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Zweites Buch.
Euterpe

Zweites Buch

1. Nach dem Ende des Kyros kam nun das Königtum an Kambyses, der ein Sohn war des Kyros und der Kassandane, der Tochter des Pharnaspes. Sie war schon vor Kyros gestorben, der sehr darüber getrauert und allen, die er beherrschte, Trauer anbefohlen hatte. Kambyses also, der Sohn dieser Frau und des Kyros, sah in den Ioniern und Äoliern seine Knechte aus väterlicher Erbschaft; gegen Ägypten aber machte er einen Heereszug, auf den er unter andern Untertanen auch die Hellenen mitnahm, die unter seiner Herrschaft standen.

2. Die Ägypter hatten, bevor über sie Psammetichos König war, den Glauben, sie seien die allerältesten Menschen. Seitdem aber König Psammetichos hat wissen wollen, wer die ältesten seien, glauben sie, die Phrygier seien älter als sie, und sie als die übrigen. Als nämlich Psammetichos auf dem Wege der Erkundigung keine Spur davon auffinden konnte, wer die ältesten Menschen seien, ersann er folgenden Kunstgriff. Zwei neugeborene Knäblein von den nächsten besten Leuten gab er einem Hirten, um sie bei seinen Herden auf die Art zu erziehen, daß er ihm einschärfte, niemand dürfe vor ihnen einen Laut hören lassen, sie müßten für sich in einer einsamen Hütte liegen, und er solle ihnen zur gehörigen Zeit Ziegen zuführen; wenn er sie aber mit Milch gesättigt habe, solle er seinen sonstigen Verrichtungen nachgehen. Das tat Psammetichos und gab diesen Auftrag, um von den Knäblein, wenn sie über das undeutliche Lallen hinaus wären, zu hören, in welchen Laut sie zuerst ausbrächen. So geschah es denn auch. Denn als es eine Zeit von zwei Jahren war, daß der Hirt dies vollzog, und derselbe die Tür öffnete und eintrat, fielen die beiden Knäblein ihn an mit dem Laut Bekos, wobei sie die Hände ausstreckten. Als das der Hirt zum erstenmal hörte, ließ er's gehen. Als aber bei wiederholtem Besuchen und Pflegen dieses Wort immer wiederkam, da zeigte er's endlich seinem Gebieter an und führte auf dessen Geheiß die Knäblein vor sein Angesicht. Nun hörte es Psammetichos selbst und erkundigte sich, welche Menschen ein Wort Bekos hätten, und fand, daß es die Phrygier hätten für das Brot. So räumten die Ägypter ein, besonders in Erwägung dieser Geschichte, daß die Phrygier älter seien als sie.

3. Diesen Hergang der Sache habe ich von den Hephästospriestern in Memphis gehört. Die Hellenen aber sagen unter anderem törichtem Zeug, Psammetichos habe Weibern die Zunge ausgeschnitten und dann die Knaben von diesen Weibern pflegen lassen. Über die Aufziehung der Knaben also sagten sie so viel. Ich habe aber noch mehr zu Memphis gehört in Gesprächen mit den Hephästospriestern. Dazu habe ich mich auch nach Theben und Heliopolis wegen der gleichen Angelegenheit gewendet, weil ich wissen wollte, ob die dortigen Angaben mit dem, was ich in Memphis gehört hatte, übereinstimmten; denn die Heliopoliten sollen die größten Geschichtskundigen in Ägypten sein. Was ich indessen von göttlichen Dingen erzählen hörte, bin ich nicht willens, wieder zu erzählen, mit Ausnahme ihrer bloßen Namen, und denke, daß darüber jedermann die gleiche Ansicht hat; ich werde also nur das davon erwähnen, wozu ich durch den Zusammenhang der Darstellung genötigt bin.

[Anmerkung:] 3. Hephästos: So nennt Herodot den ägyptischen Gott Ptah, weil er der Schutzgott der Handwerker, besonders der Goldschmiede, war.

 

4. Von menschlichen Dingen aber sagten sie folgendes in Übereinstimmung miteinander. Die Ägypter hätten zuerst unter allen Menschen das Jahr erfunden, dem sie vom Ganzen der Jahreszeiten zwölf Abteilungen gaben, und das hätten sie aus den Sternen gefunden. Sie rechnen nach meinem Urteil viel klüger als die Hellenen, da diese nach jedem zweiten Jahr einen Schaltmonat, der Jahreszeiten wegen, einschalten: die Ägypter dagegen, bei ihrer Rechnung von zwölf dreißigtägigen Monaten, rechnen alljährlich fünf Tage über die Zahl dazu, wodurch für ihren Jahreszeitenkreis immer derselbe Ablauf herauskommt. Auch die zwölf Götternamen, sagten sie, seien zuerst bei den Ägyptern im Brauch gewesen, und von ihnen hätten sie die Hellenen angenommen. Ferner hätten sie Altäre, Standbilder und Tempel zuerst den Göttern bestimmt, wie auch Bilder in Stein geschnitten. Hiervon wiesen sie denn das meiste in der Wirklichkeit nach. Weiter sagten sie, von den menschlichen Königen Ägyptens sei Menes der erste, unter dem außer dem thebanischen Kreis ganz Ägypten ein Sumpf gewesen sei, so daß nichts daraus hervorstand von allem, was jetzt unterhalb des Sees Möris liegt, und es ist in diesen See, vom Meere aus, eine Fahrt von sieben Tagen stromaufwärts.

[Anmerkung:] 4. Bilder in Stein: Hieroglyphen.

 

5. Über das Land schienen sie mir richtig zu sprechen. Ist es doch, auch wenn man nichts davon gehört hat und sich bloß an das hält, was man sieht, ganz offenbar, wenigstens für jeden Verständigen, daß jenes Ägypten, wohin die Hellenen fahren, ein neu gewonnenes Stück vom Ägypterland und ein Geschenk des Flusses ist; ja sogar, was bis auf eine Fahrt von drei Tagen über den See hinaus liegt, und wovon jene nichts mehr sagten, ist ebenfalls von dieser Art. Die Bodenbeschaffenheit Ägyptens beweist es. Sie zeigt sich schon, wenn man beim Heranfahren, noch eine ganze Tagereise weit vom Lande, das Senkblei hinabläßt. Man bringt Schlamm herauf, und zwar aus einer Tiefe von elf Klaftern. Dies beweist, daß das angeschwemmte Land so weit geht.

6. Das eigentliche Ägypten aber hat längs dem Meere sechzig Schoinen in der Länge, nach meiner Abgrenzung Ägyptens vom Plinthinetischen Busen bis zum Serbonischen See, an dem das kasische Gebirge hinläuft. Von da an also sind es sechzig Schoinen. Alle landarmen Leute nämlich messen ihr Feld nach Klaftern, die minder landarmen nach Stadien, die viel haben, nach Parasangen, und die sehr viel haben, nach Schoinen. Nun gibt die Parasange dreißig Stadien; jeder Schoinos aber, ein ägyptisches Maß, sechzig Stadien. Demnach hätte Ägypten längs dem Meere dreihundertundsechzig Stadien.

7. Von da bis Heliopolis im Binnenlande ist Ägypten breit und durchaus ein flaches, wasserreiches Marschland. Und vom Meere landeinwärts nach Heliopolis ist es fast ein Weg von gleicher Länge wie der von Athen, vom Altar der zwölf Götter, nach Pisa zum Tempel des olympischen Zeus. Um weniges nur sind, wie eine Berechnung zeigen müßte, diese Wege verschieden in der Länge, nicht über fünfzehn Stadien. Von Athen nach Pisa fehlen nämlich fünfzehn Stadien zu einem Weg von eintausendfünfhundert Stadien, vom Meere nach Heliopolis geht diese Zahl gerade auf.

[Anmerkung:] 7. Den Altar der zwölf Götter hatte Peisistratos errichtet. Offenbar stand dort eine Säule mit Angabe der Entfernungen der griechischen Städte von Athen. Pisa liegt im Peloponnes in der Landschaft Elis.

 

8. Von Heliopolis weiter landeinwärts ist Ägypten schmal. Denn an der einen Seite, der von Arabien, erstreckt sich ein Gebirge von Norden gegen Mittag und den Süd, welches immer landeinwärts nach dem sogenannten Roten Meere hinläuft; darin sind die Steinbrüche, die man zu den Pyramiden in Memphis ausgebrochen hat. Dort geht ein Seitenzug vom Gebirge aus und wendet sich in der angegebenen Richtung, nämlich nach dem Roten Meere. Wo das Gebirge seine größte Länge hat, soll es, wie ich mir sagen ließ, von Morgen gegen Abend ein Weg von zwei Monaten sein; gegen Morgen sollen seine Ausläufer Weihrauch tragen. Also das ist dieses Gebirge. Aber auf der Seite Ägyptens gegen Libyen läuft ein anderes felsiges Gebirge, in dem die Pyramiden sind; das ist mit Sand überdeckt und erstreckt sich in derselben Richtung wie der Teil des arabischen, der gegen Mittag geht. So ist der Landstrich von Heliopolis an eben nicht mehr groß, soweit er zu Ägypten gehört, sondern vier Tagfahrten aufwärts reicht der schmale Teil von Ägypten. Was nun zwischen den genannten Gebirgen liegt, ist flaches Land; und es schienen mir, wo es am schmalsten ist, vom arabischen Gebirge zum sogenannten libyschen höchstens zweihundert Stadien zu sein. Von da an aber ist Ägypten wieder breit. So ist also dieses Land beschaffen.

9. Von Heliopolis nach Theben ist es eine Fahrt von neun Tagen stromaufwärts; ein Weg von viertausendachthundertundsechzig Stadien, was einundachtzig Schoinen sind. Wenn man die Stadien von Ägypten zusammenrechnet, so hat der Teil am Meere, wie ich bereits vorhin angegeben habe, dreitausendundsechzig Stadien; wie weit es vom Meer ins Binnenland bis Theben ist, will ich nun angeben: nämlich sechstausendeinhundertundzwanzig Stadien. Endlich von Theben nach der Stadt, die Elephantine heißt, sind es tausendachthundert Stadien.

[Anmerkung:] 9. Zum Unterschiede vom siebentorigen Theben in Böotien nannte man das ägyptische das hunderttorige. Der ägyptische Name Thebens ist Net (die Stadt), ein Stadtteil hieß Tepet (Frauenhaus), und das klang den Griechen vertraut. Die Hauptheiligtümer der Stadt bilden heute die Ruinen von Karnak und Luksor. Elephantine war der Grenzort gegen Nubien und hieß so, weil die Ägypter dort die Elefanten kennengelernt hatten.

 

10. Das besagte Land also schien auch mir zum großen Teil, wie es die Priester behaupteten, neu hinzugewonnen zu Ägypten. Denn was zwischen den erwähnten Gebirgen über der Stadt Memphis liegt, das sah mir wie ein einstiger Meerbusen aus, ziemlich wie die Gegend um Ilion und Teuthranien oder um Ephesos und die Ebene des Mäanders, soweit das Kleine mit Großem sich vergleichen läßt. Von den Flüssen nämlich, die diese Länder angeschwemmt haben, ist keiner mit einer einzigen Mündung des Nils (und er hat fünf) an Größe zu vergleichen. Es gibt ja noch mehr Flüsse, die, ohne eine Größe wie der Nil zu haben, Großes ins Werk richteten, und die ich namentlich anzugeben vermag. Dahin gehört vor allem der Acheloos, der durch Akarnanien fließt und da, wo er sich ins Meer ergießt, die echinadischen Inseln bereits zur Hälfte zum Festlande gemacht hat.

[Anmerkung:] 10. Zur Hälfte: Die Inseln sind heute sämtlich mit dem Festland verbunden.

 

11. Am Lande Arabien nun, unfern von Ägypten, ist ein Meerbusen, der aus dem sogenannten Roten Meere hereingeht, so lang und schmal, wie ich gleich angeben werde. Was nämlich die Länge angeht, so braucht man, wenn man von der innersten Bucht aus nach dem offenen Meere fährt, vierzig Tage zur Fahrt mit einem Ruderschiff; die Breite aber erfordert da, wo der Busen am breitesten ist, eine halbe Tagesfahrt. Es ist in demselben jeden Tag Ebbe und Flut. Genau so ein Meerbusen, meine ich, ist auch Ägypten einmal gewesen, so daß der eine Busen aus dem nördlichen Meere hereinging gegen Äthiopien hin, der andere (der arabische, von dem ich reden will) aus dem südlichen sich herzog gegen Syrien hin, und daß sie beinahe mit ihren innersten Buchten zusammenstießen, nur durch ein kleines Stück Landes getrennt. Sollte nun einmal der Nil sein Strombett in diesen arabischen Busen hineinleiten, was hindert dann, daß derselbe vom Fluß nicht zugeschwemmt werde, wenigstens innerhalb von zwanzigtausend Jahren? Indessen, ich denke doch, daß er schon im Laufe von zehntausend Jahren zugeschwemmt werden würde. Konnte also nicht auch in all der Zeit, die vor der meinen verging, ein Meerbusen und selbst ein viel größerer als dieser von einem Flusse zugeschwemmt werden, der so groß ist und so gewaltig arbeitet?

12. Von Ägypten also glaube ich, was man sagt, und bin selber ganz davon überzeugt, da ich sehe, daß Ägypten vor dem angrenzenden Lande ins Meer hinausragt, auf seinen Gebirgen Muscheln zeigt und Salzteile ausstößt, durch die selbst die Pyramiden angegriffen werden, und daß oberhalb Memphis das einzige ägyptische Gebirge ist, das Sand hat; ferner daß Ägypten weder dem benachbarten arabischen Lande ähnlich ist noch dem libyschen, noch auch dem syrischen (denn an Arabiens Küsten wohnen die Syrier), sondern einen schwarzen brüchigen Boden hat, nämlich Moor und Schlamm, die der Strom aus Äthiopien herabgeführt hat. Dagegen ist Libyens Erde, wie bekannt, mehr rötlich und sandig, die arabische und syrische mehr tonhaltig und auch felsig.

13. Auch sagten von diesem Lande mir die Priester noch dies als ein bedeutendes Merkmal, daß unter König Möris der Fluß, wenn er auf wenigstens acht Ellen stieg, Ägypten unterhalb Memphis bewässerte. Möris war noch keine neunhundert Jahre tot, als ich das von den Priestern hörte. Wenn aber jetzt der Fluß nicht auf wenigstens sechzehn oder fünfzehn Ellen steigt, so tritt er nicht ins Land aus. Daher glaube ich, daß den Ägyptern, die unterhalb des Sees Möris wohnen, darunter namentlich den Bewohnern des sogenannten Deltas, ihr Land, wenn es in solchem Maße in seiner Höhe zunimmt und gleichmäßig wächst, einmal vom Nil unüberschwemmt bleiben und den Ägyptern selbst das widerfahren kann, was nach ihrer Behauptung den Hellenen widerfahren soll. Als sie nämlich hörten, daß der Hellenen ganzes Land nur vom Regen, aber nicht wie das ihrige von Flüssen bewässert wird, behaupteten sie, die Hellenen dürften einmal, getäuscht in ihrer Haupthoffnung, übeln Hunger leiden. Dieses Wort will sagen: »Wenn einmal daselbst der Gott keinen Regen sende, sondern Dürre andauern ließe, so würden die Hellenen dem Hunger preisgegeben sein, weil sie ja für das Wasser keine andere Hilfe haben, als daß es von Zeus kommt.«

[Anmerkung:] 13. Der Mörissee hieß ägyptisch Merwer. Deshalb nennen die Griechen den Erbauer Möris (s. zu Kapitel 101, Möris).

 

14. Das ist von den Ägyptern in betreff der Hellenen mit Recht bemerkt worden. Jetzt laßt mich aber auch angeben, wie es bei den Ägyptern selbst steht. Sollte daselbst, wie ich oben schon äußerte, das Land unterhalb von Memphis (denn das ist es, welches sich vermehrt) nach Maßgabe der verflossenen Zeit in die Höhe wachsen, wie kann es dann anders sein, als daß die dort wohnenden Ägypter Hunger leiden? Da doch ihr Land keinen Regen haben und der Fluß nicht imstande sein wird, auf die Felder auszutreten? Freilich bringt man jetzt wohl nirgends so mühelos die Frucht aus dem Boden wie bei ihnen, weder bei den andern Menschen insgesamt, noch bei den übrigen Ägyptern; da sie nicht die Mühe haben, mit dem Pfluge Schollen aufzuwühlen, auch nicht zu hacken, noch sonst eine Arbeit zu verrichten, mit der sich die andern Menschen um die Saat bemühen; sondern jedesmal, wenn der Fluß von selbst gekommen ist, die Felder bewässert hat und nach der Bewässerung wieder zurückgetreten ist, so besät jeder sein Feld und treibt dann Schweine darauf. Hat er aber durch die Schweine die Aussaat einstampfen lassen, so wartet er von nun an die Ernte ab. Dann läßt er durch die Schweine das Korn ausdreschen, und so bringt er es ein.

[Anmerkung:] 14. Der Fluß nicht imstande sein wird: Herodot vergißt, daß sich durch die Anschwemmungen auch das Bett des Flusses erhöht, so daß er das Land heute wie vor dreitausend Jahren überschwemmt.

 

15. Wenn wir es nun in bezug auf Ägypten mit den Ansichten der Ionier halten wollten, die behaupten, das Delta allein sei Ägypten, dasselbe erstrecke sich also längs dem Meere von der sogenannten Perseuswarte bis zu den pelusischen Taricheen, was vierzig Schoinen ausmacht, und vom Meere ins Binnenland bis zur Stadt Kerkasoros, bei der sich der Nil spaltet und nach Pelusion und Kanobos strömt; das übrige Ägypten aber gehöre teils zu Libyen, teils zu Arabien – wollten wir's mit dieser Meinung halten, so könnten wir demnach dartun, daß die Ägypter früher gar kein Land hatten. Das Delta ist ja, wie die Ägypter selbst sagen und ich auch glaube, angeschwemmt, sozusagen erst neuerdings zum Vorschein gekommen. Wenn sie also nicht einmal ein Land gehabt haben, warum haben sie sich denn so unnötig mit dem Glauben abgequält, daß sie die ersten Menschen gewesen seien? Sie brauchten gar nicht den Versuch anzustellen, was für einen Laut die Knäblein zuerst von sich geben würden. Allein ich glaube auch nicht, daß die Ägypter mit dem von den Ioniern so genannten Delta gleichzeitig entstanden, sondern daß sie da sind, seit es ein Menschengeschlecht gibt. Ich denke, daß viele zurückblieben, als das Land sich hervorstreckte, und viele nach und nach herabkamen. Vorzeiten war es also Theben, das Ägypten genannt wurde, und das hat einen Umfang von sechstausendeinhundertundzwanzig Stadien.

[Anmerkung:] 15. Taricheen: Fischdörrereien. – Perseuswarte: Dort sollte Perseus das Meerungeheuer erlegt und Andromeda, die Tochter des Königs von Äthiopien, befreit haben.

 

16. Wenn wir also hierüber richtig urteilen, so haben die Ionier keine rechte Vorstellung von Ägypten; wenn aber die Ansicht der Ionier richtig ist, so tue ich dar, daß die Hellenen samt den Ioniern nicht zu rechnen verstehen, indem sie behaupten, aus drei Teilen bestehe die ganze Erde, aus Europa, Asien und Libyen. Sie müssen ja noch einen vierten dazu rechnen, das ägyptische Delta, da es denn doch weder zu Asien noch zu Libyen gehört. Dann bildet nämlich nicht der Nil, wie sie doch annehmen, die Grenze zwischen Asien und Libyen; vielmehr spaltet sich der Nil an der Spitze des Delta, so daß dieses zwischen Asien und Libyen in der Mitte liegen würde.

17. Lassen wir nun die Ansicht der Ionier! Unsere Meinung über diese Frage ist folgende: Ägypten ist all das Land, das von den Ägyptern bewohnt ist, so gut wie Zilizien das von den Ziliziern, Assyrien das von den Assyriern bewohnte. Eine eigentliche Grenzscheide von Asien und Libyen wissen wir nicht anzugeben, es sei denn die ägyptischen Grenzen. Wenn wir aber an die Annahme der Hellenen uns halten wollen, so können wir annehmen, ganz Ägypten zerfalle von den Katadupen und der Stadt Elephantine an in zwei Hälften und habe an beiden Namen teil, indem die eine Seite zu Libyen, die andere zu Asien gehöre. Denn der Nil fließt von den Katadupen an bis zum Meere so, daß er Ägypten mitten durchschneidet. Bis zur Stadt Kerkasoros nämlich fließt der Nil als ein Strom; von dieser Stadt an spaltet er sich in drei Arme, deren einer sich gegen Morgen wendet und die pelusische Mündung genannt wird, während der andere gegen Abend strömt und die kanobische Mündung heißt. Aber der gerade Arm des Nil kommt vom Oberland an die Spitze des Delta und läuft von da, das Delta mitten durchschneidend, ins Meer mit einem Teile seines Wassers, der weder der schwächste noch der unbekannteste ist, und heißt die sebennytische Mündung. Auch trennen sich noch zwei andere Mündungen von der sebennytischen und strömen ins Meer, unter dem Namen der saitischen die eine, der mendesischen die andere. Die bolbitische Mündung und die bukolische sind keine ursprünglichen Mündungen, sondern künstlich gegraben.

[Anmerkung:] 17. Katadupen: Wasserfälle. Gemeint ist der letzte Nilkatarakt zwischen der Stadt Elephantine und der Insel Philä mit ihren gewaltigen erst nach Herodots Zeit entstandenen Tempelanlagen, die jetzt durch den See des Staudammes von Aswan überflutet und zerstört werden. Der Staudamm wurde von 1898 bis 1902 gebaut.

 

18. Für meine Meinung, daß Ägypten so groß ist, wie ich hier zu beweisen suche, zeugt auch der von Ammon erteilte Götterspruch, den ich erst erfuhr, als ich mir meine Meinung über Ägypten schon gebildet hatte. Es haben nämlich die Leute aus den Städten Marea und Apis, die Ägypten an der libyschen Grenze bewohnen und sich selbst für Libyer, nicht für Ägypter halten, als ihnen die heiligen Gebote zur Last waren und sie sich der Kühe nicht enthalten wollten, zu Ammon gesandt und erklärt, sie hätten nichts mit den Ägyptern gemein. Sie wohnten außerhalb des Delta und stimmten nicht mit ihnen überein und wünschten, daß ihnen freistehe, von allem zu genießen. Allein der Gott gestand ihnen das nicht zu und erklärte, das sei Ägypten, was der Nil in seinem Austritt bewässert, und die seien Ägypter, die unterhalb der Stadt Elephantine wohnten und aus diesem Flusse tränken.

19. Dieser Spruch ward ihnen zuteil. Der Nil tritt aber, wenn er anschwillt, nicht allein über das Delta aus, sondern auch über das als libysch bezeichnete Land und über das arabische, etwa zwei Tagereisen weit auf beiden Seiten, bald etwas mehr, bald etwas weniger. Doch über die Natur des Stromes konnte ich weder von den Priestern noch von sonst jemand etwas erfahren. Ich wollte nämlich gern von ihnen hören, warum der Nil austritt und von der Sommersonnenwende an hundert Tage lang anschwillt, dann aber, wenn etwa diese Zahl von Tagen erreicht ist, zurücktritt und in seinem Strombette abnimmt, so daß er den ganzen Winter bis wieder zur Sommersonnenwende niedrig bleibt. Darüber nun war ich nicht imstande irgend etwas von den Ägyptern zu vernehmen, als ich mich bei ihnen erkundigte, was für eine Kraft dem Nil diese Natur gibt, die der aller andern Flüsse entgegengesetzt ist. Eben das Gesagte also wollte ich wissen und erkundigte mich zugleich, warum dieser Fluß allein keine Brisen entsendet.

20. Einige Hellenen aber, die sich durch Weisheit auszeichnen wollten, gaben zur Auskunft über dies Wasser dreierlei Wege an. Auf zwei davon lege ich gar kein Gewicht, sondern will sie bloß anzeigen. Die eine Erklärung lautet, die Etesienwinde seien die Ursache, daß der Fluß anschwelle, indem sie den Nil verhinderten, ins Meer auszuströmen. Nun wehten aber schon oft die Etesien nicht, und der Nil tut doch immer das nämliche. Außerdem müßten, wenn die Etesien die Ursache wären, auch alle die andern Flüsse, die den Etesien entgegenströmen, in gleichem Falle sein, so gut wie der Nil, ja noch um so viel mehr, als sie kleiner sind und eine schwächere Strömung haben. Es sind aber viele Flüsse in Syrien und viele in Libyen, denen durchaus nicht dasselbe begegnet wie dem Nil.

[Anmerkung:] 20. Etesienwinde: Passatwinde, die zur Zeit der Hundstage von Norden und Nordwesten über Ägypten wehen.

 

21. Die zweite Erklärung ist noch unverständiger als die eben angeführte und sozusagen wunderbarer, da sie behauptet, der Nil bewirke das, indem er aus dem Okeanos ströme, der Okeanos aber ströme um die ganze Erde.

22. Die dritte Erklärung leuchtet am meisten ein und ist doch die irrigste. Denn auch hier ist nichts gesagt mit der Behauptung, der Nil schwelle an von geschmolzenem Schnee, da er aus Libyen mitten durch Äthiopien und dann durch Ägypten fließt. Wie kann er denn also vom Schnee anschwellen, da er aus den heißen Gegenden in die kältern strömt? Hier beweist das meiste einem Manne, der über dergleichen urteilen kann, daß es nicht einmal wahrscheinlich ist, daß er vom Schnee anschwillt. Den ersten und stärksten Beweis nämlich geben die Winde, die warm aus jenen Gegenden wehen; den zweiten die Tatsache, daß dies Land immerdar ohne Regen und Eis ist, auf Schneewetter aber ganz notwendig in fünf Tagen Regen fallen muß, jene Lande also, wenn sie Schnee hätten, auch Regen haben würden. Den dritten Beweis liefert die Schwärze der dortigen Menschen von der Hitze. Auch bleiben Weihen und Schwalben jahraus, jahrein, ohne abzuziehen, und die Kraniche, die sich vor dem Winter flüchten, wenn er im Szythenland einbricht, wandern zur Überwinterung in diese Gegenden. Wenn es demnach auch nur etwas schneite in diesem Lande, durch das und aus dem der Nil herströmt, so wäre alles dies nicht, wie sich notwendig ergibt.

23. Wer aber die Meinung vom Okeanos angab, der führte seine Mär in ein Dunkel zurück, wo er keinen Beweisgrund hat. Denn ich weiß wenigstens von keinem Fluß Okeanos und glaube, daß Homer oder einer der Dichter vor ihm den Namen erfunden und in seine Dichtung eingeführt hat.

[Anmerkung:] 23. Homer (»Ilias«, XIV, Vers 244-247) läßt den Schlaf zur Hera sagen:
Jeden andern leicht der ewig waltenden Götter
Schläfert' ich ein, ja selbst des Okeanos wallende Fluten,
Jenes Stroms, der allen Geburt verliehn und Erzeugung.
Nur nicht Zeus Kronion, dem Donnerer, wag' ich zu nahen.

 

24. Wenn man nun, sobald man die vorhandenen Ansichten tadelt, selbst über das Dunkle eine Ansicht aufstellen muß, so will ich angeben, wodurch mir der Nil im Sommer anzuschwellen scheint. Zur Winterszeit wird die Sonne durch die Winterstürme aus ihrer alten Laufbahn vertrieben und kommt ins obere Libyen. Um es aufs kürzeste anzuzeigen, so ist alles hiermit gesagt. Das Land nämlich, dem dieser Gott am nächsten ist, oder in dem er sich gerade aufhält, muß natürlich am meisten nach Wasser dürsten, und seine Flüsse werden, soweit sie im Lande strömen, eintrocknen.

25. Um es nun aber mit mehr Worten anzuzeigen, so verhält es sich, wie folgt. Während die Sonne durch das obere Libyen hinläuft, hat sie folgende Wirkung: Bei der fortwährenden Heiterkeit der Luft in diesen Gegenden und bei der Durchwärmung des Landes, das keine kalten Winde hat, hat sie, wenn sie darüber hin wandelt, dieselbe Wirkung, die sie sonst im Sommer zu haben pflegt, wenn sie mitten am Himmel läuft; sie zieht nämlich Wasser an sich und stößt es ab in die oberen Gegenden, wo es die Winde auffangen, zerstreuen und auflösen. Daher bringen der Süd- und der Südwestwind, die von diesem Lande herwehen, unter allen Winden am meisten Regen. Doch glaube ich, daß die Sonne das jährlich gezogene Nilwasser nicht jedesmal ganz wieder abgibt, sondern auch um sich her etwas zurückbehält. Wenn nun der Winter gelinder wird, so kommt die Sonne wieder mitten an dem Himmel hervor, und von jetzt an zieht sie bereits von allen Flüssen gleichviel an sich. Bis dahin haben die andern bei reichlichem Zufluß von Regenwasser, da ihr Land Regen und Gießbäche hat, eine starke Strömung, im Sommer aber, wenn die Regengüsse sie verlassen und zugleich die Sonne an ihnen zieht, eine schwache. Dagegen ist der Nil, der, ohne Regenwasser zu haben, von der Sonne angezogen wird, der einzige Fluß, der um diese Zeit natürlicherweise eine weit geringere Strömung hat als im Sommer; denn wird er da mit allen Gewässern gleichmäßig angezogen, so leidet er im Winter allein. Auf diese Art halte ich die Sonne für die Ursache.

26. Ebendieselbe ist auch, meiner Meinung nach, die Ursache, daß die Luft daselbst trocken ist, indem sie ihre Bahn sich ausbrennt. So ist im oberen Libyen beständig nur Sommer. Wenn der Stand der Jahreszeiten wechselte, wenn da am Himmel, wo jetzt der Nord und der Winter stehen, der Stand des Südens und des Mittags wäre, dagegen da, wo jetzt der Süd steht, der Nord sein würde: wenn das so wäre, so würde sich die Sonne, aus der Mitte des Himmels vom Winter und Nord vertrieben, in das obere Europa bewegen, wie sie jetzt nach Libyen kommt. Wenn sie so durch ganz Europa liefe, möchte sie wohl am Istros dasselbe bewirken wie jetzt am Nil.

