Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erstes Buch.
Klio

Erstes Buch

Hier gibt Herodotos von Halikarnassos eine Denkschrift seiner gesammelten Erkundungen, damit die Taten der Menschen nicht mit der Zeit verlorengehen, noch große und wunderbare Werke, wie Hellenen sowohl als Barbaren sie vollführten, ruhmlos vergehen, besonders auch, aus welcher Ursache sie einander bekriegt haben.

[Anmerkung:] Barbaren: Alle Völker, die nicht griechisch sprechen. –

 

1. Bei den Persern nun sagen die Geschichtskundigen, die Phönizier seien die Urheber des Streites gewesen. Diese wären nämlich von dem sogenannten Roten Meere in unser Meer gekommen, hätten Wohnung genommen in ebendem Lande, wo sie auch jetzt wohnen, und sich alsbald an weite Schiffahrten gemacht. So seien sie mit Waren, die sie aus Ägypten und Assyrien ausführten, in manches Land gekommen, darunter auch nach Argos. Argos tat es aber zu jener Zeit den andern im Lande, das jetzt Hellas genannt wird, in allem zuvor. In dieses Argos also seien die Phönizier gekommen und hätten ihre Waren ausgestellt. Aber den fünften und sechsten Tag nach ihrer Ankunft, da sie beinahe alles verkauft hatten, sei unter vielen andern Frauen auch des Königs Tochter ans Meer gekommen. Deren Name war, wie auch die Hellenen sagen, Io, Tochter des Inachos. Als diese im hintern Schiffsraum gestanden und von den Waren die gekauft hätten, auf die ihr Sinn gerade ging, hätten die Phönizier einander Mut gemacht und sie angefallen. Nun seien die meisten Frauen entflohen, Io aber mit anderen geraubt worden. Jene hätten sie ins Schiff geworfen und seien schnell abgefahren nach Ägypten.

[Anmerkung:] 1. Rotes Meer: Nicht der Meerbusen, sondern das ganze Südmeer, der Indische Ozean. – Io, die Geliebte des Zeus, wird von seiner eifersüchtigen Gattin Hera über die Erde verfolgt. Zeus verwandelt Io in eine Kuh, Hera läßt diese durch eine Bremse peinigen. Mythische Gestalten, die gehörnt erscheinen, sind ursprünglich Mondgottheiten. Die späte Gestalt des Mythus, die Herodot gibt, dürfte ihm nicht von Persern, sondern von Griechen, die in Persien lebten, mitgeteilt worden sein. Ebenso erscheint im nächsten Kapitel der Mythus von der Europa, die ebenfalls eine Mondgöttin ist, in der späten Gestalt, die ihm das griechische Aufklärungszeitalter gegeben hat.

 

2. So sei Io nach Ägypten gekommen, sagen die Perser, anders als die Hellenen; und von den Beleidigungen habe diese den Anfang gemacht. Hierauf aber wären einige Hellenen (denn sie wissen keinen Namen anzugeben) in Phönizien bei Tyros gelandet und hätten des Königs Tochter, Europa, geraubt. Das mögen wohl Kreter gewesen sein. So weit indessen sei nur Gleiches mit Gleichem vergolten worden. Dann aber wären die Hellenen Urheber der andern Beleidigung geworden. Sie seien nämlich ausgefahren mit einem langen Schiff nach Aia in Kolchis und an den Phasisstrom und von da hätten sie, nach Ausrichtung des übrigen, weshalb sie gekommen wären, des Königs Tochter, Medea, geraubt. Nun hätte der Kolcher nach Hellas einen Herold gesandt, Buße gefordert für den Raub und seine Tochter zurückgefordert. Darauf hätten sie geantwortet, daß auch jene um Io, die Argiverin, keine Buße für den Raub gegeben, und so wollten sie ihnen auch keine geben.

3. Im zweiten Geschlechte darauf, sagen sie, habe Alexandros, des Priamos Sohn, solches gehört, und sei willens geworden, aus Hellas durch Raub zu einem Weibe zu kommen, ganz überzeugt, daß er keine Buße zu leisten brauche: gäben doch jene auch keine. Da er also wirklich die Helena raubte, hätten die Hellenen es für richtig gehalten, zunächst durch Abgesandte die Helena zurückzufordern und Buße zu fordern für den Raub. Aber als sie das vorbrachten, hätten die andern ihnen den Raub der Medea vorgerückt: wie sie, welche selbst keine Buße gegeben und auf Rückforderung nichts ausgeliefert hätten, wollen könnten, ihnen solle von andern Buße erstattet werden.

[Anmerkung:] 3. Alexandros: Beiname des Paris.

 

4. Bis dahin also seien das bloße Raubstücke auf beiden Seiten, aber von da an trügen die Hellenen die Hauptschuld. Denn sie hätten eher angefangen, nach Asien Krieg zu führen, als sie (die Perser) nach Europa. Sie hielten zwar die, welche Weiber raubten, für frevelhafte Menschen; die aber, welche wegen der Geraubten um Rache eiferten, für Toren; die hingegen, welche keine Rücksicht auf die Geraubten nähmen, für Kluge. Denn offenbar wären sie wohl nicht geraubt worden, wofern sie nicht selbst gewollt hätten. Sie, die Asiaten, sagen die Perser, hätten nach den geraubten Weibern nichts gefragt; die Hellenen aber hätten um eines lazedämonischen Weibes willen ein großes Schiffsheer zusammengebracht, seien darauf nach Asien gezogen und hätten des Priamos Macht zugrunde gerichtet. Seitdem hätten sie immer, was hellenisch ist, als feindlich angesehen. – Asien nämlich und die es bewohnenden Barbarenvölker rechnen die Perser sich zu, Europa aber mit den hellenischen sehen sie für abgesondert an.

5. So sei es hergegangen, sagen die Perser und finden in der Eroberung Ilions den Anfangsgrund ihrer Feindschaft gegen die Hellenen. Über die Io aber stimmen mit den Persern die Phönizier nicht überein. Denn sie sagen, nicht auf dem Wege des Raubes hätten sie dieselbe nach Ägypten geführt; sondern sie habe in Argos Umgang mit dem Herrn jenes Schiffes gepflogen und sich, weil sie inneward, daß sie schwanger war, vor den Eltern gefürchtet, und so sei sie freiwillig mit den Phöniziern weggefahren, damit das nicht offenbar werde. – Dies ist es denn, was die Perser und die Phönizier sagen; ich aber lasse mich hier nicht darauf ein, ob dieses so oder anders geschah; aber wer, nach meinem eigenen Wissen, den Anfang gemacht hat mit Beleidigungen gegen die Hellenen, der soll von mir angezeigt werden: dann will ich weiter in der Geschichte vorschreiten und gleichermaßen kleine und große Städte der Menschen durchgehen. Denn was ehemals groß war, das ist meist klein geworden, und was groß war zu meiner Zeit, war vorher klein. In Erkenntnis also des menschlichen Glückes, wie es nirgends in seinem Stande verbleibt, will ich beider auf gleiche Weise gedenken.

6. Kroisos war ein Lyder von Geschlecht, Sohn des Alyattes und Herr der Völker diesseits des Halysstromes, der von Mittag zwischen den Syriern und Paphlagoniern fließt und gegen den Nord in den sogenannten Pontos Euxeinos ausströmt. Dieser Kroisos hat zuerst unter den Barbaren, von denen wir wissen, einen Teil der Hellenen unterworfen zur Zinsentrichtung, andere zu Freunden gewonnen: unterworfen nämlich die Ionier, Äolier und Dorier in Asien, zu Freunden gewonnen die Lazedämonier. Vor Kroisos' Herrschaft aber waren die Hellenen alle frei. Denn der Kimmerier Heereszug, der über Ionien kam und älter als Kroisos ist, war keine Unterwerfung der Städte, sondern ein räuberischer Überfall.

[Anmerkung:] 6. Kroisos: Die Anekdoten von ihm waren vor Herodot in Umlauf und in der mündlichen Tradition bereits stark abgeschliffen, so daß man von literarisch verwerteter Volksdichtung reden kann (Jakob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Abschnitt V). »Der Sage folgt ihre jüngere Schwester, die Novelle«, sagt Wilamowitz (Aristoteles und Athen, Band II, Berlin 1893, S. 6 und 7): »Man erzählt von Bias und Thales, Kroisos und Periandros, Solon und Themistokles schöne Geschichten: aber keineswegs um ihrer großen Taten willen und des Erfolges, den diese für das Vaterland hatten, sondern um ihrer merkwürdigen Schicksale und ihrer persönlichen Tüchtigkeit willen.« – Pontos Euxeinos: Das Schwarze Meer.

 

7. Die Regierung war aber von den Herakleiden, den früheren Herren, folgendermaßen auf das Geschlecht des Kroisos, die sogenannten Mermnaden, übergegangen. Kandaules, den die Hellenen Myrsilos nennen, war ein Herr zu Sardes und Nachkomme des Alkaios, des Sohnes des Herakles. Agron nämlich, der Sohn des Ninos, des Sohnes Bels, des Sohnes des Alkaios, war der erste herakleidische König zu Sardes; Kandaules, des Myrsos Sohn, war der letzte. Vor Agron aber waren Könige über dies Land die Abkömmlinge von Lydos, des Atys Sohn, von welchem dieses Volk, zuvor das maionische genannt, das lydische genannt wurde. Durch Übertragung kam die Herrschaft nach einem Götterspruch von diesen an die Herakleiden, Nachkommen des Herakles und einer Sklavin des Iardanos: und diese herrschten zweiundzwanzig Menschenalter lang, fünfhundertundfünf Jahre, da die Herrschaft immer vom Vater auf den Sohn überging, bis auf Kandaules, Myrsos' Sohn.

[Anmerkung:] 7. Herakles: Der lydische Sonnengott Sandon. Die zwölf Taten des Herakles sind eine symbolische Darstellung der Wanderung der Sonne durch den Tierkreis. – Sklavin des Jardanos: Omphale, die den verweichlichten Herakles an den Spinnrocken gesetzt haben soll.

 

8. Dieser Kandaules nun war sehr in seine Frau verliebt, und in dieser Liebe meinte er, er habe bei weitem die allerschönste Frau. Da er nun dieser Meinung war, pries er dem Gyges, dem Sohne des Daskylos, einem seiner Trabanten, der nämlich sein Liebling war, und dem er die wichtigeren Angelegenheiten vertraute, auch die Schönheit seiner Frau über die Maßen. Es dauerte nicht lange (denn es sollte dem Kandaules übel ergehen), so sagte er zu Gyges folgendes: »Gyges, weil es mir vorkommt, als überzeugte ich dich nicht mit Worten von der Schönheit meiner Frau (denn die Ohren der Menschen sind einmal ungläubiger als die Augen): mach, daß du sie nackend schauen kannst.« Der aber schrie hoch auf und sprach: »Herr, was sagst du da für ein verkehrtes Wort und heißest mich meine Herrin nackend schauen? Denn wenn ein Weib das Kleid auszieht, so zieht sie zugleich die Scham aus. Längst aber haben die Menschen, was wohl ansteht, gefunden, woraus man Lehren nehmen soll. Eine darunter ist: Das betrachten, was einem zukommt. Ich glaube nun, daß jene unter allen Frauen die schönste ist; und von dir begehre ich, daß du nichts Ungebührliches begehrest.«

[Anmerkung:] 8. Gyges: Herodots Erzählung sagt nichts vom unsichtbar machenden Ringe, der in der älteren Gestalt des Mythus (Plato, »Staat«, II, 3 und X, 12) die Hauptrolle spielt, ebenso in Friedrich Hebbels Tragödie »Gyges und sein Ring« (1854).

 

9. Dieser also stritt mit solchen Worten dagegen, weil er fürchtete, es möchte ihm daraus ein Übel entstehen. Jener aber antwortete darauf: »Sei getrost, Gyges, und fürchte dich nicht, weder vor mir, als versuchte ich dich mit dieser Rede, noch vor meiner Frau, daß dir von ihr ein Leid geschehen möchte. Denn von Anfang will ich es so einrichten, daß sie nicht einmal merkt, daß sie von dir gesehen wird. Ich will dich nämlich in dem Gemach, worin wir schlafen, hinter die geöffnete Türe stellen. Bin ich eingetreten, so wird sich auch meine Frau einfinden, um zu Bette zu gehen. Nun steht neben dem Eingang ein Sessel: auf diesen wird sie von den Gewändern eines nach dem andern beim Ausziehen hinlegen, und so kannst du sie in voller Ruhe schauen. Wenn sie aber vom Sessel hinweg schlafen geht und dir den Rücken zukehrt, so hast du alsdann dafür zu sorgen, daß du ungesehen von ihr durch die Türe kommst.«

10. Gyges ließ sich denn, da er nicht ausweichen konnte, bereit finden, und Kandaules führte ihn, als es ihm Schlafenszeit dünkte, in das Gemach, worauf sich auch seine Frau alsbald einfand. Wie sie hereinkam und die Kleider ablegte, schaute sie Gyges. Als er aber der Frau, da sie zu Bette ging, in den Rücken kam, schlüpfte er hinaus. Da erblickte ihn die Frau im Hinausgehen. Obwohl sie nun merkte, das sei von ihrem Manne angelegt, schrie sie doch weder vor Scham auf, noch schien sie es zu merken, war aber entschlossen, sich an Kandaules zu rächen. Denn bei den Lydern, und fast bei allen Barbaren, gereicht es selbst einem Manne zu großer Schande, wenn er nackend gesehen wird.

11. Zunächst also äußerte sie nichts und hielt sich ruhig; sobald es aber Tag geworden war, hielt sie die von den Hausdienern, die sie als ihre getreuesten erkannt hatte, bereit und ließ den Gyges rufen. Dieser folgte dem Rufe, da er glaubte, sie wisse nichts von dem Geschehenen. Denn er war früher schon gewöhnt, die Königin, wenn sie ihn rufen ließ, zu besuchen. Als aber Gyges kam, sagte die Frau: »Unter zwei vorliegenden Wegen, Gyges, gebe ich dir nun die Wahl, zu welchem von beiden du dich wenden willst: entweder tötest du den Kandaules und erhältst mich und das Königreich der Lyder, oder du selbst mußt alsbald, wie du da bist, sterben, auf daß du nicht, in allem dem Kandaules zu Willen, noch künftighin sehest, was du nicht sollst. Ja, entweder muß jener, der solches angelegt hat, umkommen, oder du, der mich nackend geschaut und getan hat, was sich nicht gebührt.«

Gyges verwunderte sich eine Zeitlang über diese Rede; hernach aber flehte er, ihm nicht die Notwendigkeit aufzuerlegen, daß er eine solche Wahl treffe. Doch er fand kein Gehör, sondern sah sich wirklich in der Notwendigkeit, entweder den Gebieter umzubringen oder selbst durch andere umzukommen. Da wählte er seine Erhaltung und tat folgende Frage: »Da du mich nötigst, meinen Herrn zu töten wider Willen; wohlan, so will ich hören, auf welche Weise wir Hand an ihn legen wollen.« Sie aber nahm das Wort und sprach: »Von derselben Stelle soll der Angriff ausgehen, von der er mich nackend hat sehen lassen, und wenn er im Schlaf liegt, soll Hand an ihn gelegt werden.«

12. Da sie nun den Anschlag entworfen hatten und die Nacht kam, ging Gyges (denn er kam nicht los, noch war für ihn eine Auskunft, sondern entweder mußte er selbst umkommen oder Kandaules) mit der Frau in das Gemach, in dem sie ihn mit einem Dolch hinter derselben Türe verbarg. Als hierauf Kandaules ruhte, schlüpfte er hinein und tötete ihn, und so erhielt Gyges die Frau und das Königreich. Dessen gedenkt auch Archilochos von Paros, der in dieselbe Zeit fällt, in einem jambischen Trimeter.

[Anmerkung:] 12. Archilochos von Paros: Liner der ältesten griechischen Lyriker (um 650 v. Chr.). Er galt als der Erfinder des jambischen Versmaßes. Der Vers, den Herodot erwähnt, lautet:
Mich kümmert nicht, was Gyges, reich an Gold, besaß.

 

13. Im Besitz der königlichen Macht aber ward er bestätigt durch das Orakel von Delphi. Denn als die Lyder arg darüber empört waren, daß solches an Kandaules verübt worden war, und schon in Waffen standen, kamen die Anhänger des Gyges und die übrigen Lyder dahin überein: falls das Orakel spreche, er solle König sein über die Lyder, so solle er auch König sein, wenn aber nicht, die Herrschaft wieder an die Herakleiden zurückgeben. Das Orakel sprach dafür, und so war Gyges König. So viel erklärte indessen die Pythia, daß für die Herakleiden Rache kommen werde über den fünften Nachkommen des Gyges. Dieses Wort achteten die Lyder und ihre Könige nicht, bis es wirklich erfüllt ward.

14. Also gewannen die Mermnaden auf Kosten der Herakleiden die Herrschergewalt. Als nun Gyges Herr war, sandte er Weihgeschenke nach Delphi, und das nicht wenige, sondern schon an silbernen Weihgeschenken ist von ihm die größte Menge in Delphi; und außer dem Silber weihte er noch ungeheuer viel Gold; wozu, was am meisten bemerkenswert ist, die goldenen Mischkrüge gehören, deren er sechs dort ausgestellt hat. Ihr Standort ist im Schatzhause der Korinther, und ihr Gewicht beträgt dreißig Talente. Die Wahrheit aber zu sagen, ist dies das Schatzhaus nicht der korinthischen Gemeinde, sondern das des Kypselos, des Sohnes Eetions. Dieser Gyges hat zuerst unter den Barbaren, von denen wir wissen, nach Delphi Weihgeschenke gestiftet, nächst Midas, dem Sohne des Gordios, Phrygiens König. Denn auch Midas weihte den königlichen Thronstuhl, worauf er öffentlich zu Gericht saß, ein sehenswertes Stück. Dieser Thron steht ebenda, wo des Gyges Mischkrüge sich befinden. Jenes Gold aber und Silber, das Gyges geweiht hat, wird von den Delphiern das Gygadische genannt, nach des Weihenden Namen. Es fiel nun auch dieser während seiner Herrschaft mit einem Heere in Milet ein und in Smyrna und nahm die Stadt Kolophon weg; da indessen sonst nichts Großes von ihm geschah in den achtunddreißig Jahren, die er König war, so lassen wir's mit ihm bei dem Gedachten bewenden.

[Anmerkung:] 14. Kypselos: Tyrann von Korinth, also nicht der rechtmäßige Vertreter der Gemeinde.

 

15. Des Ardys aber, des Sohnes des Gyges, der nach Gyges König war, will ich jetzt gedenken. Er nahm Priene weg und fiel in Milet ein. Und zu der Zeit, da dieser in Sardes gebot, kamen die Kimmerier, aus ihren Sitzen von den Weideszythen aufgejagt, nach Asien und nahmen Sardes weg außer der Burg.

[Anmerkung:] 15. Kimmerier: Ein thrazischer Stamm an der heutigen Straße von Kertsch, die im Altertum als kimmerischer Bosporus bezeichnet wird.

 

16. Auf Ardys aber folgte, nachdem er neunundvierzig Jahre König gewesen war, Sadyattes, des Ardys Sohn, und war zwölf Jahre König; auf Sadyattes aber Alyattes. Und dieser führte mit Kyaxares, des Dejokes Enkel, und mit den Medern Krieg, vertrieb auch die Kimmerier aus Asien, nahm Smyrna weg, das von Kolophon aus besiedelt worden ist, und fiel in Klazomenai ein. Von hier aber zog er nicht wieder ab, wie er wünschte, sondern erlitt einen harten Stoß. Von den andern Taten, die er während seiner Herrschaft ausführte, sind die folgenden vornehmlich erzählungswert.

17. Er führte mit den Milesiern den Krieg, den er von seinem Vater geerbt hatte. Er zog nämlich heran und bedrängte Milet auf solche Weise: Jedesmal, wenn die Feldfrucht herangewachsen war, fiel er mit seinem Heere ein, das er mit Pfeifen und mit Harfen, mit der weiblichen und der männlichen Flöte, ins Feld führte. Kam er nun ins Milesische, so riß er nicht die Wohnungen auf dem Lande nieder, verbrannte sie auch nicht und brach keine Türe aus, sondern ließ alles an seinem Orte stehen; dagegen die Bäume und die Frucht auf dem Felde verwüstete er jedesmal und zog dann wieder heim. Denn die Milesier waren Meister zur See, so daß mit einer Belagerung durch das Heer nichts getan war. Die Häuser aber riß der Lyder deshalb nicht nieder, damit eine Stätte für die Milesier da wäre, von der aus das Feld sich besäen und bearbeiten ließe, und wenn sie die Arbeit getan hätten, auch für ihn etwas da wäre, das sich beim Einfall verheeren ließe.

[Anmerkung:] 17. Weibliche und männliche Flöte: Nach der Höhe der Töne.

 

18. Auf diese Art führte er den Krieg elf Jahre, in denen die Milesier zwei große Niederlagen erlitten, da sie im Hafengebiet ihres Landes und auf der Ebene des Mäanders fochten. Sechs Jahre indessen von diesen elf herrschte noch Sadyattes, Ardys' Sohn, über die Lyder, welcher zur angegebenen Jahreszeit ins Milesische mit seinem Heer eindrang (denn ebendieser Sadyattes war's, der den Krieg angesponnen hatte); die fünf Jahre aber, die auf die sechs folgten, führte Alyattes, Sadyattes' Sohn, den Krieg, der ihn (wie ich schon sagte) vom Vater erbte und so angestrengt betrieb. Aber den Milesiern stand von den Ioniern niemand in diesem Kriege bei außer den Chiern. Diese leisteten Hilfe und vergalten so Gleiches mit Gleichem. Denn die Milesier hatten zuvor mit den Chiern auch ihren Krieg gegen die Erythraier ausgehalten.

19. Als aber im zwölften Jahr vom Heere Brand in die Feldfrüchte gelegt wurde, trug es sich zu, daß folgendes daraus entstand. Nicht sobald waren die Felder entzündet und vom Winde aufgetrieben, so zündeten sie auch den Tempel der Athene, mit dem Beinamen Assesia, an, und also brannte der Tempel nieder. Darnach fragte man zwar im Augenblicke nichts, aber als das Heer in Sardes ankam, erkrankte Alyattes. Weil seine Krankheit immer langwieriger wurde, sandte er Gotteskundschafter nach Delphi, sei es auf jemands Anraten, oder daß ihm selbst gut dünkte, den Gott über die Krankheit befragen zu lassen. Als aber jene in Delphi angekommen waren, versagte ihnen die Pythia, einen Spruch zu tun, ehe sie den Athenetempel wieder aufgerichtet hätten, den sie zu Assesos im milesischen Lande angezündet hätten.

[Anmerkung:] 19. Assesia: Der Beiname bezieht sich auf den milesischen Flecken Assesos, in dem der Tempel stand.

 

20. So habe ich die Geschichte aus dem Munde der Delphier erfahren; die Milesier aber sehen noch dieses hinzu: Periandros, der Sohn des Kypselos, habe den Spruch in Erfahrung gebracht, der dem Alyattes erteilt ward, und da er ein besonderer Gastfreund von Thrasybulos, dem damaligen Herrscher von Milet war, habe er ihn diesem durch einen Boten hinterbracht, damit er darum wüßte und seinen Entschluß demgemäß fassen könnte. So sagen die Milesier, daß es ergangen sei.

21. Als nun dem Alyattes die Antwort verkündet ward, sandte er sogleich einen Herold nach Milet, um so lange mit Thrasybulos und den Milesiern Friede zu machen, als er den Tempel aufbauen würde. Der Abgesandte ging dann nach Milet; Thrasybulos aber, von der ganzen Sache im voraus genau unterrichtet, wußte, was Alyattes tun würde, und traf folgende Anstalten. Er brachte alles Getreide, das in der Stadt war und ihm und den Bürgern gehörte, auf dem Markte zusammen und sagte den Milesiern an, wenn er das Zeichen gäbe, dann sollten sie allesamt trinken und Freudengelage miteinander halten.

22. Dieses tat und entbot aber Thrasybulos deshalb, damit der Herold von Sardes, wenn er den großen Haufen Getreide aufgeschüttet und die Leute im Wohlleben begriffen sähe, ebendieses dem Alyattes verkündete, was denn auch geschah. Als nämlich der Herold jenes gesehen und an Thrasybulos die Aufträge des Lyders ausgerichtet hatte, ging er nach Sardes zurück, und nun geschah, wie ich vernehme, aus keinem andern Grund die Aussöhnung. Denn Alyattes, der die Hoffnung hegte, es sei ein gewaltiger Getreidemangel in Milet und das Volk werde bis zur äußersten Not aufgerieben, hörte vom Herold nach dessen Heimkehr die entgegengesetzten Nachrichten aus Milet als die, deren er sich versah. Und darauf geschah die Aussöhnung, so daß sie Freunde untereinander sein sollten und Streitgenossen. Und Alyattes erbaute der Athene zwei Tempel für einen in Assesos, und er selbst erstand von seiner Krankheit. Also verhielt es sich mit Alyattes in betreff seines Krieges gegen die Milesier und Thrasybulos.

23. Periandros aber, der dem Thrasybulos das Orakel kundtat, war ein Sohn des Kypselos. Er selbst aber war Herr zu Korinth. Diesem Periandros, sagen die Korinther (und mit ihnen stimmen die Lesbier überein), sei in seinem Leben das größte Wunder erschienen, indem Arion von Methymna auf einem Delphin bei Tainaron ans Land gesetzt worden sei, ein Kitharasänger, der keinem der damaligen nachstand. Er hat den Dithyrambos zuerst unter den Menschen, von denen wir wissen, gedichtet und benannt und auch zu Korinth aufgeführt.

[Anmerkung:] 23. Arion: Griechischer Lyriker (um 600 v. Chr.). Er gilt als Erfinder des Dithyrambos, des leidenschaftlichen Chorliedes. Herodots Erzählung ist die Quelle der Ballade August Wilhelm Schlegels »Arion«.

 

24. Dieser Arion, sagen sie, habe, nachdem er seine meiste Zeit bei Periandros zugebracht, Lust bekommen nach Italien und Sizilien zu schiffen. Er habe sich daselbst große Schätze erworben und wiederum nach Korinth zurückkehren wollen. Nun habe er bei seiner Abreise aus Tarent, weil er niemand mehr als den Korinthern traute, ein Fahrzeug von korinthischen Männern gemietet. Diese jedoch machten auf der See den Anschlag, den Arion ins Meer zu werfen und seine Schätze zu behalten. Als er dessen innewurde, habe er sie angefleht und mit Preisgebung seiner Schätze das Leben sich erbitten wollen. Allein damit hätte er kein Gehör bei ihnen gefunden; vielmehr hätten ihm die Schiffsleute geboten, entweder sich selbst zu entleiben (dann könne er ein Grab auf dem Lande erlangen) oder alsbald ins Meer zu springen. So aufs äußerste bedroht, habe Arion sich ausgebeten, weil es von ihnen also beschlossen sei, möchten sie ihm gestatten, im vollen Schmuck auf die Ruderbänke zu treten und zu singen; wenn er aber gesungen hätte, versprach er, sich selbst ein Ende zu machen. Sie hätten sich gefreut, den trefflichsten Sänger der Menschen zu hören, und seien aus dem hintern Raum in die Mitte des Schiffes zurückgewichen. Er aber habe seinen ganzen Schmuck angetan, die Kithara in die Hand genommen, sich auf die Ruderbänke gestellt und die hohe Weise durchgesungen. Als die Weise zu Ende ging, habe er sich selbst, wie er war, mit dem ganzen Schmucke ins Meer geworfen. Jene seien hierauf nach Korinth gefahren; ihn aber habe ein Delphin, sagen sie, auf den Rücken genommen und nach Tainaron getragen. Da sei er ans Land gestiegen und in seinem Schmuck nach Korinth gezogen, woselbst er die ganze Geschichte erzählt habe. Periandros jedoch habe aus Unglauben den Arion selbst in Gewahrsam gehalten, ohne ihn zu entlassen, auf die Fährmänner aber achtgehabt und sie, sobald sie da waren, berufen und sich erkundigt, ob sie von Arion etwas zu sagen hätten. Da sie nun behaupteten, er wäre wohlbehalten in Italien, und sie hätten ihn bei gutem Befinden in Tarent verlassen, sei vor ihnen Arion erschienen, ebenso, wie er über Bord gesprungen war. Da hätten sie, betroffen und überwiesen, es nicht länger ableugnen können. Dieses sagen denn die Korinther samt den Lesbiern; auch ist von Arion ein kleines Weihgeschenk aus Erz bei Tainaron, ein Mann auf einem Delphin.

[Anmerkung:] 24. Die hohe Weise oder helle Musik wurde vor Arion nur auf der Flöte, nicht auf der Kithara gespielt.

 

25. Alyattes aber, der Lyder, hat den milesischen Krieg hinausgeführt und darauf sein Leben geendigt: er war siebenundfünfzig Jahre König. Auf die Errettung aus seiner Krankheit weihte er, der zweite aus diesem Hause, nach Delphi einen großen Mischkrug von Silber mit einem Untersatz von eingelötetem Eisen, welcher sehenswürdig ist vor allen delphischen Weihgeschenken; ein Werk des Glaukos von Chios, der auch allein unter allen Menschen die Eisenlötung erfunden hat.

26. Nach dem Ende des Alyattes folgte ihm sein Sohn Kroisos auf den Königsthron, in einem Alter von fünfunddreißig Jahren, welcher nun die Hellenen, und zuerst die Epheser, angriff. Ebendamals, als sie von ihm belagert wurden, weihten die Epheser ihre Stadt der Artemis, indem sie vom Tempel ein Seil bis an die Mauer zogen. Das sind aber zwischen der alten Stadt, die dazumal belagert ward, und dem Tempel sieben Stadien. Auf diese also machte Kroisos den ersten Angriff, darauf nach der Reihe auf alle Ionier und Äolier, bei jedem unter einem andern Vorwand, hie und da mit einer erheblichen Beschuldigung, wenn er so etwas aufbringen konnte, sonst wohl auch mit nichtigen Vorwürfen.

27. Und als ihm bereits die asiatischen Hellenen zur Zinsentrichtung unterworfen waren, dachte er weiter darauf, Schiffe zu bauen und die Inselbewohner anzugreifen. Schon hatte er zum Schiffsbau alles in Bereitschaft, als Bias von Priene, wie die einen sagen, nach andern aber Pittakos von Mytilene, in Sardes ankam, von Kroisos gefragt wurde, was es Neues in Hellas gebe. Da habe er mit folgender Rede dem Schiffsbau ein Ende gemacht: »Mein König, die Inselbewohner werben Reiter zu Tausenden und haben im Sinne, nach Sardes wider dich ins Feld zu ziehen.« Darauf habe Kroisos angenommen, er sage die Wahrheit, und erwidert: »Das mögen die Götter den Inselbewohnern in den Sinn geben, auf die Söhne der Lyder zu Roß loszugehen!« Darauf habe jener das Wort genommen und gesagt: »Mein König, wie ich sehe, wünschst du von Herzen, die Inselbewohner im Reitergefecht auf dem Festlande zu treffen, und das in berechtigter Hoffnung: nun aber die Inselbewohner erfahren haben, du wollest Schiffe gegen sie bauen, was anderes, meinst du, wünschen diese, als die Lyder auf dem Meere zu treffen, damit sie Rache an dir nehmen können wegen der Hellenen des Festlandes, die du in Knechtschaft hältst?« Dieser Schluß habe dem Kroisos sehr gefallen, und daraufhin (denn es dünkte ihm ein wackeres Wort) habe er den Schiffsbau eingestellt. Und so schloß er mit den Ioniern auf den Inseln ein Freundschaftsbündnis.

[Anmerkung:] 27. Bias von Priene und Pittakos von Mytilene gehören zu den sogenannten Sieben Weisen, den ältesten griechischen Vertretern der Spruchweisheit. Der Spruch des Bias lautet: »Mehrere machen es schlimm« (Viele Köche verderben den Brei), der des Pittakos: »Erkenne den rechten Zeitpunkt!« (Ergreife den Augenblick).

 

28. Einige Zeit darauf, nach Unterwerfung fast aller Völker diesseits des Halysstromes (denn außer den Ziliziern und Lyziern hielt Kroisos alle übrigen unter seinem Joch, als da sind: Lyder, Phrygier, Myser, Mariandyner, Chalyber, Paphlagonier, thrazische Thyner und Bithyner, Karer, Ionier, Dorier, Äolier, Pamphylier) –

29. Nach Unterwerfung von diesen und noch größerem Anwachsen des lydischen Reiches durch Kroisos kamen nach Sardes, das in der Blüte seines Reichtums stand, alle die hellenischen Weisen, die zu dieser Zeit gerade lebten, jeder für sich. Darunter war auch Solon von Athen, der den Athenern auf ihr Geheiß Gesetze gemacht hatte und zehn Jahre außer Landes gegangen war, vorgeblich um sich umzusehen auf Reisen, in Wahrheit aber, damit er nicht gezwungen werde, etwas von den Gesetzen aufzulösen, die er gegeben hatte. Denn für sich dieses zu tun, hatten die Athener nicht die Macht, da sie durch große Eidschwüre gebunden waren, daß sie zehn Jahre lang die Gesetze halten wollten, die ihnen Solon gebe.

[Anmerkung:] 29. Zehn Jahre außer Landes gegangen war: Das folgert Herodot aus einem Gedichte Solons, der sagt: »Ich will als Kaufmann und aus Wissensdrang nach Ägypten auf zehn Jahre verreisen; denn es ist nicht recht, daß ich hier die Gesetze auslege, denen vielmehr jedermann gehorchen soll.« – Wann Solon die Reise machte, und ob sie wirklich zehn Jahre dauerte, wußte weder Herodot noch Aristoteles, der aus demselben Gedichte Solons historische Schlüsse zu ziehen suchte, wie Wilamowitz (Aristoteles und Athen. Band I. 1893. S. 15) ausführt.

