied von der Wiederkehr der Schwalbe und des Storches gesungen, heute um so eindringlicher, je mehr er in seiner Kinderstube fühlte, daß die beiden Frühlingsboten nicht mehr ferne sein konnten.

»Noch ein paarmal müssen die Kinderlein das Gewand wechseln, bis sie dir und mir ähnlich sehen!« warf Kreszenz mitten ins väterliche Konzert. Ihr mütterliches Herz zitterte vor heimlichem Stolz.

»Nur keine Affenliebe, Kreszenz!« bat Ambros, »in ihrem jetzigen Zustand können die Lärvlein mein Künstlerherz nicht befriedigen! Ich werde wohl erst dann Freude an den Kindern haben, wenn sich die Familienzüge zeigen.«

»Sei nicht grausam, Grille!« mahnte Kreszenz. Wenn sie unzufrieden mit ihrem Manne war, nannte sie ihn stets Grille.

Er kannte diese Eigenart seiner Frau gar wohl, ging aber großzügig darüber weg und schwieg. Kreszenz sagte nach einigen Augenblicken:

»Du siehst zuviel aufs Äußere, auf den Schein! Ist ja wohl Künstlerbrauch! Die Kinder sind nur äußerlich ungelenk und unschön! In ihrem Innern schlägt ein warmes und weiches Heimchenherz. Und dann bedenke den Spruch, der bei den Menschen auch gilt: Garstige Wickelkinder, schöne Gassenkinder!«

»Nun bitte ich dich aber, Senta, um des Himmels willen, rede mir nicht von Gassenkindern! Eine Künstlerfamilie darf keine Gassenkinder großziehen, auch nicht einmal schöne!«

Wenn Herr Grille seine Frau Senta nannte, so wollte er ihr immer einen Hinweis auf seine vornehme Abstammung geben. Denn während seine Wiege im städtischen Krankenhaus dicht bei der Heizröhre stand, wurde Kreszenz in der warmen Backstube des Bäckerhauses geboren. Seit Ambros einst einen Fieberkranken in einen traumlosen Schlaf gesungen hatte und deshalb von dem Oberarzt ein echter Künstler genannt wurde, konnte er seinen Stolz nicht mehr unterdrücken. Frau Kreszenz kannte diese Schwäche ihres Mannes, ertrug sie mit Geduld und wies sie nur manchesmal mit dem ernsten Anruf ›Grille‹ in die Schranken.

Heute schien er wieder von seinen Erinnerungen überwältigt zu werden. Frau Kreszenz hatte im Anschluß an das Lied von der doppelten Wand über Hans Jakob erzählt und wie dieser so uneigennützig die eigene Stammburg zerstöre und sich und sein ganzes Geschlecht heimatlos mache, nur um dem Turmherrn zu dienen. »Ein wahrhaft ritterlicher Sinn!« meinte Kreszenz voll Bewunderung.

»Hast du bei mir jemals eine andere Lebensauffassung gefunden?« fragte vorwurfsvoll Ambros. »Hans Jakob kann auf seine Abstammung nicht stolzer sein, als ich auf die meine.«

»Ich weiß, lieber Grille«, sagte Kreszenz beruhigend, »daß du von einem kühnen Raubrittergeschlecht stammst.«

»Aber Senta!« sprach erbittert Grille, »wer wird solch häßliche Worte von meinen Ahnen reden! Ritter, ja, stolze, tapfre, die auf prächtigen Rossen einherritten und Furcht und Angst unter den Menschen verbreiteten, wenn sie angestürmt kamen. Nicht umsonst nannte man sie Heuschrecken. Es leben ja noch Nachkommen dieses kriegerischen Geschlechtes als stark bewehrte Herren, während unsere Seitenlinie sich dem stillen, friedlichen Leben im Hause zugewandt hat.«

»Ach ja, lieber Ambros! Und ich glaube, wir haben das bessere Teil erwählt. Meine Großmutter hat mir von den großen Wanderheuschrecken erzählt, die in solchen Scharen dahinzogen, daß sie sogar die Sonne verfinsterten und die Menschen sie als eine schreckliche Plage betrachteten. Ich kann nicht anders, lieber Grille, ich muß sie Raubritter nennen, und wenn es hundertmal unsere Ahnen sind.«