[Anmerkung:] 26. Istros: Donau.

 

27. Daß er endlich keine Brisen entsendet, darüber habe ich die Meinung, daß überhaupt aus warmen Gegenden kein Wind zu erwarten ist, die Luft aber aus kalten gern zu wehen pflegt.

28. Das bleibe denn, wie es ist, und wie es von jeher war. Die Quellen des Nils aber vermaß sich keiner von den Ägyptern, Libyern und Hellenen, mit denen ich ins Gespräch kam, zu kennen außer dem Schreiber der heiligen Schätze Athenes in Ägypten in der Stadt Saïs. Jedoch schien mir derselbe zu scherzen, indem er sie bestimmt zu kennen behauptete. Er sagte aber, es wären zwei Berge mit spitzzulaufenden Gipfeln, zwischen der Stadt Syene im thebanischen Gebiet und der Stadt Elephantine gelegen, unter dem Namen Krophi der eine, Mophi der andere. Nun flössen also die Quellen des Nils aus tiefen Schlünden mitten in diesen Bergen, und die eine Hälfte des Wassers ströme nach Ägypten hin und gegen den Nordwind, die andere Hälfte nach Äthiopien und gegen den Südwind. Daß aber die Quellen tiefe Schlünde seien, das, behauptete er, habe der König von Ägypten, Psammetichos, erprobt. Er habe nämlich ein Seil, viele tausend Klafter lang, geflochten und daselbst hinabgelassen, ohne auf den Grund zu kommen. Damit führte mich denn der Schreiber darauf, wenn anders dem so ist, wie er sagte, dort gewaltige Wirbel und einen Strudel zu vermuten, so daß wegen des Anpralls des Wassers an die Bergwände das herabgelassene Senkblei nicht auf den Grund kommen konnte.

[Anmerkung:] 28. Athene: Die ägyptische Göttin Neith, die mit Pfeil und Bogen bewaffnet dargestellt wird. – Syene: Aswan an der Grenze des Sudans.

 

29. Sonst konnte ich von niemand etwas erfahren. Was ich indessen noch in Erfahrung brachte, als Augenzeuge bis zur Stadt Elephantine und von da durch Hören und Nachfragen, reicht nur so weit: Hinter der Stadt Elephantine geht es steil aufwärts, und man kann nicht anders fortkommen, als daß dort das Fahrzeug an Stricken auf beiden Seiten, wie ein Rind, gezogen wird; reißen sie aber, so wird das Fahrzeug von der gewaltigen Strömung fortgerissen. Das geht so eine Fahrt von vier Tagen, und der Nil ist dort so reich an Krümmungen wie der Mäander. Zwölf Schoinen sind's, die man auf diese Art durchschiffen muß. Alsdann kommt man auf eine flache Ebene, woselbst der Nil eine Insel umströmt; Tachompso ist ihr Name. Nun bewohnen das Land oberhalb Elephantine schon Äthiopier und auch die eine Hälfte der Insel, die andere Hälfte Ägypter. An dieselbe Insel stößt ein großer See, den rings nomadische Äthiopier umziehen; durchfährt man diesen, so kommt man wieder in das Strombett des Nils heraus, das in den See geht. Alsdann steigt man aus und hat längs dem Fluß eine Reise von vierzig Tagen zu machen, da im Nil spitzige Klippen herausstehen und viele Schären sind, die keine Durchfahrt zulassen. Hat man in den vierzig Tagen diese Strecke zurückgelegt, so steigt man wiederum in ein Fahrzeug, um zwölf Tage zu fahren, und dann kommt man in eine große Stadt mit Namen Meroë. Das, sagt man, sei die Mutterstadt der übrigen Äthiopier. Die in ihr Wohnenden beten bloß die Götter Zeus und Dionysos an, die sie auch hoch verehren, und sie haben ein Orakel des Zeus. Sie ziehen, sooft es ihnen der Gott durch seine Sprüche befiehlt, in den Krieg und dahin, wohin er befiehlt.

[Anmerkung:] 29. Der Mäander ist wie unsere Mosel sehr reich an Windungen. Die Mäanderlinie heißt nach ihm. – Meroe: Die Hauptstadt eines äthiopischen Priesterstaates.

 

30. Fährt man nun von dieser Stadt zu Schiffe weiter, so gelangt man wieder in der gleichen Zeit, in der man aus Elephantine in die Mutterstadt der Äthiopier kam, zu den Automolen. Diese haben den Namen Asmach, welches Wort in unserer Sprache so viel bedeutet wie »die zur Linken des Königs Stehenden«. Es waren das zweihundertvierzigtausend streitbare Ägypter, die zu den dortigen Äthiopiern aus folgendem Grunde abfielen. Unter König Psammetichos standen Wachen in der Stadt Elephantine gegen die Äthiopier, im pelusischen Daphne gegen die Araber und Syrier, und in Marea gegen Libyen. Noch zu meiner Zeit hatten auch die Perser Wachen, wie sie unter Psammetichos waren: nämlich in Elephantine sowohl als in Daphne liegt persische Besatzung. Jene Ägypter nun hatten drei Jahre die Besatzung gebildet, ohne daß jemand sie ablöste. Da hielten sie Rat, einigten sich, fielen alle von Psammetichos ab und gingen nach Äthiopien. Psammetichos erfuhr es und verfolgte sie. Er holte sie auch ein und bat mit vielen Worten, sie möchten doch die heimischen Götter und ihre Weiber und Kinder nicht verlassen. Da soll einer von ihnen auf sein Schamglied gewiesen und gesagt haben, wo dieses sei, da würden sie schon Weiber und Kinder bekommen. Als sie in Äthiopien ankamen, ergaben sie sich dem König der Äthiopier. Der belohnte sie damit, daß er sie gewisse Äthiopier, die mit ihm in Zwist geraten waren, austreiben hieß, um das Land derselben zu bewohnen. Als sie sich hierauf unter den Äthiopiern angesiedelt hatten, wurden die Äthiopier durch Annahme ägyptischer Sitten veredelt.

[Anmerkung:] 30. Automolen heißt »Überläufer«.

 

31. So ist es zu Wasser und zu Lande ein Weg von vier Monaten, daß man den Lauf des Nils über Ägypten hinaus noch kennt. So viele Monate nämlich ergeben sich, wenn man zusammenrechnet, wie lange einer braucht, wenn er von Elephantine zu den erwähnten Automolen reist. Er fließt aber von Abend und Sonnenuntergang aus. Das weitere vermag keiner sicher anzugeben, weil jenes Land infolge der Sonnenglut eine Wüste ist.

32. Doch hörte ich noch folgendes von Männern aus Kyrene, die aussagten, sie seien zum Orakel des Ammon gekommen und da mit Etearchos, dem Könige der Ammonier, ins Gespräch geraten. Als sie nun nach andern Gesprächen auch darauf gekommen seien, über den Nil zu reden, wie niemand seine Quellen wisse, habe Etearchos von nasamonischen Männern berichtet, die einmal zu ihm gekommen wären. Dieses libysche Volk hält sich an der Syrte auf und in dem Lande gegen Morgen von der Syrte noch eine nicht allzugroße Strecke. Die Nasamonen also, die gekommen und befragt worden seien, ob sie etwas Neues zu sagen vermöchten über die Wüsten Libyens, hätten ausgesagt: bei ihnen wären mutwillige Söhne von mächtigen Männern gewesen und hätten unter andern absonderlichen Streichen, die sie als junge Männer anstellten, auch einmal fünf unter sich durchs Los bestimmt, die Wüsten Libyens zu besuchen, ob sie wohl über die äußersten Entdeckungen hinaus noch etwas Neues entdecken könnten. Wo nämlich Libyen gegen Norden ans Meer stößt, von Ägypten an bis zum Vorgebirge Soloeis, dem Ende Libyens, da wohnen längs der Küste durchgehends Libyer und viele libysche Stämme, abgesehen von dem Gebiete, das Hellenen und Phönizier innehaben. Aber oberhalb des Meeres und der am Meer wohnenden Menschen ist Libyen eine Wildnis und landeinwärts von der Wildnis ist es Sand, wasserlos und gänzlich wüst. Nun seien jene von ihren Gesellen ausgeschickten Jünglinge, mit Wasser und Nahrungsmitteln wohl versehen, zuerst durch das bewohnte Land gegangen, nach Durchwanderung desselben in die Wildnis gekommen und von da aus durch die Wüste gewandert, immer auf dem Wege gegen den Westwind. Nach Durchwanderung einer langen sandigen Strecke hätten sie endlich, als schon viele Tage vergangen waren, eine Ebene mit Baumwuchs gesehen, seien auf sie zugegangen und hätten von den Früchten gepflückt, die an den Bäumen hingen. Während des Pflückens seien dann kleine Männer zu ihnen herangekommen, noch unter mittlerer Mannesgröße, die sie mit sich fortnahmen, doch ohne daß die Nasamonen von ihrer Sprache, noch die Führer von den Nasamonen etwas verstanden. Diese hätten sie nun durch die größten Sümpfe geführt, nach deren Durchwanderung sie in eine Stadt gekommen seien, in der alle ihren Führern an Größe gleich und von schwarzer Farbe gewesen seien. An der Stadt aber fließe ein großer Strom hin, und der fließe von Abend gegen Sonnenaufgang; auch zeigten sich in demselben Krokodile.

[Anmerkung:] 32. Phönizier: Karthager.

 

33. So weit also hätte ich die Rede des Ammoniers Etearchos angegeben, nur daß er noch hinzusetzte, die Nasamonen wären zurückgekehrt, wie die Kyrenaier gesagt hätten, und die Menschen, zu denen dieselben gekommen seien, wären alle Zauberer. Nun schloß aber auch Etearchos, jener Fluß, der dort vorbeifließt, sei der Nil; und das hat wirklich seinen guten Grund. Der Nil strömt nämlich aus Libyen her, so daß er Libyen mitten durchschneidet, und (wie ich vermute, indem ich aus Ersichtlichem auf das Unbekannte schließe) unter dem gleichen Längenverhältnis von der Quelle an wie der Istros. Denn auch der Istrosfluß, der von den Kelten und der Stadt Pyrene ausgeht, strömt durch Europa, so daß er es mitten durchschneidet. Diese Kelten wohnen jenseits der Säulen des Herakles und sind Grenznachbarn der Kynesier, die unter den Bewohnern von Europa am weitesten gegen Abend wohnen. Der Istros endigt aber seinen Lauf durch ganz Europa im Meere des Pontos Euxeinos, dort wo Istria von den milesischen Pflanzern bewohnt wird.

[Anmerkung:] 33. Pyrene: In diesem Namen steckt der der Pyrenäen, auf denen nach Herodots irriger Annahme die Donau entspringt. Parallel zu diesem phantastischen Donaulauf durch Europa läßt Herodot den Nil Afrika durchströmen.

 

34. Nun ist der Istros, da er durch bewohntes Land strömt, vielen bekannt; aber von den Quellen des Nils vermag niemand etwas zu sagen, da Libyen, wo er es durchströmt, unbewohnt und wüst ist. Von seinem Lauf aber ist schon das Äußerste angegeben, was nur immer durch Erkundigung zu erreichen war. Zuletzt fließt er nach Ägypten. Ägypten liegt so ziemlich dem Gebirgsland von Zilizien gegenüber, und von da ist es nach Sinope am Pontos Euxeinos ein Weg von fünf Tagen für einen rüstigen Mann; Sinope aber liegt dem Istros, wo er ins Meer mündet, gegenüber. So, glaube ich, läuft der Nil durch ganz Libyen im gleichen Verhältnis wie der Istros. So viel vom Nil!

35. Jetzt komme ich dazu, noch weitläufig von Ägypten zu reden, weil es viel mehr Wunder enthält als jedes andere Land und, mit jedem Lande verglichen, außerordentliche Werke zeigt. Deswegen soll noch mehr davon gesagt werden. Die Ägypter haben, wie bei ihnen der Himmel eigentümlich ist und ihr Fluß eine von den übrigen Flüssen verschiedenartige Natur zeigt, meist auch in Sitten und Bräuchen das Umgekehrte wie die übrigen Menschen eingeführt. Da gehen die Weiber auf den Markt und handeln, die Männer dagegen halten sich in den Häusern und weben. Nun weben sonst alle so, daß sie den Einschlag oben einstoßen, die Ägypter aber unten. Die Lasten tragen die Männer auf dem Kopf und die Weiber auf den Schultern; beim Harnen stehen die Weiber aufrecht und die Männer sitzen. Ihre Notdurft verrichten sie in den Häusern, essen aber in den Straßen, indem sie erklären, was unanständig, aber notwendig sei, müsse man im Verborgenen tun, was nicht unanständig, öffentlich. Priesterdienst übt kein Weib, weder bei männlichen, noch bei weiblichen Gottheiten, sondern bei beiden durchaus Männer. Zur Erhaltung der Eltern sind die Söhne nicht verpflichtet, wenn sie nicht wollen, die Töchter aber streng verpflichtet, auch wenn sie nicht wollen.

36. Die Priester der Götter pflegen sonst überall langes Haar zu tragen, in Ägypten aber scheren sie es ab. Bei den andern Menschen ist es Brauch, daß in der Trauer die nächsten Angehörigen ihr Haupt scheren; die Ägypter aber lassen bei Todesfällen die Haare auf dem Haupt und am Barte wachsen, während sie sonst geschoren sind. Die andern Menschen haben ein von den Tieren abgesondertes Leben, die Ägypter leben mit den Tieren zusammen. Die andern nähren sich von Weizen und Gerste, aber für einen Ägypter sind diese Nahrungsmittel die größte Schande; dagegen machen sie ihre Speise von Dinkel, was man sonst wohl auch Spelt nennt. Den Teig kneten sie mit den Füßen und den Lehm mit den Händen, wie sie auch den Mist mit ihnen aufheben. Das Schamglied lassen die andern, wie es ist, die ausgenommen, die es von den Ägyptern gelernt haben: diese beschneiden es. Kleider haben die Männer immer zwei, die Weiber immer ein einziges. Die Segelringe und Taue binden die andern von außen an, die Ägypter aber von innen. Das Schreiben und das Rechnen geht bei den Hellenen von der linken nach der rechten Hand, bei den Ägyptern aber von der rechten nach der linken, und dabei behaupten sie noch, bei ihnen geschehe es nach der rechten, bei den Hellenen aber nach der linken. Auch haben sie zwei Schriften, von denen die eine die heilige, die andere die gemeine heißt.

[Anmerkung:] 36. Die Ägypter setzten die Schriftzeichen von rechts nach links nebeneinander, malten aber das einzelne Zeichen von links nach rechts. Die Griechen verfuhren in beiden Fällen umgekehrt. Die ägyptische Hieroglyphenschrift bestand aus Bildzeichen, aus denen durch Abkürzungen zunächst die hieratische (heilige) Schrift (um 2500 v. Chr.) hervorging, die bei den Priestern noch lange im Gebrauch blieb. Aus der hieratischen Schrift entstand durch Vereinfachung im siebenten Jahrhundert v. Chr. die demotische (volkstümliche) Schrift.

 

37. Aus Gottesfurcht, in der sie alle Menschen weit überbieten, haben sie folgende Bräuche. Die ehernen Becher, aus denen sie trinken, spülen sie jeglichen Tag, nicht bloß der eine, der andere nicht, sondern alle. Sie tragen Kleider von Linnen, die immer frisch gewaschen sind, und verwenden darauf besondere Sorgfalt. Auch die Schamglieder beschneiden sie der Reinheit wegen und achten es höher, rein zu sein, als wohlanständig. Die Priester scheren sich am ganzen Leib alle zwei Tage, damit sie keine Laus, noch sonst etwas Unsauberes beim Dienst der Götter an sich haben. Die Kleidung, welche die Priester tragen, ist nur von Linnen, die Schuhe nur von Byblos; eine andere Kleidung ist ihnen nicht erlaubt zu nehmen, auch nicht andere Schuhe. Sie baden sich zweimal jeden Tag kalt und zweimal jede Nacht. Sonst vollziehen sie noch sozusagen zahllose Pflichtleistungen. Doch genießen sie auch nicht wenig Gutes. Von ihrem Eigentum verbrauchen sie nämlich nichts und geben nichts aus, sondern erhalten sowohl ihr heiliges Gebäck als Rindfleisch und Gänsefleisch für jeden in großer Menge jeden Tag, und es wird ihnen auch Rebenwein gereicht. Aber Fische zu genießen, ist ihnen nicht erlaubt. Bohnen pflanzt man nicht in Ägyptenland, und wenn sie herauskommen, ißt man sie weder roh noch gekocht. Die Priester ertragen nicht einmal ihren Anblick, weil sie glauben, diese Hülsenfrucht sei unrein. Den Priesterdienst übt aber bei jedem Gott nicht bloß einer, sondern viele, von denen einer Oberpriester ist, und sooft einer stirbt, tritt dessen Sohn an seine Stelle.

38. Die Stiere gelten bei ihnen für dem Epaphos geheiligt und werden deshalb in folgender Weise geprüft: Sieht man an einem nur ein einziges schwarzes Haar, so läßt man ihn nicht für rein gelten. Dies nämlich zu untersuchen, ist ein eigener Priester bestellt, der dabei das Tier aufrecht stehen und sich dann auf den Rücken legen läßt, auch seine Zunge herauszieht, ob sie rein ist von den bestimmten Zeichen, die ich an einem andern Ort angeben will. Dazu besichtigt er auch die Haare am Schwanz, ob sie bei ihm von Natur richtig sind. Ist er in allen diesen Stücken rein, so zeichnet er ihn durch Byblos, den er um die Hörner windet; dann streicht er noch Siegelerde darüber und drückt seinen Fingerring auf. So führen sie ihn ab. Für das Opfer eines ungezeichneten ist Todesstrafe verhängt. Auf diese Weise wird das Tier geprüft.

[Anmerkung:] 38. Epaphos: Apis, ägyptisch Hap, der Herold des Gottes Ptah. – Rein von den bestimmten Zeichen: Wenn sie der Stier hat, ist er Apis und darf nicht geopfert werden.

 

39. Folgende Art der Opferung ist bei ihnen eingeführt. Haben sie das gezeichnete Tier zu dem Altar geführt, auf dem es geopfert werden soll, so zünden sie ein Feuer an. Alsdann sprengen sie Wein auf den Altar und über das Opfertier, rufen den Gott an und schlachten es; nach der Schlachtung aber hauen sie ihm den Kopf ab. Nun ziehen sie vom Rumpf des Tieres die Haut ab, auf den Kopf aber stoßen sie eine lange Verfluchung aus und tragen ihn fort, und zwar, wo ein Markt ist und sich bei ihnen Hellenen zum Handel einfinden, da tragen sie ihn auf den Markt, um ihn sofort herzugeben; wo es aber keine Hellenen gibt, da werfen sie denselben in den Fluß. Die Verfluchung nun, die sie allemal über den Kopf aussprechen, lautet, daß, wenn über sie, die Opfernden, oder über ganz Ägypten ein Übel kommen wolle, es auf diesen Kopf übergehen solle. Es halten aber mit den Köpfen des Opferviehes und mit der Spendung des Weines alle Ägypter dieselben Bräuche gleichmäßig bei allen heiligen Tieren, und von diesem Brauche kommt es, daß auch von dem Kopfe eines andern Geschöpfes kein Ägypter jemals etwas genießt.

40. Dagegen ist das Ausweiden der Opfertiere und das Verbrennen bei verschiedenen heiligen Tieren verschieden. Die Göttin aber, welche sie für die größte halten, und der sie das größte Fest feiern, rufen sie, wie ich hier nur erwähnen will, wenn sie den Stier abgehäutet haben, erst betend an, dann nehmen sie den Magen ganz heraus; die Eingeweide aber lassen sie im Leibe samt dem Fett; dann schneiden sie die Schenkel ab und oben die Hüfte, und die Schultern mit dem Hals. Haben sie das getan, so füllen sie den übrigen Leib des Tiers mit reinen Broten an, mit Honig, Rosinen, Feigen, Weihrauch und Myrrhen und anderem Räucherwerk. Haben sie ihn damit angefüllt, so verbrennen sie ihn unter reichlichem Zugießen von Öl, und zwar haben sie gefastet, ehe sie opfern. Während das Opfer brennt, schlagen sich alle, und wenn sie sich geschlagen haben, tragen sie von den Überresten des Opfers ein Mahl auf.

41. Reine Stiere und Stierkälber opfern also die sämtlichen Ägypter; aber Kühe zu opfern, ist ihnen nicht erlaubt, sondern die sind der Isis heilig. Das Bild der Isis nämlich zeigt ein Weib mit Kuhhörnern, wie die Hellenen die Io zeichnen: die Kühe halten die Ägypter alle miteinander weitaus am heiligsten unter allem Vieh. Deswegen wird ein Ägypter, Mann oder Weib, nie einen Hellenen auf den Mund küssen, auch nicht das Messer eines Hellenen gebrauchen, noch den Bratspieß oder einen Kessel, noch wird er von reinem Stierfleisch kosten, wenn es mit einem hellenischen Messer zerlegt ist. Sie bestatten aber die gestorbenen Rinder auf folgende Weise. Die Kühe werfen sie in den Fluß, die Stiere aber graben sie überall in ihren Vorstädten ein, so daß ein Horn oder beide zum Zeichen hervorstehen. Wenn er nun verfault und die bestimmte Zeit herannaht, kommt in jede Stadt ein Floß aus der Insel Prosopitis, wie sie heißt. Dieselbe liegt im Delta und hat einen Umfang von neun Schoinen. Auf dieser Insel Prosopitis nun sind gar viele Städte; aus einer von ihnen kommen die Flöße, um die Stiergebeine aufzuheben, und sie heißt Atarbechis; dort steht ein der Aphrodite geweihter Tempel. Aus dieser Stadt fahren viele bei den verschiedenen Städten herum, um die Gebeine auszuscharren, die sie fortführen und allesamt an einer Stelle begraben. Ebenso wie die Stiere begraben sie auch das sonstige Vieh, wenn es stirbt: wie es denn bei diesem gleichfalls ihr Gesetz gebietet, und sie durchaus auch davon keines töten.

[Anmerkung:] 41. Isis wird als Mondgöttin mit Hörnern dargestellt. Die Kühe sind ihr heilig, weil sie Fruchtbarkeitsgöttin ist. Als solche bezeichnet sie Herodot mit dem Namen der griechischen Göttin der Liebe und Schönheit, Aphrodite.

 

42. Alle, die ein Heiligtum des thebanischen Zeus haben oder vom thebanischen Kreise sind, enthalten sich der Schafe und opfern Ziegen. Es verehren nämlich nicht alle Ägypter gleichmäßig dieselben Götter, ausgenommen die Isis und den Osiris, der Dionysos sein soll; nur diese werden von allen gleichmäßig verehrt. Die aber, die ein Heiligtum des Mendes haben oder vom mendesischen Kreise sind, enthalten sich der Ziegen und opfern Schafe. Die Thebaner nun samt allen, die sich nach ihrem Beispiel der Schafe enthalten, geben folgenden Grund von diesem Brauche an. Herakles habe durchaus den Zeus sehen wollen, und dieser habe nicht gewollt, daß er ihn schaue. Endlich aber habe es Zeus auf langes Anhalten des Herakles so gemacht, daß er einen Widder abhäutete, den abgeschnittenen Kopf des Widders sich vorhielt, das Vlies desselben antat und sich jenem also zeigte. Seitdem gestalten die Ägypter das Bild des Zeus widderköpfig, und ihnen folgen darin die Ammonier, Abkömmlinge der Ägypter und Äthiopier, die auch in ihrer Sprache zwischen beiden stehen. Und, wie mir scheint, gaben sich auch die Ammonier ihren Namen nach der Benennung desselben, da die Ägypter den Zeus als Ammun bezeichnen. Die Widder werden von den Thebanern nicht geopfert, sondern sind ihnen ebendarum heilig. Nur an einem Tage des Jahrs, bei dem Fest des Zeus, schlachten sie einen einzigen Widder, ziehen ihn ab und umhüllen damit wieder das Bild des Zeus, zu dem sie alsdann ein anderes Bild des Herakles herbeibringen. Haben sie dies getan, so schlagen sie sich alle bei dem heiligen Widder, und alsdann bestatten sie ihn in einer heiligen Gruft.

[Anmerkung:] 42. Zeus: Ammon, ägyptisch Amun, ursprünglich der Hauptgott von Theben. Er wird als Widder oder mit einem Widderkopf dargestellt. Mit dem Aufstieg Thebens zur ägyptischen Hauptstadt (um 2000 v. Chr.) wurde Amun zum Götterkönig erhoben. Tut-ench-Amun (um 1350 v. Chr.) heißt »Hold an Leben ist Amun«. Der Name wurde sehr bekannt, als 1922 das Grab des Königs Tut-ench-Amun entdeckt und geöffnet wurde. Zu Herodots Zeit war der Amunkultus schon wieder im Rückgang, weil die Macht Thebens zunächst der äthiopischen, dann der assyrischen Fremdherrschaft erlegen war, der um 663 v. Chr. Psammetichos von Sais ein Ende machte. Ein berühmtes Orakel Amuns hielt sich aber in der Oase Siwa in der Libyschen Wüste. – Dionysos ist Fruchtbarkeitsgott. Die rasenden Frauen, die ihn verehren, zerreißen Tiere, verschlingen sie roh und glauben, damit die Kraft des zerstückelten Gottes in sich aufzunehmen. Ebenso ist der ägyptische Osiris, der Gatte der Isis, ein Fruchtbarkeitsgott. Er wird von seinem Feinde Seth zerstückelt, aber von seinem Sohne Horos gerächt. Dieser besiegt Seth, erweckt Osiris zu neuem Leben und gibt ihm die Herrschaft im Totenreiche des Westens. Die Zerstückelung und Auferstehung ist beiden Vegetationsgottheiten, Dionysos und Osiris, gemeinsam. Deshalb setzt sie Herodot einander gleich. – Die Ruinen der Stadt Mendes, in der man den Bock verehrte, liegen beim Dorfe Timai el Amdid. Die Tierverehrung oder der Totemismus ist eine der ältesten Formen der Religion. Die mythologischen Anekdoten, die Herodot beibringt, um die Widderköpfigkeit Amuns zu erklären, entstammen einer späteren Epoche, die mit den Resten des Totemismus nichts mehr anzufangen wußte.

 

43. Über Herakles aber hörte ich die Behauptung, daß er unter den zwölf Göttern sei. Doch über den andern Herakles, den die Hellenen kennen, konnte ich nirgends in Ägypten etwas hören. Daß aber die Ägypter den Namen des Herakles nicht von den Hellenen, sondern die Hellenen ihn vielmehr von den Ägyptern bekommen haben, und zwar die Hellenen, die dem Sohne des Amphitryon den Namen Herakles gaben, dafür habe ich unter vielen andern Beweisen, daß dem so ist, besonders auch diesen, daß die beiden Eltern unseres Herakles, Amphitryon und Alkmene, ursprünglich aus Ägypten stammen; ferner den, daß die Ägypter weder den Namen des Poseidon, noch den der Dioskuren zu kennen behaupten und diese Götter auch nicht unter ihre übrigen Götter aufgenommen haben. Gerade dieser aber würden sie, wenn sie den Namen irgendeiner Gottheit von den Hellenen bekommen hätten, nicht am wenigsten, sondern am meisten eingedenk sein, falls sie damals überhaupt Schiffahrt getrieben und die Hellenen Seefahrer gehabt haben, wie ich denn annehme und gute Gründe dafür finde. So würden die Ägypter wohl eher mit den Namen dieser Götter als mit dem des Herakles bekannt geworden sein. Allein Herakles ist bei den Ägyptern ein ursprünglicher Gott; wie sie selbst sagen, verflossen siebzehntausend Jahre bis zur Zeit des Königs Amasis, seit aus ihren acht Göttern die zwölf wurden, für deren einen Herakles ihnen gilt.

[Anmerkung:] 43. Poseidon: Der Gott des Meeres. Die Dioskuren, Kastor und Pollux, sind die Beschützer der Seefahrer. Sie also hätten durch griechische Seefahrer viel früher in Ägypten bekannt werden müssen als Herakles, meint Herodot. – Mit Amasis ist nicht Amasis I. (1580 bis 1555 v. Chr.) gemeint, der die Hyksos aus Ägypten vertrieb, sondern Amasis II. (569-526 v. Chr.), der Freund des Tyrannen Polykrates von Samos.

 

44. Weil ich nun hierüber, wo es nur möglich war, etwas Sicheres erfahren wollte, schiffte ich auch nach Tyros in Phönizien, weil ich erfuhr, es sei dort ein dem Herakles geweihtes Heiligtum. Ich sah es auch wirklich und fand es reich ausgestattet mit allerlei Weihgeschenken, unter denen zwei Säulen sind, die eine von lauterem Golde, die andere von Smaragdstein, der bei Nacht gewaltig leuchtete. Da ich auch mit den Priestern des Gottes in ein Gespräch kam, fragte ich, wie lange es her sei, daß ihr Heiligtum gegründet worden sei, und fand, daß auch diese nicht mit den Hellenen übereinstimmen. Sie behaupteten nämlich, zugleich mit der Anlegung von Tyros sei auch das Heiligtum des Gottes gegründet worden, und Tyros stehe bereits zweitausenddreihundert Jahre. Auch sah ich in Tyros ein anderes Heiligtum des Herakles, mit dem Beinamen des Thasiers. Nun kam ich auch nach Thasos und fand dort ein Heiligtum des Herakles, gegründet von Phöniziern, die Thasos gebaut haben, als sie ausgefahren waren, um die Europa zu suchen. Dies ist wiederum fünf Menschenalter früher geschehen, als Herakles, des Amphitryon Sohn, in Hellas geboren wurde. Diese Erkundungen geben also sicher zu erkennen, daß Herakles ein alter Gott ist. So scheinen mir es auch bei den Hellenen die am besten zu machen, die doppelte Heraklestempel gegründet haben, und dem einen, unter dem Namen des olympischen, als einem Unsterblichen opfern, dem andern, als einem Heros, Totenspenden darbringen.