 

30. Ebendeswegen also, und um sich umzusehen, war Solon im Ausland, und kam nach Ägypten zu Amasis, sowie nach Sardes zu Kroisos. Hier ward er in der Königsburg stattlich von Kroisos aufgenommen, und darauf führten am dritten oder vierten Tag die Diener, auf Kroisos' Geheiß, den Solon in den Schatzkammern umher und wiesen ihm all seine großen Glücksgüter. Wie er nun alles angeschaut und mit Muße betrachtet hatte, fragte ihn Kroisos also: »Gastfreund von Athen, wisse, daß zu uns mancherlei Sage über deine Weisheit und deine Fahrten gelangt ist: wie du aus Weisheitsliebe viele Lande besucht hast, um darin dich umzusehen; demnach kommt mich ein Verlangen an zu fragen, wer wohl von allen, die du sahst, der Glücklichste sein mag.« Diese Frage tat er in der Hoffnung, er sei der glücklichste Mensch. Aber Solon schmeichelte nicht, sondern blieb bei der Wahrheit und sagte: »Mein König, Tellos, der Athener.« Verwundert über diese Antwort, fragte Kroisos hastig: »Wieso denn urteilst du, daß Tellos der Glücklichste sei?« Darauf sprach er: »Tellos lebte fürs erste in guten Umständen des Staates und hatte schöne und wackre Söhne und sah von ihnen allen Kinder aufwachsen und am Leben bleiben; fürs andere ward ihm, nachdem er nach unserem Maßstab in guten Umständen gelebt hat, noch ein herrliches Lebensende zuteil. Denn in einer Schlacht der Athener gegen ihre Nachbarn in Eleusis focht er mit, schlug die Feinde in die Flucht und starb aufs schönste. Auch ward er von den Athenern auf öffentliche Kosten ebenda, wo er gefallen war, bestattet und hoch geehrt.«

31. Mit dieser Geschichte von Tellos reizte Solon den Kroisos noch weiter durch das viele Glück, von dem er sprach, so daß er die Frage tat, wer der zweite wäre, den er nach jenem gesehen habe. Denn er war ganz der Meinung, daß er doch wenigstens den zweiten Preis davontragen werde. Jener aber sprach: »Kleobis und Biton. Diese nämlich, von Geburt Argiver, hatten genug zu leben und überdies eine Leibesstärke, wie folgt: Außerdem daß sie, einer wie der andere, gekrönte Sieger waren, erzählt man auch folgende Geschichte von ihnen: Bei einem Herafeste der Argiver mußte ihre Mutter durchaus von einem Gespann in das Heiligtum gezogen werden. Aber die Stiere trafen vom Felde nicht zur Stunde ein, und gedrängt von der Stunde spannten sich die Jünglinge selbst in das Joch und zogen den Wagen und führten so auf dem Wagen ihre Mutter. Fünfundvierzig Stadien zogen sie dieselbe fort, bis sie im Heiligtum ankamen, und nachdem sie dies vor den Augen der Festversammlung getan hatten, ward ihnen das schönste Lebensende zuteil. An ihnen bewies die Gottheit, daß es dem Menschen besser sei zu sterben als zu leben. Denn während die umstehenden Argiver die Jünglinge wegen ihrer Stärke selig priesen und die Argiverinnen ihre Mutter um der Kinder willen, die sie hatte, trat die Mutter selbst, hocherfreut über die Tat wie über die Glücksrufe, vor der Göttin Bild mit dem Gebet: dem Kleobis und Biton, ihren Kindern, die sie so hoch geehrt hätten, möchte die Göttin geben, was dem Menschen das Beste sei. Nach diesem Gebete opferten die Jünglinge und schmausten und entschliefen in dem Heiligtum selbst und standen nicht wieder auf, sondern fanden so ihr Ziel. Die Argiver aber ließen ihre Bildnisse machen und weihten sie nach Delphi, weil sie sich als die besten Männer gezeigt hatten.«

32. So erkannte denn Solon den zweiten Preis des Glückes diesen zu. Da kam Kroisos in Eifer und sprach: »Mein Glück, o Gastfreund von Athen, wirfst du so gänzlich weg, wie nichts, daß du nicht einmal bürgerlichen Männern mich gleich achtest?« Da sprach jener: »O, Kroisos, indem du mich fragst über menschliches Leben, vergesse ich nicht, wie das Göttliche so gar neidisch und reizbar ist. Denn in der Länge der Zeit hat einer vieles zu sehen und vieles zu erfahren, was er nicht will. Bis auf siebzig Jahre nämlich setze ich die Grenze des menschlichen Lebens. Diese siebzig Jahre geben fünfundzwanzigtausendundzweihundert Tage, den Schaltmonat uneingerechnet. Wenn du aber je das andere Jahr um einen Monat länger rechnen willst, damit auch die Jahreszeiten so zusammengehen, daß sie gehörig zutreffen, so werden das bei siebzig Jahren fünfunddreißig Schaltmonate, und der Tage von diesen Schaltmonaten tausendundfünfzig. Von allen diesen Tagen, die bei siebzig Jahren sechsundzwanzigtausendzweihundertundfünfzig ausmachen, führt kein einziger die ganz gleiche Begebenheit herbei wie der andere. So ist denn, o Kroisos, der Mensch eitel Zufall. – Ich sehe nun wohl deinen großen Reichtum, und daß du König bist über viele Leute; aber das, wonach du mich fragst, sage ich von dir nicht eher, als bis ich erfahre, du habest deine Lebenszeit schön vollendet. Denn keineswegs ist, wer großen Reichtum hat, schon glücklicher, als wer für den Tag auskommt, wofern ihm nicht das Los zufällt, im Besitze aller seiner Güter das Leben wohl zu endigen. Denn viele gar reiche Menschen sind unglücklich; vielen ist ein mäßig Teil beschieden, und sie haben ein gutes Los. Denn wer bei noch so großem Reichtum unglücklich ist, hat nur zweierlei vor dem, welcher ein gutes Los hat, dieser aber vor dem Reichen und Unglücklichen vieles voraus. Der eine vermag eher eine Begierde zu erfüllen oder einen großen ihm zustoßenden Schaden zu ertragen; der andere hat dieses vor jenem voraus: Schaden und Begierde ist er zwar nicht ebenso vermögend wie jener zu tragen; aber dies hält sein gutes Los von ihm ab; dagegen ist er frei von Leibesgebrechen, von Krankheit, von Unglück, gesegnet mit Kindern, mit Schönheit. Und wenn er überdies sein Leben wohl endigt, dann ist er, wie du einen suchst, wert, ein Glücklicher zu heißen. Aber bevor er geendigt hat, halte man an sich und sage nicht: ›Er ist glücklich‹; sondern: ›Sein Los ist gut.‹ Dieses indessen alles zu vereinigen, ist für einen Menschen unmöglich; gleichwie kein Land ausreicht, mit allem sich selbst zu versehen; sondern dies hat es, und eines andern ermangelt es; nur ist das, welches am meisten hat, das beste. So ist denn auch kein Mensch für seine Person vollkommen, und hat er dies, so ist er des andern bedürftig: wer aber davon am meisten bis ans Ende behält und sodann das Leben nach Herzenswunsch vollendet, der ist nach meinem Urteil, o König, würdig, jenen Namen zu erhalten. Bei jeglichem Ding aber muß man das Ende betrachten, wie es hinausgeht. Denn vielen hat die Gottheit das Glück nur gezeigt und sie dann von Grund aus gestürzt.«

[Anmerkung:] 32. Der Neid der Götter, uns aus Schillers Ballade »Der Ring des Polykrates« geläufig, spielt bei Herodot eine große Rolle. Jakob Burckhardt (Griechische Kulturgeschichte, VIII) sieht darin nicht eine bewußte Tendenz Herodots: »Er spricht sich zwar oft und viel in diesem Sinne aus, aber diese Dinge sind nicht die Seele seines Buches, d. h. er würde dasselbe nicht wegen einer Überzeugung geschrieben haben, die damals fast jedermann teilte.«

 

33. Mit diesen Worten machte er sich dem Kroisos gar nicht angenehm; dieser entließ ihn ohne alle Achtung vor ihm und war völlig der Meinung, er sei ein Tor, da er ohne Rücksicht auf die vorhandenen Güter verlangt habe, man solle bei jeglichem Ding auf sein Ende sehen.

34. Nach Solons Abreise aber kam von Gott große Heimsuchung über Kroisos: vermutlich weil er sich für den Allerglücklichsten hielt. Im Schlafe nämlich stellte sich ihm auf einmal ein Traum dar, der ihn das Unglück sehen ließ, das wirklich an seinem Sohne geschehen sollte. Kroisos hatte aber zwei Söhne, deren einer elend war, nämlich taubstumm; der andere aber war unter seinen Gespielen in allem bei weitem der Erste, mit Namen Atys. Von ebendiesem Atys zeigte der Traum dem Kroisos an, daß er ihn verlieren werde durch den Wurf eines eisernen Speers. Als er darauf erwachte und mit sich zu Rate ging, so führte er seinen Sohn, aus Angst vor dem Traume, zuerst einer Frau zu; dann ließ er ihn niemals und bei keiner Gelegenheit mehr, wie er sonst gewöhnt war, die Lyder ins Feld führen; Wurfspieße aber und Lanzen und alles von der Art, was die Menschen zum Kriege brauchen, schaffte er aus den Männergemächern hinaus und ließ es in den Kammern aufbewahren, damit ihm nichts von der Wand auf seinen Sohn herabfallen könnte.

35. Als er aber die Hochzeit seines Sohnes unter Händen hatte, kam nach Sardes ein Mann, auf dem ein Unfall haftete und dessen Hände befleckt waren, ein Phrygier von Geburt und von königlichem Geschlecht. Dieser begab sich in Kroisos' Haus, mit der Bitte um Reinigung nach den Landesbräuchen; und Kroisos reinigte ihn. Die Reinigung ist nahezu dieselbe bei den Lydern wie bei den Hellenen. Und jetzt, als Kroisos das Gebräuchliche getan hatte, erkundigte er sich, von woher und wer er wäre, mit den Worten: »Wer bist du, o Mann, und von woher im phrygischen Lande bist du gekommen, um ein Schützling an meinem Herde zu werden? Und wen hast du, Mann oder Weib, gemordet?« Jener antwortete: »Ich bin, o König, ein Sohn des Gordios, des Sohnes des Midas, und heiße Adrastos; aber aus Versehen wurde ich meines eigenen Bruders Mörder und stehe nun hier, verstoßen von meinem Vater und entblößt von allem.« Hierauf antwortete ihm Kroisos: »Da bist du befreundeter Männer Abkömmling und gekommen zu Befreundeten: nun sollst du keines Dinges ermangeln; denn du bleibst bei mir. Je leichter du aber deinen Unfall erträgst, um so besser wird es für dich sein.« So hatte dieser seinen Aufenthalt bei Kroisos.

[Anmerkung:] 35. Die Reinigung wurde vollzogen, indem man dem Mörder, der auf dem Fell eines geopferten Widders Platz nahm, Ferkelblut über die Hände goß.

 

36. In ebendieser Zeit aber kam auf dem Mysischen Olymp ein gewaltiges Stück von einem Eber zutage. Der lief immer von seinem Berg herunter und zerwühlte die Feldarbeit der Myser. Wie oft die Myser auch auf ihn ausgingen, ihm konnten sie kein Leid antun: aber sie litten von ihm. Endlich kamen Boten von den Mysern zu Kroisos und sagten: »O König, ein ganz gewaltiges Stück von einem Eber hat sich in unserer Gegend gezeigt und zerwühlt unsere Arbeit. Beim besten Willen, ihn zu fangen, können wir's nicht. Darum bitten wir dich, deinen Sohn und auserlesene Jünglinge uns mitzugeben, damit wir ihn aus unserer Gegend vertilgen.« Dies war ihr Gesuch. Kroisos aber, der die Worte des Traumes im Gedächtnis hielt, sagte ihnen darauf: »Meines Sohnes gedenket nicht weiter; denn ich gebe ihn euch doch nicht mit; auch ist er ja ein junger Ehemann, und das liegt ihm nun ob. Die auserlesenen Lyder indessen mit der ganzen Hundejagd will ich euch mitgeben, will auch denen, die hingehen, befehlen, daß sie aufs eifrigste mit euch das Wild aus der Gegend zu vertilgen suchen.«

37. Dies antwortete er, und damit waren auch die Myser zufrieden. Da trat der Sohn des Kroisos herzu, der das Gesuch der Myser gehört hatte. Als nun Kroisos sich weigerte, ihnen den Sohn selbst mitzugeben, sprach der Jüngling zu ihm: »Sonst, o Vater, war das mein Schönstes und Edelstes, auf Krieg und Jagden mit Ehren auszugehen; jetzt aber hast du mir dies beides abgeschnitten, ohne an mir eine Feigheit oder eine Fahrlässigkeit gesehen zu haben: und mit welchen Augen soll ich jetzt, wenn ich auf den Markt ausgehe und vom Markte zurück, mich sehen lassen? Wofür werden die Bürger mich halten? Wofür mein junges Weib? Wofür wird sie den Mann halten, mit dem sie haust? Daher laß mich entweder auf die Jagd gehen oder überzeuge mich mit Gründen, daß mir dies Verhalten besser sei.«

38. Darauf antwortete Kroisos: »Nein, mein Sohn, nicht weil ich Feigheit oder sonst etwas Mißfälliges an dir gesehen hätte, handle ich also; sondern es trat im Schlafe ein Traumgesicht vor mich hin und sagte, daß dir ein kurzes Leben beschieden sei, weil du durch einen eisernen Speer umkommen werdest. Von diesem Gesichte kommt es her, daß ich eben auch deine Hochzeit betrieben habe und dich nicht zu dieser Unternehmung fortlasse, weil ich darüber wachen will, dich, wenn ich vermag, für die Zeit meines Lebens durchzubringen. Denn siehe, ich habe nur einen Sohn, dich; den andern, der durch das Gehör elend ist, sehe ich nicht an, als hätte ich ihn.«

39. Darauf antwortete der junge Mann: »Es ist dir, mein Vater, zu verzeihen, wenn du auf ein solches Traumgesicht hin über mich wachen willst; was du aber an dem Traume nicht merkst, und was dir entgangen ist, das ist wohl an mir, dir zu sagen. Du sagst wohl, ich werde nach Aussage der Traumerscheinung durch einen eisernen Speer endigen; was hat denn aber ein Eber für Hände, was für einen eisernen Speer, den du fürchtest? Ja, hätte es geheißen, durch einen Zahn werde ich enden oder durch sonst etwas dergleichen, dann müßtest du freilich das tun, was du jetzt willst; nun heißt es aber: durch einen Speer. Da nun also unser Kampf gegen keine Männer geht, so laß mich ziehen!«

40. Da antwortete Kroisos: »Wirklich, mein Sohn, wie du das Traumzeichen auslegst, kann ich dir nicht mehr widerstehen. Insofern also bedenke ich mich anders und lasse dich auf die Jagd gehen.«

41. Nach diesen Worten ließ Kroisos den Phrygier Adrastos holen und sagte ihm, als er da war: »Adrastos, ich habe dich, da du von einem bittern Unfall getroffen warst (den ich dir aber nicht vorwerfen will), entsühnt, in mein Haus aufgenommen, und bisher mit allem Bedarf versehen: so sollst du mir jetzt mit Gutem vergelten, was ich Gutes zuvor an dir getan habe, und ich bitte dich, Hüter meines Sohnes zu sein, der sich zu einer Jagd aufmacht; daß nicht auf dem Wege frevelhafte Räuber zu eurem Verderben hervorbrechen. Auch ist es so dir selbst anständig, dahin zu gehen, wo du dich durch Taten verherrlichen kannst; bist du doch dazu geboren und überdies mit Stärke ausgerüstet.«

42. Darauf antwortete Adrastos: »Unter andern Umständen, o König, wäre ich wohl nie zu einem solchen Kampfspiel gegangen. Denn wer einen solchen Unfall gehabt hat, dem ziemt es weder, unter andere glückliche Jünglinge zu gehen, noch hat er Lust dazu; und ich habe mich schon oftmals zurückgezogen. Jetzt aber, da du es heischest, und es meine Pflicht ist, dir gefällig zu sein (denn wohl soll ich dir Gutes mit Gutem vergelten), bin ich, dies zu tun, bereit. Und von deinem Sohne, zu dessen Hut du mich aufforderst, versieh dich, soviel am Hüter liegt, einer glücklichen Heimkehr.«

43. Als denn dieser dem Kroisos also geantwortet hatte, zogen sie aus, wohl versehen mit auserlesenen Jünglingen, wie auch mit Hunden. Sie kamen an den Olymposberg, suchten das Wild, und, wie sie dasselbe aufgebracht hatten, umstellten sie's im Kreise und schleuderten darnach ihre Wurfspieße. Da geschah es, daß der Gastfreund, ebenjener vom Morde gereinigte, mit Namen Adrastos, nach dem Eber warf, diesen aber fehlte, dagegen den Sohn des Kroisos traf, der, vom Speer durchbohrt, die Prophezeiung des Traumes erfüllte. Und eilends ging einer ab, dem Kroisos das Geschehene zu verkünden, kam nach Sardes und machte ihm Anzeige von dem Kampfe und dem Geschick seines Sohnes.

44. Kroisos, vom Tode seines Sohnes tief erschüttert, empfand es darum noch ärger, weil ihn der getötet hatte, den er selbst vom Mord gereinigt hatte. Da rief er im größten Jammer über den Unfall zu Zeus, dem Reiniger, als Zeugen dessen, was er vom Gastfreund erlitten habe, und rief zur Gottheit des Herdes und der Freundschaft mit dem Namen desselben Gottes, und zwar zur Gottheit des Herdes, weil er in dem Gastfreund, den er ins Haus nahm, den Mörder seines Sohnes unbewußt gepflegt hatte, zum Gott der Freundschaft aber, weil er in ebendem, den er als Hüter mitgab, den gefährlichsten Feind erkennen mußte.

45. Hierauf trugen die Lyder den Leichnam heran, und hinten folgte ihm der Mörder. Dieser blieb bei dem Leichnam stehen und überantwortete sich dem Kroisos, indem er die Hände ausstreckte und bat, daß er ihn hinschlachten möge zu dem Leichnam; wobei er auch von seinem frühern Unfall redete, und wie er nun auch noch seines Reinigers Verderber sei und nicht mehr leben könne. Als Kroisos dieses hörte, jammerte ihn des Adrastos mitten in dem großen Unglück seines Hauses, und er sagte zu ihm: »Du hast mir, mein Gastfreund, schon sattsam gebüßt, da du dich selbst des Todes schuldig achtest. Auch bist nicht du mir schuld an diesem Unglück, da du nur ohne Willen der Täter warst, sondern von den Göttern irgendeiner, der mir schon vorher bezeichnet hat, was geschehen sollte.« Kroisos bestattete nun seinen Sohn, wie es sich gebührte, aber Adrastos, des Gordios Sohn, des Sohnes des Midas, der also seines Bruders Mörder geworden war und der Mörder seines Reinigers, ließ es erst leer von Menschen und still werden um das Grabmal; dann betrat er den Hügel, und indem er sich unter den Menschen, von denen er wußte, für den erkannte, den das Schicksal am schwersten geschlagen habe, tötete er sich selbst auf dem Grabe. Kroisos aber saß zwei Jahre lang in tiefer Trauer über den Verlust seines Sohnes.

46. Darauf machte der Sturz des Astyages, des Sohnes des Kyaxares, durch Kyros, Kambyses' Sohn, und das Anwachsen des persischen Staates der Trauer des Kroisos ein Ende und brachte ihn in Sorge, wie er, ehe die Perser zu groß würden, ihrer wachsenden Macht begegnen könne. Infolge dieser Erwägung erforschte er alsbald die Orakel der Hellenen, wie auch das libysche, und sandte Boten nach allen Seiten: die einen nach Delphi, andere nach dem phokischen Abai, andere nach Dodona; auch wurden zu Amphiaraos und Trophonios solche gesandt, und andere zu den Branchiden im Milesischen. Das sind die hellenischen Orakel, zu denen Kroisos um Weissagung schickte. Aber auch in Libyen bei Ammon sollten andere einen Gottesspruch verlangen. Er wollte nämlich die Orakel erproben, was sie wüßten, um dieselben, wenn sich fände, daß sie die Wahrheit wüßten, zum anderen Male befragen zu lassen, ob er einen Heereszug gegen die Perser unternehmen solle.

47. Und er gab den Lydern, die er zur Erprobung der Orakel aussandte, den Auftrag, von dem Tage ihres Abganges aus Sardes die weiteren Tage zu zählen, und am hundertsten Tage den Gottesspruch einzuholen, mit Vorlegung der Frage, was gerade der König der Lyder tue, Kroisos, Alyattes' Sohn. Wie dann jegliches Orakel den Götterspruch erteilen würde, sollten sie denselben aufschreiben und ihm mitbringen. Nun hört man von den Stimmen der übrigen Orakel nirgends etwas; aber in Delphi waren kaum die Lyder, um den Gottesspruch einzuholen, in die Halle getreten und hatten die aufgetragene Frage vorgelegt, als die Pythia in Hexametern also sprach:

Wahrlich, ich kenne des Sandkorns Zahl und die Maße des Meeres,
Mir sind Stumme verständlich und mir Lautlose vernehmlich.
Duft erfüllt mir die Brust von der hartumpanzerten Schildkröt',
Welche in Erz beisammen mit lämmernem Fleische gekocht wird;
Ihr zum Boden gelegt ist Erz, und Erz ist darüber.

48. Diesen Gottesspruch schrieben die Lyder aus dem Munde der Pythia auf und machten sich gleich auf den Rückweg nach Sardes. Und als sich auch von allen übrigen Seiten die Abgesandten mit ihren Sprüchen eingefunden hatten, da entfaltete sie Kroisos alle und nahm Einsicht von dem Aufgeschriebenen. Von den andern jedoch wollte er gleich nichts mehr wissen; allein als er hörte, wie der Spruch aus Delphi lautete, nahm er ihn sogleich mit Gebet feierlich an und hielt dafür, das einzige Orakel sei das delphische, weil es ihm enthüllt hatte, was er selbst getan hatte. Denn als er die Gotteskundschafter nach Weissagung ausgeschickt hatte, hatte er den bestimmten Tag beachtet und folgendes angestellt, was er sich so ausdachte, wie es unmöglich herauszubringen und zu erraten war. Eine Schildkröte nämlich und ein Lamm zerhieb er und kochte sie zusammen in einem ehernen Kessel, worauf er auch einen ehernen Deckel setzte.

49. Aus Delphi also erhielt Kroisos einen solchen Ausspruch; aber wegen der Antwort vom Amphiaraosorakel vermag ich nicht zu sagen, was da die Lyder, nach Vollziehung des Tempelgebrauchs, für einen Spruch bekamen. Man hörte eben hiervon nichts Weiteres, als daß auch hier Kroisos ein untrügliches Orakel gefunden zu haben glaubte.

[Anmerkung:] 49. Das Orakel des Amphiaraos bei Theben war ein Traumorakel. Man schlief auf dem Fell eines geopferten Widders im Tempel und wartete so den weissagenden Traum ab.

 

50. Darauf suchte er durch große Opfer des delphischen Gottes Huld, und zwar waren es vom Opfervieh im ganzen dreitausend Stück, die er opferte; von vergoldeten und versilberten Polstern, von goldenen Schalen und von purpurnen Gewändern und Unterkleidern schichtete er einen großen Haufen auf und verbrannte ihn, in der Hoffnung, den Gott damit noch besonders zu gewinnen. Zudem ließ er allen Lydern entbieten, daß sie allesamt opferten, ein jeder, was er vermöge. Als das Opfer geschehen war, schmolz er ungeheuer viel Gold ein, woraus er Halbziegel formte, denen er in der Länge sechs und in der Breite drei Handbreiten und eine Handbreit Höhe gab, an der Zahl hundertundsiebzehn, und zwar darunter vier aus geläutertem Gold, deren einer zweiundeinhalbes Talent wog, die übrigen Halbziegel aus weißem Gold, je zwei Talente im Gewicht. Dann machte er eines Löwen Bildnis aus geläutertem Gold, von zehn Talenten im Gewicht. Derselbe Löwe ist, als der delphische Tempel niederbrannte, von den Halbziegeln heruntergefallen, denn diese waren seine Unterlage, steht nun im Schatz der Korinther und wiegt sechsundeinhalbes Talent, da dreiundeinhalbes Talent von ihm abgeschmolzen sind.

[Anmerkung:] 50. Als Gewicht hat das Talent 26,2 Kilogramm. Das weiße Gold ist weniger rein als das geläuterte, weil es Silber enthält. Der delphische Tempel brannte im Jahre 548 v. Chr. ab.

 

51. Alles dieses sandte Kroisos fertig nach Delphi und noch folgendes: zwei große Mischkrüge, einen goldenen und einen silbernen; davon hatte der goldene seinen Standort zur Rechten des Eingangs in den Tempel, der silberne zur Linken. Aber auch diese wurden zur Zeit des Tempelbrandes vom Standorte entfernt, und der goldene steht jetzt im Schatz der Klazomenier, und wiegt achtundeinhalbes Talent und zwölf Minen darüber, der silberne aber steht in der Ecke der Vorhalle und faßt sechshundert Amphoren; denn die Delphier mischen darin den Wein am Feste der Gotteserscheinung. Er sei, behaupten die Delphier, ein Werk des Theodoros von Samos, wofür auch ich ihn halte, da ich wohl sehe, daß es kein alltägliches Werk ist. Ferner weihte er vier Fässer von Silber, die in der Korinther Schatze stehen. Auch zwei Weihkessel sandte er hin, einen goldenen und einen silbernen; wovon auf dem goldenen geschrieben steht: »Von den Lazedämoniern«, weil sie ihn für ihr Weihgeschenk ausgeben, was nicht richtig ist, da er ebenfalls von Kroisos ist. Darauf geschrieben hat es aber ein Delphier, um sich den Lazedämoniern angenehm zu machen; dessen Namen ich zwar weiß, aber nicht nennen will. Der Knabe freilich, durch dessen Hand das Wasser fließt, ist von den Lazedämoniern, hingegen von den Weihkesseln einer so wenig als der andere. Noch sandte Kroisos viele unbezeichnete Weihgeschenke zugleich mit diesen, darunter auch rundgearbeitete silberne Kannen und namentlich das goldene Bild eines Weibes von drei Ellen, welches die Delphier für das Bildnis einer Bäckerin des Kroisos ausgeben. Endlich weihte Kroisos noch den Halsschmuck seiner Frau, samt den Gürteln.

[Anmerkung:] 51. Das Fest der Gotteserscheinung wird zu Ehren Apollos im Frühling gefeiert. Theodoros von Samos ist der Künstler, der den Ring des Polykrates verfertigte. Die Bäckerin rettete den König Kroisos, als ihn seine Stiefmutter mit vergiftetem Brote aus dem Wege räumen wollte.

 

52. Dieses sandte er nach Delphi; dem Amphiaros aber, von dessen Heldenmut und Schicksal er sich hatte sagen lassen, weihte er einen ganz goldenen Schild und ebenso eine schwere, ganz goldene Lanze, an der nämlich nicht nur die Spitze, sondern auch der Schaft von Gold war. Beide wurden noch zu meiner Zeit in Theben aufbewahrt, und zwar im thebanischen Tempel des ismenischen Apollo.

[Anmerkung:] 52. Der Seher Amphiaraos sah den unglücklichen Ausgang des Zuges gegen Theben, den Polyneikes, der Sohn des Ödipus, führte, voraus. Er machte ihn erst mit, als ihn seine Gattin dazu drängte, die Polyneikes durch ein kostbares Halsband bestochen hatte. Auf der Flucht wurde Amphiaraos mit seinem Wagen von der Erde verschlungen. Offenbar ist er ein alter Unterweltsgott, den man erst spät in Verbindung mit den Sagen von Ödipus und seinen Söhnen gebracht hat.

 

53. Den Lydern, die diese Geschenke nach den Tempeln bringen sollten, gab Kroisos die Frage an die Orakel auf, ob er gegen die Perser ins Feld ziehen solle, und was für ein Freundesheer er etwa dazu gewinnen dürfe. Als aber die Lyder da angekommen waren, wohin sie ausgesandt waren, und die Weihgeschenke dargebracht hatten, holten sie die Orakelsprüche mit folgenden Worten ein: »Kroisos, der Lyder und anderer Völker König, welcher dafür hält, daß hier die einzigen Orakel auf Erden seien, wollte euch würdige Geschenke geben für eure Enthüllungen, und nun befragt er euch, ob er ins Feld ziehen solle gegen die Perser, und was für ein Bundesheer er dazu gewinnen dürfe.« Dies war die Frage, die sie vorlegten; beider Orakel Stimmen aber liefen auf dasselbe hinaus, nämlich auf die Vorhersagung, Kroisos werde, wenn er gegen die Perser ins Feld ziehe, eine große Macht vernichten. Er solle aber, rieten sie ihm, die Mächtigsten unter den Hellenen ausfindig machen und zu Freunden gewinnen.

[Anmerkung:] 53. Der Spruch der Pythia lautete:
Kroisos zerstört ein mächtiges Reich, geht er über den Halys.

 

54. Und als die Göttersprüche überbracht und dem Kroisos kundgetan waren, hatte er große Freude über die Orakelsprüche, und in der zuversichtlichen Hoffnung, er werde das Königreich des Kyros vernichten, sandte er abermals nach Pytho und beschenkte die Delphier, deren gesamte Zahl er sich hatte sagen lassen, Mann für Mann mit zwei Goldstateren. Dagegen gaben die Delphier dem Kroisos und den Lydern das Vorrecht an die Orakelstimme, Abgabenfreiheit und den Vorsitz und jedem, wenn er wolle, das Bürgerrecht in Delphi auf alle Zeiten.

[Anmerkung:] 54. Vorsitz: Einen Ehrenplatz bei den Pythischen Spielen in Delphi.

 

55. Nach seiner Schenkung an die Delphier holte nun Kroisos den dritten Ausspruch ein. Denn seit er einmal auf die Wahrhaftigkeit des Orakels gekommen war, trieb er's damit unmäßig. Nun wünschte er einen Ausspruch darüber, ob seine Alleinherrschaft lange dauern werde. Die Pythia tat ihm folgenden Spruch:

Doch wenn ein Maultier König dereinst in Medien sein wird,
Dann, weichfüßiger Lyder, zum kiesreichströmenden Hermos
Flieh und sträube dich nicht, noch scheu ein feiges Betragen.

[Anmerkung:] 55. Das Maultier ist Kyros, der Sohn einer medischen Prinzessin und eines Persers.

 

56. Über diese Worte, die diesmal einliefen, freute sich Kroisos bei weitem am allermeisten, da er hoffte, ein Maultier werde nimmermehr statt eines Menschen König der Meder sein und so weder er selbst noch seine Nachkommen jemals der Herrschaft entsetzt werden. Nach diesem war seine Sorge zu erkunden, welche unter den Hellenen die Mächtigsten seien, die er zu Freunden gewinnen könne. Bei dieser Erkundigung fand er, daß die Lazedämonier und die Athener hervorragten, jene vom dorischen, diese vom ionischen Stamm (denn das waren die gesonderten Hauptstämme in der alten Zeit): letztere ein pelasgisches Volk, das zu keiner Zeit seine Sitze verließ, erstere ein hellenisches und gar viel gewandertes Volk. Denn dieses bewohnte unter seinem König Deukalion das Land Phtiotis, darauf unter Doros, Hellens Sohn, die Gegend am Ossa und Olympos, welche Histiaiotis heißt; und darauf, als es aus Histiaiotis von den Kadmeiern vertrieben ward, wohnte es am Pindos und hieß das mazedonische Volk. Von da ging es wiederum weiter in das Land Dryopis, und wie es nun von Dryopis in den Peloponnes gezogen war, ward es das dorische genannt.

[Anmerkung:] 56. Kroisos überlegt sich, welches hellenische Volk das mächtigste sei, und das gibt Herodot Gelegenheit, die Geschichte Athens und Spartas einzuschieben: »Das ist ein schriftstellerisches Motiv«, bemerkt Wilamowitz (Aristoteles und Athen. I, S. 33), »nur zu dem brauchbar, was es bewirkt, der Motivierung eines Exkurses; es hat genau soviel Wert wie die Übergänge in Ovids ›Metamorphosen‹. Daß Athen damals nicht unter den Tyrannen stand, daß es um 550 eine Stadt dritten Ranges unter den ionischen war, kümmerte alles mit Recht den Herodotos nicht.«

 

57. Welch eine Sprache aber die Pelasger redeten, bin ich nicht imstande bestimmt anzugeben; doch wenn es erlaubt ist, einen Schluß zu ziehen nach den noch jetzt vorhandenen Pelasgern, den Einwohnern der Stadt Kreston oberhalb der Tyrrhener (die einst Grenznachbarn der jetzt so genannten Dorier waren und damals das Land bewohnten, das jetzt Thessaliotis heißt), sowie nach den Pelasgern, die Plakia und Skylake am Hellespont angebaut haben (die dort einst Mitbewohner der Athener gewesen sind), und überhaupt nach all den pelasgischen Städten, deren Namen in andere übergingen: wenn man nach diesen seinen Schluß ziehen soll, so hatten die Pelasger eine barbarische Sprache. Und wenn nun dieses bei dem ganzen pelasgischen Stamm also war, so hat der attische, als zum pelasgischen gehörig, mit seinem Übergang zu den Hellenen auch eine andere Sprache erlernt. Stimmen doch wirklich die Krestoniaten mit keinem ihrer jetzigen Nachbarn in der Sprache überein, und auch die Plakianer nicht, während sie untereinander in ihr übereinstimmen, und es ist offenbar, daß sie die Mundart, die sie bei ihrer Übersiedlung in jene Gegenden mitbrachten, noch ebenso bewahren.

[Anmerkung:] 57. Tyrrhener heißt Turmbewohner. Die Türme standen am Strande und boten Schutz gegen Angriffe von der Seeseite. Herodot rechnet auch die in Italien wohnenden Etrusker zum gleichen Stamme und nennt sie Tyrrhener.

 

58. Was nun den hellenischen Stamm und seine Sprache betrifft, so hat er wohl, wie mir einleuchtet, seit seiner Entstehung immerdar dieselbe beibehalten. Nämlich geschieden vom pelasgischen und an sich schwach, ist er aus einem kleinen Ursprung zu einer Gesamtheit vieler Völker, vornehmlich durch starken Hinzutritt anderer barbarischer Völkerschaften angewachsen. Dagegen hat, wie es mir wiederum scheint, der pelasgische Stamm, ein barbarischer, niemals großen Zuwachs bekommen.

