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Auf dem Bahnhof war jene Mauer von Grau – von Soldaten – die jeder Großstadtbahnhof zu jeder Stunde seit Jahren zeigte. Der Bahnhof hob nicht wie in Berlin gleich einer Riesenschildkröte seinen Rücken, sondern die überwölbten Bahnsteige glichen hier in München eher einer Reihe von vorweltlich langen Krokodilen, von gewaltigen Panzerechsen, die neben einander lagen und, den Kopf gesenkt, mit rotglühenden Lokomotivenaugen glotzten. Und der Riesenraum war nicht wie in Berlin eigentlich still, mürrisch und verhalten, nur erfüllt vom Scharren der genagelten Soldatenstiefel und vom Fauchen einer Lokomotive, die noch jung und ungebärdig war und selbst im Stall und stillstehend nicht Ruhe geben wollte, sondern hier in München war Lärm Der Einzelne ließ sich mehr gehen, rief, lachte, sang wohl auch und schimpfte in allen Kraftworten seiner Heimat, trug seine noch so abgerissene Montur mit einer gewissen angenehmen Saloppheit, schob die Mütze schief und kühn. Man fand sich leichter zu Gruppen zusammen. Der Offizier, der im Norden unbestritten war (›die Allmacht Gottes ist oft angezweifelt worden, die des preußischen Leutnants nie,‹ sagte Doktor Herzfeld) trat hier mehr zurück, hob sich nicht all zu sehr ab. Das Ganze schien roher, lärmender aber – trotz der größeren Geschmeidigkeit auch gärender wie im Norden. Doktor Herzfeld hatte mehr den Eindruck von Wildheit und Soldateska, von einer Granate, die auch mal nach der falschen Seite krepieren könnte und die ganze Kanone samt der Besatzung in Fetzen reißen.

Doktor Herzfeld schob sich mit seinem Köfferchen hindurch, gestoßen und selbst überall Anstoß erregend; aber hier wäre Entschuldigung Beleidigung gewesen. Dieses Mal hatte er keinen Träger erwischt. Nun, der Weg war ja nicht weit bis ins Hotel. O, wie er sich darauf freute. Es war so eine nette Bude mit Möbeln von ehevordem, ganz altmodisch, mit hohen, guten, geschnitzten Holzbetten und mit uralter Bedienung, – nahe dem Verkehr und doch still.

Eigentlich liebte Doktor Herzfeld weder München noch Bayern. Die Franken lagen ihm, soweit er sie kennen gelernt hatte; vielleicht etwas eng und kleinlich, aber mit die umgänglichsten Menschen Deutschlands: lebhaft und mitteilsam, süddeutsch-rege und norddeutsch-tüchtig und verläßlich. Alles, was jedoch südlich von Nürnberg war, war ihm fremd und uneinfühlbar (mit Ausnahme der knurrigen, gradholzigen Augsburger, die vom Münchener so verschieden sind, als ob sie auf einem anderen Stern leben.)

Doktor Herzfeld konnte gar nicht zählen, wie oft er durch München gekommen war und statt Tage Wochen, statt Wochen Monate dort geblieben war. In dieser Museumstadt mit den schönen, kaltleuchtenden Herbsttagen, die all den für Deutschland unvergleichlichen Kunstbesitz in so reines, kühles und abstraktes Licht dann hüllen, und die um die Baugedanken eines Klenze, um die grünumwulsteten Barockkuppeln der Kirchen helle Kanten von sprühendem Silber ziehen, als wären es Veduten Piranesis. Ja – zu Zeiten konnte ihm hier Architektur schon ein fast italienisches Erlebnis werden, vor allem gegen Sonnenuntergang im Spätsommer unter den farbigen Wolkengebilden dieser Hochebene, die sich zu ganzen Himmelsburgen türmten und lange Stunden reglos am Horizont blieben, … nur ganz leise und langsam das Prisma ihrer Formen und das Spiel ihrer Töne verändernd.

Und doch hatte Doktor Herzfeld sich hier nie wohlgefühlt, war den Menschen hier nie nahe gekommen. »Und es gewöhnt sich nicht der Geist hierher«, das sagte er sich jedes Mal, wenn er München wieder verließ. Er hatte für das Volk, dem eine versippte, eigentlich kleinstädtische Presse Loblieder sang, und das von einem verlogenen Erzählertum glorifiziert wurde, nie den Schlüssel gefunden: weil er es grob fand und Offenheit dabei vermißte; roh unter dem Deckmantel der Sentimentalität; dumm-pfiffig und berechnend unter dem Schein der Treuherzigkeit; weil es ohne Initiative war, aber dabei großsprecherisch und lärmend, und endlich weil es ein unleidlicher Schimpfbold war, der alles andere herabsetzte, und selbst gegen jedes Wort überempfindlich sich zeigte. Hatte Wien feinen Raunzer, so hatte München seinen Grantigen.