[Anmerkung:] 44. Herakles ist hier der phönizische Baal, der in Tyros unter dem Namen Melkart (Stadtkönig) verehrt wurde. Da der wandernde Herakles die den Tierkreis durchwandelnde Sonne ist, findet ihn Herodot überall wieder.

 

45. Überhaupt sagen die Hellenen noch vieles andere ohne Bedacht. So ist auch das ein einfältiges Märchen, das sie von Herakles erzählen: ihn hätten, als er nach Ägypten gekommen sei, die Ägypter bekränzt und im Festzug hinausgeführt, um ihn dem Zeus zu opfern; er aber habe sich so lange ruhig verhalten; als sie ihn jedoch vor dem Altar weihten, habe er sich zur Wehr gesetzt und sie allesamt niedergemacht. Da scheinen mir die Hellenen, sofern sie dies sagen, der Eigentümlichkeit der Ägypter und ihrer Bräuche ganz und gar unkundig zu sein. Denn wie könnten die, denen es als eine Sünde gilt, Tiere zu opfern, ausgenommen nur die Schweine, die Stiere und Kälber, wenn solche rein sind, und die Gänse, wie könnten die einen Menschen opfern? Wie ist es ferner möglich, daß Herakles allein und noch Mensch, wie sie ja behaupten, viele Tausende gemordet habe? Indem wir aber so viel hierüber gesprochen haben, mögen uns Götter und Heroen gnädig sein!

46. Der Grund, aus dem, wie erwähnt, die Ägypter die Ziegen und Böcke nicht opfern, ist der, daß die Mendesier den Pan unter die acht Götter rechnen, diese acht Götter aber, wie sie sagen, eher dagewesen sind als die zwölf. Auch zeichnen und hauen wirklich ihre Maler und Bildhauer das Bild des Pan, gleichwie die Hellenen, ziegenköpfig und bocksfüßig, obwohl sie glauben, er sei keineswegs von solcher Art, sondern sei wie die andern Götter gestaltet. Weshalb sie ihn aber auf diese Art zeichnen, mag ich nicht gern sagen. Es halten die Mendesier die Ziegen überhaupt heilig, noch mehr als die weiblichen aber die männlichen, deren Hirten auch höher in Ehren stehen, und unter den Böcken ist einer, dessen Tod immer den ganzen mendesischen Kreis in große Trauer versetzt. Und der Bock, wie auch Pan, heißt auf ägyptisch Mendes. Auch geschah in demselben Kreis dieses Wunder, als ich dort war: Mit einem Weibe vermischte sich ein Bock öffentlich. Solches kam vor die Augen der Menschen.

[Anmerkung:] 46. Aus den acht Göttern werden durch Emanation (Ausströmung), eine den orientalischen Religionssystemen eigentümliche und später von den christlichen Gnostikern übernommene Vorstellung, zwölf. Da die Griechen den arkadischen Weidegott Pan mit Hörnern, Bocksfüßen und Schwanz darstellten, findet ihn Herodot im Bock von Mendes wieder. – Mit einem Weibe vermischte sich ein Bock: Der kultische Akt bestand vielmehr darin, daß eine unfruchtbare Frau durch die Berührung des Fruchtbarkeitsgottes oder durch die Entblößung vor ihm Heilung suchte. Der Akt durfte nur im verschlossenen Tempel vor sich gehen. Herodot sah ihn also nicht und hat die Mitteilung, die man ihm davon machte, mißverstanden. Die Szene kam nicht, wie er berichtet, »vor die Augen der Menschen« ( es epidexin anthropon).

 

47. Das Schwein sehen die Ägypter für ein unreines Tier an; nicht nur geht einer, wenn er im Vorbeigehen ein Schwein berührt hat, sofort zum Fluß und wäscht sich mitsamt seinen Kleidern ab, sondern es kommen auch allein von allen die Schweinehirten, obwohl sie eingeborne Ägypter sind, in kein ägyptisches Heiligtum hinein, wie sich auch niemand entschließt, ihnen seine Tochter zu geben oder eine von ihnen zu heiraten, sondern die Schweinehirten freien und vergeben ihre Töchter nur unter sich. Den andern Göttern Schweine zu opfern, halten die Ägypter nicht für recht; aber der Selene und dem Dionysos opfern sie zur gleichen Zeit, nämlich bei Vollmond, ihre Schweine und speisen ihr Fleisch. Weswegen sie aber die Schweine an den andern Festen verabscheuen und an diesem opfern, darüber hört man zwar bei den Ägyptern eine Sage; allein, obwohl ich sie kenne, steht es mir nicht wohl an, sie anzugeben. Die Opferung der Schweine für die Selene wird aber so verrichtet. Nach der Schlachtung legt allemal der Opferer die Schwanzspitze, die Milz und das Darmnetz zusammen und umhüllt sie sofort mit allem Speck von dem Bauche des Tieres; dann bringt er's als Brandopfer dar. Das übrige Fleisch essen sie an dem Vollmond, an dem sie die geheiligten Tiere opfern; sonst aber genießen sie an keinem Tage mehr etwas davon. Die Armen unter ihnen formen aus Mangel an Lebensmitteln Schweine aus Teig, die sie backen und opfern.

[Anmerkung:] 47. Selene: Mondgöttin, Isis. Dionysos: Osiris. Das Schwein ist ihnen heilig, weil sie Fruchtbarkeitsgottheiten sind, und der Mythus, den Herodot nicht mitteilen mag, ist obszön, wie das die Vegetationsmythen sehr häufig sind. Herodot gehört einer Kulturschicht an, der alle Arten von Orgien bereits primitiv erscheinen. Sie dürfen nur noch in Geheimkulten vor sich gehen, und von dem, was dort geschieht, soll man nicht sprechen. Daher verschweigt er auch im nächsten Kapitel den Mythus vom Zeugungsglied des Osiris. Isis fand es nicht, als sie ihren von Seth zerstückelten Gatten wieder zusammensetzte, weil es die Fische gefressen hatten.

 

48. Dem Dionysos aber schlachtet jeder am Vorabendmahl des Festes ein Ferkel vor seiner Tür und läßt es dann den Schweinehirten, der ihm das Ferkel verkauft hat, wieder mitnehmen. Im übrigen feiern die Ägypter das Dionysosfest beinahe ganz ebenso wie die Hellenen, nur ohne Chöre. Anstatt der Phallen aber haben sie andere Bilder von der Länge einer Elle erfunden, mit einem Zugfaden. Die Weiber tragen diese in den Flecken herum, wobei sich das Schamglied immer hebt, das nicht viel kleiner ist als der übrige Leib. Ein Flötenspieler geht voran. Ihm folgen die Weiber, die den Dionysos besingen. Warum er aber ein größeres Schamglied hat und von den Gliedern seines Körpers nur dieses beweglich ist, darüber wird eine heilige Sage erzählt.

49. Nun glaube ich, daß Melampus, Amythaons Sohn, mit diesem Opferfest nicht unbekannt, sondern desselben kundig war. Denn eben Melampus ist es, der den Hellenen den Namen des Dionysos und sein Opferfest und den Phallusaufzug mitgeteilt hat. Nur hat er die ganze Sache nicht genau erfaßt und dargestellt, sondern die Weisheitslehrer nach ihm offenbarten die Lehre gründlicher. Den Phallus jedoch, der dem Dionysos zu Ehren herumgetragen wird, hat Melampus selbst eingeführt, und was die Hellenen tun, das haben sie von ihm zu tun gelernt. Ich behaupte also, daß Melampus sich, als ein weiser Mann, die Seherkunst erworben hat und, von Ägypten her unterrichtet, mancherlei unter den Hellenen eingeführt hat, darunter auch das Dionysische, indem er nur wenig daran änderte. Denn mitnichten will ich behaupten, daß das, was in Ägypten dem Gott zu Ehren geschieht, mit dem bei den Hellenen zufällig zusammentreffe; denn dann käme es mit den übrigen hellenischen Kulten überein und wäre nicht erst neuerdings eingeführt. Und wieder ist es mitnichten meine Behauptung, daß die Ägypter von den Hellenen diesen Gebrauch bekommen haben, noch sonst einen. Vielmehr ist es mir am wahrscheinlichsten, daß Melampus das Dionysische durch Kadmos den Tyrier kennengelernt hat und diejenigen, die mit diesem aus Phönizien in das Land gekommen sind, das jetzt Böotien heißt.

[Anmerkung:] 49. Der sagenhafte Seher Melampus aus Pylos heilte die Töchter des Proitos, die rasend geworden waren, weil sie sich dem Kultus des Dionysos widersetzt hatten. Zur Belohnung erhielt er den dritten Teil des Königreichs mit Iphianassa, der Tochter des Proitos, als Gattin. Rohde sieht in Melampus einen Apollopriester, der den von Thrazien in Griechenland eingedrungenen Dionysoskult regelte und vergeistigte. »In ihm«, sagt Rohde in der »Psyche« mit einem unverkennbaren Anklang an Nietzsches Gedankengänge in der »Geburt der Tragödie«, »stellt die Sage, typisch gestaltet, eine Versöhnung des Apollinischen und Dionysischen dar.« – Die Weisheitslehrer: Gemeint sind nicht die Philosophen, sondern die Orphiker, die im 6. Jahrhundert v. Chr. den sagenhaften Sänger Orpheus zum Urvater aller Mysterien erhoben, die Seelenwanderung lehrten und ein reines, sündloses Leben forderten. Die gesamte orphische Literatur war, wie Jakob Burckhardt in der »Griechischen Kulturgeschichte« ausführt, insofern eine Fälschung, als sie die Gedanken des sechsten Jahrhunderts mythischen Sehern der Vorzeit in den Mund legte.

 

50. Beinahe alle Namen der Götter sind aus Ägypten nach Hellas gekommen. Denn daß sie von den Barbaren gekommen sind, das ergeben meine Nachforschungen, und da ist es mir am wahrscheinlichsten, daß sie von Ägypten herübergekommen seien. Mit Ausnahme des Poseidon und der Dioskuren, wie das oben schon von mir bemerkt ist, und der Hera, Hestia und Themis, der Chariten und Nereïden, sind nämlich die Namen der andern Götter bei den Ägyptern von jeher vorhanden. Da sage ich nun, was die Ägypter selbst sagen. Die Götter aber, die sie nicht zu kennen versichern, sind, wie ich glaube, von den Pelasgern benannt worden, außer dem Poseidon. Diesen Gott lernte man nämlich durch die Libyer kennen. Denn nirgends hatte man ursprünglich den Namen Poseidons als nur bei den Libyern, die immer diesen Gott verehrt haben. Ferner haben die Ägypter auch keinen Heroendienst im Brauch.

51. Dies also und dazu noch anderes, was ich angeben will, ist bei den Hellenen von den Ägyptern her in Brauch gekommen. Aber die Hermesbilder mit stehenden Schamgliedern darzustellen, haben sie nicht von den Ägyptern, sondern von den Pelasgern gelernt, indem es unter allen Hellenen zuerst die Athener und von diesen die übrigen übernahmen. Die Athener nämlich, welche damals bereits zu den Hellenen gezählt wurden, bekamen in ihrem Lande Pelasger zu Mitbewohnern, die daher auch anfingen, für Hellenen zu gelten. Wer nun in den Geheimdienst der Kabiren eingeweiht ist, den die Samothraker begehen, die ihn von den Pelasgern annahmen, der weiß, was ich sage. Denn Samothrake bewohnten vordem ebendiese Pelasger, die dann mit den Athenern zusammenwohnten, und von ihnen haben die Samothraker den Geheimdienst angenommen. Die stehenden Schamglieder der Hermesbilder gestalteten demnach zuerst unter den Hellenen die Athener, die es von den Pelasgern lernten. Auch haben die Pelasger hierüber eine heilige Sage erzählt, die in den Mysterien von Samothrake offenbart wird.

[Anmerkung:] 51. Im Geheimkult der Kabiren (großen Götter) auf Samothrake spielte der Hermes mit aufrecht stehendem Glied eine Rolle. Im übrigen wissen wir von den Kabiren fast gar nichts. Die mystischen Deutungen, die Creuzer in seiner »Symbolik« (1810-1812) und Schelling in der Abhandlung »Über die Gottheiten von Samothrake« (1815) gaben, verspottet Goethe im »Faust« (Vers 8170 bis 8226). Besonders macht er sich über Schellings Stufenleiter der Kabiren, von denen einer immer mehr reiner Begriff ist als der andere, lustig:
Diese Unvergleichlichen
Wollen immer weiter,
Sehnsuchtsvolle Hungerleider
Nach dem Unerreichlichen.

 

52. Zuerst opferten die Pelasger alles und beteten zu den Göttern, wie ich in Dodona gehört habe, ohne einem derselben eine Benennung oder einen Namen zu geben, weil sie davon noch nichts gehört hatten. Götter, das heißt: Ordner, benannten sie dieselben um deswillen, weil sie alle Dinge in Ordnung gebracht und alle Güter zugeteilt hatten. Aber hernachmals, nach Verlauf einer langen Zeit, erfuhren sie von Ägypten her die Namen der übrigen Götter; den des Dionysos aber erfuhren sie viel später. Dann holten sie, nach einiger Zeit, über diese Namen einen Götterspruch in Dodona ein; denn dieses Orakel gilt für das allerälteste Orakel der Hellenen und war zu der Zeit auch das einzige. Als nun die Pelasger in Dodona einen Spruch darüber einholten, ob sie die Namen in Gebrauch nehmen sollten, die von den Barbaren gekommen wären, erhob das Orakel die Stimme: »Braucht sie.« So brauchten sie denn von dieser Zeit an beim Opfern die Namen der Götter. Von den Pelasgern aber haben sie hernachmals die Hellenen empfangen.

[Anmerkung:] 52. Ordner: Man nimmt heute an, daß das griechische Wort theos für Gott mit dem Sanskritnamen des Himmelsgottes, Djaus, zusammenhängt und »der Leuchtende« bedeutet.

 

53. Woher aber jeder einzelne Gott stammte, und ob immer alle waren, und welche Gestalt ein jeglicher hatte, das war ihnen sozusagen nicht eher bekannt als seit gestern und vorgestern. Hesiod und Homer sind nämlich meines Dafürhaltens um vierhundert Jahre älter als ich, und nicht darüber. Diese aber haben den Hellenen ihre Götterwelt gedichtet, den Göttern ihre Benennungen gegeben, Ehren und Künste unter sie ausgeteilt und ihre Gestalten bezeichnet. Die Dichter aber, die früher als diese Männer gelebt haben sollen, lebten nach meinem Dafürhalten gerade später. Die zuerst erwähnten Angaben machen die dodonischen Priesterinnen, die letzte aber, die Hesiod und Homer betrifft, mache ich.

[Anmerkung:] 53. Jakob Burckhardt (Griechische Kulturgeschichte, III): »Gewiß sind Homer und Hesiod bei weitem nicht die frühesten, sondern schon sehr ausgebildete Stimmen des Epos gewesen, aber richtig betont ist die nunmehrige Herrschaft der Poesie über alle Götterauffassung.«

 

54. Von den Orakeln, nämlich dem hellenischen und libyschen, erzählen die Ägypter folgende Geschichte. Es wären zwei heilige Frauen – so behaupteten die Priester des thebanischen Zeus – von Phöniziern aus Theben fortgeführt und die eine, wie sie erfahren hätten, nach Libyen, die andere nach Hellas verkauft worden; diese Frauen seien es, die bei den genannten Völkern die ersten Orakel gegründet hätten. Da ich nun fragte, woher sie so bestimmt wüßten, was sie sagten, antworteten sie: es sei nach diesen Frauen von ihnen eifrig geforscht worden, ohne daß sie imstande gewesen wären, dieselben aufzufinden; doch hätten sie später ebendas von ihnen erfahren, was sie gesagt hätten.

55. Das hörte ich von den Priestern in Theben, und folgendes behaupten in Dodona die Weissagepriesterinnen, es wären zwei schwarze Tauben aus dem ägyptischen Theben ausgeflogen und die eine nach Libyen, die andere zu ihnen gekommen. Die habe sich niedergesetzt auf eine Eiche und mit menschlicher Stimme geredet, hier solle ein Zeusorakel sein. Da hätten sie angenommen, daß es von der Gottheit ihnen entboten sei, und daraufhin eines gestiftet. Von der andern Taube, die nach Libyen zog, sagen sie, daß sie den Libyern befohlen habe, ein Ammonsorakel zu stiften. Dieses ist auch dem Zeus geheiligt. So sagten die Priesterinnen zu Dodona, von denen die älteste Promeneia hieß, die nach ihr Timarete und die jüngste Nikandra. Damit stimmten auch die andern Dodonäer überein, die bei dem Heiligtum sind.

56. Ich aber habe über sie folgende Meinung. Wenn die Phönizier wirklich die heiligen Frauen fortgeführt und die eine von ihnen nach Libyen, die andere nach Hellas verkauft haben, so glaube ich, daß diese Frau im jetzigen Hellas, oder, wie es früher genannt ward, in Pelasgia, an die Thesproter verkauft wurde und dann ebendort in der Knechtschaft unter einem Eichbaum ein Zeusheiligtum gestiftet hat. Es war nur natürlich, daß eine Dienerin des Zeus vom Heiligtum zu Theben auch da, wohin sie kam, seiner eingedenk blieb. So hat sie hernach ein Orakel eingeführt, sobald sie die hellenische Sprache verstand. Auch wird sie ausgesagt haben, ihre Schwester sei in Libyen von ebenden Phöniziern verkauft worden, von denen sie selbst verkauft ward.

57. Tauben aber sind die Frauen, wie ich glaube, deshalb von den Dodonäern genannt worden, weil sie fremd waren und ihre Sprache ihnen vorkam wie die von Vögeln. Nach einiger Zeit redete dann die Taube mit menschlicher Stimme, wie sie sagen, da ihnen bereits die Rede der Frau verständlich war; nur solange sie noch die fremde Mundart hatte, kam ihnen ihre Sprache vogelartig vor. Denn auf welche Art hätte doch eine Taube mit menschlicher Stimme gesprochen? Mit der schwarzen Farbe dieser Taube zeigen sie an, daß die Frau aus Ägypten war. Auch stimmt die Weissagung, wie sie im ägyptischen Theben und in Dodona ist, so ziemlich überein. Ferner ist aus Ägypten auch die Wahrsagung aus Opfertieren gekommen.

58. Ja auch Festversammlungen und Aufzüge und Heranführen der Opfertiere sind zuerst unter allen Menschen bei den Ägyptern angestellt worden, und von ihnen haben es die Hellenen gelernt. Davon ist mir das ein Beweis, daß sie dort offenbar schon seit langer Zeit im Gebrauche sind, bei den Hellenen aber erst neuerdings.

59. Nun halten die Ägypter nicht bloß einmal im Jahre, sondern häufig Festversammlungen, vornehmlich und am eifrigsten in der Stadt Bubastis zu Ehren der Artemis, sodann in der Stadt Busiris zu Ehren der Isis; denn eben in dieser Stadt ist das höchste Heiligtum der Isis, und die Stadt liegt mitten im Delta von Ägypten. Isis ist nach der hellenischen Sprache Demeter. Drittens halten sie in der Stadt Saïs der Athene eine Festversammlung, viertens in Heliopolis dem Helios, fünftens in der Stadt Buto der Leto, sechstens in der Stadt Papremis dem Ares.

[Anmerkung:] 59. In Bubastis wurde die ägyptische Löwengöttin Pecht oder Pacht verehrt. Ihr war die Katze heilig. Isis setzt Herodot als Fruchtbarkeitsgöttin der Demeter, der Göttin des Ackerbaues, gleich. Athene ist Neith, die als Kampfgöttin dargestellt wird. Der ägyptische Sonnengott Re entspricht dem griechischen Helios. Leto ist die Mutter des Lichtgottes Apollo; daher erhält ihren Namen die Geiergöttin Mut, deren Sohn der in Theben mit Amun verschmolzene Re ist. Seth, der Mörder des Osiris, empfängt von Herodot den Namen des Kriegsgottes Ares.

 

60. Wenn sie nun nach Bubastis fahren, machen sie es, wie folgt. Es fahren Männer und Weiber zusammen, und es ist eine große Menge von beiden auf jeglichem Floß. Da haben die einen Weiber Klappern in den Händen und klappern, andere flöten die ganze Fahrt hindurch, die übrigen Weiber und Männer singen und klatschen in die Hände. Sooft sie aber auf der Wasserfahrt wieder an eine Stadt kommen, nähern sie das Floß dem Lande und tun folgendes. Die einen Weiber nämlich tun, was ich schon bemerkt habe, die andern verhöhnen mit Geschrei die Weiber in derselben Stadt, andere tanzen, und noch andere stehen auf und entblößen sich. So machen sie es an allen Städten, die längs dem Flusse liegen. Wenn sie dann in Bubastis anlangen, feiern sie das Fest mit großen Opferungen, und es geht mehr Rebenwein bei diesem Fest auf als im ganzen übrigen Jahr zusammen. Dabei kommen denn, was Mann und Weib ist außer den Kindern, an die siebenhunderttausend zusammen, wie die Eingebornen sagen. Das ist es also, was sie da tun.

61. Wie sie in der Stadt Busiris das Fest der Isis feiern, ist von mir zuvor schon geschildert worden. Es schlagen nämlich nach der Opferung sich alle, Männer und Weiber, viele tausend Menschen. Doch den, um deswillen sie sich schlagen, zu nennen, ist mir nicht erlaubt. Sämtliche Karer aber, die in Ägypten wohnhaft sind, tun noch so viel darüber hinaus, daß sie sich mit Messern die Stirn zerschneiden, und dadurch geben sie zu erkennen, daß sie Fremdlinge sind und keine Ägypter.

[Anmerkung:] 61. Sie trauern um den getöteten Osiris, sobald die Sonne in das Sternbild des Skorpions eingetreten ist und ihre belebende Kraft verloren hat. Darauf folgt das Fest des wieder erstandenen Osiris, das im nächsten Kapitel geschildert wird. Die dort erwähnte heilige Sage ist der Sternenmythus vom getöteten und wieder auferstandenen Gotte. Er beherrscht in verschiedenen Formen ganz Vorderasien und Ägypten (s. zu Kapitel 79, Linoslied).

 

62. Sooft sie aber in Saïs sich zu den Opferfesten zusammenfinden, brennen alle in einer Nacht viele Lampen unter freiem Himmel rings um die Häuser her. Diese Lampen sind Schalen voll Salz und Öl, oben darauf befindet sich der Lampendocht. Der brennt denn die ganze Nacht, und so ist auch der eigentliche Name des Festes »brennende Lampen«. Selbst die Ägypter, die gerade nicht zu dieser Festesversammlung kommen, beobachten die Nacht der Opferung und lassen alle auch ihre Lampen leuchten, so daß nicht nur Saïs, sondern ganz Ägypten beleuchtet ist. Weshalb aber dieser Nacht Licht und Ehre zugefallen sind, darüber gibt es eine heilige Sage.

63. Nach Heliopolis und Buto aber gehen sie nur, um Opfer darzubringen; in Papremis jedoch feiern sie Opfer mit heiligen Handlungen wie an den übrigen Orten. Aber um die Zeit, wenn die Sonne sich neigt, sind nur einige Priester um das Bild herum beschäftigt; die meisten von ihnen stehen mit hölzernen Keulen am Eingang, und andere, die ein Gelübde erfüllen wollen, über tausend Männer, stehen auch sämtlich mit Holzprügeln ihnen gegenüber auf einem Haufen. Nun führen sie das Bild, in einem kleinen hölzernen und vergoldeten Tempel, am Vorabend heraus in ein anderes heiliges Gebäude. Da ziehen denn die wenigen, die bei dem Bilde zurückbleiben, einen vierrädrigen Wagen, auf dem der Tempel steht mit dem Bilde, das er einschließt. Die andern aber, die in den Vorhallen stehen, lassen sie nicht herein; allein die Gelübdepflichtigen, die dem Gott beistehen, schlagen auf sie los, die sich ihrerseits wehren. Da gibt es nun eine hitzige Prügelschlacht, in der sie sich gegenseitig die Köpfe zerschlagen, so daß, wie ich glaube, wohl auch viele an den Wunden sterben. Freilich behaupten die Ägypter selbst, es sterbe kein einziger.

64. Die Eingebornen behaupten, sie hätten dieses Fest aus folgendem Grunde eingeführt: in diesem Heiligtum wohne die Mutter des Ares. Nun sei Ares auswärts erzogen worden und, als er zum Manne gereift war, hergekommen, um mit seiner Mutter Umgang zu haben; die Diener seiner Mutter aber ließen ihn, weil er ihnen noch nie zu Gesicht gekommen war, nicht ruhig herein, sondern hielten ihn zurück. Darauf holte er aus einer andern Stadt Leute herbei, spielte den Dienern übel mit und ging hinein zu seiner Mutter. Daher, behaupten sie, hätten sie zu Ehren des Ares diese Schlägerei bei seinem Feste eingeführt.

Daß man nicht in einem Heiligtum mit Weibern sich vermische oder ungewaschen von den Weibern her in ein Heiligtum komme, diese Pflicht haben sie zuerst eingehalten. Denn fast alle andern Menschen, außer den Ägyptern und den Hellenen, begatten sich in den Heiligtümern und gehen ungewaschen von den Weibern weg ins Heiligtum, in der Meinung, die Menschen seien wie die andern Tiere, weil sie ja auch die andern Tiere und die Vogelbrut sich in den Tempeln der Götter und in ihren Hainen begatten sähen. Wäre nun dieses dem Gott nicht lieb, so würden es auch die Tiere nicht tun. Mit solcher Erklärung tun sie denn, was mir nicht wohlgefällt. Die Ägypter aber treiben es überhaupt gar weit in ihren heiligen Pflichten und so auch hierin.

65. Ägypten ist, obwohl es Libyens Nachbarland ist, eben nicht reich an Tieren; die aber, die dort vorkommen, sind sämtlich heilig; ein Teil von ihnen lebt unter den Menschen, der andere nicht. Wollte ich jedoch sagen, weswegen die heiligen Tiere geweiht sind, so würde mich das auf die göttlichen Dinge führen, die ich auszusagen mich sehr scheue. Was ich bereits davon berührt habe, darauf kam ich notgedrungen zu sprechen. Ihr Brauch ist aber bei den Tieren folgender: Zur besonderen Pflege jedes derselben sind Wärter aus den Ägyptern bestellt, männliche und weibliche: die Kinder erben das Ehrenamt von den Eltern. Nun leistet an sie in den Städten jedermann angelobte Gaben in der Form, daß er den Gott anruft, dem das Tier heilig ist, und seinen Kindern entweder den ganzen Kopf oder die Hälfte oder das Drittel des Kopfes abschert, dann die Haare gegen Silber abwägt und, was es wiegt, an die Wärterin der Tiere zahlt. Die schneidet dafür den Tieren Fische vor und gibt sie ihnen zu fressen. Ihre Pflege ist also auf diese Art festgesetzt. Wenn aber jemand ein solches Tier umbringt, so steht darauf, wenn es mit Willen geschieht, die Todesstrafe; geschieht es aber ohne seinen Willen, so leistet er die Buße, die von den Priestern festgesetzt wird. Wer aber jemals einen Ibis oder einen Habicht umbringt, sei es mit Willen, sei es ohne Willen, der muß ohne Gnade sterben.

66. So zahlreich nun auch die Tiere sind, die mit den Menschen zusammenleben, so würden ihrer doch noch viel mehr werden, wenn nicht über die Katzen folgendes käme. Sooft die Weibchen geworfen haben, gehen sie nicht mehr zu den Männchen; die aber trachten, sich mit ihnen zu mischen, und sind dazu nicht imstande. Da verfallen sie auf folgende List. Sie rauben und entwenden den Weibchen die Jungen und bringen sie um, ohne sie doch zu fressen. Wenn die Weibchen ihrer Jungen beraubt sind, verlangen sie nach neuen, und so gehen sie wieder zu den Männchen; denn dieses Tier liebt die Jungen sehr. Wenn aber eine Feuersbrunst entsteht, kommt über die Katzen ein von den Göttern verhängter Wahnsinn. Die Ägypter stehen nämlich als Wachen um die Katzen herum, ohne sich um die Löschung des Brandes zu kümmern; die Katzen aber entwischen den Menschen oder setzen über sie weg und springen ins Feuer. Geschieht dies, so kommt über die Ägypter große Trauer. Wo aber in einem Haus eine Katze von selbst stirbt, da scheren sich die Bewohner alle nur ihre Augenbrauen ab, die aber, bei denen ein Hund stirbt, scheren sich immer den ganzen Leib und den Kopf.

67. Die Katzen werden nach ihrem Tode in heilige Gemächer in der Stadt Bubastis geschafft, und da werden sie einbalsamiert begraben. Die Hunde aber begraben sie jeder in seiner Stadt in heiligen Grüften. Ebenso wie die Hunde werden die Ichneumons begraben. Die Spitzmäuse aber und die Habichte schaffen sie nach der Stadt Buto, die Ibisse nach Hermopolis. Die Bären, die indes selten sind, und die Wölfe, die nicht viel größer als Füchse sind, begraben sie da, wo sie dieselben liegend gefunden haben.

68. Das Krokodil hat folgende Natur. Die vier schlimmsten Wintermonate hindurch frißt es nichts. Es ist vierfüßig, und dabei ein Land- und Wassertier; denn es legt Eier und brütet sie aus; es hält sich den größten Teil des Tages auf dem Trocknen, die ganze Nacht aber im Flusse auf, weil das Wasser wärmer ist als die freie Luft und der Tau. Unter allen Tieren, von denen wir wissen, wird es aus dem kleinsten das größte. Die Eier nämlich, die es legt, sind nicht viel größer als Gänseeier, und das Junge entspricht dem Maß seines Eis; im Wachsen aber wird es gegen siebzehn Ellen lang und noch größer. Es hat Schweinsaugen und große Hauzähne nach dem Maß des Leibes. Es ist das einzige Tier, das keine Zunge hat; auch bewegt es die Unterkinnlade nicht, sondern ist zugleich das einzige Tier, das die obere Kinnlade zur untern herabdrückt. Auch hat es starke Klauen und eine schuppige Haut, die am Rücken undurchdringlich ist. Es ist blind im Wasser, im Freien aber sieht es sehr scharf. Von seinem Leben im Wasser hat es den ganzen Rachen immer voll Schnaken. Alle übrigen Vögel und Tiere fliehen es; aber mit dem Strandläufer lebt es in Frieden, weil er ihm einen Dienst erzeigt. Sooft nämlich das Krokodil aus dem Wasser an das Land gegangen ist und dann gähnt (dies ist es aber immer gewöhnt gegen den Westwind hin zu tun), so schlüpft alsbald der Strandläufer in seinen Rachen und verschluckt die Schnaken; über diesen Dienst freut es sich und tut dem Strandläufer kein Leid.