59. Von diesen Völkern nun war das attische, wie Kroisos vernahm, unterdrückt und in Spaltungen geteilt durch Peisistratos, Hippokrates' Sohn, der zu dieser Zeit Herr von Athen war. Dem Hippokrates nämlich, einem bürgerlichen Manne, geschah an den olympischen Spielen, denen er zuschaute, ein großes Zeichen. Wie er nämlich seine Opfer schlachtete, fingen die aufgestellten Kessel, die voll Fleisch und Wasser waren, ohne Feuer an zu sieden und überzulaufen. Nun gab Chilon, der Lazedämonier, der gerade dabei war und das Zeichen schaute, dem Hippokrates fürs erste den Rat, kein fruchtbares Weib heimzuführen; wofern er aber schon ein solches habe, fürs andere, das Weib zu verstoßen; endlich, wofern er schon einen Sohn habe, sich von demselben loszusagen. Allein auf dieses Anraten des Chilon habe Hippokrates nicht hören wollen; darauf sei ihm Peisistratos geboren worden. Und als in Athen das Küstenvolk und die Bewohner der Ebene sich gegeneinander zusammenrotteten (jenes mit Megakles, Alkmaions Sohn, die Bewohner der Ebene mit Lykurgos, Aristolaïdes' Sohn, an der Spitze), trachtete eben dieser Peisistratos nach der Herrschaft und sammelte eine dritte Rotte. Als er Anhänger zusammengebracht hatte und dem Vorgeben nach des Bergvolkes Haupt war, stellte er folgendes an. Er verwundete sich und seine Maultiere; dann fuhr er mit seinem Gespann auf den Markt, als wäre er seinen Feinden entflohen, die ihn nur eben auf dem Wege nach dem Felde hätten ermorden wollen, und bat das Volk, es möchte ihm eine Wache zukommen lassen. Freilich hatte er sich auch zuvor, als Anführer gegen die Megarer, Ehre erworben, Nisaia eingenommen und andere große Taten ausgeführt. Das athenische Volk ließ sich täuschen und wählte ihm eigene Männer von der Stadt aus, die nun zwar keine Lanzenträger, aber doch Keulenträger des Peisistratos wurden; denn mit Holzkeulen folgten sie ihm. Jetzt ließen sich diese von Peisistratos aufwiegeln und nahmen die Burg, und fortan herrschte Peisistratos über die Athener, ohne jedoch die vorhandenen Würden umzustoßen, noch die Satzungen abzuändern; sondern er verwaltete die Stadt nach dem bestehenden Recht in der schönsten Ordnung.

60. Es dauerte aber nicht lange, so wurden die Anhänger des Megakles und die des Lykurgos eines Sinnes und vertrieben ihn. So hatte Peisistratos Athen zum erstenmal gewonnen, und so verlor er die Herrschaft, noch ehe sie recht Wurzel geschlagen hatte. Aber die Vertreiber des Peisistratos rotteten sich wieder aufs neue gegeneinander zusammen. Da ließ Megakles, als ihn der Parteizwist hart bedrängte, durch einen Herold dem Peisistratos anbieten, ob er seine Tochter zur Frau nehmen wolle, unter der Bedingung, daß er Herrscher werde. Als Peisistratos den Vorschlag annehmbar fand und auf die Bedingung einging, stellten sie, um seine Rückkehr zu ermöglichen, bei weitem die einfältigste Geschichte an, die ich mir denken kann; während doch schon vorlängst der hellenische Stamm vom barbarischen, als geschickter und weiter entfernt von törichter Einfalt, unterschieden wurde. Und nun haben jene damals gar bei den Athenern, die an Klugheit die Ersten unter den Hellenen heißen, folgendes angestellt: In dem paianischen Gau war ein Weib mit Namen Phya, in der Größe von vier Ellen, weniger drei Finger, und sonst wohlgestaltet. Dieses Weib taten sie mit völliger Waffenrüstung an, setzten sie auf einen Wagen und wiesen ihr die Haltung an, in der sie sich am würdigsten ausnehmen werde. So fuhren sie in die Stadt unter Voraussendung anmeldender Herolde, welchen aufgegeben war, bei ihrer Ankunft in die Stadt auszurufen: »Athener, empfangt mit guter Gesinnung den Peisistratos, den die Göttin von Athen selbst am höchsten unter allen Menschen ehrt und in ihre Burg wieder einführt.« Dies riefen sie allenthalben aus, und alsbald kam in die Gaue ein Gerücht, Athene führe den Peisistratos wieder herein; die Städter aber glaubten wirklich, das Weib sei die Göttin selbst, beteten das Menschenbild an und nahmen den Peisistratos auf.

[Anmerkung:] 60. Die Geschichte von der Phya ist wahrscheinlich eine rationalistische Umdeutung der Sage, daß Athene selbst den Peisistratos heimgeführt habe. Jedes Aufklärungszeitalter sucht religiöse Erscheinungen durch bewußte Betrügerei zu erklären. Dagegen sagt Jakob Burckhardt (Griechische Kulturgeschichte I): »Wahrscheinlich hatte Peisistratos nicht einmal eine Täuschung bezweckt, als er die schöne Kranzverkäuferin im vollen Schmuck der Göttin auf seinen Wagen nahm; er wollte wohl nur seinen Einzug erleichtern, indem er demselben das Ansehen eines Festzuges gab, und ganz besonders mußte ihm daran liegen, unbehelligt in die Akropolis zu gelangen. Aber es gab eben noch Volksmassen, welche von der Größe und Schönheit der Phya hingerissen wurden und sie für die Gottheit selbst hielten. Die Illusion, wenn man sie absichtlich hätte hervorbringen wollen, wäre keineswegs leicht gewesen, weil man von Festzügen her an götterhaft kostümierte Menschen gewöhnt war, und weil ja schon bei Opfern der Priester oder die Priesterin in der Tracht der betreffenden Gottheit aufzutreten pflegten.«

 

61. Als auf die besagte Art Peisistratos wieder zur Herrschaft gelangt war, heiratete er nach seiner Übereinkunft mit Megakles dessen Tochter. Weil er aber bereits herangewachsene Söhne hatte, und es auch von den Alkmaioniden hieß, sie ständen im Fluch, wollte er keine Kinder von der neuvermählten Frau bekommen und wohnte ihr nicht nach der Ordnung bei. Nun verbarg es zuerst die Frau; hernach aber, vielleicht auf Befragen, vielleicht ohne das, verriet sie es ihrer Mutter, und diese ihrem Manne. Den griff es arg an, von Peisistratos so verunehrt zu werden; und in seinem Zorn ging er hin und söhnte sich mit der feindlichen Partei aus. Peisistratos merkte aber, was man gegen ihn vorbereitete, und entwich völlig aus dem Lande. In Eretria, wohin er kam, beratschlagte er nun mit seinen Söhnen: und da Hippias die Meinung durchsetzte, daß sie die Herrschaft wieder erwerben sollten, so sammelten sie nun Beisteuern aus den Städten, die ihnen irgend aus Dank ergeben waren; unter den vielen, die große Mittel darreichten, überboten die Thebaner mit ihrer Gabe alle. Hernach, um nicht viel Worte zu machen, verging einige Zeit: da hatten sie alles zur Heimkehr zugerichtet. Denn nicht nur kamen argivische Söldner aus dem Peloponnes; es war auch freiwillig ein Naxier gekommen, Lygdamis mit Namen, der für sie allen Eifer anwandte mit Herbeischaffen von Mitteln und Männern.

[Anmerkung:] 61. Ein Fluch ruhte auf den Alkmaioniden, weil sie die Anhänger Kylons, der sich zum Tyrannen von Athen machen wollte, an den Altären der Götter erschlagen hatten (632 v. Chr.). Daß Peisistratos nicht bereit war, seinen erbberechtigten Söhnen einen Nebenbuhler zu erzeugen, der sie mit Unterstützung der mütterlichen Verwandten stürzen konnte, hält Wilamowitz (Aristoteles und Athen. I, S. 23) für glaublich: »Parallelen aus moderner Geschichte fehlen durchaus nicht.« – Lygdamis war der vom Adel vertriebene Tyrann von Naxos. Er verhalf dem Peisistratos zur Herrschaft über Athen, und dieser leistete ihm dann denselben Dienst in Naxos, doch wurde Lygdamis von den Spartanern gestürzt (524 v. Chr.).

 

62. Es war im elften Jahre, daß sie von Eretria aus zurückkamen, und das erste, was sie in Attika nahmen, war Marathon. In das Lager, das sie daselbst hatten, kamen auch aus der Stadt die Leute von ihrer Partei, und andere strömten aus den Gauen herzu, denen die Herrschaft willkommener war als die Freiheit. Diese kamen also zu Hauf. Aber die Athener in der Stadt, die solange Peisistratos die Mittel sammelte, und auch, als er schon Marathon nahm, nichts darnach gefragt hatten, erfuhren jetzt, er breche schon von Marathon nach der Stadt auf, und nun erst zogen sie gegen ihn zum Kampfe. Sie gingen mit dem ganzen Heere auf die Heimkehrenden los, und Peisistratos mit den Seinigen, welche von Marathon her gegen die Stadt anrückten, traf am Heiligtum der pallenischen Athene mit ihnen zusammen und lagerte sich ihnen gegenüber. Da erschien vor Peisistratos durch göttliche Sendung Amphilytos, der Akarnane, ein Wahrsager, der zu ihm trat und in Hexametern folgenden Spruch tat:

Siehe, das Garn ist gestellt und gespannt in die Breite das Fangnetz;
Bald schießt Thunfischvolk stromnieder in leuchtender Mondnacht.

63. Diesen Ausspruch tat er gottbegeistert, und Peisistratos, der die Weissagung begriff, erklärte, er nehme an, was ihm geweissagt sei, und führte das Heer hinaus. Aber die Athener aus der Stadt waren jetzt gerade zum Frühstück gegangen oder, soweit sie schon gefrühstückt hatten, hier zum Würfelspiel, dort zum Schlafen. Nun griff sie Peisistratos mit den Seinigen an, und die Athener wurden geschlagen. Als sie aber flohen, wandte Peisistratos einen klugen Kunstgriff an, damit sich die Athener nicht mehr sammelten, sondern zerstreut blieben. Er ließ seine Söhne zu Pferde steigen und voraneilen; als sie die Flüchtigen einholten, sagten sie ihnen im Auftrage des Peisistratos, sie sollten getrost sein und ein jeder seines Weges nach Hause gehen.

64. Diesem leisteten die Athener Folge, und so nahm denn Peisistratos Athen zum drittenmal ein und wurzelte sich nun erst in der Herrschaft ein durch viele Hilfstruppen und Zuflüsse von Mitteln, deren ein Teil aus dem Lande selbst, ein Teil vom Strymonfluß einging; auch durch Geiseln, wozu er für die Athener, die standhaft geblieben und nicht sogleich geflohen waren, ihre Söhne nahm und nach Naxos versetzte (denn auch diese Insel hatte er sich gewaltsam unterworfen und dem Lygdamis übergeben), endlich durch Reinigung der Insel Delos kraft erhaltener Göttersprüche. Diese Reinigung vollzog er also: Soweit der Gesichtskreis des Tempels reichte, grub er aus dem ganzen Felde die Toten aus und verlegte sie in ein anderes Feld der Insel. Peisistratos war also Herr zu Athen: ein Teil der Athener aber war in der Schlacht gefallen und ein anderer mit den Alkmaioniden aus der Heimat geflohen.

65. Über die Athener also vernahm Kroisos solche Kunde von ihren dermaligen Umständen; über die Lazedämonier dagegen, daß sie aus großem Übel sich herausgezogen und bereits im Kriege die Oberhand über die Tegeaten gewonnen hätten. Denn unter König Leon und Hegesikles von Sparta hatten die Lazedämonier, die in ihren sonstigen Kriegen glücklich waren, bei den Tegeaten allein einen Stoß erlitten. In der vorhergehenden Zeit hatten sie beinahe unter allen Hellenen die schlechteste Verfassung, sowohl in ihren Verhältnissen zueinander als gegen Fremde, mit denen sie überhaupt nicht verkehren durften. Davon gingen sie nun folgendermaßen zur Ordnung über. Lykurgos, ein ehrenhafter Spartiat, kam nach Delphi zum Orakel, und gleich bei seinem Eintritt in die Halle sprach die Pythia:

O Lykurgos, du kommst zu meinem gesegneten Tempel,
Teuer dem Zeus und allen den andern Olymposbewohnern.
Ob ich als Gott dich deute, befrag' ich mich, oder als Menschen:
Mehr doch findet in dir den Gott mein Sinn, o Lykurgos!

Nun sagen einige, die Pythia habe ihm überdies die jetzt unter den Spartiaten bestehende Staatsordnung angegeben; wie aber die Lazedämonier selbst sagen, so hat sie Lykurgos, als Vormund des Leobotes, seines Brudersohns und Königs der Spartiaten, aus Kreta gebracht. Denn sobald er Vormund geworden war, setzte er alle Einrichtungen auf einen andern Fuß und wachte darüber, daß sie nicht übertreten würden. Hernach setzte er im Kriegswesen die Geschwornenschar, die Dreißigerzahl und die Mahlgemeinschaft fest. Und außerdem stellte Lykurgos die Ephoren und Alten auf.

[Anmerkung:] 65. Die Geschworenenschar umfaßte fünfzehn Mann und war die unterste Heereseinheit. Die Ephoren waren der Ausschuß des herrschenden Adels, der darüber wachte, daß keine Neuerungen im Staatswesen eintraten. Der Rat der Alten bestand aus achtundzwanzig mehr als Sechzigjährigen und war eine Art von Herrenhaus, doch war neben ihm die Volksversammlung in dem spartanischen Adelsstaate ganz bedeutungslos. Die Macht lag in der Theorie beim Rate der Alten, praktisch in den Händen der Ephoren, die auch die beiden Könige sehr scharf überwachten. Da die Könige jedoch im Kriege die Führung hatten, ergaben sich ständig Spannungen zwischen ihnen und den Ephoren. Die Bewunderung der spartanischen Verfassung, die schon bei Herodot hervortritt und dann bei fast allen griechischen Schriftstellern herrscht, erklärt sich daraus, daß in den andern griechischen Städten die Verfassung beständig wechselte, während in Sparta immer alles beim alten blieb.

 

66. So trat bei ihnen eine bessere Ordnung ein. Dem Lykurgos stifteten sie aber nach seinem Tod ein Heiligtum und verehren ihn hoch und heilig. Und bei der Güte des Landes und ihrer nicht geringen Bevölkerung erstarkten sie alsbald und blühten in ihrer Kraft. Ja es genügte ihnen schon nicht mehr, ruhig zu bleiben; sondern in hoher Meinung, sie seien der Arkadier Meister, fragten sie beim Orakel in Delphi um das ganze Land der Arkadier an. Daraus tat die Pythia ihnen den Ausspruch:

Um Arkadien bittest du mich? Ist viel. Ich versag' es.
In Arkadien sind viel eichelspeisende Männer,
Welche dir Einhalt tun. Doch ich bin dir ferne von Mißgunst.
Aber Tegea sei dein! Du wirst im Tanze dort stampfen,
Wirst mit der Feldschnur dort das schöne Gefilde vermessen.

Als dieses den Lazedämoniern ausgerichtet wurde, standen sie von den andern Arkadiern ab; aber gegen die Tegeaten zogen sie mit Fesseln ins Feld, im Vertrauen auf den zweideutigen Spruch, als würden sie gewiß die Tegeaten zu Knechten machen. Da sie aber im Treffen unterlagen, mußten alle, die lebendig gefangen wurden, Arbeit tun und dabei die Fesseln tragen, die sie selbst mitgebracht hatten, wie auch mit der Feldschnur das Gefild der Tegeaten ausmessen. Und ebendiese Fesseln, mit denen sie gebunden wurden, waren noch zu meiner Zeit aufbehalten in Tegea, wo sie rings am Heiligtum der Athene Alea hingen.

67. In diesem frühern Krieg also kämpften sie beständig mit Unglück gegen die Tegeaten; zu Kroisos' Zeit aber, unter den lazedämonischen Königen Anaxandrides und Ariston, hatten die Spartiaten bereits die Oberhand im Kriege gewonnen und das auf folgende Art. Weil sie immer in diesem Kriege den Tegeaten unterlagen, schickten sie Gotteskundschafter nach Delphi, mit der Frage, welches Gottes Gunst sie erwerben müßten, um im Kriege die Oberhand über die Tegeaten zu gewinnen. Da gab ihnen die Pythia den Spruch: wenn sie Orestes' Gebeine, des Sohnes des Agamemnon, sich verschafften. Nun konnten sie aber die Grabstätte des Orestes nicht finden, sandten also wiederum zu dem Gotte, um den Ort zu erfragen, in welchem Orestes liege. Auf diese Frage der Gesandten antwortete die Pythia:

Wo Arkadiens Tegea liegt auf geräumigem Blachfeld,
Allda brausen der Winde zwei in gewaltigem Zwange;
Schlag und erwidernder Schlag ist da, und Übel auf Übel.
Allda birgt Agamemnons Sohn die Beleberin Erde.
Holst du ihn wieder, so wirst in Tegea der Sieger du werden.

Allein durch diese Antwort waren die Lazedämonier um nichts weniger fern von seiner Auffindung, trotz allem Nachforschen; bis endlich Lichas, ein Spartiat von den sogenannten Braven, zu dem Funde kam. Diese Braven sind Bürger aus der Stadt und je die Ältesten vom Ritterstande, aus welchem sie alljährlich zu fünfen austreten. Dieselben müssen, in diesem Jahr ihres Austritts aus dem Ritterstande, vom spartanischen Staat sich verschicken lassen, ohne daß einer da oder dort weilen dürfte.

68. Einer von diesen also war Lichas, der in Tegea den Fund tat, sowohl durch Glück als durch Verstand. Es fand nämlich zu dieser Zeit Verkehr mit den Tegeaten statt: da kam er in eine Schmiede und schaute zu, wie das Eisen getrieben wurde, und verwunderte sich darüber. Als nun der Schmied seine Verwunderung bemerkte, hörte er mit seiner Arbeit auf und redete ihn an: »Höre, Freund Lazedämonier, ich meine wohl, hättest du gesehen, was ich sah, du würdest dich wohl stark verwundert haben: wenn du dir hier schon ein solches Wunder aus der Schmiedearbeit machst. Ich wollte nämlich da in dem Hof einen Brunnen machen und stieß unterm Graben auf einen Sarg von sieben Ellen Länge. Und wegen des Unglaubens, den ich hatte, daß die Menschen jemals größer gewesen seien als die jetzigen, öffnete ich denselben und sah, daß der Tote an Länge dem Sarge gleichkam. So habe ich's gemessen und dann zugeschüttet.« Der sagte also, was er gesehen hatte: der andere aber faßte zu Sinn, was er hörte, und schloß, das sei Orestes nach dem Gottesspruch. Und er schloß es daraus, weil er bei dem Schmied zwei Blasebälge sah, worin er die Winde fand, im Amboß und Hammer aber den Schlag und den erwidernden Schlag, und in dem Eisen, wie es getrieben ward, das Übel auf Übel, insofern er erwog, wie das Eisen zum Unglück des Menschen aufgefunden sei. Das war sein Schluß, und er kehrte nach Sparta zurück und erzählte den Lazedämoniern die ganze Sache. Diese brachten aus erdichtetem Grunde Klage wider ihn vor und verbannten ihn. Da kam er nach Tegea, wo er sein Schicksal dem Schmied erzählte und von ihm seinen Hof mieten wollte, der ihn aber nicht hergab. Indessen mit der Zeit beredete er ihn doch und kam da in Wohnung. Nun grub er das Grab auf, sammelte die Gebeine und ging damit fort nach Sparta. Und sooft sie seit dieser Zeit sich im Kriege aneinander versuchten, hatten die Lazedämonier bei weitem die Oberhand. Bereits war ihnen auch der größte Teil des Peloponnes unterworfen.

69. Das alles erfuhr nun Kroisos und schickte Abgesandte nach Sparta mit Geschenken und mit der Bitte um einen Waffenbund, wobei er ihnen aufgab, was sie zu sagen hätten. Sie gingen hin und sagten: »Im Namen des Kroisos, des Königs der Lyder und anderer Völker, höret, ihr Lazedämonier: Weil mir der Gott geraten hat, daß ich die Hellenen zu Freunden gewinnen soll, und da ich vernehme, daß ihr voranstehet in Hellas, so spreche ich euch hiermit gemäß dem Orakel an, in der Absicht, euer Freund und Streitgenosse zu werden, sonder Trug und Falsch.« Das also ließ ihnen Kroisos durch seine Herolde kundtun. Die Lazedämonier aber, die auch schon den Götterspruch gehört hatten, der dem Kroisos geworden war, freuten sich über die Ankunft der Lyder und machten ein Bündnis auf Freundschaft und Streitgenossenschaft. Auch waren sie ja dem Kroisos durch Dienste verbunden, die er schon früher ihnen erzeigt hatte; denn als die Lazedämonier nach Sardes geschickt hatten, um Gold zu einem Bilde zu kaufen, das jetzt in Lakonien auf dem Berge Thornax steht und den Apollo vorstellt, da schenkte ihnen Kroisos den Kaufpreis.

70. Deswegen nahmen also die Lazedämonier den Waffenbund an, und weil er sie vorzugsweise vor allen Hellenen zu Freunden erkor. Nun standen sie ihm nicht nur zum Aufruf bereit, sondern ließen auch einen ehernen Mischkrug, der am äußern Rand voller Gebilde und von einer Größe war, daß er dreihundert Amphoren faßte, als ein Gegengeschenk an Kroisos abgehen. Dieser Mischkrug kam nicht nach Sardes, wovon man zweierlei Ursachen hört, wie folgt. Die Lazedämonier sagen, als man mit dem Mischkrug auf dem Wege nach Sardes gegen das Samische gekommen sei, hätten die Samier es erfahren, wären auf großen Schiffen herangefahren und hätten ihn weggenommen; die Samier selbst aber sagen, als die Lazedämonier mit dem Mischkrug sich verspätet und erfahren hätten, Sardes und Kroisos selbst seien verloren, hätten sie den Mischkrug in Samos weggegeben; bürgerliche Leute hätten ihn gekauft und ins Heiligtum der Hera geweiht. Vielleicht möchten denn wohl die Verkäufer nach ihrer Ankunft in Sparta gesagt haben, sie seien von den Samiern beraubt worden. So verhielt es sich mit diesem Mischkruge.

[Anmerkung:] 70. »So verhielt es sich mit diesem Mischkruge.« Herodot wiederholt am Schluß einer Geschichte gern den Inhalt in einem kurzen Satze. Das ist die Weise eines Redners, der zu etwas Neuem übergeht. Es ist ein gesprochener Schlußstrich. Mit Recht sagt Jakob Burckhardt (Griechische Kulturgeschichte, VIII) vom ersten Buche, daß es »völlig mündlich und noch ganz wie ein Epos lautet«.

 

71. Aber Kroisos hatte den Sinn des Orakels verfehlt und unternahm einen Heereszug nach Kappadozien, in der Hoffnung, den Kyros samt der persischen Macht zu stürzen. Während nun Kroisos sich zum Feldzug gegen die Perser rüstete, erteilte ein Lyder, der auch zuvor schon für klug galt, aber von folgender Äußerung hauptsächlich einen Namen unter den Lydern bekommen hat (Sandanis war sein Name), dem Kroisos folgenden Rat: »Mein König, du rüstest dich, gegen Leute zu ziehen, die lederne Beinkleider und überhaupt den ganzen Anzug von Leder haben; und zur Speise nehmen sie nicht, was sie eben wollen, sondern was sie haben, da sie ein rauhes Land bewohnen; auch genießen sie keinen Wein, sondern trinken Wasser; essen auch keine Feigen noch sonst etwas Gutes. Nun also, wenn du siegst, was willst du ihnen nehmen, die ja gar nichts haben? Wenn du aber besiegt werden solltest, so sieh zu, um welche Güter du dich bringst! Denn haben sie einmal unsere Güter gekostet, so werden sie daran hängen bleiben und nicht zu vertreiben sein. Ich wenigstens weiß es den Göttern Dank, daß sie nicht den Persern in den Sinn geben, gegen die Lyder ins Feld zu ziehen.« Mit diesen Worten fand er bei Kroisos kein Gehör. Die Perser hatten nämlich vor ihrer Unterwerfung von Lydien nichts für den Genuß noch sonst etwas Gutes.

72. Die Kappadozier werden von den Hellenen Syrier genannt, und diese Syrier waren vor der Perser Herrschaft den Medern untertan, damals aber dem Kyros. Die Grenze nämlich der medischen Herrschaft und der lydischen war der Halysstrom, welcher vom armenischen Gebirge her durch der Zilizier Land fließt, hernach die Matiener zur Rechten seiner Strömung hat, auf der andern Seite aber die Phrygier und über diese hinaus weiter gegen den Nordwind auf jener Seite die syrischen Kappadozier begrenzt, zur Linken aber die Paphlagonier. So schneidet der Halysstrom beinahe das ganze Vorderasien ab von dem Meere von Zypern bis zum Pontos Euxeinos. Dies ist der Hals dieses ganzen Landes, – ein Stück Weges, wozu ein rüstiger Mann fünf Tagereisen braucht.

[Anmerkung:] 72. Herodot braucht den Namen Syrien in weiterer Bedeutung für alle Landschaften zwischen Ägypten, Babylonien und dem Schwarzen Meere. Die östliche engste Stelle Kleinasiens zwischen Zilizien und dem Schwarzen Meere ist mehr als vierhundert Kilometer breit. Herodot irrt also, wenn er annimmt, daß man sie in fünf Tagemärschen durchqueren kann. Er gibt sehr gern Zahlen, verrechnet sich aber häufig und hat dadurch den Kommentatoren viel unnötige Mühe verursacht. Man versucht immer wieder, seine Rechenfehler auszugleichen, als ob es eine Schande wäre, wenn ein guter Erzähler kein guter Mathematiker ist. Die künstlerische Begabung ist sehr häufig mit rechnerischer Unbegabtheit verbunden.

 

73. Daß Kroisos gegen Kappadozien zu Felde zog, das geschah nicht nur aus Verlangen nach Landbesitz und aus dem Wunsch, seinen Anteil zu vermehren, sondern vornehmlich auch im Vertrauen auf das Orakel und in der Absicht, an Kyros wegen Astyages Rache zu nehmen. Den Astyages nämlich, Kyaxares' Sohn, Schwager des Kroisos und König der Meder, hielt Kyros, des Kambyses Sohn, unter seinem Joch. Schwager des Kroisos war er auf folgende Art geworden. Ein Haufen nomadischer Szythen entwich bei einem Aufstand ins medische Land. Zu dieser Zeit war Herr in Medien Kyaxares, Sohn des Phraortes, des Sohnes des Dejokes. Er behandelte diese Szythen zuerst gut, als seine Schützlinge, hielt auch so viel auf sie, daß er ihnen Knaben zum Unterricht in ihrer Sprache und in der Bogenkunst übergab. Während die Szythen immer auf die Jagd ausgingen und immer etwas heimbrachten, traf es sich mit der Zeit auch einmal, daß sie nichts fingen. Als sie nun mit leeren Händen zurückkehrten, behandelte sie Kyaxares, nach seiner, wie er damit bewies, jähzornigen Art, sehr hart und schimpflich. Sie, denen Kyaxares so begegnet war, beschlossen, um dieser unwürdigen Begegnung willen einen ihrer jungen Lehrlinge abzuschlachten, ihn ebenso anzurichten, wie sie das Wild anzurichten gewöhnt waren, und ihn dem Kyaxares für ein Wildbret zu überbringen, darauf aber schleunigst zu Alyattes, dem Sohn des Sadyattes, nach Sardes aufzubrechen. Das geschah denn auch. Denn wirklich genossen Kyaxares und die anwesenden Gäste von diesem Fleisch, und die Szythen kamen nach dieser Tat als Schützlinge zu Alyattes.

74. Als nun Alyattes die Szythen auf die Forderung des Kyaxares nicht auslieferte, gab es Krieg zwischen den Lydern und Medern auf fünf Jahre, in denen oft die Lyder von den Medern, oft auch die Meder von den Lydern besiegt wurden. Einst kam es auch zu einer nächtlichen Schlacht. Indem sie nämlich den Krieg auf beiden Seiten ohne Entscheidung fortführten, trug es sich bei einem Treffen im sechsten Jahre zu, daß der Tag, als die Schlacht entbrannt war, plötzlich zur Nacht ward. Diese Umwandlung des Tages hat auch Thales von Milet den Ioniern vorausgesagt, mit Vorherbestimmung dieses nämlichen Jahres, in dem die Veränderung wirklich erfolgte. Als nun die Lyder und Meder die Nacht an die Stelle des Tages treten sahen, gaben sie nicht nur die Schlacht auf, sondern trieben auch um so mehr von beiden Seiten zu einem Friedensschluß. Wer sie aber zusammenbrachte, das waren der Zilizier Syennesis und der Babylonier Labynetos. Diese betrieben den Bundeseid und stifteten auch eine Heiratsverbindung. Den Alyattes nämlich hießen sie seine Tochter Aryanis dem Astyages, Sohne des Kyaxares, geben. Denn ohne ein zwingendes Band pflegen erzwungene Vereinigungen nicht fest zu bleiben. Ihre Bundesschwüre leisten diese Völker auf dieselbe Art wie die Hellenen. Überdies aber machen sie an den Armen einen Einschnitt in die Oberfläche der Haut und lecken einander das Blut auf.

[Anmerkung:] 74. Die Sonnenfinsternis vom 30. September 610 v. Chr. Thales von Milet verdankte die Kenntnisse, die erforderlich waren, um sie vorauszuberechnen, den ägyptischen Priestern. Syennesis ist kein Eigenname, sondern der Titel des Herrschers der Zilizier. Labynetos ist eine griechische Verunstaltung des Namens Nabopolassar.

 

75. Diesen Astyages also, seinen mütterlichen Großvater, hatte sich Kyros unterworfen, wovon ich die Ursache in den nachfolgenden Geschichten anzeigen werde; und dies war Kroisos' Vorwurf gegen Kyros, weshalb er zu den Orakeln sandte, ob er einen Feldzug gegen die Perser machen solle, und dann auch wirklich, auf einen zweideutigen Spruch hin, in der Hoffnung, der Spruch sei für ihn, einen Feldzug in das Gebiet der Perser unternahm. Als nun Kroisos an den Halysstrom kam, so brachte er sein Heer, wie ich sage, mit Hilfe der vorhandenen Brücken hinüber; nach einer unter den Hellenen verbreiteten Sage aber hat es ihm Thales von Milet hinübergebracht. Denn bei der Verlegenheit des Kroisos, wie sein Heer durch den Strom kommen möge (die Brücken hätten nämlich zu der Zeit noch gar nicht gestanden), soll Thales von Milet auch im Lager gewesen sein und bewirkt haben, daß der Strom, der zur linken Hand des Heeres floß, auch rechts zu fließen kam. Und das habe er folgendermaßen gemacht: Oberhalb des Lagers habe er einen tiefen Rinngraben gestochen und in Halbmondform gezogen, damit er dem Lagerplatz in den Rücken käme und so der Fluß, in diesen Rinngraben aus seiner alten Bahn abgeleitet, auch wieder, am Lager vorbei, ins alte Bett sich ergösse. Durch diese Verteilung des Stromes sei es denn möglich geworden, auf beiden Seiten überzusetzen. Andere sagen gar, das alte Bett sei ganz ausgetrocknet. Allein das heißt mir nichts: wie wären sie denn nachher auf dem Rückweg hinübergekommen?

76. Kroisos kam nun, nach seinem Übergang mit dem Heere in das sogenannte Pteria im Kappadozischen. Pteria ist der stärkste Platz dieses Landes, ungefähr der Stadt Sinope am Pontos Euxeinos gegenüber gelegen; daselbst lagerte er und verheerte die Felder der Syrier. Auch nahm er nicht nur die Stadt der Pterier und machte sie zu Knechten, sondern ebenso alle ihre Nachbarstädte: wie er auch die Syrier, die nichts verschuldet hatten, ihres Landes beraubte. Kyros aber zog sein Heer zusammen, nahm alle, die dazwischen wohnten, mit, und ging dem Kroisos entgegen. Doch ehe er mit dem Heere aufbrach, sandte er Herolde an die Ionier, um sie zum Abfall von Kroisos zu bewegen. Dem gaben indes die Ionier kein Gehör. Als nun Kyros angekommen war und gegenüber von Kroisos lagerte, maßen sie in der pterischen Gegend ihre Kräfte. Und nach einer gewaltigen Schlacht, da viele auf beiden Seiten gefallen waren, trennten sich zuletzt die beiden Heere, ohne gesiegt zu haben, mit dem Einbruch der Nacht. Das war also der Kampf der beiden Streitmächte.

77. Kroisos, der die Schuld auf die Zahl seines Kriegsvolkes schob (denn sein Schlachtheer war viel geringer als das des Kyros), zog denn, weil er dem die Schuld gab und Kyros am folgenden Tage keinen Angriff versuchte, nach Sardes ab. Er war entschlossen, die Ägypter gemäß ihrem Eide herbeizurufen (denn er hatte mit Amasis, dem König von Ägypten, noch früher als mit den Lazedämoniern Bundesgenossenschaft geschlossen), auch nach den Babyloniern zu senden (denn auch mit diesen stand er in Bundesgenossenschaft: und Herr der Babylonier war zu der Zeit Labynetos), dazu die Lazedämonier aufzurufen, daß sie sich zur verabredeten Zeit einfänden. Wenn er diese zusammengebracht und sein eigenes Heer versammelt hätte, so gedachte er, den Winter vorbeigehen zu lassen und mit dem Frühling gegen die Perser ins Feld zu ziehen. Zufolge dieses Entschlusses sandte er nach seiner Ankunft in Sardes Herolde an die Bundesgenossen, daß sie sich im fünften Monat in Sardes versammeln sollten; aber von seinem gegenwärtigen Heere, das mit den Persern gestritten hatte, ließ er alle Hilfstruppen auseinandergehen, ohne daß ihm jemals beiging, Kyros könnte nach einem so unentschiedenen Kampfe gegen Sardes ziehen.

78. Während Kroisos' Gedanken hierauf gerichtet waren, füllte sich seine ganze Vorstadt mit Schlangen, und sobald dieselben sich gezeigt hatten, ließen die Pferde ab, auf den Weiden zu grasen, gingen hin und fraßen sie auf. Diese Erscheinung hielt Kroisos, wie sie das auch war, für ein Zeichen. Alsbald schickte er Gotteskundschafter an die Zeichendeuter in Telmessos. Sie kamen hin und wurden von den Telmessiern unterrichtet, was das Zeichen bedeuten sollte, konnten dem Kroisos aber keine Kunde mehr bringen; denn ehe sie nach Sardes zurückgefahren waren, kam er in Gefangenschaft. Die Telmessier indes taten den Spruch, ein fremdartig Kriegsvolk sei zu erwarten in Kroisos' Land, das da kommen und die Landeskinder unterjochen werde; denn die Schlange, sagten sie, sei ein Kind des Erdbodens, das Pferd aber kriegerisch und ausländisch. Solchen Bescheid erteilten die Telmessier dem Kroisos, da er bereits gefangen war, ohne daß sie wußten, wie es um Sardes und Kroisos selbst stand.

[Anmerkung:] 78. Telmessos lag in Lyzien und hatte ein Orakel des Apollo.