»Aber, Senta, du urteilst wieder oberflächlich, wie alle Frauen! Ich gehe auf den Grund. Frage dich doch selbst, was du tun würdest, wenn uns der gute Alte nicht den Tisch hier unten decken würde! Du wandertest fort und suchtest dir ein anderes Obdach. Ist's nicht so? Genau das gleiche tun unsere Verwandten. Sie besitzen auch einen außerordentlich reichen Kindersegen. Na, viele Mäuler brauchen viel Futter! Sind die Weideplätze abgegrast, müssen sie eben suchen und wandern. Ein gesunder Naturtrieb, den du als sorgliche Hausfrau und zärtliche Mutter eigentlich mehr loben müßtest als ich, der Künstler, dessen Sinn nach Höherem als Futterplätzen strebt.«

Kreszenz ärgerte sich über ihren Mann, mußte ihm aber im stillen recht geben.

»Nun meinetwegen! Aber ich kann eben keinen solchen Stolz auf diese Sippe aufbringen wie du, und bin froh, daß sie nicht in unserer Nähe leben und wir keine verwandtschaftlichen Beziehungen pflegen müssen.«

»Liebe Kreszenz!« sagte Grille belehrend, »darin siehst du eben den echten gemeinsamen Familienzug. Grillen lieben Wärme. Weil aber unsere Verwandten sich den ritterlichen Sinn erhielten und für ein frisches, freies Lagerleben sind, so wählten sie sich ihren Wohnsitz dort, wo der Himmelsofen ihnen tüchtig einheizt.«

»Ach ja, lieber Ambros«, sprach jetzt fast zärtlich Kreszenz, »die Wärme ist etwas Süßes und der gute Alte liebt sie auch. Willst du ihm nicht ein Dankliedlein geigen?«

»Meinetwegen«, antwortete Ambros, »ich wollte ohnehin nochmal das Bundeslied spielen. Dann hänge ich eben noch einen Vers an.«

»Tu's, lieber Mann! Deine Reime gefallen mir weit besser als das Lied der Isidora«, schmeichelte Kreszenz.

»Der Text des Bundesliedes stammt eigentlich von Ludmilla, der Eule. Sie ist ja Meisterin der Weisheit! Ein echter Dichter aber braucht schließlich nicht allzuviel Verstand, sondern die Hauptsache ist das Gefühl.«

»Und daran fehlt es dir nicht, liebster Ambros! Ich weiß dies doch am besten. Also singe, dichte und geige, dieweil ich nach den Kleinen und nach dem Abendbrot schaue!«

Herr Grille stimmte seine Geige und sang:

»Wenn's Schwälblein fliegt zum Nest unterm Tor,
Dann lausche und höre mit feinem Ohr:
Es kündet den Lenz und das Glück!
Wenn der Storch baut auf der Zinne sein Haus,
Dann treibe im Kasten die Motten flink aus:
Sie zeigen den Weg dir zum Schatz!
Der Kasten hat eine doppelte Wand,
Nur wer den Schatz im Verstecke fand.
Der hält in den Händen das Glück.
Der Sänger besitzt ein dankbares Herz;
Er teilt mit dem Turmherrn das Glück wie den Schmerz
Und freut sich des heimlichen Schatzes.«

Das mußte doch der Jörg verstehen. Besonders den letzten Vers, auf den sich Grilles Dichterseele nicht wenig einbildete.

Da trat Frau Kreszenz wieder ein. Die Kinder schliefen sanft.

»Wo nur die Base bleibt?« fragte sie nach einer Weile. »Sie wollte uns doch einen Gegenbesuch machen.« Ambros meinte, sie werde vielleicht aufgehalten worden sein.

»Ein bißchen Abwechslung ist ihr ja wohl zu gönnen«, sagte er, »da sitzt sie drüben im Garten unter der Erde, wie ein echter Dunkelmann, nach dem man sie auch nennt.«

»Jedes will eben nach seiner Weise selig werden«, antwortete Kreszenz, »das ist doch einer deiner Leibsprüche.«

»Gewiß«, entgegnete Grille, »im Grunde kommt es aber bei allen auf das gleiche heraus. ›Wo mir der Tisch gedeckt ist, da ist mein Vaterland‹, ein schöner Spruch ist's ja gerade nicht, aber um so wahrer. Bei den Menschen klappt es und bei uns Tieren! Die Base könnte ja auch ein Leben unter Dach und Fach führen. Warum tut sie's nicht? Weil sie ein Leckermaul ist und nicht mit dem vorlieb nimmt, womit wir uns begnügen.«