[Anmerkung:] 68. Das Krokodil hat eine Zunge, aber sie ist am Unterkiefer festgewachsen.

 

69. Einigen Ägyptern sind die Krokodile heilig, andern nicht, sondern sie behandeln dieselben als Feinde. Aber die um Theben, und die um den See Möris wohnen, die halten sie sehr heilig. Auch unterhalten sie an beiden Orten ein Krokodil für alle, das an die Hand gewöhnt ist; ihm hängen sie Geschenke aus Glasguß und Gold in die Ohren, und legen ihm Spangen um die Vorderfüße, bringen ihm vorgeschriebene Speisen und Opfertiere dar und balsamieren es nach einer herrlichen Pflege im Leben, wenn es gestorben ist, ein und setzen es in heiligen Grüften bei. Die aber, die um die Stadt Elephantine wohnen, essen sie selbst: so wenig halten sie dieselben für heilig. Sie werden indes nicht Krokodile genannt, sondern Champsa. Den Namen Krokodil haben nur die Ionier ihnen gegeben, indem sie ihre Gestalt mit der von den Eidechsen verglichen, die es bei ihnen in den Hecken gibt.

[Anmerkung:] 69. Der Gott Suchos, dem die Krokodile heilig waren, wurde selbst in Krokodilsgestalt dargestellt. Er wurde in Arsinoë verehrt, das die Griechen Krokodeilopolis nannten.

 

70. Die Jagd auf das Tier erfolgt in vielen Formen: die Art aber, die mir immer noch am meisten erzählenswert scheint, will ich jetzt beschreiben. Zunächst wirft man einen Schweinsrücken als Köder an einem Widerhaken mitten in den Fluß und hat dabei am Ufer des Flusses ein lebendiges Ferkel, das man schlägt. Vernimmt nun das Krokodil dessen Stimme, so geht es derselben nach; stößt es dann auf den Schweinsrücken, so verschluckt es ihn, und nun zieht man. Sobald es nun an das Land gezogen ist, so hat ihm der Jäger vor allen Dingen die Augen recht mit Lehm zu überschmieren; mit diesem Mittel bekommt er es ganz leicht vollends in seine Hand, ohne dieses Mittel aber nur mit Mühe.

71. Die Flußpferde aber sind nur im papremitischen Kreise und sonst nirgends in Ägypten heilig. Sie zeigen folgende natürliche Beschaffenheit: Es ist ein vierfüßiges Tier mit gespalteten Klauen, hat Ochsenhufe, eine Stumpfnase, Pferdemähne, hervorstehende Hauzähne, Pferdeschweif und Pferdestimme, eine Größe wie der größte Ochse, und seine Haut hat eine solche Dicke, daß, wenn sie ausgetrocknet ist, Lanzenschäfte daraus gemacht werden.

72. Ferner gibt es Fischottern in dem Fluß, die sie für heilig halten. Auch gilt ihnen unter allen Fischen der sogenannte Schuppenfisch für heilig und der Aal. Diese sind dem Nil heilig, wie sie behaupten, und von den Vögeln sind es die Fuchsgänse.

73. Auch ist noch ein anderer Vogel heilig, mit Namen Phönix, den ich indessen nicht in der Natur sah, sondern nur im Bildnis; er kommt nämlich gar selten und (wie die Heliopoliten sagen) in fünfhundert Jahren nur einmal zu ihnen, und zwar behaupten sie, er komme immer, wenn sein Vater gestorben ist. Er ist aber, wenn er dem Bildnis gleicht, von folgender Größe und Gestalt. Teils ist sein Gefieder goldfaserig, teils rot; am meisten ist er wohl dem Adler im Umriß und in der Größe zu vergleichen. Von diesem sagen sie nun, daß er folgendes anstelle, was sie mich nicht glauben machen. Aus Arabien her trage er seinen Vater, in Myrrhen eingemacht, in das Heiligtum des Helios, und begrabe ihn auch im Heiligtum des Helios. Er trage ihn aber so: zuerst mache er aus Weihrauch ein Ei, so groß er es zu tragen vermag; hernach erprobe er das Gewicht desselben, und habe er es erprobt, so höhle er erst das Ei aus, um den Vater hineinzulegen, und dann verschließe er mit frischem Weihrauch die Höhlung, in die er den Vater gelegt habe; so komme, wenn der Vater darin liege, wieder die nämliche Schwere heraus. In dieser Hülle trage er ihn nach Ägypten in das Helios-Heiligtum. So, sagen sie, mache es dieser Vogel.

[Anmerkung:] 73. Der Phönix, der nur alle fünfhundert Jahre einmal erscheint, ist das Symbol einer Sonnenperiode, das Bild der sich immer wieder verjüngenden Sonne und der Auferstehung überhaupt. Auf den ägyptischen Denkmälern wird er anfangs als Bachstelze, später als Reiher dargestellt.

 

74. Noch sind in der Gegend von Theben heilige Schlangen, die den Menschen durchaus nicht gefährlich sind und, bei unbedeutender Größe, zwei Hörner tragen, die oben am Kopf angewachsen sind. Diese begraben sie, wenn sie gestorben sind, im Heiligtum des Zeus, indem sie behaupten, diesem Gott seien dieselben geheiligt.

[Anmerkung:] 74. Die Hornviper ist eine Giftschlange mit hornartig hervortretenden Teilen des Oberkiefers. Herodot hielt sie für ungefährlich, weil die Verehrer mit ihr umzugehen wußten.

 

75. Auch ist ein Stück Landes in Arabien, ziemlich nach der Stadt Buto hin gelegen; in diese Gegend ging ich, um mich über die geflügelten Schlangen zu unterrichten. Daselbst sah ich Knochen und Rückgrate von Schlangen in unbeschreiblicher Menge. Da waren nämlich Haufen von Rückgraten, große und geringere und wieder noch kleinere, und deren waren gar viele. Diese Gegend aber, in der die Rückgrate aufgeschüttet sind, ist also beschaffen: Es ist eine Mündung aus Gebirgsengen in eine große Ebene, die mit der Ebene von Ägypten zusammenhängt. Nun heißt es, daß mit dem Frühling die geflügelten Schlangen aus Arabien nach Ägypten fliegen, die Ibisvögel aber ihnen entgegenkommen an die Mündung dieses Landes und sie nicht einlassen, sondern umbringen. Um dieser Tat willen, sagen die Araber, stehe denn auch der Ibis bei den Ägyptern in hohen Ehren, und die Ägypter bestätigen selbst, daß sie deshalb diese Vögel verehren.

[Anmerkung:] 75. Der Ägyptologe Heinrich Karl Brugsch (1827-1894) vermutet, daß unter den geflügelten Schlangen die häufig in Ägypten einbrechenden Heuschreckenschwärme zu verstehen sind.

 

76. Der Ibis aber hat folgendes Aussehen. Er ist ganz und gar schwarz, hat Kranichbeine, ein Gesicht mit einem rechten Krummschnabel, eine Größe wie der Krex. Die schwarzen, die Feinde der Schlangen, haben diese Art; die aber, die mehr den Menschen unter den Füßen herumlaufen (es gibt nämlich zweierlei Ibisse) – diese Art ist kahl am Kopf und am ganzen Hals; hat weißes Gefieder, ausgenommen Kopf und Nacken und die Flügelspitzen und die Spitze des Hinterteils: alles Genannte ist ganz schwarz. An den Beinen, wie im Gesicht, ist sie der andern Art ähnlich. Jene Schlange aber hat eine Gestalt wie die Wasserschlangen. Sie trägt aber keinen gefiederten Fittich, sondern hat in den Flügeln am meisten Ähnlichkeit mit der Fledermaus. So viel mag über die heiligen Tiere bemerkt sein!

[Anmerkung:] 76. Krex heißt bei den Griechen jeder Vogel mit spitzigem, sägeförmigem Schnabel. Der Ibis kommt mit der Nilüberschwemmung, gilt als ihr Symbol und ist dem Gotte Thoth heilig, der oft mit einem Ibiskopfe dargestellt wird.

 

77. Bei den Ägyptern selbst pflegen die, welche im Saatland wohnen, unter allen Menschen am meisten die Erinnerung und sind daher bei weitem die größten Geschichtskundigen, die ich kennengelernt habe. Folgendes aber ist ihre gebräuchliche Lebensweise. Sie gebrauchen in jedem Monat drei Tage hintereinander Abführmittel, indem sie mit Brechmitteln und Klistieren auf die Gesundheit hinarbeiten, in dem Glauben, von den Nahrungsmitteln entständen alle Krankheiten der Menschen. Nun sind auch an sich schon die Ägypter nach den Libyern die gesündesten unter allen Menschen, was, wie ich meine, an den Jahreszeiten liegt, weil die Jahreszeiten sich nicht verändern. Denn beim Wechsel überhaupt entstehen besonders die Krankheiten der Menschen, darunter besonders bei dem der Jahreszeiten. Sie essen Brot und machen aus Dinkel ihr Brot, das sie Kyllestis nennen. Der Wein, der bei ihnen gebräuchlich ist, wird aus Gerste gemacht; denn Reben gibt es in ihrem Lande nicht. Von den Fischen dörren sie die einen an der Sonne und genießen sie roh, die andern eingesalzen in Salzwasser. Von den Vögeln genießen sie die Wachteln, die Enten und das kleine Geflügel roh, nur daß sie es zuvor einsalzen. Was es sonst noch an Vögeln oder Fischen bei ihnen gibt, mit Ausschluß derjenigen, die bei ihnen für heilig erklärt sind, die genießen sie alle gebraten und gekocht.

78. In ihren Gesellschaften bei den Reichen trägt einer nach dem Essen immer einen aus Holz verfertigten Toten im Sarge herum. Dieser ist in Malerei und Arbeit so gut wie möglich abgebildet, im ganzen eine oder zwei Ellen groß. Der Träger zeigt ihn jedem Gast und sagt: »Sieh auf diesen, und so trink und sei fröhlich; denn ein solcher wirst du nach deinem Tode sein.« So verfahren sie bei den Gastmählern.

79. Sie halten sich an die Bräuche ihrer Väter, ohne jemals fremde dazu aufzunehmen. Unter andern merkwürdigen Weisen haben sie auch ein Lied, denselben Linos, der in Phönizien gesungen wird, in Zypern und an andern Orten, und der zwar bei verschiedenen Völkern verschiedene Namen hat, aber ganz der nämliche ist, den die Hellenen unter dem Namen Linos singen. Daher mich denn, wie so vieles andere in Ägypten, besonders das wundernimmt, woher sie den Linos haben; aber sie sangen ihn offenbar jederzeit. Auf ägyptisch heißt aber der Linos Maneros. Von ihm behaupten die Ägypter, daß er des ersten Königs von Ägypten einziger Sohn gewesen und nach seinem frühzeitigen Tode mit diesen Klageliedern von den Ägyptern geehrt worden sei. Auch sei diese Melodie ihre erste und einzige gewesen.

[Anmerkung:] 79. Das Linoslied ist die Adonisklage. Adonis (vom semitischen Adonai = Herr) ist der Liebling der Göttin Aphrodite, der von einem Eber auf der Jagd getötet wird, aber zeitweilig aus der Unterwelt zu ihr wieder auf die Erde zurückkehren darf. Da es sich auch hier um einen Vegetationskult handelt, um eine Feier des hinsterbenden und wiederkehrenden Frühlings, treten die Adonislieder bei den verschiedenen vorderasiatischen Völkern, in Syrien, Phönizien, Zypern, auf. Aus dem semitischen Klagerufe »ai lenu« (wehe uns) entstand der griechische Name Linos, aus dem ägyptischen mââ-ne-hra (kehre wieder) der Name Maneros. Der getötete und auferstehende Gott heißt in Ägypten Osiris.

 

80. Auch darin treffen die Ägypter mit den Lazedämoniern allein unter den Hellenen zusammen: wenn die Jüngern unter ihnen den Ältern begegnen, gehen sie ihnen aus dem Weg und weichen; stehen auch vor ihnen, wenn sie herankommen, vom Sitze auf. Jedoch darin treffen sie mit gar keinen der andern Hellenen zusammen, daß sie, anstatt einander auf der Straße zu begrüßen, ihre Huldigung bezeugen, indem sie die Hand bis zum Knie herabsenken.

81. Sie tragen Röcke von Leinen, die an den Beinen Troddeln haben, und nennen sie Kalasiris, und darüber tragen sie weiße wollene Gewänder als Überwurf. Keiner jedoch geht mit wollenem Anzug in den Tempel, noch auch wird einer damit begraben; denn das wäre Sünde. Dies stimmt mit dem sogenannten orphischen und bacchischen, eigentlich aber ägyptischen und pythagoreischen Geheimdienst überein. Denn auch den in diese Mysterien Eingeweihten gilt es für eine Sünde, in wollenen Gewändern begraben zu werden. Darüber gibt es eine heilige Sage.

82. Auch ist folgendes Erfindung der Ägypter: welchem Gott jeder Monat und Tag heilig ist; welches Schicksal einer je nach dem Tage seiner Geburt erfahren, wie er endigen und was er nachher sein wird. Dessen haben sich auch die Hellenen, die als Dichter aufgetreten sind, bedient. Dazu haben sie mehr Wunderzeichen aufgefunden als die übrigen Menschen zusammen. Wenn nämlich ein Zeichen geschehen ist, legen sie schriftlich nieder, was darauf erfolgte, und wenn nun hernachmals etwas dem Ähnliches geschieht, glauben sie, es werde ebenso ausgehen.

[Anmerkung:] 82. Die als Dichter aufgetreten sind: Gemeint ist Hesiod, der Verfasser der »Werke und Tage« (um 770 v. Chr.).

 

83. Mit der Weissagekunst aber steht es bei ihnen, wie folgt. Von den Menschen steht diese Kunst keinem zu, von den Göttern nur einigen. So gibt es daselbst ein Orakel des Herakles, des Apollo, der Athene, der Artemis, des Ares, des Zeus, und das Orakel, das sie unter allen am höchsten in Ehren halten, das ist das der Leto in der Stadt Buto. Indessen sind die Weissagungen selbst bei ihnen nicht auf eine Art bestellt, sondern verschieden.

[Anmerkung:] 83. In Buto, dessen ägyptischer Name Per Udjojet (Haus der Udjojet) lautet, wurde die Schlangengöttin Udjojet oder Uto, in der die Griechen ihre Leto wiederfanden, verehrt.

 

84. Die Heilkunst ferner haben sie folgendermaßen eingeteilt. Jeder Arzt ist für eine Krankheit da und nicht für mehrere; da ist nun alles voll von Ärzten. Nämlich die einen Ärzte sind für die Augen da, andere für den Kopf, andere für die Zähne, andere für die Krankheiten des Unterleibs, andere für die unsichtbaren.

85. Die Klage und Totenbestattung bei ihnen ist folgende. Immer wenn ein Mensch aus einem Hause verscheidet, der für dasselbe von einiger Bedeutung war, beschmiert sich sofort die ganze weibliche Bewohnerschaft des Hauses den Kopf mit Kot, wohl auch das Angesicht. Alsdann lassen sie den Toten im Hause; sie selbst aber schweifen in der Stadt umher und schlagen sich, wobei sie aufgeschürzt sind und die Brüste sehen lassen: mit ihnen tun das alle weiblichen Angehörigen. Andererseits schlagen sich auch die Männer, gleichfalls aufgeschürzt. Wenn sie das getan haben, bringen sie ihn erst zum Einbalsamieren.

86. Dazu sind eigene Leute ansässig, deren Kunst dieses ist. Bringt man zu diesen einen Toten, so zeigen sie Muster von Toten, in Malerei auf Holz nachgemacht; wobei sie die eine Art für die köstlichste erklären (mit einem Namen, den ich nicht für erlaubt halte bei einer solchen Sache zu nennen); und eine zweite zeigen, die geringer und wohlfeiler, und eine dritte, die am wohlfeilsten ist. Nach dieser Angabe lassen sie sich von den Leuten sagen, auf welche Art sie ihren Toten zubereiten lassen wollen. Diese gehen, wenn die Einigung über den Lohn erfolgt ist, wieder fort: jene bleiben in ihrer Wohnung und balsamieren auf die köstlichste Art so: Zuerst ziehen sie das Gehirn mit einem krummen Eisen durch die Nasenlöcher aus; einen Teil so, den andern durch Einschütten künstlicher Mittel; darauf machen sie mit einem scharfen äthiopischen Steine einen Einschnitt an der Weiche und nehmen sofort die ganze Bauchhöhle aus. Haben sie diese gereinigt und mit Palmwein ausgespült, so reinigen sie dieselbe nochmals mit geriebenen Spezereien. Alsdann füllen sie noch den Bauch mit reinen geriebenen Myrrhen, mit Kasia und den sonstigen Räucherwerken, außer Weihrauch, und nähen ihn wieder zu. Haben sie dies getan, so legen sie ihn in Natron und verwahren ihn siebzig Tage; länger dürfen sie ihn nicht einlegen. Sind nun die siebzig Tage vorüber, so waschen sie den Toten und umwickeln den ganzen Leib mit Bändern, die aus Linnenzeug von Byssos geschnitten sind; streichen auch Gummi darunter, dessen sich überhaupt die Ägypter gewöhnlich statt des Leims bedienen. Sodann nehmen ihn die Angehörigen in Empfang, lassen sich das hölzerne Abbild eines Menschen verfertigen, in das sie, wenn es fertig ist, den Toten legen, und bewahren ihn, so eingeschlossen, in einem Grabgemach, in dem sie ihn aufrecht an die Wand stellen. So verfahren sie mit denen, welche die kostbarste Leichenbereitung verlangen.

[Anmerkung:] 86. Der Name, den Herodot nicht nennen will, ist der des Gottes Osiris.

 

87. Die aber, die das Mittlere wählen und das Kostbare scheuen, bereiten sie, wie folgt. Sie füllen erst Klistierspritzen mit dem Öl, das die Zedern geben, und damit füllen sie sofort die Bauchhöhle des Toten an, ohne ihn aufzuschneiden oder den Magen herauszunehmen, sondern, nachdem sie das Klistier durchs Gesäß eingeflößt und am Rückweg verhindert haben, legen sie ihn die bestimmten Tage ein und lassen am letzten das Zedernöl aus, das sie zuvor hineinließen. Dieses hat solche Kraft, daß es zugleich mit sich den Magen und die Eingeweide aufgelöst herausspült, während das Fleisch vom Natron aufgelöst wird, so daß von dem Toten nur noch Haut und Knochen übrigbleiben. Wenn das getan ist, geben sie so den Toten wieder ab, ohne daß sie sonst etwas zu schaffen hätten.

88. Die dritte Einbalsamierung endlich ist folgende, womit sie die weniger Bemittelten zubereiten. Sie spülen die Bauchhöhle mit Reinigungssaft aus, legen ihn die siebzig Tage ein, und alsdann geben sie ihn wieder ab zum Forttragen.

89. Aber die Weiber von angesehenen Männern geben sie nicht sogleich nach ihrem Ende zum Einbalsamieren, auch nicht Weiber, die sehr schön und mehr von Bedeutung sind; sondern sie lassen sie immer drei oder vier Tage liegen und übergeben sie dann erst den Balsamierern. Das machen sie deswegen so, damit die Balsamierer sich nicht etwa mit den Weibern vermischen möchten. Sie hätten nämlich, versichern sie, den Fall gehabt, daß sich einer mit der frischen Leiche eines Weibes vermischte, was sein Zunftgenosse angegeben habe.

90. Wenn aber in Ägypten einer von ihnen selbst, oder, was keinen Unterschied macht, ein Fremder gefunden wird, den ein Krokodil geraubt oder der Strom selbst ums Leben gebracht hat, so müssen ihn unerläßlich immer diejenigen, an deren Stadt er ausgeworfen wird, einbalsamieren, aufs schönste ausschmücken und in heiligen Grüften begraben. Ja, es darf ihn sonst niemand anrühren, nicht einmal ein Angehöriger oder Freund, nur die Priester des Niles selbst, die ihn, weil er mehr sei als eine bloße Menschenleiche, eigenhändig begraben.

91. Von hellenischen Gebräuchen wollen sie nichts wissen und, um es gleich kurz zu sagen, überhaupt nichts von Gebräuchen irgendwelcher anderen Menschen. Das beobachten denn so die Ägypter alle. Chemmis aber, eine große Stadt des thebanischen Kreises, liegt nahe bei Neapolis, und in dieser Stadt ist ein viereckiges Heiligtum des Perseus, Sohnes der Danaë; rings um dasselbe stehen Palmbäume, und die Vorhalle des Heiligtums ist von Stein, sehr groß, und am Eingange derselben stehen zwei große Bildsäulen von Stein. In dieser Umgrenzung steht der Tempel, und in ihm ein Bild des Perseus. Die Chemmiten dort sagen, Perseus werde oft in ihrem Lande und oft innerhalb des Heiligtums gesehen; auch finde sich ein getragener Schuh von seinem Fuße, in der Größe von zwei Ellen, und sooft dieser gesehen werde, komme Segen über ganz Ägypten. Das sagen sie; was sie aber dem Perseus Hellenisches veranstalten, ist, daß sie ihm ein Kampfspiel in allen Kampfarten feiern, wozu sie als Preise Vieh, Mäntel und Häute aussetzen. Auf meine Frage, warum ihnen allein Perseus zu erscheinen pflege, und warum sie von den übrigen Ägyptern sich unterschieden durch die Feier eines Kampfspieles, erklärten sie, Perseus stamme aus ihrer Stadt. Denn Danaos und Lynkeus seien aus Chemmis, und von da seien sie nach Hellas gefahren. Von diesen führten sie nun das Geschlecht der Reihe nach herab bis auf Perseus. Er sei nach Ägypten gekommen, wofür sie dieselbe Ursache angeben wie die Hellenen: um nämlich das Haupt der Gorgo aus Libyen zu holen; und da sei er auch zu ihnen gegangen und habe alle seine Stammverwandten erkannt, wie er denn schon bekannt mit dem Namen der Stadt Chemmis nach Ägypten gekommen sei, durch seine Mutter davon unterrichtet. Daß sie ihm ein Kampfspiel begingen, geschehe auf sein eigenes Geheiß.

[Anmerkung:] 91. Perseus ist der Sohn der Danaë, der Tochter des Akrisios. Der Stammbaum führt weiter über Abas und Hypermnestra zu Danaos, dem Bruder des Ägyptos.

 

92. Alles das haben die oberhalb des Marschlandes wohnenden Ägypter im Brauch. Im Marschlande selbst aber haben die Einwohner dieselben Gebräuche wie die andern Ägypter; unter andern auch darin, daß jeder nur mit einem Weibe haust, gleichwie die Hellenen. Übrigens haben sie zur Wohlfeilheit der Lebensmittel auch folgendes erfunden. Jedesmal, wenn der Fluß anschwillt und die Felder unter Wasser setzt, wachsen im Wasser viele Lilien, welche die Ägypter Lotos nennen; diese pflücken sie, dörren sie an der Sonne, zerschroten alsdann das mohnähnliche Ding, das mitten im Lotos steckt, und bereiten daraus Brot, im Feuer gebacken. Auch ist die Wurzel dieses Lotos eßbar und mundet nicht übel, ist rundlich und von der Größe eines Apfels. Auch haben sie noch andere rosenähnliche Lilien, die gleichfalls im Flusse vorkommen, und deren Frucht in einem andern beigewachsenen Stengel von der Wurzel herauskommt, fast ganz einer Wespenwabe an Gestalt vergleichbar. Darin stecken eßbare Körner, so groß wie ein Ölkern, in Menge, die sowohl frisch als gedörrt gegessen werden. Den Byblos ferner, der alljährlich wächst, reißen sie aus dem Marschboden aus und schneiden dann das Obere ab, um es sonst zu verwenden; was aber unten noch bleibt, etwa eine Elle lang, das essen und verkaufen sie. Wer sich aber den Byblos besonders schmackhaft zubereiten will, der schmort denselben in einer heißen Bratpfanne und ißt ihn so. Andere, die dort allein von Fischen leben, fangen dieselben und nehmen die Eingeweide heraus, dörren die Fische dann an der Sonne und speisen sie nun gedörrt.

93. Die Zugfische finden sich selten in den Flüssen, leben vielmehr in den Seen und machen es, wie folgt. Sooft sie der Trieb zur Befruchtung ankommt, schwimmen sie scharenweise hinaus ins Meer. Dabei gehen die Männchen voran und lassen Samen fahren, die Weibchen aber schnappen ihn hinter ihnen auf und werden davon befruchtet. Haben sie sich nun im Meere befriedigt, so schwimmen sie wieder zurück, ein jeder an seinen gewohnten Aufenthaltsort. Nur gehen jetzt nicht mehr die männlichen voran, sondern die Führung kommt an die Weibchen. Indem aber diese scharenweise voranschwimmen, machen sie es ebenso, wie es die Männchen machten: nämlich sie lassen Eier fahren, jedesmal nur einige Körner, die nun die Männchen hinter ihnen verschlucken. Diese Körner sind aber Fische, und aus den übrigen Körnern, die nicht verschluckt werden, entsteht der jedesmalige Nachwuchs der Fische. Wenn man aber welche von ihnen fängt, während sie ins Meer hinausschwimmen, so sieht man immer, daß sie links am Kopfe aufgerieben sind; schwimmen sie hingegen wieder zurück, so sind sie rechts aufgerieben. Das bekommen sie davon: sie halten sich links am Lande, wenn sie ins Meer hinabschwimmen, und wenn sie wieder zurückschwimmen, halten sie sich an dieselbe Seite, drängen sich fest und streifen so sehr wie möglich daran hin, um ja nicht wegen der Strömung den Weg zu verfehlen. Wenn der Nil anfängt anzuschwellen, fangen jedesmal zuerst die Erdlöcher und die Pfuhle längs dem Fluß an, sich zu füllen, indem das Wasser aus dem Flusse hineinläuft, und sobald diese voll sind, so füllen sich auf einmal alle mit kleinen Fischen an. Woher aber diese wahrscheinlich kommen, das glaube ich so zu erkennen. Wenn nämlich im Jahre vorher der Nil abnimmt, legen die Fische Eier in den Schlamm und weichen mit dem letzten Gewässer zurück; tritt nun das Wasser mit dem Verlaufe der Zeit wieder ein, so kommen auch die Fische alsbald aus den Eiern hervor. So verhält es sich mit den Fischen.

94. Ihr Öl nehmen die Ägypter im Marschland von der Frucht der Sillikyprien, welche die Ägypter Kiki nennen, und das machen sie so: Längs den Ufern der Flüsse und Seen pflanzen sie diese Sillikyprien, die bei den Hellenen von selbst wild wachsen. Die werden also in Ägypten gepflanzt und tragen in Menge Frucht, die aber übel riecht. Haben sie diese eingesammelt, so stampfen sie die einen und pressen sie dann aus; andere rösten sie und kochen sie dann aus, und was davon abfließt, sammeln sie. Dies ist fett und nicht weniger für die Lampe geeignet als Baumöl; nur macht es einen schweren Dampf.

95. Gegen die Mücken, deren es ungeheuer viele gibt, treffen sie folgende Anstalten: Denen, die hinter dem Marschlande wohnen, helfen ihre Türme, in denen sie sich oben schlafen legen, weil die Mücken der Winde wegen nicht imstande sind, hoch zu fliegen. Die Einwohner vom Marschland aber haben anstatt der Türme folgendes andere Hilfsmittel: Bei ihnen besitzt jedermann ein Netz, mit dem er bei Tage auf den Fischfang geht; bei Nacht aber bedient er sich desselben dazu, daß er um das Bett her, in dem er ausruht, dieses Netz aufstellt, alsdann hineinschlüpft und darunter schläft. Wenn er nämlich in einen Rock oder ein Linnentuch eingewickelt schliefe, würden die Mücken hindurchstechen; beim Netze aber versuchen sie es nicht einmal.

96. Die Fahrzeuge, auf denen sie ihre Lasten fortschaffen, sind aus einem Dornbaum gemacht, dessen Gestalt dem kyrenaiischen Lotos sehr ähnlich und dessen Harz Gummi ist. Aus diesem Dorn hauen sie die Balken von der Länge zweier Ellen, schichten sie dann wie Ziegel aneinander und bauen das Schiff auf folgende Art: Um dichte und lange Pflöcke befestigen sie die zwei Ellen langen Balken; und haben sie auf diese Art das Schiff gebaut, so legen sie Querbalken darüber her. Dazu nehmen sie gar keine Rippen, stopfen aber inwendig die Fugen mit Byblos aus; machen dann ein Steuer, und das wird durch den Schiffsboden durchgetrieben; zum Mast aber nehmen sie einen Dornbaum, und zu den Segeln Byblos. Diese Fahrzeuge können nicht den Fluß hinaufsteuern, wenn nicht ein tüchtiger Wind geht, sondern werden vom Land aus gezogen; aber den Strom hinunter fährt man so mit ihnen: Da ist eine viereckige Platte, vom Tamariskenstrauch gemacht, mit einer Hürde von Rohr zusammengeflochten, und ein Stein mit einem Loch, ungefähr zwei Talente im Gewicht. Man läßt nun die Platte, an ein Tau gebunden, vor dem Schiff hintreiben, den Stein an einem andern Tau hinten. So geht dann die Platte, indem die Strömung sie erfaßt, geschwind vorwärts und zieht die Baris nach (das ist nämlich der Name dieser Fahrzeuge); der Stein aber, der hinten nachgezogen wird und auf dem Grunde ist, erhält der Fahrt die Richtung. Und solcher Fahrzeuge haben sie eine große Menge, und einige von ihnen tragen viele tausend Talente.