 

79. Kyros aber hatte gleich beim Abzug des Kroisos nach der bei Pteria gelieferten Schlacht erfahren, er ziehe ab, um sein Heer aufzulösen; darauf beriet er und fand, jetzt sei es seine Sache, so schnell er könne, auf Sardes loszugehen, ehe sich zum zweitenmal die Macht der Lyder gesammelt habe. So dünkte es ihm gut, und er handelte rasch. Denn er führte sein Heer so schnell nach Lydien, daß er selbst der Bote seiner Ankunft für Kroisos ward. Da kam Kroisos in große Not, weil die Umstände so unerwartet anders waren, als er sie sich gedacht hatte. Dennoch führte er die Lyder in die Schlacht. Nun war zu dieser Zeit kein Volk in Asien mannhafter und tapferer als das lydische. In der Schlacht kämpften sie zu Rosse und trugen lange Lanzen und waren gute Reiter.

80. Als sie zusammen auf das Feld kamen, das vor der sardischen Stadt liegt, groß und kahl (in ihm strömen die Flüsse, darunter der Hyllos, in den größten, mit Namen Hermos, der vom heiligen Berg der Mutter Dindymene herströmt und bei der Phokerstadt sich ins Meer ergießt), und als Kyros hier die Schlachtordnung der Lyder sah, da nahm er aus Besorgnis vor der Reiterei und auf Eingebung des Harpagos, eines Meders, folgendes vor. Alle Kamele, die seinem Heere mit Nahrungsmitteln oder mit Gepäck beladen folgten, sammelte er, ließ die Lasten herunternehmen und Männer darauf steigen, die mit einer Reiterrüstung versehen wurden. Und als er sie ausgerüstet hatte, befahl er, daß sie, dem andern Heere voran, der Reiterei des Kroisos entgegenrückten; den Kamelen aber sollte das Fußvolk folgen, und hinter dem Fußvolk stellte er seine ganze Reiterei auf. Als nun alle nach seiner Anordnung aufmarschiert waren, ermahnte er sie, ohne Schonung gegen die andern Lyder jeden zu töten, der ihnen unter die Hand käme, den Kroisos selbst aber nicht zu töten, auch nicht, wenn er sich, während man ihn ergriffe, wehren sollte. Dies war seine Mahnung. Die Kamele stellte er aber deshalb der Reiterei gegenüber, weil das Pferd vor dem Kamele scheut und es nicht aushält, seine Gestalt zu sehen, noch seinen Geruch zu verspüren. Ebendeshalb also stellte er's klug an, um dem Kroisos seine Reitermacht unnütz zu machen, da der Lyder im Auge hatte, gerade durch diese sich hervorzutun. Und wirklich hatten, als sie sich in der Schlacht begegneten, nicht so bald die Pferde den Geruch der Kamele verspürt und dieselben erblickt, als sie sich rückwärts herumwarfen und so die Hoffnung des Kroisos dahin war. Gleichwohl waren die Lyder auch jetzt nicht zaghaft; sondern sprangen, als sie bemerkten, was geschah, von den Pferden und stießen zu Fuß mit den Persern zusammen; sie wurden aber endlich, nachdem auf beiden Seiten viele gefallen waren, in die Flucht geschlagen, hinter ihre Mauern zurückgeworfen und von den Persern belagert.

[Anmerkung:] 80. Dindymene ist der Beiname der auf dem Berge Dindymon in Phrygien verehrten »großen Mutter«, der Göttin Kybele. Die Kamele waren damals in Kleinasien noch ganz unbekannt; deshalb scheuten die Pferde vor ihnen, während sie später gelernt haben, sich mit ihnen zu vertragen.

 

81. So waren sie nun im Belagerungszustande. Hierauf ließ Kroisos, da er glaubte, daß die Belagerung langwierig werde, aus seiner Feste neue Boten an die Bundesgenossen abgehen. Hatte er durch seine früheren Boten auf den fünften Monat die Versammlung nach Sardes ansagen lassen, so sandte er jetzt hinaus, um sich die schleunigste Hilfe auszubitten: denn Kroisos werde belagert.

82. Unter diesen Bundesgenossen, nach denen er schickte, waren auch die Lazedämonier. Aber die Spartiaten selbst hatten um ebendiese Zeit gerade einen Streit mit den Argivern wegen eines Landstrichs mit Namen Thyrea. Dieses Thyrea, das zur Landschaft Argolis gehörte, hatten die Lazedämonier an sich gerissen. Noch gehörte nämlich den Argivern alles gegen Abend bis Malea, sowohl das feste Land als auch die Insel Zythera und die übrigen Inseln. Als nun die Argiver um ihr entrissenes Eigentum kämpfen wollten, da trat man in Verhandlung, und beide Teile kamen überein, dreihundert Kämpfer von jeder Seite aufzustellen; das Land solle denen gehören, die den Kampf überständen; aber die Menge beider Heere solle ihres Weges nach Hause gehen und dem Kampfe nicht beiwohnen, damit nämlich nicht bei der Anwesenheit der Heerhaufen die einen oder die andern, wenn sie die Ihrigen unterliegen sähen, ihnen zu Hilfe kämen. Nach diesem Vertrage gingen sie denn auseinander; die Auserwählten aber, die jeder Teil zurückließ, stießen zusammen. Und als sie kämpften und sich einander gewachsen zeigten, blieben von sechshundert Männern drei übrig: von den Argivern nämlich Alkenor und Chromios, von den Lazedämoniern Othryades. Diese waren noch übrig beim Einbruch der Nacht. Nun liefen die beiden Argiver als Sieger nach Argos; Othryades aber, der Vertreter der Lazedämonier, zog die Leichname der Argiver aus, trug ihre Waffen in sein Lager und hielt sich dann auf seinem Posten. Am andern Tage fanden sich beide Teile ein, um nachzusehen. Eine Zeitlang wollten nun beide Sieger sein, die einen, weil von den Ihrigen mehr übriggeblieben seien, die andern mit der Erklärung, daß jene geflohen seien, während der Ihrige den Platz behauptet und die Leichname der andern ausgezogen habe. Zuletzt aber ging ihr Streit in eine Schlacht über. Viele blieben auf jeder Seite, die Lazedämonier aber siegten. Die Argiver nun, die seit dieser Zeit ihre Häupter bescheren, während zuvor nur langes Haar bei ihnen üblich war, legten sich ein Gesetz mit einem Fluche auf, daß nicht eher ein Argiver das Haar wachsen lassen, noch ihre Weiber Gold an sich tragen dürften, als sie Thyrea wieder genommen hätten. Aber die Lazedämonier machten hiervon gerade das Gegenteil zum Gesetz; denn während sie vorher kein langes Haar trugen, sollte es nunmehr geboten sein. Von jenem Othryades aber, der einzig von den dreihundert übriggeblieben war, sagt man, er habe sich geschämt, nach Sparta heimzukehren, da seine Waffenbrüder gefallen waren, und habe sich in Thyra selbst umgebracht.

83. Dies war bei den Spartiaten der Stand der Dinge, als der sardische Bote mit der Bitte anlangte, dem Kroisos gegen die Belagerung zu Hilfe zu kommen. Dennoch machten sie, auf diese Kunde des Herolds, Anstalt zur Hilfe. Und schon waren sie gerüstet, schon ihre junge Mannschaft bereit, da kam eine andere Botschaft, die Feste der Lyder sei erobert, und Kroisos lebe in Gefangenschaft. So mußten sie zu ihrem großen Leidwesen davon absehen.

84. Sardes wurde aber folgendermaßen erobert. Als es bereits der vierzehnte Tag war, daß Kroisos belagert wurde, ließ Kyros seinem Kriegsvolk durch Reiter, die er herumschickte, kundtun, daß er dem, der zuerst die Mauer erstiege, einen Preis geben wolle. Darauf machte das Kriegsvolk einen Versuch; wie es aber damit nicht zustande kam und die andern die Sache aufgaben, da versuchte ein Marder, mit Namen Hyroiades, die Ersteigung an einer Stelle der Burg, wo keine Wache aufgestellt war. Denn es war nicht zu argwöhnen, sie werde an dieser Stelle erobert werden: so abschüssig ist hier die Burg und so unangreifbar. Auch hatte Meles, ein früherer König von Sardes, hier allein nicht den Löwen herumgetragen, den sein Kebsweib gebar, und von dem die Telmessier urteilten, wenn er an den Mauern herumgetragen werde, so werde Sardes unerobert bleiben. Meles trug ihn denn an den übrigen Mauern herum, wo die Burg angreifbare Stellen hatte; diese beachtete er nicht, weil sie unangreifbar und abschüssig war. Es ist dies die Seite der Stadt gegen den Tmolos hin. Nun hatte also von dieser Stelle der Burg jener Hyroiades, der Marder, tags zuvor einen Lyder seinem Helm, der von oben herabgerollt war, nachsteigen und ihn aufheben sehen. Er hatte das beachtet und in seinem Sinne erwogen. Jetzt war er denn selbst hinaufgestiegen, und nach ihm stiegen andere Perser hinauf. Da ihre Zahl immer größer wurde, so eroberten sie Sardes, und die ganze Stadt ward verheert.

[Anmerkung:] 84. Der Löwe ist dem Sonnengott Sandon heilig. Meles ist Sandon selbst, seine Geliebte, die den Löwen gebiert, die Göttermutter Kybele. Hinter allen diesen orientalischen Erzählungen verbergen sich Gestirnmythen, die von den Priestern in eine Art von Märchenform für das Volk gebracht wurden.

 

85. Dem Kroisos selbst aber geschah folgendes. Er hatte einen Sohn, dessen ich zuvor schon gedacht habe, der sonst von guter Art, nur taubstumm war. In seinem bisherigen Glücke hatte nun Kroisos alles auf ihn verwendet und unter andern Gedanken, auf die er verfiel, auch nach Delphi gesandt, um einen Spruch über ihn einzuholen. Da antwortete ihm die Pythia:

Lydersohn, weitherrschender Fürst, nichts ahnender Kroisos:
Wolle den Laut nie hören, den sehnlich gewünschten, im Hause,
Nie die Stimme des Sohns. Zum Frommen gereichet fürwahr dir
Solches; denn sprechen wird er zuerst am Tage des Unglücks.

Als nun die Stadt erobert wurde, ging ein Perser auf Kroisos, den er nicht kannte, los und wollte ihn töten. Kroisos sah ihn wohl herankommen, war aber um sein gegenwärtiges Schicksal unbekümmert und hätte sich gleichgültig von ihm erschlagen lassen; allein, als sein Sohn, ebenjener Taubstumme, den herankommenden Perser erblickte, brach er vor Furcht und Jammer in Laute aus und sprach: »Mann, töte den Kroisos nicht!« Das war also der erste Laut, den er von sich gab, und von nun an behielt er die Sprache für seine ganze Lebenszeit.

86. Die Perser hatten also Sardes in Besitz und den Kroisos lebendig in ihrer Gewalt, nachdem er vierzehn Jahre Herr gewesen und vierzehn Tage belagert worden war und dem Orakel gemäß seine eigene große Macht vernichtet hatte. Und sie führten ihn vor Kyros. Dieser hatte einen großen Scheiterhaufen aufschichten lassen und setzte den Kroisos gefesselt darauf und zweimal sieben lydische Knaben neben ihn, vielleicht in der Absicht, diese Erstlingsopfer irgendeinem Gotte zu heiligen, vielleicht auch, um ein Gelübde zu erfüllen; vielleicht auch hatte er von Kroisos' Gottesfurcht gehört und ihn deshalb auf den Scheiterhaufen gesetzt, weil er wissen wollte, ob etwa einer der Himmlischen ihn erretten werde, so daß er nicht lebendig verbrannt werde. Dieses tat er also: dem Kroisos aber kam auf seinem Scheiterhaufen, mitten in dem schrecklichen Unglück, jenes Wort des Solon in den Sinn, wie da ein Gott aus ihm gesprochen habe, keiner der Lebenden sei glücklich. Wie ihm dies einfiel, besann er sich, seufzte nach langer Stille aus und rief dreimal den Namen Solon. Da befahl Kyros, der es hörte, seinen Dolmetschern, den Kroisos zu fragen, wen er da anrufe. Als sie mit dieser Frage zu ihm traten, schwieg Kroisos eine Weile still, hernach aber, genötigt, erwiderte er: »Einen solchen, daß ich's für alle Herrscher höher anschlüge als große Schätze, mit ihm in ein Gespräch zu kommen.« Das war ihnen eine rätselhafte Rede; und so befragten sie ihn wieder über diese Worte, drangen in ihn und lagen ihm lästig an, bis er endlich sagte: vorzeiten sei dieser Solon, ein Athener, gekommen, habe all sein Glück gesehen und geringgeschätzt mit gewissen Äußerungen, und es sei nachmals alles gerade so bei ihm eingetroffen, wie Solon damals gesprochen habe, dessen Worte jedoch ebensowohl wie auf ihn selbst auch auf die ganze Menschheit, und besonders auf die gingen, die sich in ihrem Sinne für glücklich hielten. Während aber Kroisos dies erzählte, war bereits der Scheiterhaufen entzündet und brannte am äußersten Rande. Da hörte Kyros von den Dolmetschern die Antwort des Kroisos und erinnerte sich mit Reue, daß er selbst auch Mensch sei, während er einen andern Menschen, der nicht minder glücklich als er gewesen sei, lebendig dem Feuer übergebe; dazu ward ihm vor der Vergeltung bange, da er bedachte, daß nichts fest stehe im Menschenleben; so befahl er, das angefachte Feuer geschwind zu löschen und den Kroisos samt seinen Gefährten herunterzunehmen. Man versuchte es auch, konnte aber des Feuers nicht mehr Meister werden.

[Anmerkung:] 86. Herodot wußte, daß die Perser eine solche Verbrennung als eine Verunreinigung des Feuers, ihrer höchsten Gottheit, betrachteten. Er hat deshalb seine Bedenken gegen die ihm erzählte Geschichte und sucht die Handlungsweise des Kyros zu erklären. Er findet drei mögliche Gründe, von denen aber keiner stichhaltig ist.

 

87. Hierauf, sagen die Lyder, habe Kroisos die Reue des Kyros bemerkt, und, wie er sah, daß jedermann das Feuer löschen wolle, es aber niemand mehr zu bewältigen vermöge, mit lauter Stimme den Apollo angerufen, wenn er ihm je mit einem Geschenke angenehm gewesen sei, so möge er sein Beistand und Retter sein in dieser Not. So habe er unter Tränen den Gott angerufen, und aus heiterm Himmel und ruhiger Luft hätten auf einmal Wolken sich zusammengezogen, ein Wetter sei ausgebrochen und der Regen mit solcher Heftigkeit herabgeströmt, daß der Scheiterhaufen ausgelöscht ward. Und so habe sich Kyros überzeugt, daß Kroisos ein gottgefälliger und ein guter Mensch sei, und habe ihn vom Scheiterhaufen herabsteigen lassen und befragt: »Kroisos, welcher Sterbliche hat dich dahin gebracht, gegen mein Land ins Feld zu ziehen und dich lieber zu meinem Feinde als Freunde zu machen?« Darauf antwortete er: »König, ich habe das zu deinem Glück und zu meinem Unglück getan; aber der Gott der Hellenen ist schuld daran, der mich zum Feldzug getrieben hat. Ist doch sonst niemand so sinnlos, daß er lieber Krieg als Frieden wählte. Denn in diesem begraben die Söhne ihre Väter, in jenem die Väter ihre Söhne. Doch es muß wohl den Himmlischen beliebt haben, daß es also gehe.«

88. Das war die Antwort des Kroisos; aber Kyros löste seine Fesseln, setzte ihn an seine Seite und erwies ihm große Aufmerksamkeit; auch sahen er selbst und alle, die um ihn waren, mit Bewunderung auf Kroisos. Dieser war in Nachdenken vertieft und still. Doch bald wandte er sich um und sprach, als er die Perser die Stadt der Lyder ausplündern sah: »König, soll ich dir jetzt meine Gedanken sagen oder in diesem Augenblick schweigen?« Kyros aber hieß ihn getrost sagen, was er wolle. Da fragte er ihn: »Was hat denn dieser große Haufe da so gar eifrig zu schaffen?« Jener antwortete: »Deine Stadt plündert er aus, und deine Schätze schleppt er fort.« Da erwiderte Kroisos: »Nicht meine Stadt, noch meine Schätze plündert er. Denn all das geht mich nichts mehr an. Sie führen und schleppen von dannen, was dir gehört.«

89. Was Kroisos da sagte, ging dem Kyros zu Herzen; nachdem er die andern hatte abtreten lassen, fragte er den Kroisos, was er für ihn in dieser Sache sehe. Dieser sprach: »Da mich einmal die Götter zu deinem Knechte gemacht haben, so halte ich es für meine Pflicht, wenn ich in etwas weiter sehe, dir's zu bedeuten. Die Perser sind trotzig von Natur und unbemittelt. Läßt du sie nun plündern und in den Besitz großer Schätze kommen, so hast du von ihnen nichts anderes zu erwarten, als daß, je mehr einer von ihnen hat, um so eher dir ein Aufstand von ihm bevorsteht. Mach es daher so, wenn anders dir gefällt, was ich sage: Lege von deinen Lanzenträgern an alle Tore Wachen, die den Plünderern die Schätze abnehmen müssen mit dem Bedeuten, es sei nötig, daß dieselben dem Zeus verzehntet werden. So wirst du dich ihnen nicht verhaßt machen durch gewaltsames Abnehmen der Schätze; sie werden vielmehr deinen Willen recht und billig finden und es freiwillig tun.«

90. An dieser Rede hatte Kyros großen Gefallen, so gut schien ihm, was er angab. Er lobte ihn sehr und trug den Lanzenträgern auf zu vollziehen, was Kroisos angegeben hatte, und sprach zu ihm: »Kroisos, da du als königlich Gesinnter dich zu gutem Dienst und Rat verpflichtet fühlst, so bitte von mir, was du irgend willst: es soll dir augenblicklich zuteil werden.« Und dieser sprach: »Herr, möchtest du mich (was mir die größte Gunst wäre) den Gott der Hellenen, den ich über alle Götter geehrt habe, mit Übersendung dieser Fesseln befragen lassen, ob Betrug an Wohltätern Brauch ist bei ihm?« Kyros aber fragte, welche Klage er führen wolle, indem er sich dies ausbitte. Nun erzählte ihm Kroisos von Anfang an sein ganzes Vorhaben und berichtete die Antworten der Orakel, insbesondere auch seine Weihgeschenke, und daß er, verleitet durch die Weissagung, den Feldzug gegen die Perser gemacht habe. Er kam von dieser Geschichte wieder auf die Bitte zurück, ihm zu erlauben, daß er dem Gotte dieses vorwerfe. Da sprach Kyros mit Lachen: »Ja, dies sollst du jetzt von mir erhalten, Kroisos; wie auch künftig alles andere, was du begehren wirst.« Auf diese Antwort sandte Kroisos Lyder mit dem Auftrag nach Delphi, die Fesseln auf die Schwelle des Tempels zu legen und zu fragen, ob er sich denn nicht schäme, mit seinen Weissagungen den Kroisos zu einem Feldzug gegen die Perser verleitet zu haben, als würde er der Macht des Kyros ein Ende machen, von der ihm nun solche Erstlingsopfer zugefallen seien. Dabei sollten sie die Fesseln zeigen. Dazu fügte er noch die Frage, ob Undank Brauch sei bei den hellenischen Göttern.

91. Zu den Lydern aber sprach, als sie angekommen waren und ihren Auftrag ausgerichtet hatten, wie man sagt, die Pythia also: »Dem bestimmten Verhängnis ist unmöglich zu entgehen, selbst für einen Gott. Kroisos hat die Schuld seines fünften Stammvaters bezahlt, der ein Lanzenträger bei den Herakleiden war und, verleitet von der List eines Weibes, seinen Gebieter ermordete und die Würde desselben an sich nahm, die ihm nicht zustand. Wie sehr auch Loxias den Willen dazu hatte, daß auf die Kinder des Kroisos das Schicksal von Sardes falle und nicht auf Kroisos selbst: er war nicht vermögend, das Verhängnis abzuwenden. Soviel es aber zuließ, hat er bewirkt und zu seinen Gunsten getan. Drei Jahre nämlich hat er den Sturz von Sardes hinausgeschoben, und so wisse denn Kroisos, daß er um diese drei Jahre später gestürzt ward, als ihm verhängt war. Zweitens ist er ihm gegen das Feuer zu Hilfe gekommen. Über die Weissagung aber hält sich Kroisos mit Unrecht auf. Denn was ihm Loxias vorhersagte, war: ziehe er gegen die Perser zu Felde, so werde er eine große Macht vernichten. Auf das hin hätte Kroisos, wenn er sich gut beraten wollte, wieder sollen fragen lassen, ob von seiner oder von Kyros' Macht die Rede sei. Nun er aber den Spruch nicht begriffen, noch wieder angefragt hat, so messe er sich selber die Schuld bei; wie er denn auch den Spruch, den ihm bei seinem letzten Befragen Loxias gab, den Spruch vom Maultier, ebensowenig begriffen hat. Denn gerade Kyros war dieses Maultier, sofern er aus zwei ungleichen Stämmen entsprossen ist, von einer vornehmern Mutter und einem geringern Vater. Denn sie war eine Mederin und Tochter des Astyages, des Königs der Meder; er war ein Perser und Untertan der Meder, und wiewohl in allen Stücken gering, hatte er seine Herrin zur Hausfrau.« Das war die Antwort der Pythia an die Lyder, die sie auch nach Sardes brachten und an Kroisos ausrichteten. Nun hörte es dieser und sah ein, daß er und nicht der Gott der Schuldige war. Also ging es mit der Herrschaft des Kroisos und mit der ersten Unterjochung Ioniens.

[Anmerkung:] 91. Die Schicksalsidee ist nach Jakob Burckhardts Auffassung mit jeder Theologie unverträglich (Griechische Kulturgeschichte, III): »Diese einzige mächtige Anschauung von der Notwendigkeit, vermöge welcher alles geschieht, und welcher auch die Götter untertan sind, besaßen die Griechen durch eigenes Nachdenken und ursprüngliche Anlage und ließen sich dieselbe niemals nehmen.« – Loxias: Beiname des Apollo.

 

92. Von Kroisos sind noch viele andere Weihgeschenke in Hellas und nicht nur die angeführten: im böotischen Theben nämlich ein Dreifuß von Gold, dem ismenischen Apollo geweiht; in Ephesos die goldenen Kühe und die meisten der Säulen, und bei der Athene Pronaia in Delphi ein großer goldener Schild. Diese Weihgeschenke waren noch zu meiner Zeit übrig, manche andere aber sind verlorengegangen. Ferner sind die Weihgeschenke von Kroisos an die Branchiden im Milesischen, wie ich höre, von demselben Gewicht und von gleicher Art wie die delphischen. Was er nun nach Delphi und an den Amphiaraos weihte, das war aus seinem Hause und ein Erstlingszoll des väterlichen Erbgutes; die andern Weihgeschenke aber entstammten dem Vermögen eines Feindes, der sich ihm, ehe er König ward, als Widersacher entgegengestellt und dafür gearbeitet hatte, daß die Herrschaft über die Lyder an Pantaleon käme, der ein Sohn des Alyattes, also ein Bruder des Kroisos, aber nicht von derselben Mutter war. Den Kroisos nämlich hatte Alyattes von einem karischen Weibe, den Pantaleon von einer Ionierin. Sobald nun Kroisos, kraft väterlicher Bestimmung, der Herrschaft sich bemächtigt hatte, richtete er diesen seinen Gegner hin, indem er ihn über Stacheln ziehen ließ, und weihte sein Vermögen, das er schon vorher gelobt hatte, damals auf die besagte Art an besagte Orte. So viel denn von den Weihgeschenken!

93. Wunder, die der Aufzeichnung wert wären, enthält der lydische Boden nicht besonders viele, wie sonst andere Länder, außer dem vom Tmolos herabtreibenden Goldsande. Aber er bietet ein Werk von der höchsten Größe, mit Ausnahme der ägyptischen Werke und derer zu Babylon. Es ist das dortige Grabmal des Alyattes, des Vaters des Kroisos, mit einer Grundlage von großen Steinen, im übrigen ein aufgeworfener Erdhügel. Dieses haben die Marktleute, die Handwerker und die gewerbsmäßigen Dirnen aufgestellt. Auch standen noch zu meiner Zeit Grenzsäulen, fünf an der Zahl, oben auf dem Male, in die Inschriften gehauen waren, was jeder Teil zustande gebracht habe. Und bei der Messung zeigte sich, daß das Werk der Dirnen am größten ist. Nämlich bei den Lydern treiben überhaupt alle Töchter aus dem Volk Unzucht, sammeln sich damit eine Aussteuer und treiben das fort, bis sie sich verheiraten wollen, und da statten sie sich selbst aus. Der Umfang dieses Grabmals beträgt sechs Stadien und zwei Plethren, seine Breite dreizehn Plethren. An das Mal stößt ein großer See, von dem die Lyder sagen, er sei unversiegbar. Er heißt der Gygessee. So ist dieses beschaffen.

[Anmerkung:] 93. Diese Hünengräber sind zum Teil noch heute erhalten. 1853 fand man bei den Ausgrabungen, die der preußische Konsul Spiegelthal vornehmen ließ, in dem größten Grabhügel eine Grabkammer aus polierten Marmorquadern, in ihr Knochenreste und Vasen mit dem Bilde des männlichen Gliedes. – Das Stadion ist etwa 180 Meter lang, das Plethron 30.

 

94. Die Lyder haben nahezu dieselben Bräuche wie die Hellenen, abgesehen davon, daß sie ihre Kinder weiblichen Geschlechts zu Dirnen machen. Sie haben zuerst unter den Menschen, von denen wir wissen, geprägte Gold- und Silbermünzen gehabt, und bei ihnen gab es die ersten Krämer. Auch behaupten die Lyder selbst, die Spiele, die unter ihnen und unter den Hellenen beständen, seien ihre Erfindung. Zu gleicher Zeit, sagen sie, seien von ihnen diese erfunden und Tyrrhenien besiedelt worden, worüber ihre Erzählung folgende ist. Zur Zeit des Königs Atys, des Sohnes des Manes, sei gewaltiger Kornmangel in ganz Lydien gewesen, und das hätten die Lyder eine Weile standhaft ausgehalten, hernach aber, als dessen kein Ende ward, auf Abhilfe gesonnen und jeder sich etwas anderes ausgedacht. So seien damals auch die vierseitigen und sechsseitigen Würfel, das Ballspiel und andere Spielarten erfunden worden: nur das Brettspiel nicht. Denn die Erfindung von diesem eignen sich die Lyder nicht zu. Sie hätten es aber folgendermaßen gemacht, um dem Hunger zu begegnen: allemal den einen Tag hätten sie immerfort gespielt, damit sie nur nicht ans Essen dächten, und am andern gegessen und das Spiel eingestellt. Auf solche Art hätten sie achtzehn Jahre ausgehalten. Als aber das Übel nicht gelinder, vielmehr seine Gewalt immer heftiger ward, habe endlich ihr König sämtliche Lyder in zwei Abteilungen gesondert und durchs Los die eine zum Bleiben, die andere zur Auswanderung bestimmt. Und bei der einen Abteilung, die da zu bleiben erlöste, habe sich der König selbst an die Spitze gestellt, an die der ausziehenden aber seinen Sohn, dessen Name Tyrrhenos sei. Die nun, die es traf, ihr Land zu verlassen, seien herabgezogen nach Smyrna und hätten Schiffe gebaut und, was sie nur an fahrenden Gütern hatten, hineingenommen, sodann sich eingeschifft, um Lebensunterhalt und ein neues Siedlungsland zu suchen. Endlich seien sie, an vielen Völkern vorbei, zu den Umbriern gekommen, hätten dort eigene Städte gegründet, und wohnten daselbst noch jetzt. Anstatt Lyder aber hätten sie sich umgenannt nach dem Königssohne, der sie hingeführt hatte, indem sie seinen Namen annahmen, sich also Tyrrhener nannten. – So waren denn die Lyder Knechte der Perser geworden.

[Anmerkung:] 94. Tyrrhenien: Etrurien.

 

95. Weiter geht nunmehr unsere Geschichte dem Kyros nach, wer er war, der den Thron des Kroisos umstürzte, und zugleich den Persern, auf welchem Wege sie Herren von Asien geworden sind. Wie es also einige Perser sagen, welche die Geschichte des Kyros nicht vergrößern, sondern nach der Wirklichkeit angeben wollen, demgemäß werde ich schreiben, obwohl ich über Kyros noch dreierlei Erzählungsweisen anzugeben weiß. Als die Assyrier über das obere Asien fünfhundertundzwanzig Jahre herrschten, fingen zuallererst die Meder an, von ihnen abzufallen, und diese gingen auch aus ihrem Freiheitskampfe mit den Assyriern als wackere Männer hervor, warfen die Knechtschaft ab und wurden frei. Nach ihnen aber machten es auch die andern Völker ebenso wie die Meder. Da nun alle auf dem Festlande selbständig waren, kamen sie folgendermaßen wieder zu Herrschern.

96. Unter den Medern war ein kluger Mann, mit Namen Dejokes, ein Sohn des Phraortes. Dieser Dejokes tat aus Lust zur Herrschaft folgendes. Die Meder wohnten in einzelnen Ortschaften, und da er in der seinigen zum voraus schon in Achtung stand, legte er sich noch mehr und noch bereitwilliger auf die Ausübung der Gerechtigkeit: und zwar tat er dies, während große Gesetzlosigkeit durch ganz Medien herrschte, obwohl er wußte, daß dem Recht das Unrecht den Krieg bringt. Die Meder in demselben Flecken sahen seine Weise und wählten ihn zu ihrem Richter. Da war er nun, ebenweil er auf die Herrschaft ausging, aufrichtig und gerecht. Dadurch errang er nicht geringes Lob bei den Bürgern, so daß die Leute in den andern Flecken vernahmen, Dejokes sei allein ein Mann, der gewissenhaft Recht spreche, und, weil sie früherhin manchen ungerechten Erkenntnissen verfallen waren, jetzt, da sie dies gehört hatten, gern zu Dejokes hingingen, um sich auch Recht sprechen zu lassen, und sich schließlich an keinen andern mehr wandten.

[Anmerkung:] 96. Ranke sieht in Herodots Erzählung von der Begründung des medischen Königtums »eine sinnvolle und wohlgedachte Sage« (Weltgeschichte, Band I, Kapitel 4): »Ihre Eigentümlichkeit liegt besonders darin, daß sie das Königtum nicht von den Waffen, die sonst allenthalben vorwalteten, sondern von der anderen Aufgabe der höchsten Gewalt, Gerechtigkeit zu handhaben, herleitete.«

 

97. Als aber der Zulaufenden immer mehr wurden, weil es hieß, die Rechtssprüche fielen nach der Wahrheit aus, erkannte Dejokes, daß alles an ihm liege. Nun wollte er sich nicht mehr hinsetzen, wo er sonst öffentlich zu Gericht saß, und sagte auch, er richte nicht mehr. Denn das bringe ihm schlechten Gewinn, wenn er unter Vernachlässigung seiner eigenen Angelegenheiten andern den ganzen Tag Recht spreche. Da nun Raub und Gesetzlosigkeit noch viel ärger in den Flecken wurden, als es zuvor gewesen war, vereinbarten die Meder eine Versammlung und besprachen sich, um sich von ihrer Lage Rechenschaft zu geben. Und, wie mir scheint, sagten die Freunde des Dejokes etwa: »Es ist nun einmal unmöglich, daß wir auf unsere jetzige Art ferner ordentlich im Lande wohnen: wohlan, stellen wir einen eigenen König auf! So wird das Land wohl verwaltet werden, so werden auch wir selbst unsern Geschäften nachgehen können und nicht durch die Gesetzlosigkeit zur Auswanderung gezwungen werden.«

98. Mit solchen Reden brachten sie sie dahin, daß sie einen König haben wollten. Als man sogleich zur Sprache brachte, wen sie als König einsetzen sollten, kam niemand mehr und mit größerem Lob von allen Seiten zur Sprache als Dejokes, bis sie's guthießen, er solle ihr König sein. Da befahl ihnen dieser, ihm eine Wohnung zu bauen, wie sie sich für einen König schicke, und ihm eine Schutzwache von Lanzenträgern zu geben. Das taten die Meder. Sie bauten ihm eine große, feste Wohnung, für die er selbst die Stelle bezeichnete, und gestatteten ihm auch, Lanzenträger aus sämtlichen Medern auszulesen. Und nun zwang er, da er im Besitz der Herrschaft war, die Meder, eine Stadt anzulegen, die sie mit größerer Sorgfalt als alle andern instandsetzen sollten. Die Meder gehorchten wieder, und so baute er eine große und starke Festung (dieselbe, die jetzt Ekbatana genannt wird) mit Ringmauern, deren eine immer in der andern steht. Diese Festung ist aber so eingerichtet, daß immer eine Ringmauer gerade um die Schutzwehren höher ist als die andere. Daß es so ist, dazu hilft freilich etwas der Ort selbst, der eine Anhöhe ist, aber ein anderer Teil ist noch mehr Werk der Kunst, und während es im ganzen sieben Ringmauern sind, stehen in der letzten die Königsburg und der Schatz. Die größte Ringmauer hat fast denselben Umfang wie die Ringmauer von Athen. Ferner sind an der ersten Ringmauer die Schutzwehren weiß, an der zweiten schwarz, an der dritten purpurn, an der vierten blau und an der fünften hellrot. So sind von allen Ringmauern die Schutzwehren mit Farben übertüncht; nur die zwei letzten haben, die eine versilberte, die andere vergoldete Schutzwehren.

[Anmerkung:] 98. Die Siebenzahl der Mauern und ihrer Farben entspricht den sieben Planeten. Die sternkundigen Priester hatten Einfluß auf jedes größere Bauwerk.

 

99. So baute sich Dejokes ein festes Haus samt solcher Umgebung und hieß alsdann sein Volk ringsumher die Festung besiedeln. Als aber alles gebaut war, so hat Dejokes, und zwar er zuerst, die Ordnung eingesetzt, daß niemand selbst zum König hineingehen darf, sondern alles durch Boten verhandelt wird und der König von niemand gesehen werden darf, dazu auch, daß vor seinen Augen Lachen und Ausspucken durchaus für alle unziemlich ist. Mit solcher Majestät umgab er sich deswegen, damit nicht, wenn er sich sehen ließe, seine Jugendfreunde, die mit ihm ausgewachsen und von keinem schlechtem Hause, auch an Mannhaftigkeit ihm gleich waren, sich gekränkt fühlten und einen Anschlag auf ihn machten. Vielmehr sollten sie ihn, da er sich nicht sehen ließ, für einen von anderer Art halten.

100. Als er das angeordnet und sich in der Herrschaft befestigt hatte, wachte er scharf über das Recht. Man schrieb die Rechtshändel auf und schickte sie ihm hinein; er entschied sie drinnen und schickte sie wieder heraus. So machte er's mit den Rechtshändeln und traf außerdem die Einrichtung, daß er jeden, von dem er eine Gewalttat erfuhr, belangen ließ und nach Maßgabe des jedesmaligen Frevels verurteilte. Dazu hatte er auch Späher und Horcher durch das ganze Land, das er beherrschte.