»Du hast recht, Ambros«, stimmte seine Frau zu, »sie verlangt eben auch die Werktage einen Braten auf den Tisch. Engerlinge und Würmer frisch zubereitet kann man in unserer Küche nicht finden.«

»Ja, ja, und zum Fleisch will sie noch feines, junges Gemüse haben, und darum beißt sie die zarten Würzelchen ab. Einen Räuber wirst du nun die gute Base wohl nennen?« fragte in neckendem Tone Ambros. Kreszenz aber verstand den Scherz nicht. Sie fühlte sich an ihrer empfindlichsten Stelle, im Mutterherzen, getroffen. Ganz gereizt fuhr sie auf: »Warum sie aber das tut, verschweigst du, und doch heißt es auch hier: ›Verstehen ist Verzeihen.‹«

»Weiß schon, weiß schon, liebe Kreszenz«, erwiderte beruhigend Ambros, »rege dich nicht auf! Natürlich tut's die Base nicht, um den Menschen zu schaden und sie zu ärgern, sondern aus reinster Mutterliebe. Die Kinderlein brauchen in ihrer Wiege viel Wärme. Damit die Sonne mit ihren Strahlen in die Erde findet, müssen die Pflänzlein, die abwehrend ihre Arme steil zum Himmel strecken, entfernt werden. Eine harte Kur, aber unabänderlich!«

»Nun also«, sagte schmollend Kreszenz.

»Ja, Liebste, so ist es überall in der Welt. Die einen sterben, daß die anderen leben. Tod und Leben reichen sich stets die Hände. Beim Menschengeschlecht ist's so und bei den Tieren und Pflanzen. Und alle drei sind wir aufeinander angewiesen und leben und weben zusammen. Dreierlei Melodien, aber überall der gleiche Grundton.«

Kreszenz bewunderte im stillen ihren Mann, der so klug zu reden wußte. Aber zugestanden hätte sie es ihm nicht. Er sollte nicht noch stolzer werden!

Der alte Jörg hatte alles gehört und halb träumend halb wachend dem Heimchen am Herd gelauscht. Ein glücklich Lächeln flog über sein Gesicht, wie die Frühlingssonne über ein winterlich Schneefeld. Es lacht und weint zu gleicher Zeit.

Da kam die blonde Annemarie gesprungen.

»Rat', Großvater, was ich da hab'!«

Einen Blumenscherben hielt sie sorglich und deckte die Hand geheimnisvoll über die Öffnung. Jörg bekannte seine Unwissenheit.

»Eine Maulwurfsgrille, die Mutter gefangen hat. Frißt uns alle Wurzeln ab, daß wir im Sommer keinen Salat bekommen! Ist sie nicht reizend? Schade, daß sie so dumm war und sich erwischen ließ!«

Der Alte nahm den roten Topf und betrachtete die Maulwurfsgrille. Wie die kurzen Beinchen den schweren, walzenförmigen Körper nur tragen konnten!

»Und wie die fest in der Erde graben kann!« rief bewundernd Annemarie. »Schau doch diese breiten Schaufeln!« sagte Jörg, »sind die reinsten Grabscheite. Der kleine Erdarbeiter hat seine Werkzeuge gleich bei der Hand. Was fangen wir nun mit dem Gefangenen an? Soll ich ihn töten?«

»Nein, nein, Großvater!« wehrte Annemarie entschieden ab, »nur im Garten darf sie nicht bleiben. Da habe ich sie zu dir gebracht. Dein Heimchen will vielleicht Unterhaltung. Lassen wir sie laufen, ja?«

»Allzulange wird der Besuch nicht dauern«, lachte Jörg, »unsere Kost behagt der verwöhnten Dame nicht. Aber einen Anstandsbesuch kann sie ja wohl abstatten, also!«

Jörg setzte die Maulwurfsgrille auf den Boden. Ein leises Zirpen ließ sich hören, und der Gast war in der Haustüre der Grilleschen Wohnung verschwunden. Ein noch lange dauerndes Konzert sang den alten Jörg in Schlaf.


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