97. Sooft der Nil über das Land austritt, sieht man nur die Städte hervorragen, die fast ganz aussehen wie die Inseln im Ägäischen Meer. Denn das ganze übrige Ägypten ist ein Meer; nur die Städte allein ragen hervor. Da machen sie denn, sooft dies eingetreten ist, ihre Hin- und Herfahrten nicht mehr in dem Strombett des Flusses, sondern querfeldein. So geht bei der Fahrt nach Memphis von Naukratis dann der Weg gerade an den Pyramiden vorbei; das ist aber nicht der gewöhnliche Weg, sondern der führt an der Spitze des Delta und an der Stadt Kerkasoros vorüber. Wer aber nach Naukratis vom Meere und von Kanobos her feldein fährt, kommt zur Stadt Anthylla und zu der nach Archandros genannten Stadt.

98. Davon ist die erste, Anthylla, eine namhafte Stadt, bloß zum Schuhgeld ausgesetzt für die Frau des jeweiligen Königs von Ägypten. Das geschieht, seit Ägypten unter persischer Herrschaft steht. Die andere Stadt scheint mir ihren Namen vom Eidam des Danaos zu haben, von Archandros, Phthios' Sohn, eines Sohnes von Achaios; heißt sie ja doch Archandropolis. Wohl kann es auch ein anderer Archandros sein; indessen ist der Name wenigstens nicht ägyptisch.

99. Bisher sprach ich als Augenzeuge, nach eigener Meinung und Forschung; nunmehr aber gedenke ich, die ägyptischen Geschichten anzugeben, wie ich sie gehört habe. Doch wird darunter auch manches aus eigener Anschauung kommen.

Menes, der erste König von Ägypten, hat, sagten die Priester, auch Memphis abgedämmt. Der Fluß sei nämlich ganz längs dem sandigen Gebirge gegen Libyen hin gelaufen, und nun habe Menes hundert Stadien oberhalb von Memphis seinen mittäglichen Arm zugedämmt und so das alte Strombett ausgetrocknet, den Fluß aber in einem Rinngraben zwischen den Gebirgen durchgeleitet. Auch jetzt noch wird von den Persern dieser Arm des Nils, dessen Lauf vom Damm begrenzt ist, unter großer Obhut gehalten, indem sie alljährlich den Damm instand setzen; denn wenn der Fluß da durchbrechen und übertreten sollte, so läuft ganz Memphis Gefahr, überschwemmt zu werden. Nachdem so dieser erste König, Menes, das vom Damm begrenzte Stück zum festen Lande gemacht habe, habe er aus demselben eine Stadt angelegt, die jetzt Memphis heißt (denn auch Memphis liegt in der schmalen Strecke von Ägypten), und außen um dieselbe herum einen See aus dem Strom gegen Norden und Abend gegraben; denn gegen Morgen begrenzt sie der Nil ohnehin; sodann habe er das Hephästos-Heiligtum in derselben gegründet, das groß ist und sehr nennenswert.

[Anmerkung:] 99. Menes regierte um 3900 v. Chr. – Der Ortsgott von Memphis war Ptah, der Gott der Handwerker und Künstler, daher von Herodot Hephästos genannt.

 

100. Hernach sagten die Priester aus einem Buche noch die Namen von dreihundertunddreißig Königen her. Unter so vielen Menschengeschlechtern waren achtzehn Äthiopier und eine eingeborne Frau, im übrigen Männer aus Ägypten. Die Frau, die Königin war, hatte auch, wie jene babylonische, den Namen Nitokris. Von ihr sagten sie: um ihren Bruder zu rächen, den die Ägypter, da er ihr König war, ermordet hätten, – und eben nach seiner Ermordung ihr das Königtum übergeben hätten – um den zu rächen, habe sie viele Ägypter durch List zugrunde gerichtet. Sie habe nämlich ein unterirdisches Gemach von großem Umfang, das sie gebaut hatte, vorgeblich eingeweiht, vorsätzlich aber etwas anderes angerichtet, nämlich eine Menge Ägypter, die sie hauptsächlich als Mitschuldige des Mordes kannte, zur Bewirtung dahin eingeladen, und als sie beim Mahle waren, durch einen verborgenen großen Kanal den Fluß hereingelassen. So viel sagten sie denn von dieser und außerdem nur, daß sie selbst, nachdem sie dies ausgeführt habe, sich in ein Gemach voll Asche geworfen habe, um der Strafe zu entgehen.

[Anmerkung:] 100. Das »Lied von der listigen Nitokris« hat Platen in dem Lustspiel »Der Schatz des Rhampsinit« (1824) zum Schlußgesange des zweiten Aktes gemacht.

 

101. Die übrigen Könige, sagten sie, hätten keine Werke ausgeführt und so auch nichts Glänzendes aufzuweisen, einzig den letzten von ihnen, Möris, ausgenommen. Dieser habe sich ein Denkmal aufgeführt, des Hephästos Vorhalle an der Seite gegen den Nordwind, auch einen See gegraben, dessen Umfang an Stadien ich später angeben werde, und Pyramiden in demselben aufgebaut, von deren Größe ich zugleich mit dem See berichten will. So viel habe dieser, von den übrigen aber kein einziger etwas ausgeführt.

[Anmerkung:] 101. Möris: Amenemhet III. (1849-1801 v. Chr.) mit dem Vornamen Nemarç, den die Griechen mit dem Namen des Sees, Merwer, zusammenwarfen und daraus Möris machten. Der See lag bei El Faijum, der heutige Karunsee ist ein Überbleibsel von ihm.

 

102. Daher will ich sie übergehen und von dem König, der nach ihnen kam und Sesostris hieß, erzählen. Der sei, sagten die Priester, zuerst mit langen Schiffen vom arabischen Busen ausgefahren und habe die Küstenbewohner längs dem Roten Meere sich unterworfen, bis er endlich auf seiner Fahrt in ein Meer kam, das wegen seiner Untiefen nicht mehr schiffbar war. Als er nun von da zurück nach Ägypten kam, zog er, laut Aussage der Priester, mit vielem Kriegsvolk durch das Festland und unterwarf jedes Volk, das ihm in den Weg kam. Wenn er darunter auf solche stieß, die tapfer im Kampf waren und gewaltig um ihre Freiheit rangen, setzte er in ihrem Lande Denksteine, deren Inschriften seinen und seines Vaterlandes Namen verkündeten, und daß er mit seiner Macht dieselben unterworfen habe. Wenn er aber ohne Widerstand und Mühe die Städte in seine Hand bekam, da zeichnete er in die Denksteine nicht nur dasselbe ein wie bei den Völkern, die sich mannhaft bewiesen, sondern zeichnete auch dazu ein weibliches Schamglied, um offenbar zu machen, daß sie feige im Kampf gewesen seien.

[Anmerkung:] 102. Sesostris: Eine Sagengestalt, entstanden durch Verschmelzung des ägyptischen Königs Senwosrets III. (um 1860 v. Chr.), der Nubien eroberte, mit Ramses II. (1292-1225 v. Chr.), der lange Kriege mit den Hethitern in Syrien und Palästina führte und großartige Bauten bei Luksor und Karnak, die heute auf der Stätte des alten Theben liegen, errichtete. Eine Sagengestalt wie Sesostris verhält sich zu den historischen Königen wie Dietrich von Bern zu Theoderich oder Etzel zu Attila.

 

103. Auf solche Art durchzog er denn das Festland, bis er endlich aus Asien nach Europa hinüberdrang und die Szythen und Thrazier sich unterwarf. Das waren, dünkt mir, die entlegensten Völker, zu denen das ägyptische Heer kam; denn in ihrem Lande sieht man noch die Denksteine aufgestellt, weiter hinaus aber nicht mehr. Hier kehrte er um, ging zurück und kam hierauf an den Phasisstrom; darüber kann ich nunmehr keine bestimmte Auskunft geben, ob der König Sesostris selbst aus seinem Heere einen bestimmten Teil aussonderte und daselbst als Anbauer in dem Lande zurückließ, oder ob von seinen Soldaten etliche, seines Herumziehens überdrüssig, am Phasisstrom zurückblieben.

104. Denn das sieht man, daß die Kolcher Ägypter sind, und ich habe, was ich da sage, selbst früher gedacht als von andern gehört. Da ich es nun zu Sinn gefaßt hatte, befragte ich beide, und die Kolcher erinnerten sich mehr der Ägypter als die Ägypter der Kolcher. Doch erklärten die Ägypter, sie glaubten, daß die Kolcher vom Heere des Sesostris seien. Ich selbst aber schloß es schon daraus, weil sie dunkelfarbig und kraushaarig sind. Freilich beweist das an sich nichts; denn von der Art sind auch noch andere. Allein weit mehr schloß ich es daraus, weil die Kolcher, Ägypter und Äthiopier allein unter allen Menschen von jeher ihre Schamglieder beschneiden. Die Phönizier dagegen und die Syrier in Palästina geben selbst zu, daß sie es von den Ägyptern gelernt haben, und die Syrier am Thermodon und Partheniosfluß, und die Grenznachbarn von diesen, die Makronen, erklären, es neuerdings von den Kolchern gelernt zu haben. Das sind nämlich die einzigen Völker, die sich beschneiden, und diese tun es offenbar den Ägyptern nach. Aber von den Ägyptern selbst und den Äthiopiern vermag ich nicht zu sagen, welcher Teil es dem andern abgelernt hat; ist es doch offenbar uralt. Daß es aber im Verkehr mit Ägypten in Aufnahme kam, dafür gilt mir folgendes als Hauptbeweis: sämtliche Phönizier, die mit Hellas in Verkehr stehen, machen es mit den Schamgliedern den Ägyptern nicht mehr nach, sondern lassen die Schamglieder ihrer Kinder unbeschnitten.

[Anmerkung:] 104. Syrier in Palästina: Juden.

 

105. Nun will ich noch etwas von den Kolchern sagen, worin sie den Ägyptern ähnlich sind. Die Leinwandarbeit ist allein bei ihnen und den Ägyptern gleich; auch hat ihr ganzes Leben und ihre Sprache Ähnlichkeit miteinander. Die kolchische Leinwand wird von den Hellenen sardonische genannt; die jedoch, die aus Ägypten kommt, nennt man auch die ägyptische.

106. Die Denksteine aber, die Sesostris, der König von Ägypten, in die Lande setzte, die sieht man zum größten Teil nicht mehr stehen; doch im palästinischen Syrien sah ich selbst solche und die besagten Inschriften daran und weibliche Schamglieder. Noch sind auch in Ionien zwei Abbilder dieses Mannes in Felssteine eingehauen, das eine auf dem Wege aus dem Ephesischen nach Phokaia, das andere auf dem von Sardes nach Smyrna. An beiden Orten ist ein Mann eingehauen in der Größe von vier Ellen und einer Spanne, mit einem Speer in der rechten Hand und einem Bogen in der linken, und mit der übrigen Rüstung in gleicher Art, ägyptischer nämlich und auch äthiopischer angetan; von dessen, einer Schulter zur andern läuft, über die Brust hin eingehauen, heilige ägyptische Schrift, die so viel besagt: »Ich habe dieses Land mit meinen Schultern gewonnen.« Doch wer und woher er sei, das zeigt er hier nicht an, anderswo aber hat er's angezeigt. Endlich wollen einige, die Memnons Bildnis gesehen haben, ihn darin erblicken, sind damit aber weit von der Wahrheit entfernt.

[Anmerkung:] 106. Memnons Bildnis: Die sogenannten Memnonssäulen bei Theben sind zwei 21 Meter hohe Sitzbilder König Amenophis' III. (1411 bis 1375 v. Chr.). Der Stein der einen hatte Risse und Spalten, aus denen beim Einsetzen der Morgenkühle die Luft mit einem singenden Ton entwich. Aus dieser Naturerscheinung ging die griechische Sage von dem Äthiopierkönig Memnon hervor. Er ist der Sohn der Morgenröte, zieht den Trojanern zur Hilfe, wird aber von Achilleus erschlagen. Seine Mutter erfleht für ihn Unsterblichkeit von Zeus. Jeden Morgen begrüßt Memnon mit Gesang seine Mutter. Ein Felsenbild Ramses' II. kann natürlich eine oberflächliche Ähnlichkeit mit der Statue Amenophis' III. gehabt haben.

 

107. Diesen Sesostris von Ägypten also habe auf seinem Rückzug, auf dem er viele Menschen mit sich führte von den Völkern, deren Lande er sich unterworfen hätte, sagten die Priester, als er auf dem Rückweg im pelusischen Daphne war, sein eigener Bruder, dem er Ägypten anvertraut hatte, zu einem Gastmahl geladen und seine Söhne dazu; dann außen um das Haus her Holz aufgeschichtet und das aufgeschichtete in Brand gesteckt. Sobald Sesostris es merkte, habe er gleich mit seiner Frau beraten (er habe nämlich auch seine Frau auf dem Zuge bei sich gehabt). Sie habe ihm geraten, von ihren sechs Söhnen zwei auf den Scheiterhaufen zu legen, als eine Brücke über das Feuer, auf ihnen dann herauszugehen und sich so zu retten. Das habe Sesostris getan, und auf diese Art seien zwei seiner Söhne verbrannt, die übrigen aber samt dem Vater gerettet worden.

108. Als Sesostris nach Ägypten zurückgekehrt war und sich an seinem Bruder gerächt hatte, brauchte er den Haufen, den er mitbrachte, nämlich die Leute, deren Länder er unterworfen hatte, zu folgendem: Sowohl die Steine, die unter diesem König zum Heiligtum des Hephästos beigeschafft wurden, und die von ungemeiner Größe sind, haben sie herangeschleppt, als auch alle die Rinngräben, die jetzt Ägypten hat, mußten sie graben; und machten so, im unfreiwilligen Dienst, Ägypten, das zuvor überall beritten und befahren werden konnte, untauglich hierzu. Denn seit dieser Zeit ward Ägypten, obgleich durchaus eine Ebene, unpassierbar für Wagen und Pferde, und davon sind die Rinngräben die Ursache, die zahlreich sind und nach allen möglichen Richtungen laufen. So durchschnitt der König das Land, weil alle Ägypter, die ihre Städte nicht am Fluß, sondern mitten im Lande hatten, sooft der Fluß zurücktrat, aus Wassermangel Brunnen haben mußten, die ein salziges Trinkwasser hatten. Deshalb also ward Ägypten durchschnitten.

109. Auch sagten die Priester, daß derselbe König das Land unter alle Ägypter so verteilt habe, daß er jedem ein gleiches viereckiges Stück gegeben und dann davon seine Einkünfte bezogen habe, indem er eine jährliche Abgabe darauf setzte. Wenn aber einem von seinem Stück der Fluß etwas wegriß, hatte er diesen Vorfall bei ihm anzuzeigen, worauf er seine Leute schickte, die nachsehen und wieder ausmessen mußten, um wieviel kleiner der Platz geworden sei; damit er in Zukunft nach Maß der angesetzten Abgabe zolle. Von daher, glaube ich nun, ist die Erfindung der Feldmeßkunst nach Hellas hinübergekommen; während die Sonnenuhr, der Stundenweiser und die zwölf Abteilungen des Tages durch die Babylonier den Hellenen bekannt wurden.

110. Ebendieser König von Ägypten ist der einzige, der über Äthiopien herrschte. Als Denkmale hinterließ derselbe steinerne Bildsäulen vor dem Hephästos-Heiligtum; zwei von dreißig Ellen, nämlich sich und seine Frau; seine Söhne aber, deren vier sind, je von zwanzig Ellen. Die sind es, vor welche der Hephästospriester in viel späterer Zeit den Dareios von Persien seine Bildsäule nicht hinstellen lassen wollte, mit der Behauptung, er habe keine solchen Werke vollbracht wie Sesostris von Ägypten. Denn Sesostris habe sich sonst nicht weniger Völker unterworfen als er, aber auch die Szythen; Dareios hingegen habe nicht vermocht, die Szythen zu überwinden. So sei er denn nicht berechtigt, vor die Weihestiftungen von jenem die seine hinzustellen, ohne ihn in seinen Werken übertroffen zu haben. Damit soll nun auch Dareios sich zufrieden gegeben haben.

111. Nach dem Ende des Sesostris, sagten sie, sei an seinen Sohn Phero das Königtum gekommen; der durch keinen Kriegszug sich ausgezeichnet, aber den Unfall gehabt habe, blind zu werden durch folgende Sache. Als damals gerade der Fluß, im höchsten Stand bis auf achtzehn Ellen, die Felder überschwemmte, warf sich ein Sturmwind drauf, und der Fluß schlug Wellen. Da habe, sagen sie, dieser König im Frevelmut einen Speer ergriffen und mitten in die Wirbel des Stromes geworfen; worauf er alsbald an den Augen erkrankt und erblindet sei. Zehn Jahre lang sei er blind gewesen; aber im elften Jahre sei eine Weissagung aus der Stadt Buto ihm zugekommen, es gehe die Zeit seiner Strafe aus, und er werde wieder sehend werden, wenn er sich die Augen mit dem Harn einer Frau wasche, die nur mit ihrem Mann verkehrt habe, unberührt von andern Männern. So habe er's denn zuerst mit seiner Frau versucht; darauf, als er nicht wieder sehend wurde, habe er's der Reihe nach mit allen versucht. Wieder sehend geworden, habe er nun die Frauen, mit denen er den Versuch gemacht hatte, die ausgenommen, durch deren Harn er das Augenlicht wiederbekommen hatte, in eine Stadt zusammengebracht, die jetzt Erythrebolos genannt wird, und daselbst sie alle samt der Stadt verbrannt. Die aber, mit deren Harn er sich gewaschen hatte und sehend geworden war, nahm er selbst zur Frau. Auch weihte er für die Errettung von seinem Augenübel Weihgeschenke in alle namhaften Heiligtümer; darunter sind, was noch besonders merkwürdig ist, die sehenswerten Werke, die er ins Helios-Heiligtum weihte, zwei steinerne Spitzsäulen, jede aus einem ganzen Stein, in der Länge jede hundert Ellen, und acht Ellen in der Breite.

[Anmerkung:] 111. Phero: Merenptah, der Sohn und Nachfolger Ramses' II. Unter ihm soll der Auszug der Juden aus Ägypten erfolgt sein.

 

112. Von diesem, sagen sie, sei das Königtum an einen Memphier gekommen, dessen Name nach der Hellenen Sprache Proteus sei; dieser hat jetzt in Memphis einen sehr schönen, wohl eingerichteten Hain, vom Hephästos-Heiligtum gegen den Südwind gelegen. Um diesen Hain herum wohnen tyrische Phönizier, und die ganze Strecke dort heißt Tyrierlager. In demselben Haine des Proteus ist aber ein Heiligtum der Aphrodite, der Fremden, wie es genannt wird; ich vermute aber, daß es ein Heiligtum der Helena, Tyndareos' Tochter, ist, da ich die Sage gehört habe, daß Helena sich bei Proteus aufhielt, besonders aber, weil es den Zunamen hat von Aphrodite, der Fremden, denn sonst wird kein anderes Heiligtum der Aphrodite zubenannt »von der Fremden«.

[Anmerkung:] 112. Die fremde Aphrodite ist die phönizische Astarte, die Göttin des Geschlechtslebens. Die einheimische Aphrodite ist die Fruchtbarkeitsgöttin Isis.

 

113. Nun sagten mir die Priester auf meine Erkundigung in betreff der Helena, es sei so ergangen. Alexandros sei mit Helena, die er aus Sparta geraubt hatte, nach Hause gefahren. Da trieben ihn, als er im Ägäischen Meere war, widrige Winde in die ägyptische See; von da (denn der Sturm ließ nicht nach) kam er nach Ägypten, und zwar daselbst in die jetzt sogenannte kanobische Mündung des Nils und nach Taricheiai. An diesem Gestade stand und steht jetzt noch ein Herakles-Heiligtum, und falls in dasselbe ein Sklave flieht und sich die heiligen Malzeichen einätzen läßt, womit er sich dem Gott überantwortet, so ist er unantastbar. Dieser Brauch besteht auf gleiche Weise von jeher bis zu meiner Zeit. Dem Alexandros aber wurden Diener ungetreu, die von dem Brauch bei diesem Heiligtum gehört hatten; als Schützlinge im Tempel des Gottes verklagten sie den Alexandros, den sie in Not bringen wollten, und erzählten die ganze Geschichte mit der Helena und seinem Frevel gegen Menelaos, und zwar verklagten sie ihn bei den Priestern und dem Wächter jener Mündung, dessen Name Thonis war.

114. Als Thonis dies hörte, schickte er eiligst nach Memphis an Proteus Botschaft ab, mit solchen Worten: »Es ist ein Fremdling da, ein Teukrer von Geschlecht, der eine sündige Tat in Hellas getan hat, indem er seines Gastfreundes Weib verführt hat, und nun mit ihr samt einer Menge Schätzen von Winden hierher in dein Land verschlagen ist. Sollen wir denn diesen ruhig abfahren lassen oder aber ihm nehmen, was er mitgebracht hat?« Dagegen schickte Proteus den Bescheid mit solchen Worten: »Diesen Menschen, wer er auch ist, der sündhaft an seinem Gastfreund gehandelt hat, ergreifet und führet ihn zu mir, auf daß ich sehe, was er wohl sagen wird.«

115. Darauf ergreift denn Thonis den Alexandros und nimmt seine Schiffe in Beschlag; hernach brachte er ihn nach Memphis samt der Helena und den Schätzen, nebst den Schützlingen. Als nun alle herbeigeführt waren, fragte Proteus den Alexandros, wer er sei und woher er komme. Der sagte ihm sein Geschlecht her, gab auch den Namen seines Vaterlandes an; dazu erzählte er ihm auch, woher er komme auf seiner Fahrt. Sodann fragte ihn Proteus, woher er die Helena habe; da nun Alexandros in seiner Rede aus dem Geleise kam und nicht die Wahrheit sagte, widerlegten es jene Schützlinge, indem sie die ganze Geschichte des Frevels erzählten. Zuletzt aber gab ihnen Proteus seinen Ausspruch in folgenden Worten: »Wäre mir's nur nicht eine so teure Sache, keinen von all den Fremden zu töten, die noch jemals durch Sturm verschlagen in mein Land kamen, so hätte ich dich wollen für den Hellenen büßen lassen, du Ausbund von Schlechtigkeit, der du, gastfreundlich aufgenommen, die sündhafteste Tat getan hast. Zu deines Gastfreundes Weib bist du gegangen, und selbst das war dir nicht genug, sondern du bist, nachdem du ihr den Kopf heiß gemacht hast, heimlich mit ihr davongegangen. Ja, es war dir nicht einmal so genug, sondern du mußtest auch vorher noch das Haus des Gastfreundes plündern. Nun aber, da es mir einmal eine teure Sache ist, keinen Fremdenmord zu begehen, so lasse ich dich die Frau und die Schätze nicht mit dir fortnehmen, sondern ich will sie dem hellenischen Gastfreund aufbewahren, bis er selbst kommt, um sie fortzunehmen; dich aber und deine Gefährten bescheide ich, in drei Tagen aus meinem Lande nach einem andern abzufahren, widrigenfalls ihr als Feinde behandelt werden sollt.«

116. Das ist die Art, wie die Priester sagten, daß Helena zu Proteus gekommen sei, und ich glaube, auch Homer hat von dieser Sage Kunde gehabt, nur daß sie nicht ebensogut für sein Dichterwerk sich schickte als jene andere, die er nahm; so ließ er sie liegen, ließ aber doch erkennen, daß er auch mit dieser Sage bekannt sei. Das zeigt sich nämlich in der Art, wie er in der »Ilias« dichtete, – er hat sich darin nirgends widersprochen – von der Irrfahrt des Alexandros, daß er mit Helena verschlagen worden sei und außer anderweitigem Verirren auch nach Sidon im Phönizischen gekommen sei. Dessen gedenkt er in dem Gesange, der den Diomedes feiert, und die Worte lauten also:

Wo die Gewande, die kunstreichschimmernden Werke der Frauen
Sidons, lagen, die selbst der göttliche Held Alexandros
Her von Sidon gebracht, da er fuhr auf räumiger Meerflut,
Damals, als er sich Helena holte, die Edelgeborne.

Auch in der »Odyssee« gedenkt er dessen in folgenden Worten:

Solcherlei Kräuter besaß Zeus' Tochter zu weisem Gebrauche,
Gute: es hatte sie einst die Hausfrau Thons, Polydamna,
Ihr in Ägypten geschenkt; dort trägt in Menge das Fruchtfeld
Kräuter, viele zu gutem Gebräu, und viele zu bösem.

Und wiederum folgendes sagt Menelaos zu Telemachos:

Schon auf dem Heimweg war ich, da hielten mich auf in Ägypten
Götter, die ich zu ehren versäumt mit Festhekatomben.

In diesen Worten zeigt er an, daß er mit der Irrfahrt des Alexandros nach Ägypten bekannt war. Denn Syrien grenzt mit Ägypten zusammen, und diejenigen Phönizier, denen Sidon gehört, wohnen in Syrien.

117. Aus diesen Worten und aus dieser Stelle nicht zuletzt, sondern hier vornehmlich, geht hervor, daß die »Zyprischen Gesänge« nicht von Homer sind, sondern von einem andern. Denn in den »Zyprischen Gesängen« steht, in drei Tagen sei Alexandros mit Helena nach Ilion gekommen bei günstig wehendem Wind und ruhiger See. In der »Ilias« aber heißt es, er sei mit ihr umhergeirrt. Doch lassen wir nun den Homer und die »Zyprischen Gesänge«!

[Anmerkung:] 117. Zyprische Gesänge: Ein Gedicht des sogenannten epischen Zyklus, in dem man die nach der Zeit Homers entstandenen Epen vereinigte, die in stofflicher Beziehung zur »Ilias« und zur »Odyssee« stehen. Stasinos von Zypern, nach dem die »Zyprischen Gesänge« heißen, behandelte die Ereignisse von der Hochzeit des Peleus bis zum Kampf um Troja. Um die Art, wie Herodot einzelne Angaben Homers heranzieht und jedem Verse Wichtigkeit beimißt, zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß die Homerischen Epen die Grundlage des gesamten Jugendunterrichtes bildeten. Es handelt sich um eine Art von Bibelkritik. Dagegen wird in den Dialogen Platos die kanonische Geltung Homers mit Erbitterung bekämpft.

 

118. Als ich nun die Priester fragte, ob es eine eitle Sage sei, was die Hellenen von Ilion sagen, oder nicht, gaben sie darauf folgenden Bescheid, der auf einer Erkundigung bei Menelaos selbst beruhen sollte. Nämlich nach dem Raube der Helena sei ein großes Heer von Hellenen ins teukrische Land gekommen, um dem Menelaos zu helfen. Dieses habe, als es ans Land gestiegen war und ein Lager aufgeschlagen hatte, Abgesandte nach Ilion geschickt, da denn auch Menelaos selbst mitgegangen sei. Diese nun hätten, als man sie in die Mauern einließ, Helena samt den Schätzen zurückgefordert, die Alexandros entwendet hatte, und für den angetanen Frevel Buße gefordert, worauf die Teukrer damals und nachher, eidlich und sonder Eid, dieselbe Erklärung gaben, sie hätten Helena nicht, auch nicht die angesprochenen Schätze; sondern das sei alles in Ägypten, und so wäre es nicht billig, daß sie Buße für das erstatteten, was Proteus, der ägyptische König, habe. Da hätten die Hellenen geglaubt, sie würden von ihnen verhöhnt, und hätten sie belagert und endlich die Stadt erobert. Als sich Helena aber nach dieser Eroberung nicht vorfand, sondern die Hellenen dieselbe Erklärung wie anfangs erhielten, da glaubten sie erst der anfänglichen Erklärung und schickten nun den Menelaos selbst zu Proteus.

119. Als Menelaos nach Ägypten gekommen und nach Memphis hinaufgefahren war und die wahre Geschichte angegeben hatte, ward er mit gastfreundlicher Freigebigkeit empfangen und erhielt Helena unversehrt zurück, dazu auch alle seine Schätze. Trotz dieser Aufnahme nun wurde Menelaos zum Frevler an den Ägyptern. Es hielten ihn nämlich von seiner Abfahrt widrige Winde zurück, und da dies lange Zeit so anhielt, ergriff er ein sündliches Mittel, indem er zwei Knaben von eingebornen Leuten zu Schlachtopfern nahm. Als hierauf diese seine Tat ruchbar und er verhaßt und verfolgt wurde, floh er sofort mit seinen Schiffen nach Libyen. Wohin er von da aus sich gewandt habe, vermochten nun die Ägypter nicht mehr anzugeben: vom Bisherigen aber behaupteten sie, es teils durch Erkundigung zu wissen, teils das zu sagen, was sie bestimmt wüßten, da es bei ihnen selbst geschehen sei.

120. So viel sagten die ägyptischen Priester, und auch ich stimme der über Helena erzählten Sage bei, wozu ich weiter bemerke, daß Helena, wenn sie in Ilion gewesen wäre, den Hellenen zurückgegeben worden wäre, sei es nun mit Willen oder wider Willen des Alexandros. Denn so mit Tollheit geschlagen war doch Priamos gewiß nicht, ebensowenig seine andern Angehörigen, um ihr eigenes Blut, ihre Kinder und die ganze Stadt daransetzen zu wollen, damit Alexandros mit Helena hausen könne. Und wenn sie auch in der ersten Zeit dies beschlossen hätten, so sind ja nicht nur von den andern Troern, sooft sie mit den Hellenen sich schlugen, viele umgekommen: auch von Priamos' eigenen Söhnen mögen es immerhin zwei oder drei oder mehr sein, die in der Schlacht gefallen sind, wenn ich hierin den Sagendichtern folgen soll. Nach solchen Vorfällen, denke ich, würde wohl Priamos – und hätte er selbst mit Helena gehaust – sie den Achäern zurückgegeben haben, um nur einmal die gegenwärtigen Drangsale loszuwerden. Auch ging das Königtum nicht auf Alexandros über, so daß er, da Priamos alt war, zu schalten gehabt hätte; sondern Hektor, der älter war und mehr Mann als jener, hätte dasselbe nach Priamos' Tod empfangen müssen; dessen Sache wäre es nicht gewesen, dem frevelnden Bruder nachzugeben, zumal da derselbe ihm selbst und den andern Troern insgesamt so große Drangsale zugezogen hatte. Nun hatten sie aber die Helena nicht, konnten sie also nicht zurückgeben, und ihrer wahrhaften Aussage glaubten die Hellenen nicht, was nach meiner Auslegung auf Veranstaltung der Gottheit geschah, auf daß sie in ihrem völligen Untergang den Menschen sichtbar machten, wie für große Freveltaten auch große Heimsuchungen der Götter erfolgen. So habe ich nun hierüber meine Meinung gesagt.