101. Also hielt Dejokes das medische Volk einheitlich zusammen und beherrschte es. Mederstämme sind aber folgende: Buser, Paretakener, Struchater, Arizanter, Budier, Magier. Das sind die sämtlichen Mederstämme.

102. Dieser Dejokes hatte zum Sohn den Phraortes, der nach dem Ende des Dejokes, der dreiundfünfzig Jahre König gewesen war, zur Herrschaft kam. Als er sie übernommen hatte, genügte es ihm nicht, die Meder allein zu beherrschen, sondern er zog gegen die Perser ins Feld, die er zuerst angriff und zuerst den Medern untertan machte. Hernach aber unterwarf er sich mit diesen zwei Völkern, die beide stark waren, Asien von einem Volk zum andern, bis er endlich gegen die Assyrier zu Felde zog, und zwar gegen die Assyrier, die Ninos innehatten und zuvor über alle herrschten, damals aber von ihren Streitgenossen, die abgefallen waren, verlassen, sonst jedoch für sich in gutem Stande waren – gegen diese also zog Phraortes und kam selbst nach zweiundzwanzigjähriger Herrschaft um, sowie großenteils auch sein Heer.

[Anmerkung:] 102. Ninos: Ninive.

 

103. Nach Phraortes' Ende kam die Herrschaft an Kyaxares, den Sohn des Phraortes, des Sohnes des Dejokes. Dieser soll noch viel tapferer gewesen sein als seine Ahnen. Er scharte auch zuerst die Asiaten nach Haufen und traf zuerst die Anordnung, daß jeder Teil gesondert antrat, nämlich die Spießträger, die Bogenschützen und die Reiter, während vor ihm alles bunt durcheinander gemengt war. Er ist es, der den Lydern die Schlacht lieferte, in der ihnen während der Schlacht der Tag zur Nacht ward, und der ganz Asien jenseits des Halys unter sich vereinigte. Jetzt sammelte er alle, die er beherrschte, und zog aus gegen die Ninosstadt, um seinen Vater zu rächen, neben der Absicht, diese Stadt einzunehmen. Als er aber die Assyrier im Treffen besiegt hatte und Ninos belagerte, zog gegen ihn ein großes Szythenheer heran. Diese führte der Szythenkönig Madyas, des Protothyas Sohn; sie waren nach Verdrängung der Kimmerier aus Europa in Asien eingedrungen und waren, indem sie diese auf ihrer Flucht verfolgten, ins medische Land gekommen.

104. Vom Maiotischen See an den Phasisstrom und nach Kolchis ist ein Weg von dreißig Tagen für einen rüstigen Mann, und von Kolchis ist es nicht mehr weit hinüber ins Medische, sondern es liegt ein einziges Volk, die Saspeiren, dazwischen: hat man diese hinter sich, so ist man im Medischen. Indessen drangen doch die Szythen nicht von dieser Seite ein, sondern schlugen sich auf den obern Weg, der viel weiter ist, wobei sie das kaukasische Gebirge zur Rechten hatten. Dort stießen die Meder mit den Szythen zusammen, unterlagen in der Schlacht und verloren ihre Herrschaft. Die Szythen aber überwältigten ganz Asien.

[Anmerkung:] 104. Der Maiotische See ist das Asowsche Meer. Die Saspeiren wohnten in der Gegend des heutigen Tiflis.

 

105. Von da gingen sie auf Ägypten los, und wie sie im palästinischen Syrien waren, kam ihnen Psammetichos, Ägyptens König, entgegen und hielt sie mit Geschenken und Bitten von weiterem Vordringen ab. Als dann die Szythen auf ihrem Rückzug in der syrischen Stadt Askalon waren, blieben, während die meisten ruhig durchzogen, einige wenige zurück und plünderten das Heiligtum der Aphrodite Urania. Dieses Heiligtum ist aber, wie ich durch meine Erkundigungen erfahren habe, von allen Heiligtümern dieser Gottheit das älteste. Denn auch das zyprische Heiligtum ist von dorther gekommen, wie die Zyprier selbst sagen, und das auf Zythera hat Phönizier aus ebendiesem Syrien zu Gründern. Die Szythen nun, die das Heiligtum in Askalon plünderten, und alle ihre Nachkommen schlug die Göttin mit einer weiblichen Krankheit; wie denn die Szythen selbst sagen, daher komme ihre Krankheit, und wer in das Szythenland komme, könne bei ihnen sehen, welche Bewandtnis es mit den von den Szythen so genannten Enareern habe.

[Anmerkung:] 105. Der Ausdruck Enareer ist die griechische Übersetzung eines unbekannten szythischen Wortes und bezeichnet Männer, bei denen die männlichen Geschlechtsmerkmale im Schwinden begriffen sind.

 

106. Über Asien herrschten indes die Szythen achtundzwanzig Jahre lang, und nichts blieb von ihrem Hohn und Trotz verschont. Denn außer den Abgaben trieben sie von allen eigene Lasten ein, und außer dieser Abgabe raubten sie auf Umzügen jedem das, was er hatte. Hierauf wurden sie zum größten Teil von Kyaxares und den Medern bei einem Gastmahle trunken gemacht und ermordet. So gewannen die Meder ihre Herrschaft wieder, regierten die andern wie früher. Auch nahmen sie die Stadt Ninos ein (wie sie dieselbe einnahmen, werde ich in andern Geschichten anzeigen), und machten sich die Assyrier untertan, außer dem babylonischen Gebiet. Darauf starb Kyaxares, als er vierzig Jahre, zum Teil während die Szythen herrschten, König gewesen war.

107. Darauf folgte dem Kyaxares sein Sohn Astyages auf dem Königsthron. Er bekam eine Tochter, der er den Namen Mandane gab. Von dieser träumte Astyages, sie lasse soviel Wasser, daß sie damit seine Stadt anfülle, ja ganz Asien überschwemme. Nun legte er den Traumdeutern unter seinen Magiern das Nachtgesicht vor und erschrak, als er von ihnen alles einzelne vernahm. Daher gab er diese Mandane, als sie mannbar war, keinem der Meder, die seiner würdig gewesen wären, aus Furcht vor dem Traum, sondern gab sie einem Perser, mit Namen Kambyses, der zwar von einem guten Hause und friedliebend war, aber von ihm viel tiefer als ein Meder aus dem Mittelstand eingeschätzt wurde.

108. Als nun Mandane mit Kambyses zusammenlebte, sah Astyages im ersten Jahre ein anderes Traumgesicht. Es kam ihm vor, aus dem Schoße derselben Tochter wachse ein Weinstock, und der Weinstock überdecke ganz Asien. Das sah er, legte es den Traumdeutern vor und ließ nun seine Tochter aus dem Perserland holen, die einer Geburt nahe war. Und als sie da war, bewachte er sie und war entschlossen, ihre Leibesfrucht umzubringen; denn nach seinem Traumgesicht hatten ihm die traumverständigen Magier gewahrsagt, daß der Sprößling seiner Tochter König werden solle an seiner Statt. Davor hütete sich Astyages und ließ daher, als Kyros geboren war, den Harpagos rufen, der aus seinem Hause und sein Vertrautester unter den Medern, auch der Verwalter von allem war, was er hatte. Zu diesem sprach nun Astyages: »Harpagos, sieh zu, daß du mir das Geschäft, das ich dir jetzt auflegen will, ja nicht geringachtest, mich nicht hintergehst, andern folgst und hinterher dich selbst verfängst! Nimm da das Kind, das Mandane geboren hat, trag es in dein Haus und töte es; hernach begrabe es, auf welche Art du willst!« Und jener antwortete darauf: »Mein König, du hast wohl sonst zu keiner Zeit an Harpagos etwas Mißfälliges gesehen; und auch künftighin werde ich mich hüten, jemals gegen dich zu fehlen. Nein, wenn es dir beliebt, daß dieses so geschehe, so ziemt es mir, daß mein Dienst in Treue geleistet werde.«

109. Nach dieser Antwort ging Harpagos, als ihm das Knäblein, geschmückt zum Tode, übergeben war, weinend nach Hause. Dort eröffnete er seiner Frau alles, was Astyages mit ihm geredet hatte. Da sprach sie zu ihm: »Und was hast du jetzt im Sinn zu tun?« Er aber antwortete: »Nicht nach dem Auftrag des Astyages! Und wenn er noch verrückter und noch toller wird, als er jetzt schon ist, so will ich doch nicht auf seinen Gedanken eingehen und zu solchem Morde die Hand leihen. Aus vielen Gründen will ich nicht der Mörder sein, weil das Kind mir selbst verwandt ist, und weil Astyages selber alt und ohne männliche Nachkommen ist. Wenn also nach seinem Ende die Herrschaft auf diese Tochter übergehen soll, deren Sohn er jetzt durch mich töten läßt, was anderes steht mir alsdann bevor als die höchste Gefahr? Jedoch um meiner Sicherheit willen muß dieser Knabe ums Leben kommen, sein Mörder muß aber einer von des Astyages Leuten sein, und keiner von den meinigen.«

110. So redete er und schickte sogleich einen Boten nach demjenigen Rinderhirten des Astyages, dessen Weiden seines Wissens hierzu am tauglichsten und auf den wildesten Bergen waren. Dieser hatte den Namen Mithradates und hauste mit seiner Mitsklavin. Und dieses Weib, mit dem er hauste, hatte den Namen Kyno nach der hellenischen Sprache, nach der medischen aber Spako; bei den Medern nämlich heißt Spako »Hündin«. Jene Niederungen der Berge aber, auf denen ebendieser Rinderhirt seine Viehweiden hatte, liegen von Ekbatana gegen den Nordwind, und zwar gegen den Pontos Euxeinos. Denn dort ist das medische Land gegen die Saspeiren hin sehr gebirgig, hoch und mit Waldungen überdeckt; das übrige medische Land dagegen ist durchaus eben. Nachdem nun der Rinderhirt in größter Eile herbeigeholt war, sagte Harpagos zu ihm: »Astyages befiehlt dir, dieses Knäblein zu nehmen und in der ärgsten Gebirgswüste auszusetzen, damit es so schnell als möglich umkomme. Er befahl, dir anzusagen, wenn du es nicht umbrächtest, sondern irgendwie erhieltest, solltest du des härtesten Todes sterben. Ich selbst bin beauftragt, nach dem ausgesetzten Kinde zu sehen.«

[Anmerkung:] 110. Kyno: Hündin.

 

111. Als der Rinderhirt dies gehört und das Kind in Empfang genommen hatte, ging er wieder seines Weges zurück, und kam auf sein Gehöft. Nun wollte es aber das Geschick, daß auch sein Weib, die jeden Tag der Geburt entgegensah, gerade niederkam, während der Rinderhirt in die Stadt eilte. Und beide waren in Sorgen umeinander, er aus Bangigkeit wegen der Geburt seines Weibes, das Weib, weil Harpagos, was er doch sonst nicht gewöhnt war, ihren Mann holen ließ. Sobald er nun wieder daheim vor ihr stand und so dem Weibe wie unverhofft erschien, tat sie zuerst die Frage, weshalb ihn Harpagos so angelegentlich habe rufen lassen. Darauf sagte er: »O Weib, ich habe in der Stadt gesehen und gehört, was ich nicht hätte sehen, und was niemals über unsere Gebieter hätte kommen sollen. Im ganzen Hause des Harpagos war nichts als Wehklagen, das machte mich schon betroffen, als ich hineinging. Kaum war ich eingetreten, so sah ich ein Kindlein daliegen, zappelnd und schreiend, dabei geschmückt mit Gold und buntem Gewand. Harpagos aber befahl mir, als er mich erblickte, im Augenblick das Kind zu nehmen und es gleich fortzutragen und im Gebirge auszusetzen, wo es am wildesten sei. Er sagte, es sei Astyages, der mir das auferlege, und bedrohte mich schwer, wenn ich's nicht so machen würde. So nahm ich's mit fort, in der Meinung, es sei von einem der Hausleute; denn ich hätte nimmer erraten, von wem es ist. Doch stutzte ich, weil ich es mit Gold und Gewändern geschmückt sah und dazu das Wehklagen hörte, das man laut anstellte bei Harpagos. Und alsbald erfuhr ich unterwegs die ganze Geschichte von einem Diener, der mich vor die Stadt hinaus begleitete, wo er mir das kleine Kind einhändigte, daß es ein Sohn Mandanes sei, der Tochter des Astyages, und des Kambyses, des Sohnes des Kyros, und den läßt Astyages umbringen. Und da ist er jetzt.«

112. Indem der Rinderhirt dies sagte, nahm er die Decke weg und zeigte ihn. Als sie aber sah, wie groß und schön das Knäblein war, brach sie in Tränen aus, umfaßte die Knie ihres Mannes, und bat ihn, es unter keinen Umständen auszusetzen. Er aber sagte ihr, unmöglich könne er das unterlassen; denn es würden Kundschafter von Harpagos herauskommen, um darnach zu sehen; er müsse des härtesten Todes sterben, wenn er es nicht täte. Als sie nun den Mann gar nicht bewegen konnte, sagte die Frau wiederum: »Da ich dich also nicht bewegen kann, es nicht auszusetzen, so mach es doch so (wenn das einmal ganz notwendig ist, daß man's draußen liegen sehe): weil auch ich geboren, aber ein totes Kind geboren habe, so nimm dieses und lege es dafür hin; aber den Sohn der Tochter des Astyages laß uns aufziehen, als wäre er von uns, so wirst du nicht über einer Verschuldung an den Gebietern ergriffen werden, noch werden wir beide übel beraten sein. Denn der Tote wird zu einer königlichen Bestattung kommen, und der Lebendige wird nicht sein Leben verlieren.«

113. Das schien dem Rinderhirten unter diesen Umständen gar wohl gesprochen von seinem Weibe, und er machte es auf der Stelle so. Den einen Knaben, den er zur Tötung hergebracht hatte, übergab er seinem Weibe; den andern, eigenen, der eine Leiche war, legte er dafür in das Gerät, in dem er jenen hergetragen hatte, schmückte ihn auch mit dem ganzen Schmuck jenes Kindes und trug ihn in die ödeste Wüste der Berge hinaus. Und als es der dritte Tag war, daß das Kind draußen lag, ging der Rinderhirt in die Stadt, nachdem er zum Wächter desselben einen der Weideknechte zurückgelassen hatte. Er kam zu Harpagos und erklärte sich bereit, ihm den Leichnam des Knäbleins zu zeigen. Da sandte Harpagos die Vertrautesten seiner Lanzenträger, ließ sie statt seiner nachsehen und das Kind des Rinderhirten begraben. So wurde dieses begraben, während den Kyros, wie er nachmals genannt ward, das Weib des Rinderhirten zur Aufziehung übernahm, die ihm jedoch nicht den Namen Kyros, sondern irgendeinen andern gab.

114. Als nun dieser Knabe bereits zehnjährig war, brachte ihn folgender Handel, in den er geriet, ans Licht. Er spielte in ebendem Flecken, in dem jene Rinderherden waren, und zwar spielte er mit andern Kameraden auf der Straße. In ihrem Spiele wählten sich die Knaben zu ihrem König gerade diesen, der des Rinderhirten Sohn hieß. Dieser stellte alle an, die einen zum Häuserbau, die andern als seine Lanzenträger, einen auch als Auge des Königs, und wieder einem andern gab er das Amt, die Botschaften hereinzubringen: kurz, jedem trug er eine Verrichtung auf. Nun war da einer, der das Knabenspiel mitmachte, ein Sohn des Artembares, eines angesehenen Mannes unter den Medern; weil nun der nicht tat, was ihm von Kyros aufgetragen war, befahl dieser den andern Knaben, ihn zu ergreifen. Die Knaben gehorchten, und Kyros spielte ihm mit Peitschenhieben übel mit. Als derselbe losgelassen ward, nahm er's als eine seiner unwürdige Behandlung doppelt übel auf, eilte zurück in die Stadt und jammerte seinem Vater vor, auf welche Art Kyros ihm begegnet war; nur sagte er nicht »Kyros« (denn diesen Namen hatte er noch nicht), sondern »der Knabe vom Rinderhirten des Astyages«. Artembares aber ging in seinem Zorn zu Astyages, nahm auch gleich den Knaben mit und erklärte, daß ihm Schimpf angetan worden sei, indem er sagte: »Mein König, von deines Knechtes, des Rinderhirten, Sohn werden wir so gemißhandelt.« Dabei zeigte er den Rücken des Knaben.

[Anmerkung:] 114. »Das Auge des Königs« heißt der Aufsichtsbeamte eines Bezirkes. Aristophanes macht sich über den sonderbaren Titel in den »Acharnern« (Vers 92) lustig, indem er den persischen Gesandten in einer Maske, die aus einem riesigen Auge besteht, auftreten läßt. Dikäopolis begrüßt ihn:
Beim Himmel, Mensch, du guckst ja wie ein Ruderloch!

 

115. Als Astyages das gehört und gesehen hatte, wollte er, um der Ehre des Artembares willen, dessen Sohne Genugtuung verschaffen und schickte nach dem Rinderhirten samt dessen Sohn. Sobald nun beide da waren, blickte Astyages auf Kyros hin und redete ihn an: »Du also, der Sohn eines solchen Mannes, hast dich unterstanden, dem Sohne dieses Mannes, der bei mir als der Erste gilt, so schmählich mitzuspielen?« Darauf antwortete derselbe: »Herr, ich habe es diesem mit Recht angetan. Mich hatten nämlich die Knaben aus dem Flecken, unter denen auch der da war, zu ihrem König aufgestellt. Denn ich schien ihnen dazu der Beste zu sein. Nun haben die andern Knaben ihre Aufträge vollzogen; der aber war ungehorsam und gab nichts darauf, bis er seine Strafe bekam. Und wenn ich also damit etwas Schlimmes verdient habe, hier hast du mich.«

116. Während der Knabe so sprach, stieg in Astpages ein Erkennen auf; denn nicht nur schienen ihm die Züge des Gesichtes beinahe wie seine eigenen und sein Benehmen mehr nach Art eines Freien zu sein; auch die Zeit der Aussetzung schien ihm mit dem Alter des Knaben zusammenzutreffen. Hiervon betroffen, blieb er eine Zeitlang stumm. Doch als er sich endlich mit Mühe wieder gesammelt hatte, sprach er zu Artembares, den er zu entlassen wünschte, damit er den Rinderhirten allein ins Verhör bekäme: »Artembares, ich will es so regeln, daß ihr, du und dein Sohn, euch über nichts zu beschweren habt.« So entfernte er den Artembares, den Kyros aber führten die Diener auf den Befehl des Astpages hinein. Da nun der Rinderhirt allein zurückblieb, fragte ihn Astyages unter vier Augen, woher er den Knaben bekommen, und wer ihm denselben übergeben habe. Der gab an, er komme von ihm selbst, und auch die, welche ihn geboren habe, sei noch bei ihm. Astyages aber bedeutete ihm, er sei übel beraten, indem er Lust habe, auf die härteste Folter zu kommen; bei diesen Worten gab er zugleich den Lanzenträgern ein Zeichen, ihn zu ergreifen. Wie nun jener auf die Folter geführt werden sollte, bekannte er die Geschichte, wie sie war. Er fing von Anfang an, berichtete alles wahrheitsgemäß und kam endlich aufs Bitten, daß er ihm doch Vergebung schenken möchte.

117. Nach dem Rinderhirten nun, der die Wahrheit bekannt hatte, fragte Astyages schon nicht mehr viel, war aber über Harpagos hoch aufgebracht und befahl den Lanzenträgern, ihn zu rufen. Als Harpagos da war, fragte ihn Astyages: »Sprich, Harpagos, welchen Tod hast du dem Kinde angetan, das ich dir übergab, da es meine Tochter geboren hatte?« Harpagos schlug, wie er den Rinderhirten drinnen sah, nicht den Weg der Lügen ein, damit er nicht überwiesen und ertappt werde, sondern sagte dies: »Mein König, sobald ich das Knäblein empfangen hatte, sah ich nach einem Rat mich um, wie ich es nach deinem Sinne machen könnte und dabei, ohne mich gegen dich zu verfehlen, weder vor deiner Tochter noch vor dir selbst zum Henker würde. Da machte ich es also. Ich ließ diesen Rinderhirten rufen und übergab ihm das Kind, mit dem Bedeuten, daß du der seiest, der befehle, es umzubringen. Auch habe ich damit nicht gelogen; denn du gabst hierzu den Auftrag. Und zwar übergab ich's demselben auf die Art, daß ich ihm auftrug, es auszusetzen auf ein wüstes Gebirge und dabei Wache zu stehen, bis es mit ihm zu Ende gehe, unter allerlei Drohung an diesen Mann, wenn er das nicht so zur Ausführung bringe. Sobald nun dieser den Befehl vollzogen und das Knäblein sein Ende gefunden hatte, schickte ich meine vertrautesten Verschnittenen, ließ sie statt meiner nachsehen und dasselbe begraben. So verhielt es sich, o König, mit dieser Sache, und einen solchen Tod hat das Kind gefunden.«

118. Harpagos also bekannte die Geschichte geradezu. Astyages aber verbarg den Groll, den er gegen ihn wegen des Geschehenen hegte, und erzählte zunächst den Hergang, wie er ihn selbst vom Rinderhirten gehört hatte, dem Harpagos wieder. Als er die Erzählung wiederholt hatte, kam er zum Schluß darauf, daß der Knabe erhalten und das Geschehene nun gut sei. »Denn«, sagte er zu ihm, »meine Tat an diesem Kinde machte mir gar viel zu schaffen, und daß ich's mit meiner Tochter verdorben hatte, schlug ich nicht leicht an. Da also das Geschick sich so gut gewendet hat, so schicke du fürs erste deinen Sohn heraus zu dem neuangekommenen Sohne, und dann finde dich (weil ich Rettungsopfer für den Knaben den Göttern darbringen will, denen diese Ehre zusteht) bei meinem Mahle ein!«

119. Als das Harpagos hörte, warf er sich vor ihm nieder und schlug es hoch an, daß sein Vergehen so gut ausgeschlagen, und daß er wegen glücklicher Wendung der Sache zum Mahle geladen worden sei; dann ging er in sein Haus. Und sobald er hineinkam, schickte er seinen Sohn, den einzigen, den er hatte, von etwa dreizehn Jahren und hieß ihn in Astyages' Haus gehen und tun, was ihm dieser auftragen werde. Er selbst aber war voll Freude und teilte auch seiner Frau das Geschehene mit. Aber Astyages nahm den Sohn des Harpagos, als er zu ihm kam, schlachtete ihn und zerschnitt ihn Glied für Glied und ließ das Fleisch teils braten, teils kochen. So richtete er's schicklich zu und hielt es bereit. Als aber zur Stunde des Mahles die Gäste, darunter auch Harpagos, sich einfanden, wurden die Tische vor den andern und Astyages selbst mit Lämmerfleisch besetzt, dem Harpagos aber sein Sohn aufgetragen, alles andere außer dem Kopf und den Spitzen von Händen und Füßen. Diese lagen gesondert in einer verdeckten Schüssel. Als nun Harpagos sich satt gegessen zu haben glaubte, fragte ihn Astyages, ob ihm der Schmaus auch wohl behage. Harpagos versicherte, das Mahl habe ihn sehr erfreut. Da trugen die, denen es zukam, den Kopf des Knaben samt den Händen und Füßen verdeckt herbei, stellten sie vor Harpagos hin und hießen ihn aufdecken und nehmen, was er davon wolle. Harpagos tat also, deckte auf und erblickte die Überbleibsel seines Sohnes: ward jedoch von diesem Anblick nicht außer Fassung gebracht, sondern beherrschte sich. Nun fragte ihn Astyages, ob er das Wild kenne, dessen Fleisch er gegessen habe. Er versicherte darauf, ja, er kenne es, und alles sei gutzuheißen, was der König tue. Mit dieser Antwort nahm er das übrige Fleisch in Empfang und ging in sein Haus. Hier mochte er jetzt, wie ich glaube, was er davon noch zusammenbrachte, begraben.

120. Den Harpagos ließ Astyages also büßen; wegen Kyros aber berief er zum Rat die Magier, die ihm jenen Bescheid über das Nachtgesicht erteilt hatten. Als sie ankamen, fragte sie Astyages, welchen Bescheid sie ihm über das Gesicht erteilt hätten. Daraus gaben sie die alte Antwort, daß nämlich der Knabe König hätte werden müssen, wenn er so lange gelebt hätte und nicht vorher gestorben wäre. Daraus erwiderte er ihnen: »Ja, der Knabe ist am Leben, ist noch vorhanden, und wirklich haben ihn, als er sich aus dem Lande aushielt, die Knaben aus seinem Flecken zum König erhoben. Da hat er alles, was nur die wirklichen Könige tun, vollständig ausgeführt. Denn Lanzenträger und Türhüter und Botschaftmelder und alles übrige hat er als Herrscher angeordnet. Seht ihr nun wohl, wohin das führt?« Die Magier sprachen: »Wenn der Knabe noch am Leben ist und ohne absichtliche Veranstaltung König war, dann sei du seinetwegen getrost, habe guten Mut; denn zum zweitenmal wird er nicht mehr herrschen. Es sind uns ja sogar einige Orakelsprüche schon aus Kleinigkeiten hinausgelaufen, und was mit den Träumen zusammenhängt, kommt vollends auf Geringfügiges hinaus.« Daraus erwiderte Astyages folgendes: »Ich selbst, ihr Magier, bin auch gar sehr der Meinung, daß es jetzt, da der Knabe König genannt worden ist, mit dem Traum aus ist und ich nichts von diesem Knaben zu fürchten habe. Indessen ratet mir dennoch mit aller Umsicht, was für mein Haus, also auch für euch das Sicherste sein mag.« Die Magier sprachen hierauf: »König, es liegt uns selber ohnehin viel daran, deine Herrschaft aufrechtzuerhalten. Denn im andern Fall wird sie ja zur Fremdherrschaft, indem sie auf diesen Knaben, einen Perser, übergeht, und wir, die Meder, werden da Knechte sein und von den Persern für nichts angesehen werden, wie es Fremden geht; solange dagegen du, unser Landsmann, König bist, nehmen wir an der Herrschaft teil und genießen von dir große Ehren. Allerdings also haben wir für dich und deine Herrschaft uns vorzusehen. Und hätten wir nun etwas Schreckhaftes wahrgenommen, so würden wir es dir immer vorhergesagt haben. So aber sind wir, da der Traum ins Unbedeutende ausschlägt, selbst getrost, und das gleiche empfehlen wir auch dir. Den Knaben jedoch schicke aus deinen Augen fort nach Persien zu seinen Eltern!«

121. Als Astyages das hörte, freute er sich, ließ auch gleich den Kyros rufen und sagte zu ihm: »Wisse, mein Kind, wegen eines unbedeutenden Traumzeichens habe ich dir Unrecht getan. Dein eigenes Glück aber ist es, daß du noch lebst. So gehabe dich nun wohl und geh ins Perserland, wozu ich dir ein Geleit mitgeben will. Kommst du dorthin, so wirst du Vater und Mutter finden, andere Leute als einen Rinderhirten Mithradates und seine Frau.«

122. So sprach Astyages und schickte den Kyros fort. Er kam zurück in das Haus des Kambyses, wo ihn seine Eltern aufnahmen und, wie sie erst hörten, wen sie aufgenommen hätten, vielmals begrüßten; waren sie doch des Glaubens gewesen, er sei damals gleich gestorben; nun fragten sie ihn, auf welche Art er erhalten worden sei. Er aber sagte ihnen, vordem habe er's nicht gewußt, vielmehr sei er ganz falsch unterrichtet gewesen; unterwegs habe er sein ganzes Schicksal gehört. Denn er sei des Glaubens gewesen, er sei der Sohn des Rinderhirten des Astyages; erst auf dem Wege von dorther habe er die ganze Geschichte von den Geleitsmännern erfahren. Aufgezogen habe ihn die Frau des Rinderhirten. Und nun fing er an und lobte sie in allen Stücken und sprach von nichts als von der Kyno. Die Eltern aber faßten diesen Namen auf und streuten, damit den Persern die Rettung ihres Sohnes um so göttlicher erscheine, die Sage aus, daß den ausgesetzten Kyros eine Hündin aufgezogen habe. Daher ist denn diese Sage gekommen.

[Anmerkung:] 122. Der Hund war bei den Persern ein heiliges Tier. Herodot hält die späte rationalistische Umdeutung der Sage für die ursprüngliche Form. Ranke (Weltgeschichte, Band I, Kapitel 4) erkennt als den Kern der Jugendgeschichte des Kyros »die ursprünglich persische Dichtung, daß eine Hündin den Stifter des persischen Reiches gesäugt hat, wie eine Wölfin den ersten Begründer des römischen Reiches«.

 

123. Während nun Kyros zum Mann aufwuchs und unter seinen Altersgenossen der Mannhafteste und Anmutigste war, sandte ihm Harpagos Geschenke, aus Begierde, sich an Astyages zu rächen. Denn er sah ein, daß von ihm selbst, als einem einzelnen Untertanen, die Rache an Astyages nicht ausgehen könne: den Kyros aber sah er hierzu heranwachsen und wählte ihn zu seinem Kampfgenossen, wie er denn auch die erlittenen Schicksale des Kyros mit den seinigen verglich. Was nun Harpagos noch vor diesem zustande brachte, war, daß er sich, während Astyages die Meder hart behandelte, mit den Ersten derselben Mann für Mann einließ und sie überredete, man müsse zugunsten des Kyros den Astyages des Königtums entsetzen. Und als dieses von ihm zustande gebracht und bereitet war, wollte nunmehr Harpagos dem Kyros, der sich in Persien aufhielt, seine Gedanken offenbaren, hatte aber, da die Wege bewacht wurden, kein Mittel dazu und ersann daher folgenden Kunstgriff. Er bediente sich eines Hasen, dem er den Bauch aufschlitzte, ihn aber sonst, ohne ihn abzuziehen, ließ, wie er war; nur steckte er einen Brief hinein, in dem er, was ihm gut dünkte, geschrieben hatte. Nun nähte er den Bauch des Hasen wieder zu, gab denselben, samt einem Garn, dem Vertrautesten seiner Diener, als wäre dieser ein Jäger, und schickte ihn nach Persien ab, mit dem mündlichen Auftrag, bei Überbringung des Hasen an Kyros zu bemerken, er solle ihn eigenhändig aufschneiden, und es dürfe niemand dabei sein.

124. Das geschah auch wirklich so: Kyros empfing den Hasen, schlitzte ihn auf und fand den Brief darin, den er herauszog und las. Die Schrift aber lautete also: »Sohn des Kambyses! Wisse, daß die Götter auf dich blicken: wie hättest du auch sonst zu so großem Glücke kommen mögen? So räche dich nun an Astyages, deinem Mörder! Denn seinem Willen zufolge warst du tot, dank den Göttern aber und mir bist du gerettet. Wie ich dich denn längst sattsam davon unterrichtet glaube, was man an dir selbst getan hat, und welch eine Begegnung auch ich von Astyages erfahren habe, weil ich dich nicht umbrachte, sondern dem Rinderhirten gab. Du wirst aber jetzt, wenn du mir folgen wirst, das Land, das Astyages beherrscht, selbst ganz beherrschen. Überrede nämlich die Perser abzufallen und ziehe gegen die Meder! Wenn ich von Astyages zum Feldherrn gegen dich ernannt werde, so hast du, was du willst, und nicht minder, wofern es ein anderer von den ehrenhaften Medern wird. Denn diese werden zuerst von ihm abfallen, sich zu dir schlagen und den Astyages zu stürzen suchen. Du siehst, daß hier schon alles vorbereitet ist: so tue dies und tue es bald!«

125. Auf diese Nachricht sann Kyros darüber nach, wie er die Perser auf die klügste Art zum Abfall überreden könne. Bei seinem Nachsinnen fand er es so am schicklichsten und machte es also: Er schrieb in einem Briefe, was er wollte, hielt eine Versammlung der Perser, entfaltete hierauf den Brief, las ihn und gab an, Astyages ernenne ihn zum Heerführer der Perser: »Jetzt also« ließ er sich weiter vernehmen – »sei euch, ihr Perser, von mir angesagt, daß jeder sich mit einer Sichel stelle.« Dieses entbot ihnen Kyros. Die Perser sind aber stark an Stämmen, und die von ihnen, die Kyros versammelte und zum Abfall von den Medern überredete, sind folgende, von denen die andern allesamt abhängen: Pasargaden, Maraphier und Maspier. Davon sind die Pasargaden die Ersten; zu diesen gehört das Geschlecht der Achämeniden, dem die persischen Könige entstammen. Andere Perser sind diese: Panthialaier, Derusiaier, Germanier; alle diese sind Feldbauer, die übrigen Nomaden, nämlich: Daër, Marder, Dropiker und Sagartier.

[Anmerkung:] 125. Germanier: Karmanier, Bewohner des Landes Kerman. Mit den Germanen haben sie nichts zu tun.

 

126. Es war aber im Persischen ein Feld voller Dornen, etwa achtzehn oder zwanzig Stadien lang und breit. Als sich nun alle mit dem besagten Gerät eingestellt hatten, kündigte ihnen Kyros an, dieses Feld sollten sie an einem Tag urbar machen. Und als die Perser die aufgetragene Arbeit vollbracht Hatton, kündigte ihnen Kyros zweitens an, am folgenden Tage sollten sich alle gebadet einstellen. Da versammelte Kyros die Ziegen- und Schafherden und das Rindvieh, alles, was sein Vater hatte, auf einem Fleck, schlachtete und richtete es zu, um damit das Perservolk zu empfangen, wie auch mit Wein und den besten Speisen. Als nun am folgenden Tag die Perser kamen, ließ er sie auf der Wiese sich lagern und gab ihnen einen Schmaus. Nachdem sie vom Mahle aufgestanden waren, fragte sie Kyros, ob wohl das, was sie am vorigen Tage hatten, oder das Gegenwärtige ihnen wünschenswerter sei. Darauf sprachen sie, das sei ein großer Abstand. Denn am vorhergehenden Tage hätten sie nichts als Schlimmes gehabt, und am gegenwärtigen nichts als Gutes. Dieses Wort nahm Kyros auf und entdeckte ihnen die ganze Sache, indem er sagte: »Persische Männer, so seid ihr daran: Wollt ihr mir folgen, so habt ihr solches und tausendfältig anderes Gute, und dabei gar keine Knechtsarbeit; wollt ihr aber mir nicht folgen, so habt ihr mühsame Arbeiten wie die gestrige in Unzahl. So folgt mir also und werdet frei! Denn ich selbst bin wohl durch göttliche Schickung dazu geboren, dieses in meine Hand zu bekommen; wie ich auch dafür halte, daß ihr um nichts schlechter seid als die medischen Männer, weder in andern Dingen noch im Kriege. Ist nun dem also, so fallt gleich von Astyages ab!«

127. Jetzt hatten also die Perser einen Anführer gewonnen, und da es ihnen schon längst verhaßt war, von den Medern beherrscht zu werden, machten sie sich gern frei. Als aber Astyages hörte, was Kyros ins Werk setzte, sandte er einen Boten, um ihn zu berufen. Kyros ließ den Boten zurückmelden, er wolle früher zu Astyages kommen, als es diesem selbst recht sein werde. Auf diese Antwort bewaffnete Astyages die Meder insgesamt und ernannte zu ihrem Feldherrn – so war er von Gott geschlagen – den Harpagos, indem er gar nicht daran dachte, was er ihm angetan hatte. Als im Felde die Meder mit den Persern zusammengerieten, wehrten sich einige, die nichts von der Verabredung wußten, andere aber gingen über zu den Persern; die meisten hielten sich absichtlich schlecht und flohen.