121. Von Proteus, sagten sie, sei das Königtum an Rhampsinitos gekommen, der als sein Denkmal die Vorhallen vom Hephästostempel hinterließ, die auf der Abendseite liegen. Gegenüber von den Vorhallen errichtete er zwei Bildsäulen in der Größe von fünfundzwanzig Ellen, von denen die Ägypter die auf der Nordseite stehende Sommer nennen, die auf der Südseite Winter. Vor der, die sie Sommer nennen, werfen sie sich nieder und tun ihr Gutes, aber der mit dem Namen Winter erweisen sie gerade das Entgegengesetzte. Desselben Königs Reichtum an Geld sei so groß gewesen, daß ihn keiner der nachmaligen Könige überbieten oder ihm nahekommen konnte. Da er nun seine Schätze in Sicherheit aufbewahren wollte, habe er ein steinernes Gemach erbaut, das mit einer seiner Wände außen an seinen Palast stieß. Der Werkmeister habe nun aus bösen Absichten folgendes angestellt: Einen der Steine habe er so eingerichtet, daß er sich von zwei Männern oder von einem leicht aus der Wand herausnehmen ließ. Als dieses Gemach aufgeführt war, verwahrte der König seine Schätze darin. Nach Verlauf einiger Zeit berief nun der Baumeister, kurz vor seinem Lebensende, seine Söhne (deren er zwei hatte) und erzählte denselben, wie er für sie gesorgt habe, daß sie vollauf zu leben hätten, und gab den Kunstgriff an, den er bei Erbauung des königlichen Schatzes angewendet habe; nach genauer Beschreibung, wie der Stein herauszunehmen sei, gab er ihnen die Maße dazu, mit dem Bedeuten, wenn sie genau auf diese achthätten, würden sie Verwalter der Schätze des Königs sein. Darauf endigte er sein Leben; seine Söhne aber schoben das Werk nicht lange auf: sie gingen des Nachts zur Königsburg, fanden wirklich den Stein in dem Gebäude auf, konnten auch leicht damit umgehen und nahmen eine Menge Schätze heraus. Als nun der König wieder einmal das Gemach öffnete, wunderte er sich, die Gefäße der Schätze nicht voll zu sehen, wußte aber doch niemand die Schuld zu geben, da die Siegel unversehrt waren und das Gemach verschlossen. Doch als er bei zwei- und dreimaligem Öffnen die Schätze immer vermindert sah (denn die Diebe hörten nicht auf zu plündern), da machte er's also: Er ließ Schlingen verfertigen und legte sie um die Gefäße her, in denen die Schätze waren. Da nun die Diebe kamen, wie zuvor, und einer hineinschlüpfte und an ein Gefäß ging, wurde er sogleich in der Schlinge gefangen. Sowie er aber seine Not bemerkte, rief er sogleich seinen Bruder, gab ihm die Sache zu erkennen und hieß denselben eiligst hereinschlüpfen und ihm den Kopf abschneiden, damit er nicht, sähe man ihn und fände, wer er sei, denselben ebenfalls ins Verderben brächte. Dem schien das wohlgesprochen, und er befolgte es wirklich, setzte dann den Stein wieder in die Fuge und ging nach Hause mit dem Kopf seines Bruders. Wie es nun Tag ward und der König in das Gemach trat, wurde er ganz betroffen durch den Anblick von dem Leibe des Diebs, der ohne Kopf in der Schlinge stak, während das Gemach unbeschädigt war, ohne Eingang und ohne ein Schlupfloch nach außen. In dieser Verlegenheit soll er es nun also gemacht haben. Er hing den Leichnam des Diebes an der Mauer auf und stellte Wächter dazu, mit dem Befehl, falls sie einen weinen oder wehklagen sähen, sollten sie ihn ergreifen und zu ihm führen. Als nun der Leichnam aufgehängt war, soll es seiner Mutter zu Herzen gegangen sein. Sie sprach mit ihrem übriggebliebenen Sohne und gebot ihm, es zu veranstalten, wie er nur könne, daß er den Leib seines Bruders herunternehme; wenn er das unterlassen wolle, drohte sie ihm, zum König zu gehen und anzuzeigen, daß er die Schätze habe. Als sich nun die Mutter so hart anließ gegen den übrig gebliebenen Sohn, und alles, was er ihr sagte, vergeblich war, soll er folgenden Kunstgriff angewandt haben. Er schirrte Esel an, legte ihnen Schläuche voll Wein auf und trieb alsdann die Esel vor sich her; als er an die Wache des aufgehängten Toten kam, zog er drei oder vier herabhängende Zipfel der Schläuche auf. Als nun der Wein auslief, schlug er sich vor den Kopf mit lautem Geschrei, als wisse er nicht, zu welchem Esel er sich zuerst wenden solle. Die Wächter aber sahen nicht so bald die Menge Wein, die auslief, als sie sämtlich mit Gefäßen in den Weg rannten und den ausfließenden Wein als gute Beute einsammelten, worüber er sich zornig stellte und alle ausschalt. Da ihm aber die Wächter zuredeten, stellte er sich, als werde er allmählich ruhiger und sein Zorn lasse nach; zuletzt trieb er die Esel aus dem Wege und schirrte sie zurecht. Wie nun ein Wort das andere gab, auch der und jener seinen Spaß mit ihm trieb und ihn zum Lachen brachte, gab er ihnen noch einen Schlauch dazu, und jetzt beschlossen sie, an Ort und Stelle sich zum Trinken zu lagern, wollten auch ihn dabei haben und hießen ihn bleiben, um hier bei ihnen mitzutrinken. Dazu verstand er sich denn auch und blieb da. Endlich, als sie ihm beim Trinken herzlich schöntaten, gab er ihnen noch einen zweiten Schlauch dazu. Da wurden die Wächter vom tüchtigen Zechen übermäßig betrunken und streckten sich, vom Schlaf überwältigt, an derselben Stelle hin, wo sie getrunken hatten. Nun nahm er, da es schon tief in der Nacht war, den Leib des Bruders herunter und schor auch noch allen Wächtern zum Schimpf den rechten Backenbart ab, legte dann den Leichnam auf die Esel und trieb sie nach Haus, nachdem er so, was ihm seine Mutter geboten, vollzogen hatte.

Der König soll aber sehr zornig geworden sein, als ihm gemeldet wurde, der Leichnam des Diebes sei entwendet, und da er durchaus ausfindig machen wollte, wer in aller Welt solches angestellt habe, soll er, was mir freilich nicht glaubwürdig ist, folgendes getan haben. Er ließ seine Tochter in einem Freudenhause Platz nehmen und gab ihr auf, jeden ohne Unterschied anzunehmen; ehe sie aber zusammenkämen, müsse ihr jeder den klügsten und den ruchlosesten Streich sagen, den er in seinem Leben ausgeführt habe, und wenn da einer die Geschichte mit dem Dieb erzähle, den solle sie ergreifen und nicht herauslassen. Dies tat das Mädchen, wie es ihr vom Vater geboten war; der Dieb aber, der verstand, wo das hinaus wolle, beschloß, den König noch an Verschlagenheit zu übertreffen, und soll folgendes getan haben. Er schnitt den ganzen Arm vom frischen Leichnam bei der Schulter ab und nahm ihn unter dem Mantel mit. So ging er zur Tochter des Königs, und da sie ihn ebenso wie die andern befragte, erzählte er ihr als seinen ruchlosesten Streich, daß er seinem Bruder, der im Schatz des Königs in eine Schlinge fiel, den Kopf abgeschnitten, und als den klügsten, daß er die Wächter trunken gemacht und den aufgehängten Leichnam seines Bruders heruntergenommen habe. Als sie das hörte, wollte sie ihn fassen; der Dieb aber streckte ihr im Dunkeln den Arm des Toten hin, worauf sie dann zugriff und ihn hielt, in der Meinung, seinen eigenen Arm festzuhalten; dann ließ er denselben los und entwischte schnell zur Türe hinaus. Als nun auch dieses dem König hinterbracht wurde, ward er ganz betroffen über die Schlauigkeit und Kühnheit des Menschen. Zuletzt soll er aber in sämtliche Städte eine Verkündigung haben ausgehen lassen, mit Gewährung von Straflosigkeit und mit großen Versprechungen, wenn er sich vor sein Angesicht stellen werde. Dem habe der Dieb getraut und sich ihm gestellt, und Rhampsinitos habe ihn höchlich bewundert, ja ihm jene Tochter zur Hausfrau gegeben, als dem allergescheitesten Menschen. Er habe nämlich die Ägypter höher als alle andern geschätzt und ihn höher als die Ägypter.

[Anmerkung:] 121. Rhampsinitos: Ramses III. (1198-1167 v. Chr.), dessen Gedächtnistempel und Palast heute das Ruinenfeld von Medinet Habu bilden. Herodots reizende Erzählung von den diebischen Söhnen des Baumeisters wurde von Platen zu dem Lustspiel »Der Schatz des Rhampsinit« (1824) gestaltet. Im Prolog sagt Platen:
Gefällt es euch, so folgt dem Dichter jetzt,
Der euch im Flug bis an den Nil versetzt,
Sich aus uralter Zeit ein Märchen wählt,
Das uns ein frommer Ionier erzählt.
Gebrauch und Sitte wechselten seitdem,
Doch ist, sie darzustellen, kein Problem;
Denn trotz der langen, ungeheuren Frist
Blieb doch der Mensch, was er gewesen ist.

 

[Anmerkung:] Als Darsteller des ewig Menschlichen wird Herodot noch stärker, als es hier von Platen geschieht, von Schopenhauer in der »Welt als Wille und Vorstellung« (Buch II, Kapitel 38) gepriesen. Schopenhauer erklärt es für die Aufgabe der Geschichte, die vielen schlechten und wenigen guten Grundeigenschaften des menschlichen Herzens und Kopfes darzustellen: »Hat einer den Herodot gelesen, so hat er in philosophischer Absicht schon genug Geschichte studiert. Denn da steht schon alles, was die folgende Weltgeschichte ausmacht, das Treiben, Tun, Leiden und Schicksal des Menschengeschlechts, wie es aus den besagten Eigenschaften und dem physischen Erdenlose hervorgeht.«

 

122. Hernach, sagten sie, sei dieser König lebendig da hinabgestiegen, wo nach dem Glauben der Hellenen der Hades ist, woselbst er mit Demeter gewürfelt und bald gegen sie gewonnen, bald verloren habe; dann sei er wieder mit einem Geschenk von ihr heraufgekommen, einem goldenen Handtuche. Wegen dieser Niederfahrt des Rhampsinitos und seiner Rückkehr, versicherten sie, daß die Ägypter ein Fest hielten; wovon auch ich weiß, daß sie es noch zu meiner Zeit begehen; nur ob sie es aus sonst einem oder aus diesem Grunde feiern, vermag ich nicht zu sagen. Da weben die Priester am selben einen Tag ein Übergewand fertig und verbinden sofort einem von ihnen mit einer Binde die Augen; dann führen sie ihn in jenem Übergewand auf den Weg nach dem Heiligtum der Demeter und kehren selbst wieder zurück; er aber, sagen sie, werde von zwei Wölfen in das Heiligtum der Demeter geführt, das von der Stadt zwanzig Stadien entfernt ist, und wiederum aus dem Heiligtum hinaus auf den nämlichen Platz führten ihn dieselben Wölfe zurück.

[Anmerkung:] 122. Es ist auffällig, daß Rhampsinitos eine Unterweltreise macht, und daß die Geschichte vom klugen Baumeister in Griechenland von Trophonios erzählt wird, der schließlich von der Erde verschlungen wird. An der Stelle, wo das geschah, im Haine zu Lebadea in Böotien, befand sich das Orakel des Trophonios. Es handelt sich offenbar um eine Wandersage, deren Held ursprünglich ein Unterweltsgott ist: »Wie man ja auch in Trophonios ein höheres Wesen (gleich dem Zeus chthonios) verehrte, den in den Tiefen der Erde hausenden, unterirdischen Gott, der den Menschen irdischen Segen und Reichtum von da aus spendet« (J. Chr. F. Bähr in seinem Herodot-Kommentar, Band II, Stuttgart 1862, S. 115). In dem goldenen Handtuche sieht Bähr die Zusicherung goldenen Erntesegens.

 

123. Diese Aussagen der Ägypter mag annehmen, wem solches glaublich ist; mir aber steht bei meiner ganzen Darstellung als Grundsatz fest, daß ich die Aussagen, wie ich sie jedesmal höre, aufschreibe. Fürsten der Unterwelt, sagen die Ägypter, sind Demeter und Dionysos. Nun sind die Ägypter die ersten, welche die Meinung ausgesprochen haben, daß die menschliche Seele unsterblich ist und, wenn der Körper verwest, immer in ein anderes, eben zum Leben kommendes, Geschöpf hineinfährt; sei sie nun jedesmal herumgewandert in allen Land- und Meer- und Himmelstieren, so gehe sie wieder in einen zum Leben kommenden Menschenleib ein, und diese Wanderung mache sie in dreitausend Jahren. Diese Meinung haben unter den Hellenen etliche angenommen, die einen früher, die andern später, als wäre sie ihnen eigen. Ich weiß ihre Namen, aber ich zeichne sie nicht auf.

[Anmerkung:] 123. Demeter und Dionysos: Isis und Osiris. – Die griechischen Vertreter der Lehre von der Seelenwanderung sind die Orphiker und der Philosoph Pythagoras (6. Jahrh. v. Chr.). Herodot nennt ihre Namen nicht, weil es sich um eine Geheimlehre handelt.

 

124. Nun, sagten sie, sei bis auf König Rhampsinitos Ägypten in bester Verfassung gewesen und dieses Land hoch in die Blüte gekommen; Cheops aber, der nach ihm König über sie war, habe es ganz schlecht getrieben. Indem er nämlich alle Tempel schloß, habe er fürs erste sie vom Opfern abgehalten, sodann alle Ägypter geheißen, Frondienste zu tun. Da seien die einen angewiesen worden, aus den Steinbrüchen im arabischen Gebirge Steine bis an den Nil hin zu schleppen; und wiederum gab er anderen auf, die auf Fahrzeugen über den Strom geschafften Steine in Empfang zu nehmen und zum sogenannten Libyschen Gebirge weiter zu bringen. Und es arbeiteten an zehnmal zehntausend Menschen beständig je drei Monate lang. Diese Abmühung des Volkes habe schon eine Zeit von zehn Jahren ausgemacht allein zu dem Bau des Weges, auf dem sie die Steine heranschleppten, ein Werk, das meines Dafürhaltens nicht eben viel geringer ist als die Pyramide selbst (denn seine Länge beträgt fünf Stadien und die Breite zehn Klafter, und seine höchste Höhe acht Klafter: er ist von geglättetem Stein mit eingegrabenen Bildern); das also machte zehn Jahre; dazu kamen an dem Hügel, auf dem die Pyramiden stehen, die unterirdischen Gemächer, die er sich als Grabkammern auf einer künstlichen Insel machen ließ, indem er einen Rinngraben des Nils hineinleitete. Die Aufrichtung der Pyramide selbst habe eine Zeit von zwanzig Jahren erfordert; sie hat, bei vierseitiger Gestalt, in jeglichem Seitenstück acht Plethren und die gleiche Höhe, besteht aus geglätteten und genau gefügten Steinen, dabei ist kein einziger Stein kleiner als dreißig Fuß.

[Anmerkung:] 124. Cheops, ägyptisch Chufu, dessen Grabmal die Cheopspyramide ist, regierte um 2700 v. Chr., also viel früher als die von Herodot vor ihm angesetzten Pharaonen. Die Pyramide steht bei dem heutigen Dorfe Gisa (Gizeh).

 

125. Diese Pyramide wurde gemacht nach Art einer Treppe mit Stufen, die manche Staffeln, manche Absätze nennen. Und nachdem sie dieselbe in dieser Gestalt gemacht hatten, hoben sie die übrigen Steine auf Maschinen, die aus kurzen Balken gemacht waren, in die Höhe, und zwar vom Boden aus auf die erste Stufenreihe, wo dann der Stein, wenn er da hinaufgekommen war, wieder in eine Maschine kam, die auf der ersten Reihe stand; von dieser wurde er nun auf die zweite Reihe hinaufgezogen auf einer andern Maschine. Soviele Reihen von Stufen nämlich da waren, ebensoviele Maschinen waren da, oder aber sie schafften dieselbe Maschine, eine einzige, leichtbewegliche, von einer Reihe zur andern, sooft sie den Stein abgenommen hatten; um es nämlich auch auf beide Arten anzugeben, die von den Ägyptern berichtet werden. So wurde denn ihr oberster Teil zuerst fertiggestellt; dann machten sie es weiter herunter fertig; zuletzt haben sie daran, was zu ebener Erde und ganz zuunterst war, fertiggemacht. An der Pyramide ist auch mit ägyptischen Schriften aufgezeichnet, wieviel zu Rettichen, Zwiebeln und Knoblauch für die Arbeiter aufgewendet worden ist; daß es nämlich, wie ich mich ganz wohl der Versicherung meines Dolmetschers erinnere, der die Schriften las, eintausendsechshundert Silbertalente gekostet habe. Wenn sich dieses nun so verhält, wieviel muß nicht sonst noch aufgewendet worden sein für Eisen zum Arbeitszeug und für Speise und Kleidung der Arbeiter! – wenn sie nämlich die angegebene Zeit an den Werken gebaut und, wie ich denke, noch außerdem zum Brechen und Fortbringen der Steine und zur Arbeit am unterirdischen Graben nicht wenig Zeit gebraucht haben.

[Anmerkung:] 125. Die Geschichte von den Millionen, die für Rettiche, Knoblauch und Zwiebeln ausgegeben wurden, scheint der Dolmetscher erfunden zu haben, der mit den schwer verständlichen uralten Inschriften selbst nicht recht fertig werden konnte, aber irgend etwas berichten mußte, um die Wißbegierde Herodots zu befriedigen.

 

126. Cheops soll aber so weit in seiner Schlechtigkeit gegangen sein, daß er, da er Geld brauchte, seine eigene Tochter in einem Freudenhause Platz nehmen ließ, mit dem Gebot, eine gewisse Geldsumme zu erwerben (denn bestimmt gaben sie es nicht gerade an). Sie habe nicht nur, was ihr der Vater auferlegt hatte, erworben, sondern auch für sich selbst ein Denkmal zu hinterlassen gedacht und daher jeden, der zu ihr kam, gebeten, daß er ihr einen Stein zu dem Werke schenken möge. Aus diesen Steinen, behaupten sie, sei die Pyramide erbaut worden, die in der Mitte von den drei vor der großen Pyramide steht und an jeder Seite anderthalb Plethren mißt.

127. Fünfzig Jahre, sagten die Ägypter, sei dieser Cheops König gewesen, und nach seinem Ende sei das Königtum an seinen Bruder Chephren gekommen, der es wiederum ganz auf dieselbe Weise gehalten und insbesondere gleichfalls eine Pyramide errichtet habe, die jedoch in ihrem Maß der andern nicht gleichkommt (diese habe nämlich auch ich gemessen); so sind auch keine unterirdischen Gemächer darunter, und es geht kein Rinngraben des Nil hinein, wie er in die andere strömt, in der er in einem gemauerten Hohlgang innen eine Insel umfließt, von der sie sagen, daß Cheops selbst auf ihr liege. Hingegen führte er das erste Stockwerk von buntem äthiopischem Stein auf, blieb vierzig Fuß unter der Größe jener andern und baute sie an die große hin. Beide stehen nun auf demselben Hügel, der so ziemlich hundert Fuß Höhe hat. Von Chephren sagten sie, er sei sechsundfünfzig Jahre König gewesen.

[Anmerkung:] 127. Chephren, ägyptisch Chafre, der Nachfolger des Cheops, erbaute die zweitgrößte Pyramide bei Gisa. Vor ihr liegt der 1909 und 1910 durch die deutschen Ausgrabungen freigelegte Totentempel, nördlich davon die Sphinx, ein riesiger Löwe mit Königskopf, das Bild Chephrens. Der ägyptische König wurde durch den Königsschurz mit dem rückwärts herabhängenden Löwenschwanz als Abkömmling eines Löwen gekennzeichnet, eine Vorstellung, die auf das Zeitalter des Totemismus, der Tierverehrung, zurückgeht. Später erst sah man in dem Löwen ein Bild der Sonne und verehrte die Sphinx in dieser neuen Bedeutung. Sie galt dann als das Bild des Sonnengottes Harmachis. Die vom Wüstensande verschüttete Sphinx wurde 1925 und 1926 freigelegt.

 

128. Dies sind hundertundsechs Jahre an der Zahl, daß es in Ägypten ganz schlecht herging und die Tempel verschlossen waren, ohne in dieser ganzen Zeit geöffnet zu werden. Die Namen der beiden Könige wollen die Ägypter vor Haß gar nicht aussprechen, sondern nennen auch die Pyramiden nur »die Pyramiden des Hirten Philitis«, der zu dieser Zeit seine Herden in diesen Gegenden weidete.

[Anmerkung:] 128. In dem Namen Philitis steckt der aus der Bibel bekannte Volksname Philister (Pelischtim), nach denen Palästina benannt ist. Das Hirtenvolk der Hyksos brach um 1700 v. Chr. in Ägypten ein und beherrschte es anderthalb Jahrhunderte lang. Mit den Hyksos kamen das Pferd und der Streitwagen nach Ägypten. Die Sage von der Entstehung der Pyramiden bezieht sich auf diese Zeit der nationalen Unterdrückung. In Wahrheit sind die Pyramiden ein Jahrtausend älter.

 

129. Nach diesem, sagten sie, sei Mykerinos, des Cheops Sohn, König über Ägypten gewesen, der an seines Vaters Werken Mißfallen gehabt habe und selbst wieder die Tempel öffnen und das bis zur äußersten Not bedrückte Volk zu seinen Arbeiten und Opfern habe zurückkehren lassen, auch am gerechtesten unter allen Königen Recht gesprochen habe. In diesem Stücke loben sie unter sämtlichen Königen, die je Ägypten hatte, diesen am meisten: er habe nämlich, abgesehen davon, daß er gut richtete, auch noch, wenn sich einer infolge seines Richterspruches beschwerte, den Unmut desselben mit einer besonderen Gabe aus seinem Eigentum gestillt. Während dieser Mykerinos so mild gegen die Landeskinder war und dieses ihm so anlag, habe sein Unglück zuerst mit dem Tode seiner Tochter angefangen, des einzigen Kindes in seinem Hause. Da habe er in seinem großen Schmerz über den Unfall, und um seine Tochter auf eine außergewöhnliche Weise zu bestatten, eine Kuh von Holz machen lassen, die innen hohl war, habe diese dann vergoldet und darin ebendiese verstorbene Tochter bestattet.

[Anmerkung:] 129. Mykerinos, ägyptisch Menkewre, der Nachfolger des Chephren, erbaute die drittgrößte Pyramide bei Gisa. Den Beinamen Mykerinos führte auch Psammetichos II. (594-589), der mehr als zwei Jahrtausende nach dem älteren Mykerinos regierte. Beide verschmelzen in Herodots Darstellung oder richtiger in der Sage, der Herodot folgt, zu einer Persönlichkeit. – Die Kuhgestalt des Sarkophages erklärt sich daraus, daß die Kuh der Isis heilig ist. Königinnen galten als leibliche Erscheinungen der Isis und wurden deshalb in solchen Sarkophagen bestattet.

 

130. Diese Kuh wurde nicht in der Erde begraben, sondern war noch zu meiner Zeit zu sehen. Sie befindet sich in der Stadt Saïs, wo sie in der Königsburg steht, in einem Prunkgemach. Jeden Tag wird bei ihr allerlei Räucherwerk verbrannt, und jede Nacht brennt eine Lampe die ganze Nacht hindurch. Nahe bei dieser Kuh stehen in einem anderen Gemach die Bildnisse der Kebsweiber des Mykerinos, wie die Priester in der Stadt Saïs sagten; und wirklich sind da Riesenstandbilder von Holz, ungefähr zwanzig an der Zahl, nackend gearbeitet; was sie indessen darstellen, darüber weiß ich nichts anzugeben als nur das Gesagte.

131. Etliche aber erzählen über diese Kuh und die Riesenstandbilder folgende Sage: Mykerinos sei in seine eigene Tochter verliebt gewesen und habe ihr schließlich gegen ihren Willen beigewohnt. Hernach, sagen sie, erhängte sich die Jungfrau aus Gram: worauf er sie in der Kuh bestattete, ihre Mutter aber den Dienerinnen, welche die Tochter dem Vater preisgegeben hatten, die Hände abhieb; so sei nun ihren Bildnissen dasselbe geschehen, was ihnen im Leben geschah. Doch was sie da sagen, sind meines Erachtens lauter Possen, insbesondere das von den Händen der Riesenstandbilder; hier habe ich es ja selbst gesehen, daß sie durch die Zeit ihre Hände verloren haben, die man noch zu meiner Zeit bei ihren Füßen liegen sieht.

132. Diese Kuh ist fast ganz mit einem Purpurgewand überdeckt, und nur am Nacken und Kopf zeigt sie sich vergoldet mit dickem Gold, und zwischen ihren Hörnern ist der Sonnenkreis in Gold abgebildet. Sie steht nicht aufrecht, sondern liegt auf den Knien und hat die Größe einer großen lebendigen Kuh. Alljährlich wird sie aus ihrem Gemach herausgetragen. Wenn nämlich die Ägypter sich schlagen um des Gottes willen, den ich bei einer solchen Sache nicht nenne, dann tragen sie auch die Kuh ans Licht heraus. Denn sie selbst soll, behauptet man, sterbend ihren Vater Mykerinos gebeten haben, sie einmal im Jahre die Sonne sehen zu lassen.

[Anmerkung:] 132. Der Gott, den Herodot nicht nennen will, ist Osiris.

 

133. Das zweite Unglück, das diesem Könige nach dem Unglück seiner Tochter widerfahren sein soll, war, daß ihm eine Weissagung aus der Stadt Buto zukam, es stehe ihm bevor, nur noch sechs Jahre zu leben und im siebenten zu endigen. Darüber sei er zornig geworden und habe an das Orakel gesandt mit Vorwürfen gegen die Gottheit, indem er sich darüber aufhielt, daß sein Vater und Oheim, welche die Tempel verschlossen, der Götter nicht gedacht, vielmehr auch die Menschen ins Verderben gebracht hätten, doch so lange Zeit gelebt hätten, ihm aber bei seiner Frömmigkeit bevorstehen solle, so schleunig zu endigen. Darauf sei ihm aus dem Orakel der zweite Ausspruch zugekommen, deshalb eben beschleunige sich sein Leben, weil er nicht getan habe, was zu tun war. Denn es sollte Ägypten hundertundfünfzig Jahre lang schlecht gehen, was die zwei Könige vor ihm gemerkt hätten, er aber nicht. Auf diese Antwort habe Mykerinos sich in sein Schicksal ergeben und sich Lampen in Menge machen lassen, die er, sooft es Nacht ward, anzündete, dabei trank und sich's wohl sein ließ ohne Aufhören bei Tag und bei Nacht, auch mit Umherschweifen in den Marschländern und Hainen, oder wo er sonst erfuhr, daß die angenehmsten Lustorte seien. Dies stellte er in der Absicht an, das Orakel Lügen zu strafen, indem er anstatt seiner sechs Jahre zwölf herausbrächte, da er die Nächte zu Tagen machte.

134. Auch dieser hinterließ eine Pyramide, die viel kleiner ist als die seines Vaters, da an jeder Seite zwanzig Fuß zu drei Plethren fehlen, vierseitig von Gestalt und zur Hälfte von äthiopischem Stein; von ihr behaupten manche Hellenen, sie sei von der Buhlerin Rhodopis, was nicht richtig ist. Ja, wenn sie dieses sagen, seh' ich, daß sie nicht einmal wissen, wer Rhodopis war; sonst würden sie ihr nicht die Errichtung einer solchen Pyramide zuschreiben, wofür man sozusagen unzählige Tausende von Talenten braucht; außerdem hat Rhodopis unter dem König Amasis geblüht und nicht unter diesem. Nämlich gar viele Jahre nach diesen Königen, welche diese Pyramiden hinterließen, lebte Rhodopis, gebürtig aus Thrazien, und war Jadmons Sklavin, eines Sohnes des Hephaistopolis aus Samos, und Mitsklavin Äsops, des Fabeldichters. Denn auch dieser war bei Jadmon, wofür das nicht den schwächsten Beweis abgab, daß auf den oftmaligen Aufruf der Delphier, nach göttlichem Spruch, wer den Bußzoll für das Leben Äsops erheben wolle, sonst niemand erschien als der Sohn von Jadmons Sohne, auch ein Jadmon, der ihn erhob. Also war auch Äsop bei Jadmon.

[Anmerkung:] 134. Äsop war als Gesandter des Königs Kroisos nach Delphi gekommen. Die Delphier hatten ihn der Gotteslästerung beschuldigt und ihn von einem Felsen herabgestürzt. Das Orakel befahl ihnen, einen Sühnepreis für das Leben des unschuldig Getöteten zu zahlen. Sie boten den Sühnepreis öffentlich aus, und der Enkel Jadmons, dessen Sklave Äsop gewesen war, erklärte sich bereit, ihn in Empfang zu nehmen.

 

135. Rhodopis nun kam nach Ägypten, indem sie der Samier Xanthos dahin brachte, und zwar als Lustdirne, wurde aber hier um einen hohen Preis losgekauft von Charaxos aus Mytilene, dem Sohne des Skamandronymos und Bruder der Liederdichterin Sappho. So wurde denn Rhodopis befreit und blieb in Ägypten, und da sie voll Liebreiz war, erwarb sie sich große Schätze für eine Rhodopis, darum aber doch nicht genug zum Bau einer solchen Pyramide. Noch heute kann ja, wer will, den Zehnten von ihren Schätzen sehen, und da braucht man ihr keine großen Schätze zuzuschreiben. Rhodopis wollte nämlich gern ein Denkmal von sich in Hellas hinterlassen, indem sie ein solches Stück, wie es sonst in keinem Heiligtum erfunden und gestiftet ist, nach Delphi zu ihrem Gedächtnis weihte. Da ließ sie denn viele Bratspieße, jeden für einen ganzen Ochsen, von Eisen machen, soviel ihr Zehnten betrug, und schickte sie nach Delphi, wo sie auch jetzt noch aufgehäuft liegen, hinter dem Altar, den die Chier geweiht haben, dem eigentlichen Tempel gegenüber. Überhaupt pflegen die Buhlerinnen in Naukratis liebreizend zu sein. Denn auf der einen Seite erlangte diese, der man das Angeführte nachsagt, einen solchen Ruhm, daß wirklich allen Hellenen der Name Rhodopis bekannt geworden ist; sodann ist nach ihr auch der Name einer Archidike in Hellas ertönt, die jedoch weniger als jene das allgemeine Gespräch war. Als aber Charaxos nach der Loskaufung der Rhodopis nach Mytilene heimgekehrt war, verspottete ihn Sappho gründlich in einem Liede. Genug denn von der Rhodopis!

[Anmerkung:] 135. Jakob Burckhardt bemerkt zum Weihgeschenke der Rhodopis: »Sollten diese Bratspieße für große Festopfer dienen, oder handelt es sich um einen Witz, dessen Symbolik wir, bei dem Widerwillen gegen das Symbolische, womit wir getränkt sind, nicht mehr ergründen können?« Die Bratspieße dürften allerdings Symbole sein, aber obszöne.

 

136. Nach Mykerinos, sagten die Priester, sei Asychis König über Ägypten gewesen; der habe dem Hephästos die Vorhallen gegen Sonnenaufgang hin errichtet, bei weitem die schönsten und bei weitem die größten. Zwar sind an sämtlichen Vorhallen Bildwerke eingehauen und sonst tausenderlei Bauschmuck zu schauen, aber bei jenen zuallermeist. Unter diesem König, sagten sie, haben die Ägypter bei großer Stockung im Geldverkehr ein Gesetz bekommen, daß man nur, wenn man den Leichnam seines Vaters zum Pfand hergebe, eine Schuld aufnehmen könne, wozu noch das Gesetz gefügt worden sei, daß der Darleiher zugleich über die ganze Gruft dessen, der die Schuld aufnimmt, Herr sei, und der Einsetzer des Pfandes, wolle er die Schuld nicht abtragen, der Strafe unterworfen sei, daß weder ihm selbst nach seinem Ende ein Begräbnis zuteil werde, noch der Seinigen irgendeiner nach seinem Ableben in jenem väterlichen Grab oder in sonst einem begraben werden dürfe. Auch habe dieser König die früheren Könige überbieten wollen und zu seinem Gedächtnis eine Pyramide hinterlassen, die er aus Ziegeln machte, an der Schriften in Stein gegraben waren, die so viel besagten: »Schätze mich nicht gering neben den steinernen Pyramiden; denn ich übertreffe sie so sehr wie Zeus die anderen Götter. Denn man langte mit einer Stange in einen See hinunter, und allen Schlamm, der an die Stange sich anhängte, nahm man, bildete Ziegel daraus und hat mich auf diese Art aufgerichtet.« Das habe dieser ausgeführt.

137. Nach diesem soll König gewesen sein ein blinder Mann aus der Stadt Anysis, mit Namen Anysis. Unter diesem König seien die Äthiopier und Sabako, der Äthiopier König, mit starker Macht auf Ägypten losgezogen. Da sei dieser Blinde eilig in die Marschländer geflohen, der Äthiopier aber fünfzig Jahre lang König über Ägypten gewesen, in denen er folgendes ausgeführt habe: Sooft sich ein Ägypter verging, gedachte er, keinen zu töten, sprach aber doch jedem, nach der Größe des Verbrechens, sein Urteil, wonach er ihnen auferlegte, Erde aufzudämmen, jeder Verbrecher an der Stadt, aus der er war. So wurden die Städte noch höher. Zuerst nämlich wurden sie von denen aufgeschüttet, welche die Rinngräben unter König Sesostris gruben; unter dem Äthiopier fernerhin wurden sie nun gar hoch. Während aber schon andere Städte in Ägypten hoch liegen, kommt es mir so vor, als ob man die Stadt Bubastis besonders hoch aufgeschüttet habe, in der auch ein Heiligtum der Bubastis steht, das sehr merkwürdig ist; denn es gibt wohl andere Heiligtümer von größerem Umfang, die auch mehr gekostet haben, aber keines ist anmutiger als dies zu schauen. Bubastis ist nach der hellenischen Sprache Artemis.

[Anmerkung:] 137. Sabako, ägyptisch Schabaka, regierte von 712 bis 700 v. Chr.

 

138. Dieses Heiligtum der Göttin ist also beschaffen. Abgesehen vom Eingang ist alles eine Insel, indem Rinngräben vom Nil hereingehen, die, ohne sich zu vermischen, auf jeder Seite bis zum Eingang des Heiligtums laufen, so daß es rechts der eine, links der andere umströmt, jeder von hundert Fuß Breite und von Bäumen beschattet. Die Vorhallen aber haben eine Höhe von zehn Klaftern und sind mit sechs Ellen hohen Bildwerken ausgeschmückt, die beachtlich sind. Da das Heiligtum mitten in der Stadt liegt, sieht man es, wenn man sie umwandert, auf dem ganzen Weg unter sich. Da nämlich die Stadt hoch aufgeschüttet, das Heiligtum aber noch unverrückt ist, wie es von Anfang errichtet ward, so hat man freien Einblick. Um dasselbe läuft ein Wall, in den Bilder eingehauen sind. Innen ist aber ein Hain von den höchsten Bäumen um einen großen Tempel her angepflanzt, in dem das Götterbild selbst steht. Breite und Länge des Heiligtums beträgt nach jeder Seite hin ein Stadion. Nach dem Eingange zieht sich noch ein Weg, mit Steinen gepflastert, so ziemlich drei Stadien lang, der über den Markt gegen Morgen führt, in einer Breite von vier Plethren, rechts und links mit himmelhohen Bäumen bepflanzt; der führt ins Hermesheiligtum.

139. Aber die endliche Entfernung jenes Äthiopiers, sagten sie, sei so gekommen. Er sei nach einem Traumgesicht eilig entwichen, in welchem ihm vorkam, ein Mann an seiner Seite rate ihm, die Priester in Ägypten zu versammeln und in Stücke zu hauen. Nach diesem Gesicht habe er gesagt, die Götter, bedünke ihn, hielten ihm diesen Vorwand hin, damit er durch Frevel am Heiligen sich von Göttern oder Menschen ein Unglück zuzöge; nun werde er aber das nicht tun, vielmehr sei die Zeit vorbei, in der ihm bestimmt sei, Ägypten zu beherrschen und es dann zu verlassen. Noch in Äthiopien nämlich hatten ihm die Orakel, an die sich die Äthiopier halten, den Spruch erteilt, daß er über Ägypten fünfzig Jahre König sein sollte. Als diese Zeit abgelaufen war und ihn noch das nächtliche Traumgesicht beunruhigte, zog Sabako freiwillig aus Ägypten ab.

[Anmerkung:] 139. Der äthiopischen Fremdherrschaft machten zunächst die Assyrier ein Ende. Von 670 bis 663 war Ägypten assyrische Provinz. Psammetichos von Sais war assyrischer Vasall, schüttelte die assyrische Oberherrschaft ab und eroberte dann die einzelnen ägyptischen Teilfürstentümer. Herodot folgt der ägyptischen Sage, die diese Vorgänge vereinfacht und zusammendrängt.

 

140. Als nun der Äthiopier sich aus Ägypten entfernt hatte, soll der Blinde wieder zur Herrschaft aus den Marschländern hervorgegangen sein, in denen er fünfzig Jahre, unter Aufschüttung einer Insel aus Asche und Erde, zugebracht hatte. Er soll nämlich die Ägypter, die mit Speise zu ihm kamen, wozu immer Leute ohne Wissen des Äthiopiers beauftragt waren, geheißen haben, ihm Asche zum Geschenke mitzubringen. Diese Insel konnte vor Amyrtaios niemand ausfindig machen, sondern mehr als siebenhundert Jahre lang waren die Könige vor Amyrtaios nicht imstande, sie aufzufinden. Der Name aber dieser Insel ist Elbo, und ihre Größe beträgt in jeder Richtung zehn Stadien.

[Anmerkung:] 140. Amyrtaios kämpfte als Führer der aufständischen Ägypter um 460 v. Chr. gegen die Perser und hielt sich längere Zeit in den Deltasümpfen. Vielleicht entstand erst damals, also zu Lebzeiten Herodots, die Sage vom Blinden im Sumpfe. Bei jedem Befreiungskampfe wird nach Vorgängern gesucht.

 

141. Nach diesem sei nun der Priester des Hephästos, mit Namen Sethon, König geworden; der habe sich nichts daraus gemacht, den streitbaren Stand der Ägypter zu mißachten, als werde er seiner niemals bedürfen. Er tat ihnen allerhand Schimpf an und nahm ihnen auch die Felder weg, die ihnen unter den vorigen Königen, einem jeden zwölf auserlesene Felder, zugeteilt worden waren. Darauf sei aber Sanacharibos, der König der Araber und Assyrier, mit einem großen Heere gegen Ägypten gezogen, und nun hätten die streitbaren Ägypter auch nicht gegen ihn ausrücken wollen. Da sei der Priester, im Drang der äußersten Not, ins Allerheiligste gegangen und habe vor dem Götterbild gejammert, welches Schicksal ihm drohe. Unter dem Wehklagen sei er aber in Schlaf gefallen, und es sei ihm vorgekommen in einem Gesicht, der Gott stehe bei ihm und spreche ihm Mut ein, wie er, ohne etwas Widriges zu befahren, dem arabischen Heer entgegenziehen könne; denn er selbst werde ihm Helfer senden. Im Vertrauen auf diese Traumerscheinung habe er also von den Ägyptern mitgenommen, was ihm folgen wollte, und habe in Pelusion ein Lager aufgeschlagen. Da sind nämlich die Pässe des Landes. Es sei ihm aber kein einziger Streitbarer gefolgt, sondern nur Krämer, Handwerker und Marktvolk. Als sie dahin gekommen wären, habe sich des Nachts über ihre Gegner ein Schwarm von Feldmäusen ergossen und habe ihre Köcher zernagt und die Bogen, auch die Handhaben der Schilde, so daß am folgenden Tag, da sie entblößt von Waffen flohen, eine Menge gefallen sei. Daher steht jetzt dieser König als Steinbild im Hephästosheiligtum mit einer Maus auf der Hand und spricht durch Buchstaben also: »Schau auf mich und sei fromm!«

[Anmerkung:] 141. Die Maus ist das Symbol des Untergangs und der Vernichtung. Der König trägt sie als Zeichen seiner Macht. Die Abbildung ist dann mißverstanden worden und hat den Anlaß zu der Sage von den hilfreichen Feldmäusen gegeben.

 

142. So weit in dieser Geschichte haben die Ägypter und ihre Priester mir gesagt und nachgewiesen, daß vom ersten König bis auf diesen Priester des Hephästos, der zuletzt König war, dreihundertundeinundvierzig Menschenalter, und in diesen ebensoviele Könige und auch ebensoviele Oberpriester gewesen seien. Nun machen dreihundert Menschenalter zehntausend Jahre aus, da drei Menschenalter hundert Jahre sind. Sodann die einundvierzig noch übrigen Menschenalter, die zu den dreihundert kamen, sind tausenddreihundertundvierzig Jahre. Also in elftausenddreihundertundvierzig Jahren kam, wie sie sagten, kein Gott in Menschengestalt vor, wie sie denn auch bei den weitern Königen von Ägypten nichts der Art von früherer oder späterer Zeit berichteten. In ebendieser Zeit nun, sagten sie, sei die Sonne viermal im Aufgang aus der Ordnung gekommen: zweimal von da, wo sie jetzt untergeht, aufgegangen, und zweimal da, von wo sie jetzt aufgeht, untergegangen; und dabei sei gar nichts in Ägypten anders geworden, weder in den Erträgnissen des Landes, noch des Flusses, noch mit den Krankheiten, noch in den Sterbefällen.

143. Wie es nun die Priester des Zeus in Theben früher schon mit dem Geschichtschreiber Hekataios machten, als er ihnen seine Vorfahren aufzählte und im sechzehnten Glied seinen väterlichen Stamm an einen Gott anknüpfte, so machten sie es auch mit mir, ohne daß ich meine Vorfahren aufzählte. Sie führten mich in den Tempelraum, der groß ist, und zeigten mir die ganze angegebene Zahl an hölzernen Riesenstandbildern. Denn jeder Oberpriester stellt bei Lebzeiten daselbst sein Bildnis auf. Davon wiesen mir also die Priester die Zahl, so daß sie immer wieder vom Sohne den Vater nachwiesen, indem sie vom Bildnis des zuletzt Verstorbenen an alle durchgingen, bis sie dieselben sämtlich gezeigt hatten. Wie aber Hekataios seine Vorfahren aufzählte, und im sechzehnten Glied an einen Gott anknüpfte, haben sie demgegenüber bei der Zählung auch das Geschlechtsregister angesagt, indem sie's ihm nicht zugestanden, daß ein Mensch von einem Gott stamme. Sie sagten es ihm gegenüber so an, daß sie jedes von den Riesenstandbildern für einen Piromis, der von einem Piromis stamme, erklärten, bis sie alle dreihundertundfünfundvierzig Riesenstandbilder als Piromis, stammend von Piromis, nachgewiesen hatten, ohne daß sie dieselben an einen Gott oder einen Heroen anknüpften. Piromis aber ist nach unserer Sprache ein Edler und Guter.

[Anmerkung:] 143. Hekataios von Milet (um 500 v. Chr.) schrieb die »Genealogien«, in denen er die Sagengeschichte der einzelnen Stämme und Ortschaften erzählte, und eine von Herodot häufig benutzte »Erdbeschreibung«. Die ägyptischen Priester machten sich darüber lustig, daß die griechischen Stammbäume immer sehr rasch bei irgendeinem Göttersohne landeten. – Die griechische Bezeichnung »edel und gut« für einen Aristokraten entspricht etwa dem Begriffe Gentleman.

 

144. Solcher Art denn, erklärten sie sofort, seien sie alle, deren Bildnisse dastanden, von den Göttern aber weit entfernt. Doch vor diesen Menschen seien Götter die Herrscher in Ägypten gewesen und hätten bei den Menschen gewohnt, und davon habe immer einer die Obergewalt gehabt; zuletzt sei Oros, der Sohn des Osiris, ihr König gewesen, den die Hellenen Apollo nennen; der sei nach Absetzung des Typhon zuletzt König gewesen. Osiris aber ist Dionysos nach der hellenischen Sprache.

145. Bei den Hellenen nun gelten Herakles, Dionysos und Pan für die jüngsten Götter; in Ägypten aber ist Pan der allerälteste, und zwar gehört er zu denen, welche die acht ersten Götter sein sollen; Herakles zu den zweiten, die ihrer zwölf sein sollen; und Dionysos zu den dritten, den Nachkommen der zwölf Götter. Nun habe ich aber schon angezeigt, wieviele Jahre nach der Angabe der Ägypter von Herakles bis auf König Amasis seien: von Pan an aber sollen es deren noch mehr, von Dionysos an am wenigsten sein, wiewohl man auch von diesem an fünfzehntausend Jahre bis auf König Amasis zählt. Dieses behaupten die Ägypter mit Bestimmtheit zu wissen, da sie die Jahre beständig zählten und beständig aufschrieben. Von Dionysos, welcher der Sohn Semeles, der Tochter des Kadmos, sein soll, sind es nun etwa tausendsechshundert Jahre bis auf mich, und von Herakles, Alkmenes Sohne, neunhundert Jahre; endlich von Pan, dem Sohne der Penelope (denn dieser und des Hermes Sohn soll Pan nach den Hellenen sein), sind weniger Jahre als von den Zeiten des Trojanischen Krieges her, etwa achthundert bis auf mich.

146. Von diesen beiderseitigen Angaben steht es nun frei, die anzunehmen, welche man eher glauben will, und ich habe schon meine Meinung über dieselben dargetan. Denn wenn auch diese in Hellas sichtbar und ebendaselbst alt geworden wären, nämlich wie Herakles, Amphitryons Sohn, so auch Dionysos, Semeles Sohn, und Pan, Penelopes Sohn, so könnte man wohl sagen, daß auch diese als Menschen geboren worden seien und die Namen jener ältern Götter bekommen hätten. Nun sagen aber die Hellenen von Dionysos, daß ihn gleich nach seiner Geburt Zeus in seine Hüfte genäht und nach Nysa gebracht habe, das oberhalb von Ägypten in Äthiopien liegt, und von Pan wissen sie nicht einmal anzugeben, wohin er nach seiner Geburt geraten sei. Da ist mir denn offenbar, daß die Hellenen die Namen dieser Götter später als die der übrigen erfahren haben, und ihren Ursprung von der Zeit an zählen, seit der sie von ihnen etwas erfahren haben. Das war es also, was die Ägypter selbst sagen.

147. Was nun noch die andern Menschen, und die Ägypter in Übereinstimmung mit den andern, sagen, daß in diesem Lande vorgekommen sei, das will ich nunmehr bemerken, und dazu wird auch manches, was ich selbst gesehen habe, kommen. Als die Ägypter nach der Herrschaft des Hephästospriesters frei geworden waren, stellten sie (denn nie waren sie imstande, ohne König zu leben) zwölf Könige auf, indem sie ganz Ägypten in zwölf Bezirke teilten. Diese Könige herrschten nach wechselseitiger Verbindung durch Heiraten unter dem gemeinschaftlichen Gesetz, daß sie einander nicht stürzen noch trachten wollten, einer vor dem andern etwas voraus zu bekommen; vielmehr wollten sie ganz und gar Freunde sein. Dies machten sie deswegen sich zum Gesetz, auf das sie streng hielten, weil ihnen gleich anfangs, als sie ihre Herrschaft antraten, der Spruch geworden war, wer von ihnen aus eherner Schale spenden werde im Hephästosheiligtum, der werde über ganz Ägypten König sein. Sie kamen nämlich immer zusammen in alle Heiligtümer.

148. So beschlossen sie denn auch, miteinander ein gemeinsames Denkmal zu hinterlassen, und errichteten demzufolge das Labyrinth, das ein wenig oberhalb von dem Mörissee, ziemlich nahe bei der sogenannten Krokodilstadt liegt. Dies habe ich sogar selbst gesehen und fand es über alle Beschreibung. Denn nähme einer alle die Bauten der Hellenen und die von ihnen aufgeführten Werke und rechnete ihre Arbeit und ihren Aufwand zusammen, so würde das sich doch unter diesem Labyrinthe zeigen, sosehr auch der Tempel in Ephesos und der in Samos gewiß der Rede wert sind. Zwar waren schon die Pyramiden über alle Beschreibung erhaben und jede für sich viele der größten hellenischen Werke wert; allein das Labyrinth übertrifft noch die Pyramiden. Es hat nämlich zwölf bedeckte Höfe, deren Tore einander gegenüberstehen, sechs gegen den Nord und sechs gegen den Süd gelegen in einer Reihe, und außen herum schließt sie eine Mauerwand ein. Im Innern sind zweierlei Gemächer, die einen unterirdisch, die andern im obern Raum über diesen, dreitausend an der Zahl, von jeder Art eintausendfünfhundert. Von den Gemächern des obern Raumes nun spreche ich nach eigener Anschauung, wie ich sie mit eigenen Augen durchging; aber von den unterirdischen habe ich mir nur berichten lassen. Denn die ägyptischen Aufseher wollten sie durchaus nicht zeigen, weil nämlich daselbst die Gräber der Könige, die ursprünglich dieses Labyrinth erbaut hätten, und der heiligen Krokodile sich befänden. Also spreche ich von den untern Gemächern nach dem Hörensagen; die obern aber, fast übermenschliche Werke, habe ich selbst beschaut. Hat man doch an den Ausgängen, die durch die Zimmer, und den Schlangengängen, die durch die Höfe sich so ganz mannigfach ziehen, sein größtes Wunder, wenn man aus einem Hof hineingeht in die Gemächer und aus den Gemächern in Vorhallen, und wieder in andere Zimmer aus den Vorhallen und in andere Höfe aus den Gemächern, in denen allen die Decke, ebenso wie die Wand, von Stein und die Wand überall voll von eingegrabenen Bildern ist. Auch ist jeder Hof außen mit Säulen von weißem, genau gefügtem Stein umgeben. An der Ecke aber, an der das Labyrinth aufhört, stößt eine Pyramide von vierzig Klaftern daran, in die große Bildwerke eingegraben sind, und zu ihr führt ein unterirdischer Weg.

[Anmerkung:] 148. Das von Amememhet III. um 2200 v. Chr. bei Medinet al Fajum erbaute Labyrinth war ein Pantheon aller ägyptischen Gottheiten.

 

149. Noch größere Bewunderung als dieses doch so einzigartige Labyrinth erweckt der sogenannte Mörissee, bei dem dieses Labyrinth erbaut ist. Das ganze Maß seines Umfangs beträgt dreitausendundsechshundert Stadien, was sechzig Schoinen sind, ebensoviele wie Ägypten längs dem Meere hat. Dieser See liegt der Länge nach vom Nord gegen den Süd und mißt in seiner tiefsten Tiefe fünfzig Klafter. Daß er aber von Menschenhänden gemacht und gegraben ist, zeigt sich an ihm selbst. Denn so ziemlich mitten im See stehen zwei Pyramiden, von denen jede fünfzig Klafter über das Wasser hervorragt und wiederum ebenso tief ins Wasser hineingebaut ist; auf beiden aber ist ein steinernes Riesenstandbild, sitzend auf einem Thronstuhl. Also sind diese Pyramiden hundert Klafter hoch, und diese hundert Klafter machen gerade ein Stadion von sechs Plethren aus, die Klafter zu sechs Fuß oder vier Ellen gemessen, da der Fuß vier Handbreiten und die Elle sechs Handbreiten ausmacht. Das Wasser nun in diesem See hat nicht dort seinen eigenen Ursprung; denn hier ist ja das Land recht wasserarm, sondern es ist aus dem Nil durch einen Rinngraben hineingeleitet, und zwar läuft es sechs Monate in den See hinein, sechs andere Monate wieder in den Nil heraus. Solange es nun daraus abläuft, wirft es allemal die sechs Monate hindurch dem Königshaus täglich ein Silbertalent an Fischen ab, solange aber das Wasser hineinströmt, zwanzig Minen.

150. Auch sagten mir die Eingebornen, daß dieser See sich in die libysche Syrte ergieße, indem er sich unter der Erde längs dem Gebirge oberhalb Memphis gegen Abend in das Binnenland hineinziehe. Da ich nun nirgends den Schutt aus diesem Graben liegen sah, und es mir gleichwohl darum zu tun war, fragte ich die nächsten Anwohner des Sees, wo der ausgegrabene Schutt wäre. Diese haben mir angezeigt, wohin er gebracht worden ist, und mich's leicht glauben gemacht, weil ich durch Erzählung wußte, wie auch in der assyrischen Stadt Ninos ein Gleiches geschehen war. Nämlich die Schätze des Königs Sardanapallos, des Sohnes des Ninos, waren groß und wurden in Schatzkammern unter der Erde verwahrt. Diebe nahmen sich vor, sie auszugraben, und diese Diebe zogen von ihrem Hause in der Richtung zum königlichen Hause einen unterirdischen Graben; den Schuttauswurf aus diesem Graben warfen sie, sooft es Nacht wurde, in den Tigrisfluß, der an Ninos vorbeiströmt, bis sie zustande gebracht hatten, was sie wollten. Ein Gleiches, hörte ich, sei auch bei dem Graben am ägyptischen See geschehen, nur nicht des Nachts, sondern am Tage: die Ägypter hätten nämlich den Schutt, den sie ausgruben, in den Nil geworfen, der ihn aufnahm und rasch verschwemmte. So, sagt man, sei dieser See gegraben worden.

151. Die zwölf Könige nun, die immer Gerechtigkeit geübt hatten, opferten einmal im Heiligtum des Hephästos, und als sie am letzten Tage des Festes eben das Trankopfer ausgießen wollten, brachte der Oberpriester die goldenen Schalen heraus, mit denen sie zu spenden pflegten, aber für die zwölf nur elf, weil er sich verzählte. Wie also der letzte in der Reihe, Psammetichos, keine Schale hatte, nahm er seinen Helm von Erz ab, hielt ihn unter und spendete damit. Auch die andern Könige trugen nämlich insgesamt Helme und hatten sie auch damals auf. Psammetichos hatte zwar ohne jede böse Absicht den Helm dargehalten; aber die andern faßten diese Handlung des Psammetichos und den Orakelspruch zu Herzen, in dem ihnen verkündet war, welcher von ihnen spende mit eherner Schale, der werde allein König von Ägypten werden: in Erinnerung an diesen Spruch hielten sie es zwar nicht für gut, den Psammetichos zu töten, da sie nach Untersuchung befanden, daß er's ohne Absicht getan; beschlossen aber, ihn des besten Teils seiner Macht zu entkleiden und ihn in die Marschländer zu treiben, von denen aus er mit dem übrigen Ägypten nicht verkehren dürfe.

152. Diesen Psammetichos nun hatten von einer früheren Flucht vor dem Äthiopier Sabako, der seinen Vater Nekos getötet – von dieser damaligen Flucht nach Syrien hatten ihn, nachdem der Äthiopier auf sein Traumgesicht hin abgezogen war, die Ägypter zurückgeholt, und zwar die aus dem saïtischen Kreise: und jetzt als König traf es ihn, daß er zum zweitenmal vor den elf Königen, wegen des Helms, in die Marschländer fliehen mußte. Nun nahm er sich aber vor, sich an seinen Vertreibern zu rächen, weil er glaubte, daß sie ihn schändlich behandelt hätten. Da kam ihm auf seine Sendung nach der Stadt Buto ans Leto-Orakel, woselbst die Ägypter ihre untrüglichste Weissagung haben, der Spruch zu, vom Meere her werde ihm in der Erscheinung eherner Männer Rache kommen. Freilich trug er einen starken Unglauben in sich, daß eherne Männer ihm zu Hilfe kommen würden. Es dauerte aber nicht lange, so mußten ionische und karische Männer, die nach Beute ausgeschifft waren, nach Ägypten verschlagen werden; als diese in ihrer ehernen Rüstung ans Land gestiegen waren, kommt in die Marschländer zu Psammetichos ein Ägypter mit der Botschaft (da er nämlich zuvor noch keine Männer in eherner Rüstung gesehen hatte), es seien eherne Männer vom Meere hergekommen, die das Feld plünderten. Da merkte er die Erfüllung des Götterspruches, schloß Freundschaft mit den Ioniern und Karern und bewog sie durch große Versprechungen, auf seine Seite zu treten. Als er sie dazu bewogen hatte, stürzte er wirklich mit den ihm gleichgesinnten Ägyptern und diesen Hilfstruppen die Könige.

153. Als nun Psammetichos Herr über ganz Ägypten geworden war, errichtete er in Memphis dem Hephästos die Vorhallen, die gegen den Südwind liegen, und baute dem Apis einen Hof, in dem derselbe, sooft er sich zeigt, unterhalten wird, gegenüber von den Vorhallen, ganz mit Säulen umgeben und voll Bildwerke; und anstatt der Pfeiler stützen diesen Hof Riesenstandbilder von zwölf Ellen Höhe. Apis ist aber nach der hellenischen Sprache Epaphos.

[Anmerkung:] 153. Psammetichos I. regierte von 663 bis 610 v. Chr. – Epaphos ist der Sohn des Zeus und der Jo.

 

154. Den Ioniern aber und den Karern, die für seine Sache mitgearbeitet hatten, gab Psammetichos Ländereien zur Niederlassung, die einander gegenüberliegen, indem der Nil die Mitte hält, und »Lager« war der Name, den sie bekamen. Diese Ländereien gab er ihnen und erfüllte auch sonst noch alle seine Versprechungen; zudem übergab er ihnen ägyptische Knaben zum Unterricht in der hellenischen Sprache. Von diesen, welche die Sprache erlernt haben, stammen die jetzigen Dolmetscher in Ägypten. So bewohnten nun die Ionier und Karer lange Zeit hindurch jene Ländereien, die gegen das Meer hin, ein wenig unterhalb der Stadt Bubastis, an der sogenannten pelusischen Mündung des Nils gelegen sind. Doch in späterer Zeit hieß sie König Amasis dieselben räumen und in Memphis sich niederlassen, um an ihnen eine Wache gegen die Ägypter zu haben. Infolge dieser Niederlassung in Ägypten wissen nun wir Hellenen, durch Verkehr mit ihnen, alles, was seit König Psammetichos und nachmals in Ägypten geschah, mit Bestimmtheit. Denn sie waren die ersten Leute fremder Zunge, die Wohnsitze in Ägypten erhielten. Auch befanden sich in jenen Gegenden, die sie räumen mußten, wirklich noch zu meiner Zeit die Walzen ihrer Schiffe und die Trümmer ihrer Wohnungen. So gewann Psammetichos Ägypten.

155. Nachdem ich des Orakels von Ägypten schon häufig gedacht habe, will ich jetzt eigens davon sprechen, wie es denn auch der Rede wert ist. Dieses Orakel von Ägypten ist nämlich der Leto heilig und gegründet in einer großen Stadt bei der sogenannten sebennytischen Mündung des Nils, wo man vom Meere landeinwärts fährt. Der Name dieser Stadt, in der das Orakel steht, ist Buto, wie ich sie zuvor schon namhaft gemacht habe. In diesem Buto steht ein Heiligtum des Apollo und der Artemis. Nun ist der Tempel der Leto, in dem das Orakel ist, selbst schon recht groß, und seine Vorhallen erheben sich zu einer Höhe von zehn Klaftern; was aber unter den Dingen, die zu sehen erlaubt ist, meine größte Bewunderung erregte, das will ich anzeigen. In diesem heiligen Bezirk der Leto steht nämlich ein Tempel, der aus einem Stein in die Höhe und in die Länge gearbeitet ist und bei gleichen Wänden überall vierzig Ellen mißt. Auch als Schlußdecke liegt wieder ein Stein darauf mit einem vierellenbreiten Dachvorsprunge.