128. Als das medische Heer so schimpflich aufgelöst war und Astyages es vernahm, stieß er sogleich gegen Kyros die Drohung aus: »Und doch soll Kyros auch so nicht froh werden!« Mehr sprach er nicht und ließ zunächst jene Traumdeuter aus den Magiern, die ihn zu dem Entschluß gebracht hatten, den Kyros zu entlassen, auf Pfähle spießen. Hierauf waffnete er die Meder, die in der Stadt zurückgeblieben waren, jung und alt, führte sie dann hinaus, stieß mit den Persern zusammen und unterlag. So wurde Astyages selbst lebendig gefangen und verlor die Meder, die er hinausgeführt hatte.

129. Zu dem kriegsgefangenen Astyages trat Harpagos, verlachte und verhöhnte ihn und sagte ihm allerlei herzkränkende Reden ins Gesicht, darunter auch die Frage, wie sich zu seiner Bewirtung, bei der ihm Astyages das Fleisch seines Sohnes aufgetischt habe, die jetzige Knechtschaft des ehemaligen Königs verhalte. Der sah ihn an und stellte die Gegenfrage, ob er sich des Kyros Werk zueigne. Und Harpagos sagte, er habe geschrieben, und so sei alles in Wahrheit sein Werk. Da nannte ihn Astyages den allerungeschicktesten und ungerechtesten Menschen: den ungeschicktesten, weil er selbst hätte König werden können, da ja durch ihn dies alles bewirkt worden sei, und doch einem andern die Macht überliefert habe; den ungerechtesten aber, weil er um jenes Mahles willen die Meder in Knechtschaft gebracht habe. Denn wenn es einmal durchaus notwendig gewesen sei, einem andern das Königreich zu überliefern und es nicht selbst zu behalten, so wäre es eher gerecht gewesen, auf einen Meder dieses Glück zu übertragen, als auf einen Perser. Nun aber seien gerade die Meder, ohne alle Schuld an der Sache, Knechte aus Herren geworden, und die Perser, die ehemaligen Knechte der Meder, seien nun die Herren.

130. So wurde denn Astyages, nachdem er fünfunddreißig Jahre König gewesen war, des Königtums entsetzt, und die Meder beugten sich, um seiner Härte willen, unter die Perser, nachdem sie Asien jenseits des Halysstromes hundertundachtundzwanzig Jahre beherrscht hatten, ausgenommen die Dauer der Szythenherrschaft. In späterer Zeit kam sie zwar Reue an, das getan zu haben, und sie fielen auch von Dareios ab, aber sie wurden da in einer Schlacht besiegt und wieder unterjocht. Damals nun, unter Astyages, standen die Perser mit Kyros gegen die Meder auf, und seitdem herrschten sie über Asien. Den Astyages aber behielt Kyros, ohne ihm sonst ein Leid zu tun, bei sich bis an sein Ende. Also ward Kyros nach solcher Geburt und Erziehung König und unterwarf sich später den Kroisos, der mit Beleidigungen angefangen hatte, wie das früher von mir erzählt worden ist. Nach dessen Unterwerfung beherrschte er ganz Asien.

131. Von den Persern aber sind mir folgende Bräuche bekannt: Götterbilder, Tempel und Altäre zu errichten, haben sie so gar nicht im Brauch, daß sie vielmehr denen, die das tun, Torheit vorwerfen; wie mir scheint, weil sie nicht mit den Hellenen dafür halten, daß die Götter menschlich gestaltet seien. Dagegen ist bei ihnen Brauch, dem Zeus auf den höchsten Gipfeln der Berge Opfer darzubringen, wobei sie den ganzen Himmelskreis als Zeus anrufen. Auch opfern sie der Sonne und dem Mond, der Erde, dem Feuer, dem Wasser und den Winden. Und diesen allein opfern sie von alters her. Außerdem aber haben sie von andern angenommen, daß sie der Urania opfern, und zwar von den Assyriern und Arabern. Der Name der Aphrodite ist aber bei den Assyriern Mylitta, bei den Arabern Alilat und bei den Persern Mitra.

[Anmerkung:] 131. Zeus: Ahuramasda (der weise Herr) ist Lichtgott, deshalb nennt ihn Herodot mit dem Namen des griechischen Himmelsgottes. Die Göttin Mitra ist sonst nicht bezeugt. Herodot scheint den persischen Sonnengott Mitra zu meinen.

 

132. Die Opferung haben die Perser bei den besagten Göttern also bestellt: sie errichten weder Altäre, noch machen sie zum Behuf des Opfers ein Feuer an, haben auch keine Trankopfer im Gebrauch, keine Flöten, Kränze oder Gerstenkörner; sondern wenn einer einem dieser Götter opfern will, führt er das Tier an eine reine Stätte und ruft den Gott an, meist mit einem Myrtenkranze um den Kopfbund. Indessen kommt es dem Opfernden nicht zu, für sich allein um Gutes zu flehen; vielmehr betet er, daß es allen Persern und dem König wohl ergehen möge, und da ist er selbst unter den sämtlichen Persern inbegriffen. Hat er nun das Opfertier Glied für Glied zerteilt und das Fleisch gekocht, so streut er das zarteste Gras, meist Klee, unter und legt alles Fleisch darauf. Wenn er's aber auseinander gelegt hat, singt ihm zur Seite ein Magier das Lied von der Götterschöpfung; das sei nämlich, sagen sie, ihr Weihegesang, und ohne einen solchen Magier zu opfern, ist nicht Brauch bei ihnen. Der Opfernde wartet noch eine Weile; dann trägt er das Fleisch nach Haus und braucht es nach Gutdünken.

133. Ferner ist nach ihren Gebräuchen jedem unter allen Tagen sein Geburtstag das höchste Fest. An diesem halten sie es für billig, ein reichlicheres Mahl als sonst aufzutragen, und ihre Reichen tragen einen Stier, ein Pferd, ein Kamel und einen Esel auf, die ganz im Ofen gebraten werden; ihre Armen tragen kleines Vieh auf. Die Perser setzen sich wenig Speisen vor, aber vielen Nachtisch und diesen nicht auf einmal. Ebendarum behaupten sie auch, die Hellenen hörten hungrig auf zu speisen, weil ihnen nach der Mahlzeit nichts aufgetischt werde, das der Rede wert wäre; würde ihnen so etwas aufgetischt, so würden sie wohl nicht aufhören zu essen. Dem Weine sehen sie stark zu und dürfen nicht speien und nicht harnen in eines andern Gegenwart. So hält man es in diesen Stücken. Auch sind sie gewöhnt, über die wichtigsten Angelegenheiten trunken zu beraten; was ihnen in ihrem Rate gefallen hat, das legt ihnen tags darauf, wenn sie nüchtern sind, der Hausherr vor, bei welchem sie gerade berieten. Und wenn es ihnen auch nüchtern gefällt, so gilt's; wo nicht, so wird es aufgegeben. Was sie aber nüchtern vorschlugen, das untersuchen sie noch einmal, wenn sie trunken sind.

134. Treffen sie sich auf der Straße, so läßt sich erkennen, ob die Begegnenden gleichen Standes sind: dann nämlich küssen sie einander, anstatt der Begrüßung, auf den Mund. Ist jedoch einer etwas geringer, so küssen sie die Wangen; ist aber einer viel niedrigeren Standes als der andere, so wirft er sich vor ihm nieder und huldigt ihm. Sie ehren vor allen ihre nächsten Nachbarn, nach sich selbst nämlich, dann die zweiten, hernach die weitern, indem sie in dieser Ordnung fortschreiten; so daß sie die am wenigsten in Ehren halten, die am entferntesten von ihnen wohnen. Denn sie halten sich selbst bei weitem für die allervortrefflichsten Menschen, und die andern lassen sie in der angegebenen Ordnung an ihre Trefflichkeit sich anschließen und um so schlechter sein, je entfernter sie von ihnen wohnen. Unter der Mederherrschaft aber herrschten auch die Völker übereinander (über alle zusammen nämlich die Meder, und insbesondere über ihre nächsten Nachbarn, diese über ihre Grenznachbarn, und diese wieder über die angrenzenden) nach demselben Verhältnis, wie die Perser ehren; denn Herrschaft und Verwaltung richteten sich ja nach der räumlichen Entfernung des Volkes.

135. Zu fremden Sitten versteht sich niemand leichter als die Perser. So tragen sie die medische Kleidung, weil ihnen dieselbe schöner dünkt als ihre eigene, und im Kriege die ägyptischen Panzer. Auch gehen sie allen möglichen Genüssen nach, wenn sie davon hören; insbesondere haben sie von den Hellenen die Knabenliebe gelernt. Jeder Perser hat viele rechtmäßige Ehefrauen, nimmt aber noch viel mehr Kebsweiber.

136. Für Mannhaftigkeit gilt es, nächstdem daß man ein Mann im Kampf ist, wenn einer viele Kinder aufweisen kann; wer die meisten aufweist, dem schickt der König Geschenke von Jahr zu Jahr. Denn Menge, denken sie, gibt Stärke. Ferner erziehen sie die Knaben vom fünften Jahr an bis zum zwanzigsten nur in dreierlei: Reiten, Bogenschießen, die Wahrheit reden. Bevor er fünfjährig ist, kommt keiner dem Vater zu Gesicht, sondern hat seinen Aufenthalt bei den Frauen. Das macht man deswegen so, damit keiner, falls er unter der Pflege sterbe, dem Vater Leid zuziehe.

[Anmerkung:] 136. In Nietzsches »Zarathustra« werden die persischen Vorschriften über die Knabenerziehung in der Rede »Von tausendundeinem Ziele« nach diesem Kapitel Herodots angegeben.

 

137. Diesen Brauch lobe ich und lobe auch den, daß keiner um einer einzigen Schuld willen, nicht einmal vom König selbst, getötet wird, auch sonst kein Perser einen seiner Haussklaven wegen einer einzelnen Schuld heillos behandeln darf; sondern wofern einer nach Abrechnung die Verbrechen häufiger und größer findet als die Dienste, dann läßt er seinen Zorn aus.

Noch habe, sagen sie, keiner jemals seinen Vater umgebracht noch seine Mutter; sondern wenn je so etwas geschah, habe man ganz notwendig, behaupten sie, bei der Untersuchung auffinden müssen, daß solches entweder Untergeschobene oder im Ehebruch Erzeugte waren: denn es ist, nach ihrer Behauptung, gar nicht anzunehmen, daß wirklich echte Eltern durch ihre eigenen Kinder sterben.

138. Sodann ist ihnen alles, was ihnen nicht erlaubt ist zu tun, nicht einmal zu sagen erlaubt. Für das Schändlichste aber gilt ihnen zu lügen, und nächstdem, etwas schuldig zu sein; dies aus vielen Gründen; besonders aber behaupten sie auch, ein Schuldner werde notwendig die eine oder die andere Lüge sagen. Wenn ein Bürger den Aussatz oder den weißen Ausschlag hat, so kommt dieser nicht in die Stadt, noch gesellt er sich zu den andern Persern; nach ihrer Behauptung hat er das wegen eines Vergehens gegen die Sonne. Auch treiben sie jeden Fremden, der davon ergriffen wird, eiligst aus ihrem Lande; viele vertreiben auch die weißen Tauben unter demselben Vorwurf. In einen Fluß harnen sie weder noch spucken sie hinein, noch waschen sie sich darin die Hände; auch lassen sie das keinen andern tun, sondern verehren die Flüsse aufs höchste.

139. Folgendes findet sich auch bei ihnen, was wohl den Persern entgeht, nicht so aber uns. Ihre Namen, die ihrem Äußern und ihrer Würde entsprechen, enden alle mit demselben Buchstaben, den die Dorier San und die Ionier Sigma heißen. Wer darauf achten will, wird finden, daß darauf die persischen Namen sich endigen, nicht etwa einige und andere nicht, sondern alle gleichmäßig.

[Anmerkung:] 139. Herodot hielt sich an die griechischen Namensformen der persischen Persönlichkeiten, als er diese Regel aufstellte. Seine Kenntnis des Persischen war unzureichend.

 

140. Dieses weiß ich und kann darüber mit Bestimmtheit reden; über ihre Toten aber hört man, als etwas Geheimes und nicht mit Sicherheit, daß kein Leichnam eines Persers eher begraben werde, als bis ein Vogel oder Hund daran gezerrt habe. Ja von den Magiern weiß ich mit Bestimmtheit, daß sie es so machen; tun sie's doch öffentlich. Die Perser überziehen den Leichnam erst mit Wachs: dann bergen sie ihn in der Erde. Die Magier aber unterscheiden sich sehr von andern Menschen, auch von den Priestern in Ägypten. Denn diese halten es heilig, nichts Lebendes zu töten, außer dem, was sie opfern; die Magier dagegen töten gerade eigenhändig alles, außer Hund und Mensch, und wetteifern darin, sowohl Ameisen als auch Schlangen zu töten, und was sonst kriecht und fliegt. So lassen wir's denn mit diesem Brauch, wie es von jeher gegolten hat. Ich aber komme auf meine frühere Erzählung zurück.

141. Die Ionier und Äolier sandten nun, sobald die Lyder unterworfen waren, Boten nach Sardes an Kyros und erklärten sich bereit, ihm unter denselben Bedingungen untertan zu sein, wie sie es dem Kroisos waren. Als er ihren Vortrag angehört hatte, erzählte er ihnen eine Geschichte. Er sagte, es habe ein Flötenspieler, der Fische im Meere sah, auf seiner Flöte gepfiffen, in der Meinung, sie sollten ans Land herauskommen; als er sich aber in seiner Hoffnung betrog, habe er ein Netz genommen und darin eine große Menge Fische gefangen und herausgezogen. Wie er sie zappeln sah, habe er zu den Fischen gesprochen: »Höret mir auf zu tanzen; habt ihr ja nicht, als ich euch pfiff, tanzend herauskommen wollen.« Diese Geschichte erzählte Kyros den Ioniern und Äoliern deswegen, weil wirklich die Ionier früher, als Kyros selbst durch Gesandte sie bat, von Kroisos abzufallen, nicht gehorchen wollten; jetzt aber, nachdem die Sache entschieden war, sich bereit zeigten, dem Kyros zu gehorchen. Er also gab ihnen in seinem Zorn dies zur Antwort. Die Ionier aber schützten sich, als sie solche Nachrichten in ihren Städten hörten, alle mit Mauern und versammelten sich im Panionion, nur die Milesier ausgenommen. Denn mit diesen allein hatte Kyros einen Vertrag unter denselben Bedingungen wie der Lyder beschworen. Die übrigen Ionier aber beschlossen, im Namen aller Gesandte nach Sparta zu schicken, mit der Bitte, den Ioniern beizustehen.

142. Diese Ionier, die zum Panionion gehören, haben unter allen Menschen, von denen wir wissen, gerade da ihre Städte gegründet, wo der Himmel und die Jahreszeiten am schönsten sind. Denn weder die Lande oberhalb Ioniens tun es ihm gleich noch die unterhalb, weder die gegen Morgen noch die gegen Abend. Von ihnen sind die einen der Kälte und Nässe, die andern der Hitze und Dürre unterworfen. Die Sprache ist aber nicht unter allen Ioniern dieselbe, sondern hat vier Mundarten. Milet ist ihre erste Stadt gegen Mittag, dann Myus und Priene, und diese sind in Karien gelegen und sprechen gleich miteinander. In Lydien aber sind: Ephesos, Kolophon, Lebedos, Teos, Klazomenai, Phokaia. Diese Städte stimmen mit den früher genannten in der Sprache gar nicht überein, haben aber unter sich die gleiche Sprache. Noch sind drei ionische Städte übrig, von denen zwei auf Inseln liegen, auf Samos und Chios, eine auf dem Festland gegründet ist, Erythrai. Nun sprechen zwar die Chier und Erythraier miteinander die gleiche Sprache, die Samier aber ihre eigene für sich. Das sind die vier Mundarten.

143. Von diesen Ioniern waren also die Milesier vor aller Furcht gedeckt durch ihr Bündnis. Auch die Inselbewohner unter ihnen hatten nichts zu fürchten, weil damals die Phönizier noch nicht den Persern untertan und die Perser selbst keine Seeleute waren. Nun hatte zwar eigentlich nichts diese Ionier von den andern geschieden; allein war damals das ganze hellenische Volk schwach, so war unter den Stämmen der ionische bei weitem der schwächste und unbedeutendste; denn außer Athen hatte er keine einzige namhafte Stadt. So mieden die übrigen Ionier und die Athener diesen Namen und wollten nicht Ionier genannt werden; ja auch jetzt noch sehe ich, daß ihrer viele dieses Namens sich schämen. Jene zwölf Städte aber rühmten sich des Namens und gründeten für sich ein Heiligtum, dem sie den Namen Panionion gaben, beschlossen jedoch, keine andern Ionier teil daran nehmen zu lassen; es begehrten aber auch keine außer den Smyrnaiern die Zulassung.

144. Auch die Dorier aus der Gegend der jetzigen Pentapolis, die früher Hexapolis genannt ward, halten gleichfalls darauf, keine der anwohnenden Dorier in das triopische Heiligtum aufzunehmen; ja sie haben aus ihrer eigenen Mitte die, welche gegen die Ordnung des Heiligtums verstießen, von der Teilnahme ausgeschlossen. Denn in dem Wettkampf des Triopischen Apollo setzten sie von jeher eherne Dreifüße für die Sieger aus; wer sie aber gewann, durfte sie nicht aus dem Heiligtum fortnehmen, sondern mußte sie an Ort und Stelle dem Gotte weihen. Nun siegte einmal ein Mann aus Halikarnassos, mit Namen Agasikles; der verachtete das Gesetz, nahm den Dreifuß und hing ihn in seinem Hause an den Nagel. Das war der Grund, warum die fünf Städte, Lindos, Ialysos, Kameiros, Kos und Knidos die sechste Stadt, Halikamassos, von der Teilnahme ausschlossen. Diesen wurde also von den Genannten die erwähnte Strafe auferlegt.

[Anmerkung:] 144. Pentapolis: Fünfstadt, Hexapolis: Sechsstadt. Triopion ist eine Stadt in Karien auf der Halbinsel Knidos. Ihr Apollotempel war berühmt.

 

145. Aber die Ionier, glaube ich, haben deswegen gerade zwölf Städte gestiftet und nicht mehr aufnehmen wollen, weil sie schon, als sie im Peloponnes wohnten, zwölf Stämme hatten, wie jetzt die Achäer, von denen die Ionier vertrieben wurden, auch zwölf Stämme haben. Nämlich Pellene bei Sikyon kommt zuerst, dann Aigeira und Aigai (daselbst der Fluß Krathis, der nie versiegt, und von dem der Fluß in Italien den Namen bekam), weiter Bura und Helike (wohin die Ionier, von den Achäern geschlagen, sich flüchteten), weiter Aigion, die Rhpyer, die Patrer, die Pharer, Olenos (wo der große Fluß Peiros ist), endlich Dyme und die Tritaier, die von ihnen allein im Binnenlande wohnen.

146. Das sind die zwölf Stämme der Achäer, ebenso damals die der Ionier. Ebendarum haben auch die Ionier zwölf Städte gestiftet. Wollte man aber sagen, sie seien mehr eigentliche Ionier als die andern Ionier, oder ihr Ursprung sei edler, so wäre das sehr einfältig; denn die Abanten aus Euböa machen nicht den kleinsten Teil von ihnen aus, ohne auch nur im Namen etwas Ionisches zu haben, und Minyer von Orchomenos, auch Kadmeier, Dryoper, ein Teil Phoker, Molosser, pelasgische Arkadier und dorische Epidaurier, nebst vielen andern Stämmen, sind mit ihnen vermischt. Auch diejenigen, die vom Gemeindeherd in Athen ausgingen und sich für die edelsten Ionier halten, haben keine Weiber mit in die Pflanzung gebracht, sondern sich Karerinnen genommen, deren Eltern sie gemordet hatten. Wegen dieser Ermordung machten sich die Weiber ein Gesetz, legten Eide darauf und pflanzten es auch auf ihre Töchter fort, niemals mit ihren Männern zusammenzuspeisen, noch ihren Mann bei Namen zu rufen, weil sie ihnen Väter und Männer und Kinder gemordet hatten und dann, obgleich sie solches getan hatten, mit ihnen in der Ehe lebten. Und das war in Milet der Fall.

[Anmerkung:] 146. Vom Gemeindeherd der Mutterstadt nahm man einen Feuerbrand mit und entzündete mit ihm das heilige Feuer in der Tochterstadt.

 

147. Zu Königen aber machten einige derselben Lyzier, Nachkommen von Glaukos, dem Sohn des Hippolochos; andere nahmen sie aus den pylischen Kaukonen, von Kodros, dem Sohn des Melanthos, andere aus beiden. Freilich hängen sie mehr als die übrigen Ionier an diesem Namen. So lassen wir sie denn auch den reinen Ionierstamm sein; alle aber sind Ionier, die von Athen stammen und die Apaturien feiern. Dieses Fest feiern alle außer den Ephesern und Kolophoniern. Denn diese allein unter den Ioniern feiern die Apaturien nicht, und zwar, wie sie angeben, eines Mordes wegen.

[Anmerkung:] 147. Die Apaturien, das Fest der Stammeszusammengehörigkeit, wurden im November gefeiert. Dabei wurden die neugeborenen Kinder in die Geschlechtsregister und die Jünglinge in die Bürgerliste eingetragen.

 

148. Das Panionion ist in Mykale eine heilige Stätte, die gegen Mitternacht liegt und gemeinschaftlich von den Ioniern dem Poseidon Helikonios auserkoren wurde. Mykale aber ist eine Spitze des Festlandes, die sich gegen den Westwind nach Samos zu erstreckt, auf der sich die Ionier von den Städten immer versammelten, um ein Fest zu feiern, dem sie den Namen Panionia gaben. Diese Wortbildung findet sich nicht bloß bei den Festen der Ionier, sondern bei allen Hellenen endigen sich alle gleichmäßig auf einen und denselben Buchstaben, sowie bei den Persern die Namen.

[Anmerkung:] 148. In Helike, einer achäischen Stadt im Peloponnes, lag ein prächtiger Poseidontempel.

 

149. Das sind denn die ionischen Städte. Folgende aber sind die äolischen: Kyme, genannt Phrikonis, Larisai, Neonteichos, Temnos, Killa, Notion, Aigiroëssa, Pitane, Aigaiai, Myrina, Gryneia. Das sind die elf ursprünglichen Städte der Äolier. Eine nämlich, Smyrna, wurde ihnen von den Ioniern weggenommen. Denn auch hier waren ihrer zwölf auf dem Festland. Diese Äolier nun haben sich zwar auf einem bessern Boden als die Ionier niedergelassen, aber mit den Jahreszeiten sind sie nicht so gut daran.

150. Smyrna verloren die Äolier folgendermaßen. Sie nahmen kolophonische Männer auf, die bei einem Aufstand unterlagen und aus ihrem Vaterlande vertrieben wurden. Jetzt warteten diese landesflüchtigen Kolophonier, bis die Smyrnaier außerhalb der Mauern dem Dionysos ein Fest veranstalteten, schlossen die Tore und nahmen die Stadt in Besitz. Als hierauf sämtliche Äolier zur Hilfe herbeizogen, trafen sie die Übereinkunft, nach Herausgabe der fahrenden Habe von seiten der Ionier sollten die Äolier Smyrna aufgeben. Da dies die Smyrnaier taten, verteilten die elf Städte sie unter sich und machten sie zu ihren Bürgern.

151. Das sind denn die äolischen Städte auf dem Festland, außer den auf dem Ida gelegenen; denn diese unterscheiden sich von ihnen. Von den Inselstädten aber liegen fünf auf Lesbos; Arisba nämlich, die sechste auf Lesbos gelegene Stadt, haben die Methymnaier, die doch ihre Blutsverwandten sind, in Knechtschaft versetzt. Auch auf Tenedos liegt eine Stadt, und auf den sogenannten hundert Inseln noch eine. Nun hatten damals die Lesbier und Tenedier nichts zu fürchten, so wenig wie die inselbewohnenden Ionier; die übrigen Städte aber beschlossen im Namen aller, den Ioniern zu folgen, wohin dieselben sie führen würden.

152. Sobald die Gesandten der Ionier und Äolier in Sparta angekommen waren (denn damit ging es schnell genug), wählten sie zum Sprecher für alle einen Phokaier, mit Namen Pythermos. Der warf sich in ein purpurnes Gewand, damit um so mehr Spartiaten, wenn sie das vernähmen, zusammenliefen, stellte sich hin und machte viele Worte, daß sie ihnen beistehen möchten. Dennoch hörten die Lazedämonier nicht auf ihn, sondern beschlossen im Gegenteil, den Ioniern nicht beizustehen. Diese zogen denn ab; die Lazedämonier aber fertigten, nachdem sie die Gesandten der Ionier abgewiesen hatten, gleichwohl in einem Fünfzigruderer Leute ab, wie mir scheint, um auszukundschaften, wie es mit Kyros und Ionien stände. Nach ihrer Ankunft in Phokaia schickten diese den Angesehensten aus ihrer Mitte, namens Lakrines, nach Sardes, um dem Kyros im Namen der Lazedämonier zu verbieten, daß er einer Stadt des hellenischen Landes Schaden zufüge, indem sie dabei nicht gleichgültig zusehen würden.

153. Als der Herold so sprach, soll Kyros die Hellenen, die er bei sich hatte, befragt haben, was für Leute denn die Lazedämonier wären und wie stark an Zahl, die ihm das befehlen wollten. Hiervon unterrichtet, habe er zum Spartiatenherold gesprochen: »Noch niemals habe ich solche Leute gefürchtet, die mitten in der Stadt einen bestimmten Platz haben, auf dem sie sich versammeln und mit Eidschwüren betrügen. Sie sollen, wenn ich gesund bleibe, nicht von den Schicksalen der Ionier, sondern von ihren eigenen zu schwatzen bekommen.« Diese Worte schleuderte Kyros gegen alle Hellenen, weil bei ihnen Märkte bestehen, auf denen sie Kauf und Verkauf betreiben. Denn bei den Persern selbst ist es gar nicht Sitte, Märkte zu halten, noch haben sie überhaupt einen Markt. Sodann vertraute er Sardes dem Tabalos, einem Perser, an, das Gold aber, das von Kroisos und den Lydern einging, dem Paktyas, einem Lyder, zur Verwaltung, und brach selbst auf nach Ekbatana (wohin er auch den Kroisos mitnahm), ohne daß er die Ionier vor der Hand beachtenswert fand. Denn es standen ihm Babylon im Wege und das baktrische Volk; sowie auch die Saker und Ägypter; gegen diese hatte er sich vorgenommen, sein Heer selbst zu führen, gegen die Ionier aber einen andern Feldherrn zu schicken.

154. Sobald aber Kyros aus Sardes aufgebrochen war, machte Paktyas die Lyder abtrünnig von Tabalos und Kyros, ging ans Meer hinab und mietete, da er alles Gold aus Sardes in Händen hatte, Hilfstruppen und bewog die Küstenbewohner, mit ihm in den Krieg zu gehen. Dann zog er nach Sardes und belagerte den Tabalos, der in der Burg eingeschlossen war.

155. Als Kyros das unterwegs vernahm, sprach er zu Kroisos: »Kroisos, wie werde ich mit diesen Dingen zu Ende kommen? Unaufhörlich werden die Lyder – wie sich augenscheinlich zeigt – mir Schwierigkeiten machen und selbst nicht aus ihnen herauskommen. Ich muß beinahe annehmen, daß es am besten wäre, sie in Knechtschaft zu versetzen. Denn diesmal, sehe ich, habe ich es ebenso gemacht wie einer, der den Vater umbringt und seine Kinder verschonen will. So führe auch ich den, der den Lydern noch mehr als ein Vater ist, dich, gefangen fort, den Lydern selbst aber überlasse ich die Stadt, und dann wundere ich mich, wenn sie von mir abfallen.« So redete er, wie er dachte. Darauf gab jener folgende Antwort, aus Furcht, er möchte Sardes zur Wüste machen: »Mein König, es ist zwar richtig, was du ausgesprochen hast; indessen folge nicht hemmungslos deinem Zorn, verwüste nicht eine alte Stadt, die sowohl am Vergangenen als am Gegenwärtigen unschuldig ist. Denn das Vergangene habe ich getan und die Vergeltung auf mein Haupt genommen; in dem jetzigen Fall aber ist Paktyas der Frevler, dem du Sardes anvertraut hast: laß ihn dafür büßen. Aber den Lydern schenke Verzeihung und verordne ihnen nur folgendes, damit sie nicht abfallen oder dir irgendwie gefährlich werden. Verbiete ihnen den Besitz von Kriegswaffen; dagegen laß sie Röcke unter ihre Gewänder anziehen und sich Schnürstiefel anschnallen; endlich befiehl ihnen auch, daß sie zum Kitharaspielen und Harfenschlagen und zur Krämerei ihre Söhne erziehen. So wirst du sie bald, o König, aus Männern in Weiber verwandelt sehen und nicht zu fürchten haben, daß sie abfallen könnten.«

156. Dies riet ihm Kroisos an, da er es immer noch besser für die Lyder fand, als wenn sie in die Knechtschaft verkauft würden; denn er wußte, daß er ihn ohne einen triftigen Grund nicht zur Änderung seiner Entschlüsse bringen könne. Zugleich war ihm bange, die Lyder könnten, wenn sie diesmal durchkämen, künftig wieder von den Persern abfallen und ihren Untergang finden. Kyros begrüßte den Vorschlag, ließ seinen Zorn fahren und versicherte, ihm folgen zu wollen. Hierauf berief er den Mazares, einen Meder, und trug ihm auf, den Lydern alles das zu gebieten, was ihm Kroisos vorgeschlagen hatte, dazu die andern alle in Knechtschaft zu versetzen, die mit den Lydern gegen Sardes gezogen waren, den Paktyas selbst aber unter allen Umständen lebendig zu ihm zu führen.

157. Diesen Auftrag gab er unterwegs und zog weiter in die Heimat der Perser. Paktyas aber wurde durch die Nachricht erschreckt, ein Heer sei nahe, das gegen ihn herankomme, und flüchtete eilig nach Kyme. Nun zog Mazares, der Meder, mit einem gewissen Teil vom Heere des Kyros nach Sardes; als er den Paktyas mit seinen Leuten nicht mehr in Sardes fand, zwang er zunächst die Lyder, des Kyros Befehle zu vollziehen, und tatsächlich haben nach dieser Weisung die Lyder ihre ganze Lebensart geändert. Sodann schickte Mazares Gesandte nach Kyme und forderte die Auslieferung des Paktyas. Die Kymaier aber befanden es für gut, es dem Rate des Gottes bei den Branchiden anheimzustellen. Denn daselbst war ein Orakel in alter Zeit gestiftet, dessen Sprüche sämtliche Ionier und Äolier einzuholen gewöhnt waren. Diese Stätte ist aber im Milesischen, oberhalb des Hafens Panormos.

158. Also sandten die Kymaier an die Branchiden Gotteskundschafter mit der Frage, wie sie es mit Paktyas zum Wohlgefallen der Götter halten sollten. Auf diese Anfrage ward ihnen der Spruch, den Paktyas an die Perser herauszugeben. Als die Kymaier diesen Bescheid hörten, schickten sie sich zur Auslieferung an. Während sich aber das Volk hierzu anschickte, hielt Aristodikos, des Herakleides Sohn, ein geachteter Mann unter den Bürgern, die Kymaier auf, aus Mißtrauen gegen den Spruch, und da er glaubte, die Gesandten sagten nicht die Wahrheit. Schließlich gingen, um zum zweitenmal über Paktyas anzufragen, andere Gesandte ab, unter denen auch Aristodikos war.

159. Nach ihrer Ankunft bei den Branchiden bat anstatt aller Aristodikos um den Götterspruch und tat diese Frage: »Herr, es ist zu uns als Schutzflehender Paktyas, der Lyder, gekommen, um dem gewaltsamen Tode durch die Perser zu entgehen; diese aber fordern seine Auslieferung und heißen die Kymaier ihn preisgeben. Wir aber haben uns, obwohl wir die Macht der Perser fürchten, bis jetzt nicht unterstanden, den Schützling herauszugeben, bis daß uns von deiner Seite mit Bestimmtheit geoffenbart würde, was wir tun sollen.« So fragte er an; darauf erging wieder derselbe Spruch, der befahl, den Paktyas an die Perser herauszugeben. Demzufolge tat Aristodikos mit Vorbedacht folgendes. Er ging rings um den Tempel und nahm die Sperlinge aus und alles Gevögel, das sonst noch im Tempel nistete. Während er nun dieses tat, soll eine Stimme aus dem Allerheiligsten gekommen sein, die den Aristodikos meinte und sich so vernehmen ließ: »Gottlosester der Sterblichen, was unterstehst du dich, solches zu tun? Meine Schützlinge raubst du aus dem Tempel?« Aristodikos aber habe darauf geantwortet, ohne bestürzt zu werden: »Herr, du selber trittst so für die Schützlinge ein, und den Kymaiern befiehlst du, ihren Schützling herauszugeben?« Darauf habe der Gott entgegnet: »Ja, ich befehle es, damit ihr durch Sünde um so schneller zugrunde gehet, auf daß ihr inskünftige nicht wegen Auslieferung der Schützlinge vor das Orakel kommet.«

160. Als die Kymaier diesen Bescheid hörten und nicht durch Paktyas' Herausgabe zugrunde gehen, aber auch nicht um seiner Vorenthaltung willen belagert werden wollten, schickten sie ihn nach Mytilene hinweg. Die Mytilenaier aber waren, da Mazares durch Gesandtschaften um Auslieferung des Paktyas ersuchte, um einen gewissen Preis dazu bereit; bestimmt kann ich ihn nicht angeben; denn es ward nicht ausgeführt. Die Kymaier nämlich schickten, als sie erfuhren, was die Mytilenaier jetzt anstellten, ein Fahrzeug nach Lesbos und brachten von da den Paktyas nach Chios. Hier aber wurde er von den Chiern aus dem Heiligtum der Athene Poliuchos herausgerissen und ausgeliefert. Der Preis aber, um den die Chier ihn auslieferten, war Atarneus; das ist nämlich ein Ort in Mysien, gegenüber von Lesbos. So bekamen die Perser den Paktyas in ihre Gewalt und hielten ihn fest, um ihn dem Kyros zu bringen. Es verstrich aber ein ziemlich langer Zeitraum, während dessen kein Chier aus diesem Atarneus Gerstenkörner nahm, um sie einem Gotte darzustreuen, noch Opferkuchen buk aus der dortigen Frucht, überhaupt jeglicher Ertrag dieses Orts von allem Heiligen ausgeschlossen blieb.