156. Dieser Tempel also ist mir von dem, was von diesem Heiligtume zu sehen erlaubt ist, das Bewundernswürdigste; nächstdem aber die Insel mit Namen Chemmis, die in einem tiefen und breiten See neben dem Heiligtum in Buto liegt, und von der die Ägypter sagen, daß sie eine schwimmende Insel sei. Ich selbst habe sie nun weder schwimmen noch sich bewegen sehen; hörte aber mit Staunen, daß es wirklich schwimmende Inseln gebe. Auf ebendieser Insel steht ein großer Tempel des Apollo, und sind dreierlei Altäre errichtet: zugleich ist sie dicht mit Palmen und einer Menge anderer fruchtbarer und unfruchtbarer Bäume bepflanzt. Zu ihrer Behauptung, daß sie schwimmend sei, führen nun die Ägypter die Sage an, daß auf dieser Insel, die vorher nicht schwimmend gewesen sei, Leto, eine aus dem Geschlecht der acht ersten Götter und wohnhaft in der Stadt Buto, in der sie ebendieses Orakel hat, den Apollo geborgen habe, den sie von der Isis sich hatte anvertrauen lassen, und ihn so auf dieser Insel, die jetzt eine schwimmende heißt, damals gerettet habe, als eben Typhon überall herumsuchte, um den Sohn des Osiris aufzufinden. Apollo nämlich und Artemis, sagen sie, seien Kinder des Dionysos und der Isis, Leto aber ihre Pflegerin und Retterin gewesen. Auf ägyptisch nun ist Apollo Oros, Demeter ist Isis, Artemis ist Bubastis. Aus dieser und keiner andern Sage hat auch Aischylos, Euphorions Sohn, das genommen, was ich gleich anzeigen werde, und worin er der einzige ist unter den früheren Dichtern. Er hat nämlich die Artemis zu einer Tochter der Demeter gemacht. Also auf diese Art soll die Insel schwimmend gewesen sein. Das ist es, was sie sagen.

[Anmerkung:] 156. Aischylos (525-456 v. Chr.) schrieb 90 Tragödien, von denen nur 7 erhalten sind. Eine der verlorenen ist gemeint.

 

157. Psammetichos aber war König über Ägypten vierundfünfzig Jahre, von denen er neunundzwanzig vor der großen Stadt Azotos in Syrien lag, sie belagerte und endlich einnahm. Dieses Azotos hat unter allen Städten, von denen wir wissen, die langwierigste Belagerung ausgehalten.

[Anmerkung:] 157. Azotos: Asdod im Lande der Philister.

 

158. Psammetichos hatte einen Sohn, Nekos, der auch König von Ägypten ward. Dieser legte die erste Hand an den Kanal, der ins Rote Meer geht und von Dareios dem Perser vollendet wurde. Derselbe ist eine Fahrt von vier Tagen lang, und so breit angelegt, daß zwei Dreiruderer nebeneinander hindurchfahren können. Das Wasser ist in denselben aus dem Nil geleitet, und zwar ein wenig oberhalb der Stadt Bubastis, nach der arabischen Stadt Patumos hin, und so geht er dann ins Rote Meer. Zuerst ist er nämlich in die ägyptische Ebene, gegen Arabien hin, eingestochen, an die hinten das Gebirge stößt, das sich nach Memphis zieht und die Steinbrüche enthält. Am Fuße ebendieses Gebirges ist der Kanal der Länge nach von Abend gegen Morgen hingeleitet; alsdann zieht er sich aber in Schluchten hinein und läuft vom Gebirge gegen Mittag und den Südwind in den Arabischen Busen. Wo nun der kürzeste und nächste Durchweg aus dem nördlichen Meere in das südliche, ebendieses sogenannte Rote, führt, das ist vom kasischen Gebirge, der Grenze Ägyptens und Syriens, genau tausend Stadien in den Arabischen Busen. Das ist der nächste Durchweg: aber der Kanal ist viel länger, weil er mehr Krümmungen hat. Bei den Arbeiten am Kanal unter König Nekos gingen zwölfmal zehntausend Ägypter zugrunde. Nekos hörte indessen mitten im Graben auf, da ihm eine Weissagung in den Weg trat, daß er dem Barbaren vorarbeite. Barbaren nennen nämlich die Ägypter alle, die nicht die gleiche Sprache mit ihnen reden.

[Anmerkung:] 158. Nekos, ägyptisch Nekaw, regierte von 609 bis 595 v. Chr. Er wurde 605 von Nebukadnezar bei Karchemisch geschlagen und verlor damit die Herrschaft über Syrien.

 

159. Nekos hörte also mit dem Kanalbau auf und wandte sich zu Kriegszügen. Da wurden Dreiruderer, die einen fürs nördliche Meer, die andern im Arabischen Busen fürs Rote Meer, gemacht, wovon noch die Walzen sich zeigen. Die brauchte Nekos in der Zeit, da es nötig war, und besiegte auch die Syrier in einem Landtreffen zu Magdolos, nach welcher Schlacht er die große syrische Stadt Kadytis wegnahm. Das Kleid, in dem er gerade diese Taten vollbrachte, sandte er dem Apollo zum Weihgeschenk zu den Branchiden im Milesischen. Darauf starb er, nachdem er im ganzen sechzehn Jahre geherrscht hatte, und überließ seinem Sohne Psammis die Herrschaft.

[Anmerkung:] 159. Syrier: Juden. – Kadytis: Gaza, eine der fünf Hauptstädte der Philister, vielumkämpfter Grenzplatz, abwechselnd in den Händen der Ägypter, Assyrier, Babylonier und Perser. Noch beim ägyptischen Feldzug Napoleons und im Weltkriege (1916 und 1917) hat Gaza eine wichtige Rolle gespielt.

 

160. Unter diesem ägyptischen König Psammis geschah es, daß Gesandte der Eleer ankamen, die sich rühmten, daß sie unter allen Menschen ihr olympisches Kampfspiel am gerechtesten und schönsten eingerichtet hätten, und meinten, darüber hinaus könnten selbst die Ägypter, die weisesten Menschen, nichts mehr erfinden. Als nun die Eleer in Ägypten selbst sagten, weshalb sie gekommen waren, da rief der König die Ägypter zusammen, welche die Weisesten hießen. Die Ägypter versammelten sich und vernahmen aus dem Munde der Eleer alles, was sie bei ihrem Kampfspiel zu tun haben. Nachdem diese alles erzählt hatten, erklärten sie, sie kämen wegen weiterer Belehrung, ob die Ägypter hier noch etwas Gerechteres aufzufinden wüßten. Diese berieten und befragten dann die Eleer, ob ihre eigenen Bürger mitkämpften. Diese erklärten, es stehe jedem von ihnen wie von den andern Hellenen gleichermaßen frei zu kämpfen. Dagegen erklärten die Ägypter: bei dieser Einrichtung hätten sie das Recht ganz verfehlt; denn da helfe alles nichts, daß sie nicht, mit Ungerechtigkeit gegen Fremde, für die Kämpfer aus ihrer Stadt stimmen würden. Nein, wollten sie wirklich eine gerechte Einrichtung machen und seien deswegen nach Ägypten gekommen, so sollten sie ihr Kampfspiel für fremde Kämpfer einrichten und keinen Eleer kämpfen lassen. Das rieten die Ägypter den Eleern.

161. Auf Psammis, der nur sechs Jahre König von Ägypten war, einen Kriegszug nach Äthiopien unternahm und gleich darauf starb, folgte Apries, Psammis' Sohn. Der war nach seinem Urgroßvater Psammetichos der glücklichste unter den bisherigen Königen während einer Herrschaft von fünfundzwanzig Jahren, in denen er gegen Sidon ein Heer führte und mit dem Tyrier zur See kämpfte. Da es ihm aber schlimm ergehen sollte, so ging es von einem Anlaß aus, den ich ausführlicher in den libyschen Geschichten erzählen will, hier aber nur kurz. Apries sandte nämlich ein Kriegsheer wider die Kyrenaier aus, und da erlitt er einen harten Stoß. Indem sie ihm das vorwarfen, fielen die Ägypter von ihm ab, in der Meinung, Apries habe sie absichtlich in ihr offenbares Unglück geschickt, damit sie zugrunde gingen und er über die übrigen Ägypter unangefochtener herrsche. Das nahmen sich eben die Heimkehrenden und die Freunde der Umgekommenen arg zu Herzen und fielen ohne weiteres ab.

[Anmerkung:] 161. Apries, ägyptisch Wahebre, in der Bibel Hophra, regierte von 588 bis 569 und kämpfte namentlich gegen Babylonien, das 586 unter Nebukadnezar Jerusalem eroberte.

 

162. Auf die Nachricht hiervon schickte ihnen Apries den Amasis zu, um sie mit Worten zu beruhigen. Als nun dieser angekommen war und die Ägypter von ihrem Vorhaben abzubringen suchte, setzte ihm, während er ihnen zuredete, es nicht zu tun, ein Ägypter, der hinter ihm stand, einen Helm auf und erklärte dabei, mit diesem Helm habe er ihn als König bezeichnet. Dem war diese Handlung nicht eben unwillkommen, wie er bewies. Als ihn nämlich die abtrünnigen Ägypter zu ihrem König aufgestellt hatten, schickte er sich an, gegen Apries zu ziehen. Auf die Nachricht davon sandte nun Apries einen ehrenhaften Ägypter aus seiner Umgebung, mit Namen Patarbemis, an Amasis mit dem Auftrag, denselben lebendig vor ihn zu bringen. Wie Patarbemis mit seiner Einberufung zu Amasis kam, lüpfte sich Amasis (denn er saß gerade zu Pferde) und ließ einen streichen, und das hieß er ihn dem Apries bringen. Dennoch soll Patarbemis verlangt haben, daß er auf die Sendung des Königs zu ihm gehen müsse, aber die Antwort bekommen haben, daß er hierzu sich längst anschicke, und Apries solle ihm nichts vorzuwerfen haben: denn er werde sich einfinden und auch noch andere mitbringen. Nun sei dem Patarbemis nach solchen Reden über seine Gesinnung kein Zweifel geblieben, und er sei, wie er denn auch seine Anstalten sah, in Eile abgegangen, um schleunigst dem Könige anzuzeigen, was im Werk sei. Als er aber bei Apries angekommen sei, ohne den Amasis mitzubringen, habe dieser, ohne lange zu fragen, im größten Zorn Befehl gegeben, ihm Ohren und Nase abzuschneiden. Sobald die übrigen Ägypter, die noch für ihn gesinnt waren, ihren ehrenhaftesten Mann so schandbar beschimpft sahen, da hielten sie sich keinen Augenblick mehr, fielen auch zu den andern ab und ergaben sich dem Amasis.

163. Apries bekam auch hiervon Nachricht, bewaffnete nun seine Hilfsvölker und führte sie gegen die Ägypter. Er hatte nämlich Karer und Ionier als Hilfsvölker bei sich, dreißigtausend Mann, und seine Königsburg war in der Stadt Saïs, groß und sehenswert. So ging Apries mit den Seinen auf die Ägypter, Amasis mit den Seinen auf die Fremden los, und beide kamen zur Stadt Momemphis, um alsbald sich im Kampfe zu messen.

164. Die Ägypter haben aber sieben Geschlechter, die da Priester, Krieger, Rinderhirten, Schweinehirten, Gewerbsleute, Dolmetscher und Steuermänner genannt sind. Soviel Geschlechter haben die Ägypter, und ihre Namen kommen von ihrem Geschäft. Ihre Krieger heißen Kalasirier und Hermotybier und sind aus folgenden Kreisen; denn ganz Ägypten ist in Kreise geteilt.

165. Die Kreise der Hermotybier sind: der von Busiris, von Saïs, von Chemmis, von Papremis, die sogenannte Insel Prosopitis und halb Natho. Aus diesen Kreisen sind die Hermotybier, die in höchster Kriegsstärke hundertundsechzigtausend Mann ausmachen. Von diesen lernt keiner ein Handwerk, sondern sie widmen sich nur dem Kriegswesen.

166. Die Kreise aber der Kalasirier sind: der von Theben, von Bubastis, Aphthis, Tanis, Mendes, Sebennys, Athribis, Pharbaithis, von Thmuis, von Onuphis, von Anysis und von Myekphoris, ein Kreis, der auf einer Insel liegt, gegenüber der Stadt Bubastis. Das sind die Kreise der Kalasirier, die in höchster Kriegsstärke zweihundertundfünfzigtausend Mann ausmachen. Auch sie dürfen kein Gewerbe treiben, sondern üben einzig das Kriegsgeschäft, das vom Vater auf den Sohn übergeht.

167. Nun kann ich aber nicht mit Bestimmtheit entscheiden, ob die Hellenen auch das von den Ägyptern angenommen haben, indem ich's auch bei den Thraziern, Szythen, Persern und Lydern und fast bei allen Barbaren sehe, daß die ein Gewerbe treibenden Bürger samt ihren Nachkommen für minder ehrenwert als die andern gehalten werden, diejenigen aber, die sich mit keinem Handwerk befassen, für edel gelten, und vornehmlich die, welche sich dem Kriege widmen. Angenommen ist es einmal von allen Hellenen, und vornehmlich von den Lazedämoniern. Am wenigsten werden die Handwerker noch bei den Korinthern mißachtet.

168. Jene hatten auch ein besonderes Ehrenteil allein unter den Ägyptern, mit Ausnahme der Priester, nämlich jeder zwölf auserlesene Felder, steuerfrei. Das Feld hat aber in jeder Richtung hundert Ellen in Ägypten, und die ägyptische Elle ist genau so groß wie die samische. Das hatten sie insgesamt als besonderes Teil; folgendes aber genossen sie abwechslungsweise, und nie wieder dieselben. Je tausend Kalasirier und ebensoviel Hermotybier dienten ein Jahr lang als Leibwache des Königs: und diese bekamen dann außer ihren Feldern noch folgendes, Tag für Tag gereicht: an Gebäck jeder fünf Minen im Gewicht, an Rindfleisch zwei Minen, an Wein vier Schoppen. Das ward der jedesmaligen Leibwache gereicht.

169. Als nun Apries mit seinen Hilfsvölkern und Amasis mit allen Ägyptern gegeneinander ausrückten und bis zur Stadt Momemphis gekommen waren, stießen sie aufeinander, und so gut auch die Fremden kämpften, so wurden sie doch, da ihre Zahl bei weitem kleiner war, überwunden. Von Apries sagt man aber, sein Sinn wäre gewesen, daß ihn auch kein Gott des Königtums entsetzen könne: so fest dünkte er sich zu stehen. Allein damals wurde er im Treffen überwunden und gefangen abgeführt nach der Stadt Saïs, in sein vormaliges Haus, jetzt schon des Amasis Königsburg. Da wurde er eine Zeitlang in der Königsburg unterhalten: auch behandelte ihn Amasis gut. Als ihm die Ägypter aber schließlich vorwarfen, er tue daran nicht recht, daß er seinen und ihren ärgsten Feind unterhalte, so übergab er nun erst den Apries den Ägyptern. Diese erwürgten ihn und begruben ihn dann in den Gräbern seiner Väter. Sie liegen im Heiligtume der Athene, nächst dem Allerheiligsten, vom Eingang linker Hand. Im Innern dieses Heiligtums begruben die Saïten alle Könige aus diesem Kreise. So ist auch das Grabmal des Amasis zwar weiter vom Allerheiligsten als das des Apries und seiner Ahnen, indessen doch in einem Hofe des Heiligtums, eine große steinerne Halle, die mit Säulen, die Palmbäume vorstellen, und mit sonstiger Pracht geschmückt ist. In dieser Halle steht eine Doppeltür, und innerhalb des Gemaches, das sie schließt, ist das Grab.

170. Noch ist dessen Gruft, des Namen ich nicht für erlaubt halte bei einer solchen Sache auszusprechen, in Saïs, im Heiligtum der Athene, hinter dem Tempel, die ganze Wand der Athene entlang. Auch stehen in dem heiligen Bezirk große Spitzsäulen von Stein, und daran stößt ein See, mit einem steinernen Rand eingefaßt und schön in der Rundung gearbeitet, der mir von derselben Größe zu sein schien wie der sogenannte ringförmige in Delos.

[Anmerkung:] 170. Der Gott, den Herodot nicht nennt, ist wieder Osiris.

 

171. In diesem See geben sie nachts die Darstellungen seiner Schicksale, was die Ägypter ihren Geheimdienst nennen. Indessen hiervon laßt mich, obwohl ich mehr von der ganzen Art und Weise weiß, reinen Mund halten. Auch von der Weihe der Demeter, welche die Hellenen Thesmophorien nennen, laßt mich wiederum, obwohl ich davon weiß, reinen Mund halten, abgesehen von dem, was daran offen und erlaubt ist. Es waren die Töchter des Danaos, welche diese Weihe von Ägypten hergebracht und die pelasgischen Weiber gelehrt haben. Nachher aber, als alles im Peloponnes von den Doriern verheert wurde, ging die Weihe verloren, und nur die Peloponnesier, die zurückblieben und nicht ausgewandert sind, die Arkadier, haben dieselbe noch erhalten.

[Anmerkung:] 171. Die Thesmophorien wurden zum Andenken an die »Gesetzordnerinnen« Demeter und Persephone von den attischen Frauen gefeiert. Den Männern war die Teilnahme bei Todesstrafe verboten. Das übermütige Lustspiel des Aristophanes »Die Thesmophorienfeier« (410) behandelt das geheimnisvolle Fest, bei dem es nicht immer anständig herging, mit sehr viel weniger Ehrfurcht, als Herodot hier verlangt.

 

172. Nach solchem Sturz des Apries ward nun Amasis König, der aus dem Kreise von Saïs stammte; die Stadt, aus der er war, hat den Namen Siuph. Anfänglich verachteten die Ägypter den Amasis und hielten keine großen Stücke auf ihn, da er ja aus dem Volke herkam und aus keinem angesehenen Hause war; hernach aber gewann sie Amasis auf eine weisliche, gar nicht unvernünftige Art. Er hatte, wie überhaupt unzählige Güter, auch ein goldenes Fußbecken, in dem Amasis selbst samt allen seinen Gästen sich immer die Füße wuschen. Dieses zerschlug er und machte ein Götterbild daraus, das er an dem geeignetsten Platze der Stadt aufstellte. Nun gingen die Ägypter zu diesem Bild hinaus und verehrten es höchlich. Sobald aber Amasis Kenntnis hatte von dem Betragen der Leute, rief er die Ägypter zusammen und gab die Erklärung: dieses Bild sei aus dem Fußbecken gemacht, in das die Ägypter vordem gespien, gepißt und ihre Füße zum Waschen gesteckt hätten, und jetzt verehrten sie's höchlich. Er selbst aber sei, erklärte er, im gleichen Fall wie das Fußbecken. Wenn er nämlich auch vordem ein Mann aus dem Volk gewesen sei: jetzt sei er doch ihr König. Darum sollten sie ihn ehren und achten. Auf solche Art gewann er die Ägypter, so daß es ihnen recht war, ihm zu dienen.

[Anmerkung:] 172. Amasis II., ägyptisch Ahmose (»der Mond hat geschaffen«), regierte von 569 bis 526 v. Chr. Der Amasis, dessen Mumie 1878 aufgefunden wurde, ist aber Amasis I. (1580-1555 v. Chr.).

 

173. Bei seinen Geschäften aber hielt er folgende Einrichtung inne: des Vormittags, bis zu der Zeit, da der Markt voll wird, verrichtete er fleißig die vorkommenden Geschäfte: von da an aber trank er und verspottete seine Mitzecher, war leichtfertig und mutwillig. Darüber wurden seine Freunde unwillig und machten ihm Vorstellungen mit solchen Reden: »König, du vergißt dich selber, wenn du dich allzusehr in Kleinlichkeiten versinken lässest. Denn du solltest erhaben auf erhabenem Throne den ganzen Tag deine Geschäfte verrichten: so würden die Ägypter erfahren, daß sie von einem großen Manne beherrscht werden, und du würdest in einem bessern Rufe stehn. Nun führst du dich aber gar nicht königlich auf.« Hierauf antwortete er ihnen, wie folgt: »Wer einen Bogen hat, spannt ihn auf, wenn er ihn braucht; hat er ihn aber gebraucht, so spannt er ihn ab. Denn wenn derselbe die ganze Zeit aufgespannt bliebe, so müßte er zerspringen und wäre nicht mehr zu brauchen, wenn's not tut. So ist denn auch der Mensch eingerichtet. Wollte er immer ernstlich arbeiten und nicht auch zeitweise dem Scherze sich hingeben, so müßte er unversehens zum Narren oder zum Stumpfsinnigen werden. In Erkenntnis dessen gebe ich jedem sein Teil.«

174. Das gab er seinen Freunden zur Antwort. Noch sagt man von Amasis, daß er schon als Privatmann trinklustig und spottlustig, aber durchaus kein ernsthafter Geschäftsmann war und, sooft ihm bei seinem Trinken und Wohlleben die Mittel ausgingen, wohl auf Dieberei ausging. Diejenigen nun, die behaupteten, er habe ihre Sachen genommen, führten ihn auf sein Leugnen jedesmal vor das Orakel, das sie gerade hatten; da er denn oft von den Orakeln überwiesen wurde, oft auch loskam. Als er nun König geworden war, machte er's, wie folgt. Um die Heiligtümer der Götter, die ihn freigesprochen hatten, daß er kein Dieb sei, bekümmerte er sich überhaupt nicht und gab nichts zu ihrer Erhaltung her; auch ging er nicht hin, um zu opfern; weil nämlich diese alle nichts wert und ihre Orakel als trüglich erfunden wären. Deren aber, die ihn verurteilt hatten, daß er ein Dieb sei, nahm er sich ganz vorzüglich an, weil sie in Wahrheit Götter wären und untrügliche Orakel gäben.

175. Auch errichtete er der Athene in Saïs die bewundernswerten Vorhallen, mit denen er alle weit überbot: so hoch und so groß sind sie und von solcher Größe und Kostbarkeit die Steine; sodann weihte er gewaltige Riesenstandbilder und männliche Sphinxe von ungewöhnlicher Größe und schaffte auch sonst noch Steine von ungeheurer Größe zur Ausbesserung heran. Davon holte er die einen aus den Steinbrüchen bei Memphis, die mächtiggroßen aber aus der Stadt Elephantine, die von Saïs eine Fahrt von zwanzig Tagen entfernt ist. Was ich aber darunter nicht zum wenigsten, sondern zum meisten bewundere, ist, daß er ein Haus aus einem Steine von der Stadt Elephantine herbeischaffte, wozu man drei Jahre brauchte, und wobei zweitausend Männer an der Zugarbeit angestellt waren, und zwar sämtlich Steuermänner. Diese Kammer hat außen einundzwanzig Ellen in der Länge, vierzehn in der Breite und acht in der Höhe. Das sind nach außen hin die Maße dieser Kammer aus einem Stein; innen aber hat sie achtzehn Ellen und fünf Handbreiten in der Länge, zwölf Ellen in der Breite und fünf Ellen in der Höhe. Dieselbe steht am Eingange des Heiligtums. Denn in das Heiligtum hinein, behauptet man, sei sie deswegen nicht gezogen worden, weil der Baumeister der Kammer, während man daran zog, über den großen Zeitaufwand und aus Überdruß am Werke aufgeseufzt habe, was Amasis sich so zu Herzen nahm, daß er nicht mehr fortziehen ließ. Wiederum sagen auch einige, es sei ein Mensch, der am Hebelwerk mitarbeitete, dabei umgekommen: und daher sei sie nicht hineingezogen worden.

176. Auch in allen übrigen namhaften Heiligtümern weihte Amasis Werke von sehenswerter Größe; darunter auch in Memphis das auf dem Rücken liegende Riesenstandbild, nahe am Hephästostempel, das fünfundsiebzig Fuß Länge hat. Auf demselben Fußgestell stehen noch zwei Riesenstandbilder, die von äthiopischem Steine sind, jedes zwanzig Fuß groß, das eine rechts, das andere links von dem Allerheiligsten. Auch ist in Saïs ein ebenso großes von Stein, in derselben Lage wie das in Memphis. Endlich ist Amasis auch der Erbauer des Isisheiligtums in Memphis, das groß und sehr sehenswürdig ist.

177. Gerade damals, unter König Amasis, soll Ägypten im höchsten Segen gestanden haben, sowohl in dem, was der Fluß dem Lande, als in dem, was das Land den Menschen leistet. Es soll damals im ganzen zwanzigtausend bewohnte Städte gehabt haben. Dann ist auch folgendes Gesetz der Ägypter eine Einrichtung des Amasis, daß Jahr um Jahr jeder Ägypter bei dem Kreisvorsteher sich ausweisen mußte, wovon er lebe und, wenn er das nicht tat oder keinen rechtlichen Lebensunterhalt dartun konnte, mit dem Tode bestraft wurde. Dies Gesetz hat der Athener Solon aus Ägypten genommen und den Athenern gegeben, bei denen es, als ein untadliges Gesetz, für immer gilt.

178. Als Hellenenfreund zeigte sich Amasis überhaupt gegen manche Hellenen. Besonders aber hat er denen, die nach Ägypten kommen, die Stadt Naukratis zur Niederlassung gegeben. Andern aber, die sich nicht niederlassen und nur Schiffahrt dahin treiben wollten, gab er Plätze zur Stiftung von Altären und Bezirken für die Götter. Nun haben den größten Bezirk, der auch der berühmteste und besuchteste ist, das sogenannte Hellenion, folgende Städte gemeinschaftlich gestiftet; einmal von den Ioniern: Chios, Teos, Phokaia und Klazomenai; dann von den Doriern: Rhodos, Knidos, Halikarnassos und Phaselis; endlich von den Äoliern: die einzige Stadt der Mytilenaier. Diesen gehört dieser Bezirk, und auch die Vorsteher des Handelsplatzes werden von diesen Städten gegeben. Alle andern Städte, die auch Ansprüche darauf machen, tun das, ohne solche wirklich zu haben. Nur besonders haben noch die Ägineten für sich einen Bezirk des Zeus gestiftet, auch die Samier einen der Hera, und die Milesier einen des Apollo.

179. Vor alters war Naukratis allein ein offener Hafen, und es gab keinen andern in Ägypten. Wenn nun einer zu irgendeiner andern Mündung des Nils herankam, so mußte er schwören, er komme nicht mit Absicht dahin, und hatte er's abgeschworen, erst mit dem nämlichen Schiff zur kanobischen Mündung fahren; wenn er aber wegen widriger Winde diese Fahrt nicht ausführen konnte, so mußte er seine Waren in Flößen um das Delta herumführen, bis er endlich nach Naukratis kam. So hoch war Naukratis bevorzugt.

180. Als die Amphiktyonen den Aufbau des jetzigen Tempels in Delphi um dreihundert Talente verdingten (der früher ebendort befindliche war nämlich von selbst abgebrannt), hatten die Delphier selbst den vierten Teil des ausbedungenen Lohnes aufzubringen; da denn diese überall herum in den Städten Beisteuern sammelten: so kamen sie bei dieser Gelegenheit in Ägypten nicht am schlechtesten weg. Denn Amasis gab ihnen tausend Talente Alaun, die in Ägypten ansässigen Hellenen zwanzig Minen.

181. Auch stiftete Amasis mit den Kyrenaiern Freundschaft und Streitgenossenschaft; ja er hielt es für gut, auch von dorther eine Frau zu nehmen, entweder aus Lust nach einem hellenischen Weibe oder sonst der Freundschaft mit den Kyrenaiern zuliebe. Da nahm er nach einigen die Tochter des Battos, nach andern die des Arkesilaos, nach andern die des Kritobulos, eines angesehenen Mannes unter den Bürgern, deren Name Ladike war. Als nun Amasis bei dieser schlief, war er nicht imstande, ihr beizuwohnen, während er doch bei andern Weibern zum Ziele kam. Als das zum öftern so war, sprach Amasis zu ebendieser Ladike: »Weib! du hast mich verhext: nun hilft aber auch alles nichts, du mußt des ärgsten Todes sterben, den je ein Weib erlitt!« Da sich nun Amasis durch kein Leugnen besänftigen ließ, gelobte Ladike der Aphrodite in ihrem Sinn, wenn ihr in dieser Nacht Amasis beiwohnen könne (wodurch sie noch gerettet werden könne), werde sie ihr ein Bild nach Kyrene schicken. Sofort nach diesem Gelübde gelang dem Amasis die Beiwohnung: und sooft er von nun an zu ihr kam, konnte er's und hatte sie hernach recht lieb. Ladike aber leistete ihr Gelübde an die Göttin. Sie ließ nämlich ein Bild machen und sandte es nach Kyrene, wo es noch zu meiner Zeit erhalten war und außerhalb der Stadt der Kyrenaier stand. Dieselbe Ladike hat Kambyses, als er sich zum Herrn von Ägypten gemacht und sie gefragt hatte, wer sie sei, unverletzt nach Kyrene geschickt.

182. Amasis hat auch Weihgeschenke nach Hellas gestiftet: einmal nach Kyrene das vergoldete Athenebild und sein eigenes gemaltes Bildnis, dann der Athene in Lindos zwei Bilder von Stein und einen sehenswerten Panzer von Linnen; dann nach Samos der Hera zwei Bildnisse von sich selbst in Holz, die bis auf meine Zeit noch im großen Tempel hinter der Türe stehen. Und zwar sandte er nach Samos die Weihgeschenke wegen seiner Gastfreundschaft mit Polykrates, dem Sohne des Aiakes; nach Lindos aber um keiner Gastfreundschaft willen, sondern weil das Heiligtum der Athene in Lindos die Töchter des Danaos gegründet haben sollen, als sie dort auf der Flucht vor den Söhnen des Ägyptos landeten. Das sind die Weihgeschenke des Amasis. Endlich ist er der erste, der Zypern genommen und es sich zinspflichtig gemacht hat.


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