[Anmerkung:] 160. Poliuchos: Stadtbeschützerin.

 

161. So hatten nun die Chier den Paktyas ausgeliefert. Mazares aber zog hierauf gegen die zu Felde, die den Tabalos mitbelagert hatten. Und zuerst versetzte er die Priener in Knechtschaft; dann überfiel er die ganze Ebene des Mäanders, um Beute für sein Heer zu machen, und Magnesia desgleichen. Gleich darauf starb er an einer plötzlichen Krankheit.

162. Nach dessen Tode kam nun Harpagos an und trat in seine Feldherrnstelle ein, auch ein Meder von Geburt und derselbe, den der Mederkönig Astyages mit dem unnatürlichen Mahle bewirtet hatte, und der dem Kyros sein Königtum mitaufgerichtet hatte. Das war der Mann, der damals von Kyros zum Feldherrn ernannt wurde und nach Ionien kam. Er nahm die Städte durch aufgeworfene Schuttwälle. Sooft er sie nämlich in die Mauern eingeschlossen hatte, führte er gleich an den Mauern Schuttwälle auf und eroberte sie. Den Anfang machte er mit einem Angriff auf Phokaia in Ionien.

163. Diese Phokaier haben zuerst unter den Hellenen weite Schiffahrten angestellt und die Adria, wie auch Tyrrhenien und Iberien und Tartessos entdeckt. Ihre Schiffahrt erfolgte aber nicht auf runden Kaufmannsschiffen, sondern auf Fünfzigruderern. Und als sie nach Tartessos kamen, wurden sie dem König der Tartessier befreundet, dessen Name Arganthonios war, und dessen Herrschaft über Tartessos achtzig Jahre, sein ganzes Leben aber hundertundzwanzig Jahre dauerte. Diesem Manne wurden die Phokaier dermaßen befreundet, daß er zuerst verlangte, sie sollten Ionien verlassen und in seinem Lande wohnen, wo sie wollten; hernach aber, als er dazu die Phokaier nicht überreden konnte, hingegen hörte, wie der Meder bei ihnen gewaltig werde, gab er ihnen Geld, um ihre Stadt mit einer Mauer zu umziehen. Er gab aber nicht karg. Macht doch der Umfang der Mauer nicht wenige Stadien aus, und dabei besteht sie ganz aus großen wohl zusammengefügten Steinen.

[Anmerkung:] 163. Iberien ist das nördliche und östliche, Tartessos das südliche Spanien, in dem sich lange vor den Griechen die Phönizier festgesetzt hatten.

 

164. Auf diese Art wurde die Mauer der Phokaier aufgeführt. Harpagos aber zog mit seiner Heeresmacht heran und belagerte sie; doch ließ er ihnen sagen, es genüge ihm, wenn die Phokaier nur eine einzige Schutzwehr von der Mauer einreißen und ein einziges Haus angeloben wollten. Und die Phokaier antworteten voll Erbitterung über die Knechtschaft, sie wollten einen Tag beraten und sodann Bescheid geben; für die Dauer der Beratung aber solle er sein Heer von der Mauer zurückführen. Darauf antwortete Harpagos, er wisse wohl, was sie im Sinne hätten zu tun; gleichwohl gestatte er ihnen, zu beraten. Während nun Harpagos sein Heer von der Mauer zurückführte, zogen die Phokaier ihre Fünfzigruderer heraus, setzten Weiber und Kinder und alle fahrende Habe hinein, dazu auch die Götterbilder aus den Heiligtümern und die sonstigen Weihgeschenke, außer denen, die aus Erz oder Stein oder Gemälde waren; alles andere verfrachteten sie, stiegen ein und steuerten nach Chios. Das von Menschen verödete Phokaia aber nahmen die Perser in Besitz.

165. Die Phokaier hätten nun gern die Inseln gekauft, die Oinussen genannt werden; da ihnen jedoch die Chier dieselben nicht verkaufen wollten, aus Furcht, sie möchten zu einem Handelsplatz werden und darüber ihre Insel den Handel verlieren, schickten sich die Phokaier zur Fahrt nach Kyrnos an. Denn auf Kyrnos hatten sie zwanzig Jahre früher nach einem Götterausspruch eine Stadt erbaut, mit Namen Alalia. Arganthonios aber war dazumal schon gestorben. Während sie sich nun zur Fahrt nach Kyrnos anschickten, fuhren sie vorerst zurück nach Phokaia und töteten die Wache der Perser, die Harpagos als Besatzung in die Stadt gelegt hatte. Darauf sprachen sie, als sie dieses vollbracht hatten, eine schwere Verfluchung über jeden aus, der sich der Fahrt entzöge. Überdies versenkten sie einen eisernen Klumpen ins Meer und schwuren, nicht eher nach Phokaia heimzukehren, als dieser Klumpen zum Vorschein käme. Aber als sie die Fahrt nach Kyrnos antraten, ergriff über die Hälfte der Bürger Sehnsucht und Jammer nach der Stadt und nach dem Heimatlande, so daß sie meineidig wurden und wieder heim nach Phokaia fuhren. Aber die von ihnen, die den Schwur hielten, liefen aus von den Oinussen.

[Anmerkung:] 165. Kyrnos: Korsika.

 

166. Nachdem sie nun auf Kyrnos angekommen waren, wohnten sie gemeinschaftlich mit den früher Hingekommenen fünf Jahre daselbst und richteten Tempel auf. Da sie aber auch auf Beute ausfuhren rings bei allen Nachbarn, zogen wider sie, nach getroffener Übereinkunft, die Tyrrhener und Karthager beide mit je sechzig Schiffen. Die Phokaier selbst bemannten nun auch ihre Fahrzeuge, sechzig an der Zahl, und fuhren ihnen entgegen in das sogenannte sardonische Meer. Aber in dem Seetreffen, das sie einander lieferten, erhielten die Phokaier einen kadmeiischen Sieg. Denn vierzig Schiffe waren ihnen zugrunde gegangen und die übrigen zwanzig unbrauchbar, weil die Schnäbel zerbrochen waren. Daher fuhren sie zurück nach Alalia, nahmen Weiber und Kinder auf und so viel von ihrer Habe, wie die Schiffe tragen konnten, verließen Kyrnos und steuerten nach Rhegion.

[Anmerkung:] 166. Sardonisch: Sardinisch. – Ein kadmeiischer Sieg: Kadmos erbaute die Burg von Theben in Böotien. Den Sieg erfochten die Bewohner unter Eteokles, der die Stadt gegen seinen Bruder Polyneikes verteidigte. Da Eteokles und Polyneikes sich im Kampf gegenseitig töteten, war der Sieg zugleich ein Unglück für die Kadmeier.

 

167. Aber von den Leuten der untergegangenen Schiffe fiel der größte Teil in die Hände der Karthager und Tyrrhener, welche sie hinausführten und steinigten. Darauf wurde den Agyllaiern alles, was an der Stätte vorbeiging, wo die gesteinigten Phokaier lagen, verrenkt, verkrüppelt, vom Schlag gerührt, und zwar ohne Unterschied Kleinvieh, Zugtiere und Menschen. Nun sandten die Agyllaier nach Delphi und wollten ihre Sünde wiedergutmachen. Die Pythia hieß sie tun, was die Agyllaier auch jetzt noch vollziehen; sie bringen nämlich jenen große Totenopfer dar und stellen Wettkämpfe und Wettrennen an. Dieser Teil der Phokaier erlitt also einen solchen Tod. Die andern aber, die nach Rhegion entflohen, zogen von da aus und erwarben die Stadt im Lande Oinotria, die jetzt Hyele genannt wird. Diese gründeten sie auf die Belehrung eines Mannes aus Poseidonia, daß die Pythia in jenem Spruch von einer Stiftung den Heros Kyrnos und nicht die Insel gemeint habe.

[Anmerkung:] 167. Agylla: Stadt in Etrurien, später Cäre genannt. – Oinotria: Lukanien und Bruttien. – Hyela: Velia in Lukanien. – Poseidonia: Pästum, dessen großartige Tempelruinen Alexandre Calame (1810-1864) malte und Nietzsche (Menschliches, Allzumenschliches. I, Aphorismus 145) mit den Worten schilderte: »Es ist uns beinahe noch so zumute, als ob eines Morgens ein Gott spielend aus solchen ungeheuren Lasten sein Wohnhaus gebaut habe.« – Die Phokaier sollten nicht auf der Insel Kyrnos eine Kolonie anlegen, sondern dem Heroen, nach dem die Insel so hieß, dem Kyrnos, einem Sohne des Herakles, einen Tempel bauen.

 

168. So nun erging es den ionischen Phokaiern: beinahe ebenso machten es aber auch die Tejer. Sobald nämlich Harpagos von seinen Schuttwällen aus ihre Mauer einnahm, stiegen sie allesamt in die Fahrzeuge, steuerten schleunig auf Thrazien los und gründeten dort die Stadt Abdera, zu der schon früher Timesios von Klazomenai den Grund gelegt hatte, ohne jedoch Gewinn davon zu haben, weil ihn die Thrazier vertrieben. Jetzt aber genießt er unter den Tejern zu Abdera die Verehrung eines Heros.

169. Das sind die einzigen Ionier, denen die Knechtschaft so unerträglich war, daß sie ihre Heimatstädte verließen. Die andern Ionier, außer den Milesiern, ließen sich zwar mit Harpagos in Kampf ein, so gut wie die Ausgewanderten, und zeigten sich als wackere Männer, jeder im Kampf für das Seine; als sie aber geschlagen wurden und in Feindes Gewalt gerieten, blieben sie in ihrem Lande und leisteten, was ihnen auferlegt ward. Nur die Milesier, die, wie zuvor schon von mir bemerkt ist, mit Kyros selbst ein Bündnis gemacht hatten, blieben ruhig. So kam also Ionien zum zweitenmal in Knechtschaft. Sobald aber Harpagos die Ionier auf dem Festlande in seiner Hand hatte, erregte dies bei den Ioniern auf den Inseln solche Furcht, daß sie sich selbst dem Kyros ergaben.

170. Als die Ionier in ihrem Unglück sich nichtsdestoweniger im Panionion versammelten, erteilte, wie ich höre, Bias von Priene einen sehr guten Rat, der den Ioniern, hätten sie ihn nur befolgt, zur größten Blüte unter den Hellenen verholfen haben würde. Er riet ihnen nämlich, sämtliche Ionier sollten miteinander auslaufen nach Sardo und dort eine Stadt für alle Ionier anlegen. So würden sie loskommen von der Knechtschaft und reich und blühend werden, im Besitz der größten aller Inseln und als Herrscher über andere. Blieben sie aber in Ionien: dann, versicherte er, sehe er ein, daß es mit der Freiheit aus sei. Das war der Rat des Bias von Priene an die Ionier, da sie schon verloren waren. Und einen andern guten Vorschlag erteilte, ehe noch Ionien verlorenging, Thales von Milet (nach seiner ältesten Abstammung ein Phönizier), den Vorschlag nämlich, die Ionier sollten einen eigenen Volksrat errichten, und zwar in Teos; denn Teos sei die Mitte Ioniens. Nichtsdestoweniger sollten die andern Städte, so gut als wären sie Gemeinden, ihre gesetzlichen Einrichtungen beibehalten. Solche Vorschläge erteilten diese beiden Männer.

[Anmerkung:] 170. Sardo: Sardinien.

 

171. Harpagos aber machte nach der Unterwerfung Ioniens einen Feldzug gegen die Karer, die Kaunier und die Lyzier, auf den er auch die Ionier und Äolier mitnahm. Unter ihnen sind die Karer von den Inseln auf das Festland gekommen. Denn vor alters hatten sie die Inseln inne, unter dem Namen Leleger, als Untertanen des Minos, ohne jedoch eine Abgabe zu leisten, wenigstens soweit mir irgend noch möglich war, mit der Sage zurückzugehen; nur daß sie, sooft es Minos begehrte, ihm die Schiffe bemannten. Da Minos sich viele Lande unterwarf und mit Glück Krieg führte, war das karische Volk unter allen Völkern zu dieser seiner Zeit bei weitem das namhafteste. Die Karer haben auch dreierlei Erfindungen gemacht, die bei den Hellenen in Gebrauch kamen. Nämlich Büsche auf die Helme zu heften, davon sind sie die Erfinder, wie auch Abzeichen auf die Schilde zu machen. Auch Handhaben an den Schilden haben sie zuerst gemacht, während bisher Schilde ohne Handhaben von allen getragen wurden, die überhaupt Schilde zu gebrauchen pflegten. Sie gaben ihnen die Richtung durch lederne Riemen, die sie um den Hals und die linke Schulter hängen hatten. Hernach wurden die Karer in viel späterer Zeit von den Doriern und Ioniern aus den Inseln vertrieben und kamen so auf das Festland. Mit den Karern nun, sagen die Kreter, sei es so ergangen. Indessen stimmen hiermit die Karer selbst nicht überein, sondern glauben von sich, daß sie Ureinwohner des Festlandes seien und denselben Namen immerdar geführt hätten, so wie jetzt. Dazu weisen sie in Mylasa ein altes Heiligtum des karischen Zeus auf, an dem die Myser und Lyder teilhaben, als Stammesbrüder der Karer. Denn Lydos und Mysos, sagen sie, seien Brüder des Kar. Diese haben also teil daran; alle aber, die anderen Stammes sind und mit den Karern nur in der Sprache übereinstimmen, haben nicht teil daran.

172. Die Kaunier aber sind, meines Dafürhaltens, Ureinwohner; sie selbst indessen behaupten, aus Kreta zu sein. In der Sprache haben sie dem karischen Stamme sich angeschlossen, oder die Karer dem kaunischen; denn das kann ich nicht mit Bestimmtheit entscheiden. Nach den Bräuchen aber sind sie von den Karern wie auch von allen übrigen Menschen weit verschieden. So erscheint es ihnen als das Schönste, nach Alter und Freundschaft scharenweise, Männer, Weiber und Kinder, zum Trinkgelage zusammenzukommen. Da ferner bei ihnen ausländische Heiligtümer bestanden, entschlossen sie sich hernachmals anders (sie beschlossen nämlich, bloß die heimischen Götter sollten gelten); da legten alle erwachsenen Kaunier ihre Waffen an, fochten mit den Lanzen gegen die Luft, trieben das bis zu den kalyndischen Grenzen und behaupteten nun, sie verjagten die ausländischen Götter. Diese also haben solche Sitten.

[Anmerkung:] 172. Kalynda liegt an der Grenze zwischen Lyzien und Karien.

 

173. Die Lyzier sind aber ursprünglich aus Kreta gekommen. Ganz Kreta hatten nämlich in alter Zeit Barbaren inne. Da nun in Kreta ein Zwist über das Königtum zwischen den Kindern der Europa, Sarpedon und Minos, ausbrach und in diesem Aufruhr Minos die Oberhand gewann, vertrieb er den Sarpedon samt seinen Mitaufrührern; diese Verstoßenen kamen nach Asien in das Land Milyas; denn ebendas, was die Lyzier im Besitz haben, war in alter Zeit Milyas. Diese Milyer aber wurden damals Solymer genannt.

Während nun über jene Sarpedon herrschte, wurden sie (wie sie den Namen schon mitgebracht hatten, und wie auch die Lyzier jetzt von ihren Nachbarn genannt werden) Termilen genannt. Als aber aus Athen Lykos, Pandions Sohn, auch er vertrieben durch seinen Bruder Aigeus, unter die Termilen zu Sarpedon kam, da geschah es, daß sie nach dem Namen des Lykos mit der Zeit Lyzier genannt wurden. Ihre Bräuche sind teils kretische, teils karische. Aber das eine haben sie ganz eigentümlich im Brauch und treffen darin mit gar keinen andern Menschen zusammen, daß sie sich nämlich nach den Müttern benennen, und nicht nach den Vätern. Fragt nun jemand einen andern, wer er sei, so wird er immer von der Mutter her über sich Auskunft geben und weiter von seiner Mutter die Mütter herzählen. Und wenn eine bürgerliche Frau einen Knecht heiratet, so gelten die Kinder für ebenbürtig; wenn aber ein bürgerlicher Mann, und wäre er der Vornehmste, eine Fremde oder ein Kebsweib hat, so sind seine Kinder rechtlos.

[Anmerkung:] 173. Sich nach den Müttern benennen: Die Lyzier hatten also noch starke Reste der mutterrechtlichen Periode, die nach Johann Jakob Bachofens (1815-1887) Annahme jedes Volk durchgemacht haben soll.

 

174. Nun wurden denn die Karer, ohne daß sie durch irgendeine Tat sich auszeichneten, von Harpagos zu Knechten gemacht; aber ebensowenig als die Karer selbst zeichneten alle die Hellenen sich aus, die jenes Land bewohnen. Und das bewohnen unter andern auch Auswanderer der Lazedämonier, die Knidier, deren Land sich ans Meer zieht und dort Triopion genannt wird. Da nun Knidien, das von der bubasischen Landzunge anfängt, bis auf einen kleinen Rest ganz umflossen ist (gegen den Nord nämlich begrenzt es der Kerameikos-Busen, gegen Süd das Meer von Syme und Rhodos), so wollten ebendiesen Rest, der fünf Stadien breit ist, die Knidier in der Zeit, da Harpagos Ionien unterwarf, durchgraben, um ihr Land zur Insel zu machen. Das ganze knidische Land lag nämlich diesseits der Landenge, die sie durchgruben; denn diese ist ebenda, wo jenes ins Festland übergeht. Während nun die Knidier alle Hände in Bewegung hatten, wurden die Arbeiter am ganzen Leibe, besonders aber an den Augen, beim Brechen des Gesteins so ungewöhnlich häufig und daher offenbar nach göttlichem Willen verwundet, daß man nach Delphi Gesandte schickte, um zu erfragen, was die Widerwärtigkeiten herbeiführe. Die Pythia aber gab ihnen, wie die Knidier selbst sagen, in jambischen Trimetern diesen Spruch:

Umtürmet nicht den Isthmos, noch durchgrabet ihn.
Wenn Zeus die Insel wollte, dann schuf er sie selbst.

Da stellten die Knidier auf diesen Spruch der Pythia das Graben ein und ergaben sich dem Harpagos, der mit seinem Heere herankam, ohne Widerstand.

175. Weiter wohnten oberhalb Halikarnassos im Binnenlande die Pedasier. Sooft diesen oder auch ihren Nachbarn etwas Mißliches bevorsteht, bekommt die Priesterin der Athene einen großen Bart. Dreimal schon ist ihnen dies geschehen. Diese allein haben sich unter den Bewohnern Kariens einige Zeit dem Harpagos widersetzt und ihm gar viel zu schaffen gemacht, indem sie sich auf einem Berge verschanzt hatten, der Lide heißt. Indessen wurden die Pedasier doch mit der Zeit überwunden.

176. Die Lyzier aber kamen gegen Harpagos, als er sein Heer auf die Ebene des Xanthos führte, herausgezogen, fochten mit wenigen gegen viele und zeichneten sich durch tapfere Taten aus; übermannt jedoch und in die Stadt zurückgedrängt, brachten sie ihre Weiber und Kinder, ihre Habe und ihr Hausgesinde zusammen in ihrer Burg und steckten dann von unten die ganze Burg in Brand. Nachdem sie dies getan und sich mit furchtbaren Eidschwüren verbunden hatten, zogen sie hinaus, und alle Xanthier starben fechtend. Die jetzigen Lyzier aber, die sich für Xanthier ausgeben, sind größtenteils, bis auf achtzig Häuser, Zugewanderte. Diese achtzig Familien waren nämlich gerade dazumal im Ausland und blieben so übrig. Die Stadt Xanthos also nahm Harpagos so in Besitz. Beinahe auf gleiche Art nahm er auch die Stadt Kaunos; denn die Kaunier machten das meiste ebenso wie die Lyzier.

177. Das untere Asien nun überwältigte Harpagos, das obere dagegen Kyros selbst, der sich jedes Volk unterwarf, ohne eins zu übergehen. Indessen wollen wir davon das meiste beiseite lassen, aber was ihm die größte Mühe gemacht hat und am erzählenswürdigsten ist, dessen will ich gedenken.

178. Als Kyros alles auf dem Festland unter seine Hand gebracht hatte, machte er sich an die Assyrier. Assyrien hat viele große Städte; darunter war jedoch die berühmteste und stärkste und seit der Eroberung der Ninosstadt auch der Sitz des Königtums Babylon, das also beschaffen war. Die Stadt liegt in einer großen Ebene, hat eine Ausdehnung von hundertundzwanzig Stadien an jeder Seite und bildet ein Viereck, so daß sich zusammen vierhundertundachtzig Stadien ihres Umfanges ergeben. Das ist die Größe der babylonischen Stadt. Dazu war sie prachtvoll gebaut wie keine andere Stadt, von der wir wissen. Fürs erste läuft um sie ein tiefer, breiter und wasserreicher Graben, sodann eine Mauer von fünfzig königlichen Ellen Breite und zweihundert Ellen Höhe. Die königliche Elle aber ist um drei Fingerbreiten größer als die mittlere.

[Anmerkung:] 178. Herodot betrachtet Babylonien als einen Teil Assyriens.

 

179. Nun muß ich hier auch noch angeben, wozu die Erde aus dem Graben verwendet wurde, und auf welche Art die Mauer aufgeführt wurde. Indem sie den Graben ausstachen, machten sie zugleich Ziegel aus der Erde, die durch das Graben gewonnen wurde, und nachdem sie die erforderlichen Ziegel geformt hatten, brannten sie dieselben in Öfen. Hernach bedienten sie sich eines Mörtels von heißem Erdpech, stopften immer zwischen dreißig Lagen von Ziegel Rohrgeflechte hinein und bauten so zuerst die Wände des Grabens und zweitens die Mauer selbst auf die gleiche Art; aber oben bauten sie entlang den Mauerrändern Türme, die nur ein Stockwerk hatten und einander gegenüberstanden, und ließen zwischen diesen Türmen einen Raum, daß ein Viergespann herumfahren kann. Auch brachten sie in der ganzen Ringmauer hundert Tore an, ganz von Erz und mit ebensolchen Pfosten und Oberschwellen. Von Babylon liegt eine andere Stadt einen Weg von acht Tagen entfernt: Is ist ihr Name. Dort ist ein Fluß, nicht eben groß: Is ist auch sein Name; diesen führt sein Lauf in den Euphratfluß. Dieser Isfluß nun treibt mit seinem Wasser viele Klumpen Erdpech herbei, und daher wurde das Erdpech zur babylonischen Mauer geholt.

180. Auf diese Art wurde Babylon ummauert. Dieselbe Stadt hat zwei Abteilungen; denn in der Mitte scheidet sie ein Fluß, dessen Name Euphrat ist. Der strömt von den Armeniern her, groß, tief und reißend, und ergießt sich ins Rote Meer. Nun läuft die Mauer mit ihren beiderseitigen Armen bis zum Fluß herum; von da an aber beugt sie sich auf jeder Seite zurück und zieht sich als ein Wall von Backsteinen an beiden Ufern des Flusses hin. Die innere Stadt ferner, die voll von dreistöckigen und vierstöckigen Gebäuden ist, wird von lauter geraden Straßen durchschnitten, die teils in der Richtung des Flusses laufen, teils quer zu ihm hin. Nun waren an jeder Straße, in dem Wall längs dem Flusse, Tore angebracht; deren gab es also ebensoviel wie Gassen. Auch diese waren von Erz und führten alle in ebendiesen Fluß.

181. Diese Mauer also ist der Panzer. Außerdem läuft innen eine Mauer herum, nicht viel schwächer, nur von geringerem Umfange als die andere. Und in jeder von den beiden Abteilungen der Stadt stand ein Bauwerk, in der Mitte der einen die Königsburg mit einer großen, starken Ringmauer; in der andern das Heiligtum des Zeus Belos mit ehernen Toren, das bis auf meine Zeit stand, ein Viereck, auf jeder Seite zwei Stadien lang. Inmitten des Heiligtums aber war ein Turm von festen Steinen erbaut, ein Stadium lang und breit, und auf diesem Turme stand wiederum ein Turm, auf dem zweiten ein dritter und so fort, bis auf acht Türme. Dahinauf ist außen eine Treppe rings um alle Türme gezogen. Und ziemlich in der Hälfte der Treppe ist ein Rastort mit Ruhebänken, auf die sich die Hinaufsteigenden setzen, um auszuruhen. In dem letzten Turm aber ist ein großer Tempel, und in dem Tempel steht ein großes Bett mit schönen Polstern, und davor ist ein Tisch von Gold aufgestellt. Ein Standbild ist aber nicht dort aufgerichtet; auch übernachtet daselbst kein Mensch außer einer Frau von den Einwohnern, die sich gerade der Gott aus allen erwählt, wie die Chaldäer, die Priester dieses Gottes, sagen.

[Anmerkung:] 181. Zeus Belos: Baal (Herr) oder Bel, der höchste Gott der Babylonier. In Babylon selbst war sein ursprünglicher Name Marduk. – Acht Türme: Der babylonische Name für einen solchen Terrassentempel lautet Zikkurat. Es ist der biblische Turm zu Babel. Die Ruinen Babylons sind seit 1899 von der Deutschen Orientgesellschaft unter Robert Koldewey ausgegraben worden. Nach ihren Feststellungen betrug der Gesamtumfang Babylons 18 Kilometer, also sehr viel weniger, als Herodot (Kapitel 178) angibt, und noch nicht ein Drittel von dem Berlins. – Die Chaldäer wohnten seit dem Ende des zweiten Jahrtausends in Mesopotamien und errangen im siebenten Jahrhundert die Herrschaft über Babylon. Sie verloren sie dann an die Meder, Assyrier und schließlich an die Perser, blieben aber im Besitze der Priesterämter, so daß im Altertum Chaldäer und Sterndeuter gleichbedeutende Worte sind.

 

182. Auch behaupten ebendieselben, was sie mich nicht glauben machen, der Gott selbst besuche den Tempel und ruhe auf dem Lagerpolster aus, wie das der Fall auch im ägyptischen Theben ist, nach Aussage der Ägypter; denn dort schläft auch eine Frau im Heiligtum des thebanischen Zeus; und von diesen beiden heißt es, sie ließen sich nie in Umgang mit einem Manne ein; wie dasselbe auch in Patara in Lyzien mit der Weissagepriesterin des Gottes der Fall ist, welche, sooft er eben kommt (weil dort nicht immerdar ein Orakel ist), allemal über Nacht mit in den Tempel eingeschlossen wird.

183. Ferner ist in dem Heiligtum zu Babylon unten ein anderer Tempel, in dem ein großes Bild des sitzenden Zeus von Gold ist, vor dem ein großer Tisch von Gold steht, und dessen Fußgestell und Thron gleichfalls von Gold sind, wozu, wie die Chaldäer sagten, achthundert Talente Gold verwandt worden sind. Außerhalb des Tempels ist ein Altar von Gold. Ferner ist da ein anderer großer Altar, auf dem die ausgewachsenen Tiere geopfert werden; denn auf dem goldenen Altar darf nur dargebracht werden, was noch Milch saugt. Auf dem größern Altar verbrennen die Chaldäer alljährlich tausend Talente Weihrauch, wenn sie gerade das Fest dieses Gottes feiern. Auch stand auf dieser heiligen Stätte zu jener Zeit noch eine Bildsäule von zwölf Ellen aus lauterem Gold. Ich sah sie jedoch nicht und sage nur, was von den Chaldäern gesagt wird. Nach dieser Bildsäule trachtete Dareios, Hystaspes' Sohn, wagte jedoch nicht, sie zu nehmen; aber Xerxes, Dareios' Sohn, nahm sie und tötete auch den Priester, der ihm untersagen wollte, die Bildsäule anzutasten. So war denn dieses Heiligtum eingerichtet. Es sind aber auch viele Weihgeschenke einzelner da.

184. Dieses Babylon hat viele Könige gehabt (von denen ich in den assyrischen Geschichten berichten werde), welche die Mauern und die Heiligtümer verschönert haben, darunter auch zwei Frauen. Die eine, die zuerst herrschte und fünf Geschlechter vor der späteren kam, hatte den Namen Semiramis. Diese hat sehenswerte Dämme über die Ebene hinaufgeführt, da vorher der Fluß über die ganze Ebene auszutreten pflegte.

[Anmerkung:] 184. Herodot hat sein Werk beständig erweitert und niemals abgeschlossen. Zu den assyrischen Geschichten, die er hier verspricht, ist er nicht gekommen.

 

185. Die andere Königin, die nach dieser kam, hatte den Namen Nitokris, und sie (die noch verständiger war als ihre Vorgängerin) hinterließ erstens die Denkmäler, die ich anführen werde; sodann bemerkte sie auch, wie das Reich der Meder so groß und ohne Ruhe war und so viele Städte, besonders die Ninosstadt, wegnahm, und baute nun vor, so gut sie konnte. Zuerst machte sie den Fluß Euphrat, der vorher eine gerade Strömung hatte (den nämlichen, der mitten durch die Stadt strömt), durch Gräben, die sie oberhalb ausheben ließ, dermaßen krumm, daß er dreimal einen assyrischen Flecken beströmt. Dieser Flecken, zu dem der Euphrat kommt, hat den Namen Arderikka. Wenn nun jemand von der Seite unseres Meeres her nach Babylon sich begibt, so gelangt er, während er den Euphratfluß hinunterfährt, dreimal in ebendenselben Flecken und das an drei Tagen. Das war also ihr Werk. Dann schüttete sie längs jedem Ufer des Flusses einen Damm von erstaunlicher Größe und Höhe auf. Sie grub nämlich weit oberhalb Babylons ein Becken für einen See, indem sie es ein wenig seitwärts vom Strome zog und so tief machte, daß sie allemal grub, bis das Wasser kam, und so breit, daß sein Umfang vierhundertundzwanzig Stadien maß. Die Erde aber, die dabei ausgegraben wurde, verwandte sie, um längs den Ufern des Flusses jenen Damm aufzuwerfen. Nachdem sie nun mit dem Graben fertig war, schaffte sie Steine herbei und zog ringsum eine Wand. Sie machte aber beides, den Fluß krumm und den Graben zu einem großen Sumpf, damit der Fluß, durch seine Brechung in viele Windungen, langsamer würde und die Fahrt nach Babylon durch Krümmungen führte, endlich nach der Fahrt noch der lange See zu umwandern wäre. Auch führte sie dies Werk gerade in dem Teil des Landes auf, in dem die Eingänge sind und der nächste Weg aus dem Lande der Meder, damit nicht die Meder durch Verkehr Kenntnis von ihren angelegten Werken erlangten.

[Anmerkung:] 185. Nitokris war die Gattin Nebukadnezars (605-562 v. Chr.), der die von Herodot erwähnten Bauten ausführen ließ.

 

186. Diese Erdarbeiten machte sie zum Schutz, benutzte die Anlagen aber noch zur Herstellung eines Nebenwerkes. Da die Stadt zwei Abteilungen hatte, die der Fluß trennte, mußte unter den vorigen Königen jeder, der aus der einen Abteilung in die andere hinüberkommen wollte, auf einem Fahrzeug hinübersetzen. Das war, wie ich meine, beschwerlich, aber auch hierfür traf sie Vorsorge. Als sie nämlich das Becken für den See gegraben hatte, hinterließ sie aus demselben Werke folgendes andere Denkmal. Sie hieb gewaltige Steine zu, und als diese fertig waren und das Becken ausgegraben war, leitete sie den ganzen Strom des Flusses in den gegrabenen Behälter; während dieser nun angefüllt und zugleich das alte Strombett trockengelegt war, übermauerte sie zunächst die Ufer des Flusses an der Stadt und den Stufen, die von den Türen in den Fluß führten, ganz mit Backsteinen, auf dieselbe Weise wie die Stadtmauer; dann baute sie ungefähr in der Mitte der Stadt mit den Steinen, die sie gehauen hatte, eine Brücke, wobei sie die Steine mit Eisen und Blei verband. Darauf legte sie mit jedem Tag viereckige Balken, auf denen die Babylonier hinübergingen; aber des Nachts nahm man immer diese Balken weg, damit sie sich nicht bei Nacht hinübermachen und einander bestehlen könnten. Als aber das Becken durch den Fluß zu einem wirklichen See gemacht und der Brückenbau fertig war, führte sie den Euphratfluß ins alte Strombett aus dem See zurück; und nun war der Graben erst das geworden, was er sein sollte: ein Sumpf, und für die Bürger war eine Brücke geschaffen.

187. Ebendiese Königin erfand auch folgenden Trug. Über dem verkehrsreichsten Tore der Stadt errichtete sie selbst sich ein Grabmal, das oberhalb des Tores aufragte. Und in dieses Grabmal ließ sie eine Inschrift einhauen, die also lautete: »Wenn einer von den mir nachfolgenden Königen Babylons einmal Mangel leidet in seinem Schatz, öffne er das Grabmal und nehme Schätze, soviel er will. Allein er öffne es in keinem andern Fall, als wenn er wirklich Mangel leidet. Denn das wäre nicht gut.« Dieses Grabmal blieb unangetastet, bis die Herrschaft auf Dareios überging. Dareios ärgerte sich nun, daß er dieses Tor niemals benutzen konnte, und daß Schätze daliegen und ihn selbst einladen sollten, er sie aber nicht nehmen dürfe. Dieses Tor benutzte er nämlich deshalb niemals, weil er beim Durchfahren die Leiche über dem Kopfe gehabt hätte. Als er nun das Grabmal öffnete, fand er keine Schätze, aber die Leiche und eine Inschrift, die also lautete: »Wenn du nicht unersättlich und nach Schätzen gierig wärest, so hättest du nicht die Schreine der Toten geöffnet.« Das ist es, was man von dieser Königin erzählt.

188. Gegen den Sohn dieser Frau, der seines Vaters Namen, Labynetos, und die Herrschaft über die Assyrier hatte, zog jetzt Kyros ins Feld. Zieht aber der große König ins Feld, so geschieht es immer mit wohlbereiteten Speisevorräten aus seinem Hause und mit Vieh; ja er führt auch Wasser mit sich vom Flusse Choaspes, der bei Susa strömt und der einzige Fluß ist, aus dem der König trinkt. Abgekochtes Wasser aus diesem Choaspes wird von gar vielen vierrädrigen Maultierwagen in silbernen Gefäßen ihm nachgeführt, wohin er auch ziehen mag.

189. Kyros kam nun auf dem Wege nach Babylon an den Fluß Gyndes, der seine Quellen auf den matienischen Bergen hat und seinen Lauf durch das Land der Dardaner nimmt. Er mündet in einen andern Fluß, den Tigris, der bei der Stadt Opis vorbeiströmt und ins Rote Meer fließt. Als Kyros über diesen Gyndesfluß hinüberzukommen suchte, über den man mit Schiffen setzen mußte, da lief eines seiner heiligen weißen Rosse aus Wildheit in den Fluß und suchte durchzukommen. Der aber riß es weg und führte es unter Wasser fort. Kyros war sehr erbost über diese Freveltat des Stromes und drohte ihm, er wolle ihn so schwach machen, daß durch ihn künftig auch Weiber leicht, und ohne das Knie zu netzen, durchkommen sollten. Und nach dieser Drohung ließ er ab vom Heereszug gegen Babylon, teilte sein Heer in zwei Hälften und maß nach der Schnur hundertundachtzig Gräben ans beiderseitige Ufer des Gyndes in jeder Richtung ab. An ihnen stellte er sein Kriegsvolk auf und ließ es graben. Da nun solch ein großer Haufe in Arbeit war, ging das Werk vonstatten, aber gleichwohl brauchten sie daselbst den ganzen Sommer zu ihrer Arbeit.

[Anmerkung:] 189. Die weißen Rosse waren der Sonne heilig.

 

190. Als sich nun Kyros am Gyndesfluß durch Zerteilung desselben in dreihundertundsechzig Gräben gerächt hatte, und schon der zweite Frühling erschien, zog er endlich gegen Babylon. Die Babylonier aber rückten heraus ins Feld und erwarteten ihn. Als er nahe an die Stadt herangezogen war, stießen die Babylonier mit ihm zusammen und wurden in dieser Schlacht überwunden und in die Stadt zurückgedrängt. Da sie jedoch zuvor schon erkannt hatten, daß Kyros nicht ruhig blieb, sondern vor ihren Augen ein Volk wie das andere angriff, hatten sie vorsorglich Nahrungsmittel für viele Jahre eingebracht. So fragten nun diese nichts nach der Belagerung, aber Kyros war in Nöten, je mehr Zeit verstrich, ohne daß sein Unternehmen vorrückte.

191. Mag ihm nun ein anderer in seiner Not einen Rat gegeben haben, oder mag er selbst gemerkt haben, wie er's zu machen hatte: genug, er machte es, wie folgt. Von seiner gesamten Heeresmacht stellte er einen Teil am Einfluß des Stromes auf, wo dieser in die Stadt strömt, und einen andern Teil hinter der Stadt, wo der Strom aus der Stadt herausströmt, und gab nun dem Heere Befehl, in die Stadt einzudringen, wenn sie sehen würden, daß sie das Flußbett durchwaten könnten. Da er nun so die Stellung geordnet und dies anbefohlen hatte, zog er mit dem schlechten Teil des Heeres zurück bis zu jenem See. Was einst die Königin der Babylonier mit dem Fluß und dem See gemacht hatte, das machte jetzt Kyros zum zweitenmal. Indem er nämlich den Fluß durch einen Rinngraben in den versumpften See leitete, machte er, daß sich das alte Bett zum Durchgang eignete, da der Fluß ablief. Als das auf diese Art geschehen war, drangen die zu diesem Zwecke aufgestellten Perser durch das Bett des Euphratstromes, der so weit abgelaufen war, daß er etwa halb zur Hüfte eines Mannes reichte, in Babylon ein. Wenn nun die Babylonier vorher erfahren oder gemerkt hätten, was Kyros anstellte, so würden sie die Perser, statt sie so ruhig in die Stadt kommen zu lassen, gar übel zugrunde gerichtet haben. Sie hätten nämlich alle die Pforten, die zum Flusse führen, verschlossen, sich selbst auf die Steinwälle gestellt, die sich längs den Ufern des Flusses hinziehen, und hätten jene wie in einer Fischreuse gefangen. So standen aber die Perser ganz unversehens vor ihnen. Wegen der Größe der Stadt sollen sogar, während ihre äußersten Teile schon genommen waren, die in der Mitte wohnenden Babylonier ihre Eroberung nicht bemerkt haben (wie man von den dortigen Einwohnern hört), sondern, da sie gerade ein Fest feierten, ihre Reigen zur selben Zeit getanzt und sich's haben wohl sein lassen, bis sie es endlich auf dem allergewissesten Wege erfuhren. So wurde Babylon damals zum erstenmal eingenommen.

192. Wie groß die Kräfte des babylonischen Volkes sind, das will ich auf vielerlei Art anzeigen, besonders aber mit folgendem. Der Großkönig hat zu seinem und seines Heeres Unterhalt neben der Abgabe von einem jeden Lande, das er beherrscht, seinen Teil. Von den zwölf Monaten, die das Jahr hat, unterhält ihn vier Monate das babylonische Gebiet, und die acht andern das ganze übrige Asien. Also hat das assyrische Gebiet ein Drittel der Kräfte von ganz Asien. Und die Herrschaft über dieses Gebiet, das die Perser eine Satrapie nennen, ist bei weitem unter allen Herrschaften die bedeutendste, da dem Tritantaichmes, Artabazos' Sohn, der vom König diesen Kreis bekam, jeglichen Tag eine volle Artabe Silber einging. Die Artabe aber, ein persisches Maß, hält noch drei attische Choinix mehr als der attische Medimnos. Auch hatte er eigens, ohne die Kriegsrosse, achthundert Springhengste und sechzehntausend Stuten dazu, weil jeder Hengst zwanzig Stuten besprang. Auch unterhielt er eine solche Menge von indischen Hunden, daß vier großen Flecken in der Ebene, die im übrigen steuerfrei waren, diese Hunde zu füttern, auferlegt war. Über solche Mittel verfügte der Statthalter von Babylon.

[Anmerkung:] 192. Die Choinix faßt 1 Liter, der Medimnos 52.

 

193. Der assyrische Boden wird nur wenig beregnet, und was den Fruchtkeim nährt, ist dieses: Die Bewässerung durch den Fluß treibt die Saat in die Höhe und die Frucht in die Reife, ohne daß, wie in Ägypten, der Fluß selbst auf die Felder austritt, sondern es wird mit Händen und Pumpen gewässert. Denn das babylonische Land ist, wie das ägyptische, ganz durchschnitten von Rinngräben, und der größte darunter ist schiffbar, liegt gegen die Wintersonne und reicht vom Euphrat bis an einen andern Fluß, den Tigris, an dem die Ninosstadt lag. Unter allen Ländern aber, von denen wir wissen, ist dieses das beste im Ertrag der Demeterfrucht. Sonst nämlich, zum Baumwuchs, hat es durchaus keinen Trieb, keinen Feigenbaum, keinen Weinstock, keinen Ölbaum; aber im Ertrag der Demeterfrucht ist es so gut, daß es in der Regel eine zweihundertfältige, in seinem höchsten Ertrag aber sogar dreihundertfältige Ernte bringt. Ebendaselbst haben die Blätter von Weizen und Gerste eine Breite von reichlich vier Fingern, und was Hirse und Sesam für einen Baum geben, will ich, obschon ich's weiß, nicht aufzeichnen, da ich überzeugt bin, daß dem, der nicht ins babylonische Land gekommen ist, schon das, was über die Feldfrüchte gesagt ist, unglaublich vorkommt. Öl haben sie keines, machen es vielmehr aus den Sesamschoten. In ihrem ganzen Lande wachsen Palmen, zum größten Teil fruchttragende, von denen sie auch Brot, Wein und Honig gewinnen. Sie pflegen sie wie Feigenbäume, insbesondere die männlichen Palmbäume (wie die Hellenen sie nennen), deren Frucht sie den Datteln tragenden Palmen umbinden, damit die Gallwespe, welche in die Dattel kriecht, diese reif macht und die Palmfrucht sich nicht löst. Wirklich tragen nämlich die männlichen in ihrer Frucht Gallwespen, wie die wilden Feigen.

[Anmerkung:] 193. Demeterfrucht: Getreide. – Brot: Aus dem Mark der Palme.

 

194. Was mir aber dort im ganzen Lande als das Wunderbarste erscheint, will ich jetzt gleich angeben. Ihre Fahrzeuge, die den Fluß herab nach Babylon kommen, sind von runder Gestalt und ganz aus Leder. Bei den Armeniern nämlich, die oberhalb der Assyrier wohnen, schneiden sie zuerst Weiden ab und machen die Rippen des Schiffes daraus; darüber spannen sie außen herum eine Decke von Häuten, als den Boden, ohne daran ein Hinterteil hervorzuheben oder einen Schnabel zu spitzen, sondern in der runden Gestalt eines Schildes. Dann füllen sie dieses ganze Fahrzeug mit Stroh und lassen sich mit ihrer Ladung den Strom hinunter treiben. Meistens führen sie Krüge voll Palmwein darauf. Gelenkt wird es von zwei aufrecht stehenden Männern mit zwei Rudern, und wenn der eine das Ruder einwärts zieht, drängt es der andere auswärts. Solche Fahrzeuge werden sowohl von bedeutender Größe gemacht als auch kleinere, und die größten davon können selbst eine Last von fünftausend Talenten tragen. Auch ist auf jedem Fahrzeug ein lebendiger Esel, auf den größeren mehrere.

Sind sie nun auf ihrer Fahrt nach Babylon gekommen und haben ihre Waren ausgestellt, so bieten sie immer auch die Rippen des Schiffes und all ihr Stroh feil; die Häute aber packen sie den Eseln auf und ziehen so zurück zu den Armeniern. Gegen den Strom zu fahren, ist nämlich durchaus nicht möglich wegen seines reißenden Laufes. Ebendeshalb machen sie auch ihre Fahrzeuge nicht aus Holz, sondern aus Häuten. Haben sie nun ihre Esel wieder zurück zu den Armeniern getrieben, so machen sie andere Fahrzeuge auf dieselbe Weise. Solcher Art sind ihre Fahrzeuge.

195. Ihre Kleidung ist folgende: ein leinener Rock, der bis an die Füße reicht; darüber wird ein wollener Rock angezogen und ein weißes Mäntelchen umgeworfen; Schuhe haben sie nach Landesart, nahezu wie die böotischen Sandalen. Ihr langes Haar tragen sie in einem Bund, ihr ganzer Leib ist gesalbt. Jeder hat auch einen Siegelring und einen geschnitzten Stab; auf jedem Stab ist aber ein Apfel angebracht oder eine Rose, eine Lilie, ein Adler oder sonst etwas. Denn einen Stab ohne Wahrzeichen zu haben, ist nicht Brauch bei ihnen. Das ist ihre äußerliche Tracht.

196. Ferner bestehen bei ihnen folgende Bräuche. Einmal der, welcher nach meiner Meinung der weiseste ist und auch, wie ich höre, unter den Illyriern bei den Enetern üblich ist. In jedem Flecken nämlich geschah folgendes alle Jahre einmal. Sobald ihre Jungfrauen reif zur Ehe waren, ließen sie dieselben erst zusammenkommen und dann brachten sie alle an einer Stelle zuhauf; um sie her aber stellte sich ein Haufe Männer. Nun ließ der Ausrufer eine nach der andern aufstehen und bot sie zum Verkauf, und zwar zuerst die Schönste von allen; hernach, wenn erst diese ihren Käufer um teures Gold gefunden hatte, rief er eine andere aus, die nach ihr die Schönste war. Sie wurden aber als Ehefrauen verkauft. Alle vornehmen Babylonier nun, die da heiratslustig waren, überboten einander und kauften sich die ersten Schönen; die Leute aus dem niederen Volk aber, die heiratslustig waren, die begehrten nicht nach Wohlgestalt; dagegen nahmen sie für Geld auch häßlichere Jungfrauen. Denn wenn der Ausrufer der Reihe nach die schönsten Jungfrauen verkauft hatte, ließ er jedesmal die häßlichste oder auch eine verkrüppelte, die darunter war, aufstehen. Nun lautete der Ausruf, wer am wenigsten Geld verlange, um sie zur Hausfrau zu nehmen, und sie wurde dem Mindestfordernden zugeschlagen. Dieses Geld aber kam von den schönen Jungfrauen, und so wurden von den Anmutigen die Häßlichen und Verkrüppelten ausgestattet. Seine Tochter selbst für irgendeinen, den man wünschte, auszustatten, war keinem erlaubt. Es durfte aber auch keiner ohne einen Bürgen die erstandene Jungfrau heimnehmen; sondern nur, wenn einer Bürgen gestellt hatte, daß er wirklich in der Ehe mit ihr leben wolle, durfte er sie mitnehmen. Mochten sie aber nicht miteinander leben, so mußte nach bestehendem Brauch das Geld zurückgegeben werden. Es war aber erlaubt, aus einem andern Flecken zu kommen, um einzukaufen. Ihr schönster Brauch war also dieser. Indessen hat er nicht bis heute fortgedauert. Jedoch sie haben jetzt etwas anderes aufgebracht, damit man ihren Töchtern kein Leid tue, noch sie in eine andere Stadt führe. Seit sie nämlich durch ihre Unterwerfung ins Unglück gekommen und um ihre Habe gebracht sind, macht jeder aus dem Volk, dem es an Unterhalt mangelt, seine weiblichen Kinder zu Dirnen.

[Anmerkung:] 196. Eneter: Veneter östlich der Etsch. Nach ihnen heißt noch heute Venedig.

 

197. Folgendes aber ist der nächst diesem weiseste Brauch, den sie eingeführt haben. Wenn einer an einem Übel leidet, dann tragen sie ihn auf den Markt; denn bei ihnen gibt es keine Ärzte. Nun gehen sie zu dem Leidenden hin, um über die Krankheit Rat zu erteilen, wenn sie etwa selbst schon an solchen Übeln litten, wie er sie jetzt auszustehen hat, oder einen andern darin gesehen haben. Da geben sie denn ihren Rat und empfehlen die Mittel, durch die sie selbst von der gleichen Krankheit befreit worden sind oder einen andern gesund werden sahen. Aber stillschweigend darf keiner am Leidenden vorübergehen, ohne ihn zu fragen, was er für eine Krankheit hat.

198. Ihre Toten bestatten sie in Honig; ihre Klagelieder sind nahezu wie die ägyptischen. Sooft ein Babylonier mit seinem Weibe verkehrt hat, setzt er sich zu einem Weihrauchfeuer, und anderswo tut die Frau das gleiche. Und mit Tagesanbruch baden beide, rühren auch kein Gefäß an, ehe sie gebadet haben. Das tun auf die gleiche Weise auch die Araber.

199. Aber der häßlichste Brauch der Babylonier ist folgender. Jede Frau des Landes muß sich einmal in ihrem Leben ins Heiligtum der Aphrodite setzen und einem Fremden die Beiwohnung gestatten. Viele, die es aus Stolz auf ihren Reichtum für unter ihrer Würde halten, sich unter die andern zu mischen, fahren auch in bedeckten Wagen und halten am Heiligtum mit einem großen Gefolge von Dienerschaft. Zum größten Teil aber machen sie es so: In dem geheiligten Hain der Aphrodite setzen sich, das Haupt mit einem Strick umflochten, Weiber in Menge nieder, indem die einen kommen, die andern abgehen. Auf schnurgeraden Wegen, die in allen Richtungen zwischen den Weibern hindurchführen, gehen die Fremden herum und halten Auswahl. Sitzt eine Frau einmal da, so darf sie nicht eher nach Hause, als wenn ihr einer der Fremden ein Geldstück in den Schoß geworfen und ihr außerhalb des Heiligtums beigewohnt hat. Während des Hinwerfens braucht er nur die Worte zu sprechen: »Wohlan! Im Namen der Göttin Mylitta.« Mylitta heißt nämlich die Aphrodite bei den Assyriern. Das Geldstück sei nun groß oder klein, sie darf es nicht zurückweisen; denn sie hat dazu kein Recht, weil es jetzt heiliges Geld ist. Dem ersten, der es hinwirft, folgt sie und verachtet keinen. Erst, wenn sie sich hingegeben und der Göttin ihren Dienst geleistet hat, kommt sie nach Hause, und von jetzt an ist kein Geschenk so groß, daß du sie damit gewännest. Alle aber, die begabt sind mit Schönheit und Größe, kommen schnell davon; die Häßlichen dagegen müssen lange Zeit dort verweilen, ohne das Gesetz erfüllen zu können; ja manche warten eine Zeit von drei und vier Jahren. An einigen Orten auf Zypern besteht auch nahezu derselbe Brauch.

200. Das sind die Bräuche, welche bei den Babyloniern herrschen. Unter ihnen sind auch drei Stämme, die nichts essen als nur Fische. Wenn sie dieselben gefangen und an der Sonne gedörrt haben, machen sie es also: sie werfen sie in einen Mörser, zerreiben sie mit den Keulen und seihen sie durch Leinen. Wer nun will, rührt sich daraus eine Art Brei; ein anderer backt es als Brot.

201. Als nun Kyros auch dieses Volk bezwungen hatte, verlangte ihn darnach, sich die Massageten zu unterwerfen. Dieses Volk, sagt man, sei groß und tapfer und wohne gegen Morgen und Sonnenaufgang jenseits des Araxesstromes, gegenüber von den Issedonen. Einige sagen auch, es sei ein Szythenstamm.

[Anmerkung:] 201. Herodot ist auf seinen Reisen nicht bis zum Araxes, der in Armenien entspringt und ins Kaspische Meer mündet, gekommen. Daher wirft er ihn mit dem Jaxartes zusammen, der in den Aralsee fließt.

 

202. Von diesem Araxes sagt man bald, daß er größer, und bald, daß er kleiner sei als der Istros, und behauptet, es seien Inseln in ihm, nahezu so groß wie Lesbos, in ziemlicher Anzahl, und auf ihnen Menschen, die zu ihrer Nahrung im Sommer allerlei Wurzeln ausgraben, und von Früchten, die sie auf ihren Bäumen gefunden haben, einen Vorrat anlegen, wenn sie reif sind, um von ihnen im Winter zu leben. Sie hätten aber auch Bäume entdeckt, die seltsame Früchte tragen. Sie kämen nämlich scharenweise zusammen, um ein Feuer anzumachen, sich ringsherum zu setzen und diese Früchte ins Feuer zu werfen. Wenn sie nun beim Verbrennen der hineingeworfenen Frucht ihren Dunst einatmeten, würden sie trunken vom Geruch wie die Hellenen vom Wein, und je mehr sie von der Frucht darauf würfen, um so ärger trunken würden sie, bis sie zum Tanz aufständen und ins Singen hineinkämen. Von diesen also sagt man, daß sie eine solche Lebensweise führen. Der Araxesfluß aber strömt von den Matianern her, wie auch der Gyndes, den Kyros in jene dreihundertundsechzig Rinngräben zerteilte, und verläuft sich in vierzig Mündungen, die insgesamt, eine ausgenommen, in Sümpfe und Lachen ausgehen. Daselbst, sagt man, sind Menschen wohnhaft, die sich von rohen Fischen nähren, und bei denen Seehundsfelle die übliche Kleidung sind. Jene eine Mündung des Araxes aber fließt, ohne zu versumpfen, in das Kaspische Meer. Dieses Kaspische Meer ist ein Meer für sich und fließt nicht mit dem andern Meere zusammen. Das Meer nämlich, das überall die Hellenen befahren, sowohl das jenseits der Säulen, das Atlantische genannt, als auch das Rote Meer, ist wirklich nur eines.

[Anmerkung:] 202. Istros: Donau.

 

203. Das Kaspische nun ist wieder ein anderes für sich, und seine Länge gibt eine Fahrt von fünfzig Tagen für ein Ruderschiff, seine Breite, wo es am ausgedehntesten ist, von acht Tagen. Da wo sich dieses Meer gegen Abend zieht, läuft der Kaukasus an ihm hin, das größte Gebirg an Umfang und im Emporragen das höchste. Auch viele Menschenstämme von allerlei Art schließt der Kaukasus ein, die meistenteils von wilden Waldfrüchten leben. Unter ihnen, sagt man, gebe es auch Bäume, deren Blätter von einer Art seien, daß sie dieselben zerrieben und mit Wasser vermischten und sich damit Bilder auf ihre Kleidung malten, die sich nicht mehr herauswaschen ließen, sondern mit dem ganzen Zeuge alterten, so gut, als wären sie von Anfang an eingewoben. Endlich soll die Begattung bei diesen Menschen öffentlich sein wie bei den Viehherden.

204. Gegen Abend also wird dieses Meer, das sogenannte Kaspische, vom Kaukasus begrenzt, gegen Morgen aber und Sonnenaufgang stößt eine Ebene daran, von unübersehbarer Weite. Von dieser großen Ebene haben nicht den kleinsten Teil die Massageten inne, gegen die Kyros willens war ins Feld zu ziehen. Denn es war vieles, was ihn mächtig erhob und dazu antrieb. Erstlich seine Geburt, daß er mehr als ein Mensch zu sein schien, und dann das Glück in seinen Kriegen. Denn wohin auch Kyros einen Heereszug richtete, da war kein Rat, daß dieses Volk ihm entgehe.

205. Über die Massageten war aber eine Frau, nach dem Tod ihres Mannes, Königin, mit Namen Tomyris. Um diese warb Kyros durch Gesandte, als wollte er sie zu seiner Frau. Doch Tomyris, die verstand, daß er nicht um sie selbst, sondern um das Königtum der Massageten werbe, hieß ihn wegbleiben. Auf das hin zog Kyros, als er mit List nichts zuwege brachte, an den Araxes, und schickte sich zum offenen Feldzug gegen die Massageten an, schlug Schiffsbrücken über den Strom, zum Übergang des Heeres, und baute Türme auf den Fahrzeugen, die zu den Brücken gehörten.

206. In dieser Arbeit war er begriffen, als ihm Tomyris durch einen Herold sagen ließ: »König der Meder, laß ab zu treiben, was du treibst; weißt du doch nicht, ob es dir zum Heil ausschlägt. Laß also ab und sei König über das Deine und ertrag es zu sehen, daß wir herrschen, worüber wir nun einmal herrschen. Doch willst du diese Vorschläge nicht annehmen, sondern lieber alles andere tun als ruhig bleiben, nun – wenn du so großes Verlangen hast, an Massageten dich zu versuchen, wohlan, mühe dich nicht weiter ab, den Strom zu überbrücken, sondern komme du, während wir einen Weg von drei Tagen vom Strome zurückweichen, herüber in unser Land! Wenn du uns aber lieber in deinem Lande erwarten willst, so tue du das gleiche.« Als Kyros dies angehört hatte, rief er die Ersten der Perser zusammen und legte ihnen, als er sie versammelt hatte, die Sache zur Beratung vor, was er tun solle. Die Meinung aller traf darin zusammen, daß sie ihm rieten, Tomyris mit ihrem Heere auf seinem Boden zu erwarten.

207. Aber Kroisos, der Lyder, der auch dabei war und mit dieser Meinung unzufrieden war, trug die der vorliegenden entgegengesetzte Meinung vor, mit solchen Worten: »König, ich habe schon früherhin dir zugesagt, weil mich einmal Zeus in deine Hand gab, jedes Unglück, das ich deinem Hause drohen sähe, nach Vermögen abzuwenden. Mein schweres Schicksal ist mir zu einer Lehre geworden. Wenn du nun unsterblich zu sein und auch über ein solches Heer zu herrschen glaubtest, dann wäre es nicht angebracht, dir meine Ansichten darzulegen. Wenn du aber erkannt hast, daß du selbst ein Mensch bist und über andere deinesgleichen herrschst, so merke das vor allem, daß die menschlichen Dinge ihren Kreislauf haben, der in seinem Umschwung nicht immer dieselben glücklich sein läßt. Nun also habe ich über die vorliegende Sache die entgegengesetzte Meinung wie diese. Denn, wenn wir die Feinde auf unserem Boden erwarten wollen, so läßt du dich damit in die Gefahr ein, daß im Fall deines Unterliegens deine ganze Herrschaft mit verloren ist; offenbar werden ja, wenn sie siegen, die Massageten nicht rückwärts fliehen, sondern auf deine Reiche losgehen. Im Fall aber, daß du siegst, so ist dein Sieg nicht so groß, als wenn du drüben auf ihrem Boden die Massageten besiegst und auf ihrer Flucht verfolgen kannst; denn hier setze ich dasselbe wie auf der andern Seite, daß du nämlich nach dem Siege über die Gegner geradewegs auf die Herrschaft der Tomyris losgehst. Und außer dem Angeführten ist es ein unerträglicher Schimpf, daß ein Kyros, des Kambyses Sohn, einem Weibe weicht und sich von seinem Platze zurückzieht. Darum halte ich dafür, daß wir hinübergehen und so weit vordringen, wie jene uns das Feld räumen, alsdann aber auf folgende Art versuchen, jene zu übermannen. Wie ich höre, sind die Massageten mit all dem Guten, was die Perser haben, unbekannt und nicht an große Genüsse gewöhnt. Für diese Männer also laß uns eine reichliche Menge Schafe abschlachten, zurichten und in unserem Lager hinsetzen zum Mahle, dazu auch viele Krüge mit lauterem Wein und Speisen aller Art. Haben wir das hergerichtet, so lassen wir den schlechtesten Teil des Heeres dort, und die übrigen ziehen sich wieder zurück an den Strom. Wofern ich nämlich nicht ganz irre, so werden jene beim Anblick des vielen Guten sich ihm zuwenden, und uns bleibt alsdann die Möglichkeit zur Ausführung großer Taten.«

208. Diese Meinungen standen einander gegenüber. Kyros verwarf den ersten Rat, wählte den des Kroisos und sagte der Tomyris an, sie solle Platz machen, indem er zu ihr hinüberkommen werde. Sie machte wirklich Platz, wie sie gleich anfangs versprochen hatte. Kyros gab jetzt den Kroisos in die Hände seines Sohnes Kambyses, dem er auch das Königtum übergab und trug diesem ernstlich auf, ihm Ehren und Wohltaten zu erweisen, falls der Übergang gegen die Massageten nicht geriete; als er sie mit solchen Aufträgen nach Persien abgeschickt hatte, ging er selbst mit seinem Heere über den Strom.

209. Als er nun über den Araxes gesetzt hatte und es Nacht geworden war, hatte er ein Traumgesicht, während er im Lande der Massageten schlief. Es kam nämlich dem Kyros im Schlummer vor, er sehe von des Hystaspes Söhnen den ältesten mit Flügeln an den Schultern, so daß er mit dem einen Asien und dem andern Europa überschatte. Hystaspes aber war Arsames' Sohn, ein Achämenide, und sein ältester Sohn Dareios, der damals ungefähr ins zwanzigste Jahr seines Alters ging. Dieser war in Persien zurückgelassen worden, weil er noch nicht das Alter zum Kriegsdienst hatte. Als Kyros erwacht war, gab er sich selbst Rechenschaft über sein Traumgesicht. Da es ihm wichtig vorkam, berief er den Hystaspes, nahm ihn allein beiseite und sprach: »Hystaspes, dein Sohn ist über Anschlägen wider mich und meine Herrschaft betreten worden. Und daß ich dieses bestimmt weiß, will ich dir jetzt verkünden: die Götter sorgen für mich und zeigen mir alles vorher an, was mir droht. Nun habe ich in der vergangenen Nacht im Schlafe deinen ältesten Sohn gesehen mit Flügeln an den Schultern, so daß er mit dem einen Asien und mit dem andern Europa überschattete. Das ist also fest und gewiß nach diesem Traumgesicht, daß er Anschläge wider mich macht. So reise du nun eiligst zurück nach Persien und sorge dafür, daß du mir, wenn ich nach Unterwerfung dieses Landes dorthin komme, deinen Sohn zur Untersuchung stellest.«

210. Das sagte Kyros, weil er glaubte, Dareios mache Anschläge wider ihn; allein die Gottheit wollte ihm offenbaren, daß er selbst, wo er war, endigen müsse, und daß sein Königtum auf Dareios übergehen werde. Hystaspes aber antwortete ihm dieses: »König, das sei ferne, daß ein Perser Anschläge gegen dich mache! Wer es aber könnte, müsse alsbald verderben! Du hast ja aus Knechten die Perser zu Freien, aus Beherrschten zu Herrschern über alle Welt gemacht. Und wenn dir nun ein Traumgesicht ankündigt, daß mein Sohn Neuerungen gegen dich stifte, so überlass' ich dir das gänzlich, was du ihm antun willst.« Nach dieser Antwort ging Hystaspes über den Araxes und begab sich nach Persien, um für Kyros seinen Sohn Dareios zu überwachen.

211. Kyros aber drang eine Tagereise weit vom Araxes vor, und befolgte die Angabe des Kroisos. Nachdem er sich mit dem guten Kriegsvolk wieder an den Araxes zurückgezogen und das schlechte zurückgelassen hatte, kam ein Drittel vom Heere der Massageten heran, erschlug die zurückgelassenen Kriegsleute des Kyros, die Widerstand leisteten, und sah dann das Mahl vor sich. Da sie nun ihre Gegner überwältigt hatten, lagerten sie sich und schmausten, wurden endlich voll Speise und voll Weines und schliefen ein. Die Perser kamen nun heran und erschlugen viele von ihnen, nahmen aber noch viel mehr lebendig gefangen. Unter diesen war auch der Sohn der Königin Tomyris, der die Massageten anführte, mit Namen Spargapises.

212. Als die Königin erfuhr, wie es dem Heer und ihrem Sohn ergangen war, sandte sie einen Herold an Kyros und ließ ihm sagen: »Unersättlich blutgieriger Kyros, überhebe dich nicht, weil das geschehen ist! Denn durch die Rebenfrucht, deren Genuß euch selbst so betört, daß der Wein, sobald er hinabkommt in den Leib, euch schlimme Reden entströmen läßt, durch solch ein Gift hast du mit List meines Sohnes dich bemeistert, nicht aber im Kampf mit Kraft. Nimm jetzt meinen wohlgemeinten Vorschlag an! Gib mir den Sohn wieder und gehe dann ungestraft aus diesem Lande, obschon du an einem Drittel des Massagetenheeres Übermut geübt hast. Wenn du das aber nicht tun wirst, schwöre ich dir bei dem Sonnengott, dem Gebieter der Massageten: ich will dich wahrlich, so unersättlich du bist, mit Blut sättigen.«

213. Kyros fragte indessen nichts nach diesen Reden, die ihm überbracht wurden. Als aber den Spargapises, den Sohn der Königin Tomyris, der Wein verließ, und er inneward, in welches Unglück er geraten war, richtete er an Kyros die Bitte um Befreiung von seinen Fesseln; sobald sie gewährt, er befreit und seiner Hände mächtig war, brachte er sich selbst um. Der also endigte auf diese Weise.

214. Aber Tomyris sammelte, da ihr Kyros kein Gehör gab, ihre ganze Macht und stieß mit Kyros zusammen. Diese Schlacht war unter allen Schlachten, die es jemals unter den Barbaren gab, nach meinem Urteil die gewaltigste, und zwar höre ich, daß dieses der Hergang war. Zuerst sollen sie aus der Entfernung aufeinander geschossen haben, hernach, als ihre Pfeile verschossen waren, zum Handgemenge mit Spießen und Dolchen übergegangen sein und so eine lange Zeit gefochten und einander standgehalten haben, ohne daß ein Teil fliehen mochte, bis endlich die Massageten die Oberhand gewannen. Da kam der größte Teil des persischen Kriegsvolkes an Ort und Stelle um; ja auch Kyros selbst fand sein Ende, nachdem er im ganzen neunundzwanzig Jahre König gewesen war. Jetzt füllte Tomyris einen Schlauch mit Menschenblut und suchte unter den Toten der Perser die Leiche des Kyros. Als sie diese gefunden hatte, tauchte sie seinen Kopf in den Schlauch, ließ ihren Hohn am Leichnam aus und sprach dies dabei: »Du hast mich, obwohl ich lebe und über dich in der Schlacht gesiegt habe, zugrunde gerichtet durch die listige Gefangennahme meines Sohnes, und ich will dich nun, wie ich gedroht habe, mit Blute sättigen.« So habe ich über das Lebensende des Kyros unter den mancherlei Geschichten, die man hört, die angegeben, die mir am glaubwürdigsten erscheint.

[Anmerkung:] 214. Neunundzwanzig Jahre König: Kyros regierte von 559 bis 529, Kambyses von 529 bis 522, Dareios von 521 bis 485, Xerxes von 485 bis 465 v. Chr.

 

215. Die Massageten haben eine der szythischen ähnliche Kleidung und Lebensweise. Sie sind Reiter und Fußvolk; denn beides ist ihre Sache, sind Bogenschützen und Speerkämpfer und haben auch Streitäxte im Gebrauch. Bei ihnen ist durchaus Gold und Erz gebräuchlich. Nämlich zu den Speeren, den Pfeilspitzen und Streitäxten verwenden sie durchweg Erz, und am Kopf, an Gürteln und Achselbändern ist Gold ihr Schmuck. Ebenso legen sie ihren Pferden um die Brust eherne Panzer an; an den Zügeln aber, am Gebiß und Vorderschmuck haben sie Gold. Aber Eisen und Silber ist gar nicht bei ihnen im Gebrauch, ja sie haben es nicht einmal in ihrem Lande, dagegen Erz und Gold im Überfluß.

216. Ferner sind ihre Bräuche folgende. Jeglicher heiratet ein Weib, doch bedienen sie sich derselben gemeinschaftlich. Was nämlich die Hellenen von den Szythen behaupten, das tun nicht die Szythen, sondern die Massageten. Hat nämlich ein Massagete Lust zu einem Weibe, so hängt er seinen Köcher vorn an ihrem Wagen auf und wohnt ihr ohne Scheu bei. Die Lebensgrenze setzen sie im allgemeinen nicht fest; wenn aber einer gar alt geworden ist, kommen alle seine Angehörigen zusammen, um ihn zu schlachten und sonst noch Vieh dazu; dann kochen sie das Fleisch und essen sich satt. Das gilt ihnen für das größte Glück. Stirbt einer an einer Krankheit, so essen sie ihn nicht auf, sondern bergen ihn in der Erde, mit großem Leid, daß er es nicht bis zur Schlachtung gebracht hat. Sie säen gar nicht, sondern leben von Herden und Fischen. Diese bekommen sie in reichlichem Maße aus dem Araxesfluß. Ihr Getränk ist Milch. Von den Göttern verehren sie einzig die Sonne, der sie Pferde opfern. Das Opfer hat den Sinn, daß sie dem schnellsten Gott das schnellste von allen Geschöpfen darbringen.


 << zurück weiter >>