Eine kleine Erinnerung aus seiner Militärzeit hätte (meinte Doktor Herzfeld) man in Antiqualettern über das Karlstor schreiben sollen, als Eingangsworte für München. Es war auf dem Kasernenhof, und ein Unteroffizier der 6. Kompagnie kam herüberspaziert zu einem Unteroffizier der 9. Kompagnie, und er wurde begrüßt mit nicht zu überbietender Herzlichkeit. »Ja grüß' di Gott, Schorschel, des is aber a Freid, daß d'a mal hier bist, alter Spezi!« Und nachdem sie sich reichlich die Hände geschüttelt, und der von der sechsten, trotzdem man ihn zehnmal beinahe mit Gewalt zurückzuhalten versuchte, endlich wieder fortgegangen war, sagte der von der neunten: »Nun möcht' i nur mal wissen, was der Haderlump, der miserablige, hier wieder umanandspionieren wollte!« Das sollte man ins Karlstor einmeißeln als Wahrspruch für München und als Mahnwort für die Fremden.

Und auch für die Gebildeten, die nur allzuleicht eigenbrödlerisch und marottig wurden, mit jedem neuen Bluff mitliefen oder allzuschnell am Biertisch versumpften, hatte Doktor Herzfeld nie viel übrig gehabt, ebenso wie Doktor Herzfeld das dekorative, geschmäcklerische Wesen von Münchens Kunst, die Beweglichkeit, die zur Oberflächlichkeit und Gefälligkeit verleitete, nicht mehr erlebt, sondern nur noch geschickt gekonnt war, im tiefsten Grunde nicht lag. Man konnte da leicht zuviel und ließ sich daran genügen.

Gewiß, ihnen fiel etwas ein hier, hier war Boden, aus dem etwas wuchs, von Alters her. Es ging ihnen leicht von der Hand. Es war sehr viel natürliche Begabung in der Rasse; mehr als irgendwo in Deutschland sonst. Aber … es kam dabei immer wieder zur Kunst gelöster Probleme, und alles Mühselig-errungene wurde stets von neuem trivialisiert. Nirgends war so das Schicksal hoher Talente Wiederholung und zum Schluß Selbstparodie wie in München, ganz gleich, ob es Malerei oder Literatur war. Und doch baute sich hier und nur hier immer wieder irgend ein Bauernjunge einen Traum von Größe zusammen, spielte den Malerfürsten der Renaissance, dem Könige die Pinsel aufhoben; oder einer bekränzte sich selbst als Neuhellene mit dem goldenen Lorbeer des olympischen Siegers.

Und stets wieder das Gleiche, stets sah die Welt diese großen, schillernden Seifenblasen zerplatzen – wie sie Hunderte von kleinen alle paar Jahr in München zerspringen sah, die zuerst ganz nett und bunt erschienen waren. Und dann schämte sich die Welt ihres ersten Enthusiasmus und wurde ungerecht. Sie selbst aber, die zersprungenen Seifenblasen, blieben noch lange die Dii minorum gentium und man erwies ihnen im Umkreis von drei Straßen göttliche Ehren. Es lag etwas in der Münchener Luft, daß hohe Begabung nicht zur vollen Entfaltung kam und, daß stets von neuem angenehme Geschicklichkeit unsterblich erklärt wurde … Das kehrte zwangsläufig wieder mit einer seltsamen Gesetzmäßigkeit auf allen Gebieten. Und das ist das Wunderbarste dabei, sagte sich Doktor Herzfeld, gleichsam am Schluß dieser Kette halbgedachter Gedanke, diese Eigenschaften sind nicht an den Stamm, an den Einzelnen, sondern an die Stadt gebunden, sie teilen sich jedem mit, der lange hier weilt, ganz gleich, aus welcher Ecke Deutschlands er einmal gekommen ist, er wird vermünchnert bis in die Knochen, in seiner Kunst so gut wie in seinem Charakter.

Und so bleibt dieses München trotz seines ständigen Zuflusses aus ganz Deutschland, ja vordem von überall her, in sich völlig stationär, ändert sich nie. Ob man Piloti-mäßig Historie malt oder naturalistisch Altmännerhäuser, schollenhaft, symbolistisch, impressionistisch, expressionistisch oder kubistisch malt, Hildebrandisch oder Archipenkohaft den Stein bemeißelt, das sind reine Äußerlichkeiten; gerade so, wie, ob die Literatur Heysisch oder Wedekindisch sich gibt, ob das Blatt »Die Fliegenden« oder »Die Jugend« heißt. Alles nur Wandlungen der Schale. – München im Kern seines Wesens bleibt ganz unberührt darunter.

Und trotzdem, selbst mit deinen Bierkellern und deinen Spießern, welch eine wundervolle Stadt bist du zum Flanieren, unerschöpflich an Kunst und Anregungen, leichter in der Luft fast als eine jede andere in Deutschland; eine Stadt der Jugend, wo Jugend herrscht, sich austobt, Freiheit genießt, den Ton angibt. Eine Stadt, durch die jeder einmal hindurchgegangen ist, der irgend etwas geworden in Deutschland, in der stets neue Dinge ausgenommen werden, sich vorbereiten. Du vielgeschmähtes Schwabing, du vielgehaßtes und belachtes vom Philister, ewiges Ziel für die Dummheit der Witzblätter, wieviele von deinen Scharen hast du schon in die Welt hinausgeschickt, die später nicht mehr aus der Welt fortzudenken waren. Und doch, ich wüßte nicht, wie mein Leben geworden wäre, wenn ich jemals dort mich festgemacht hätte. – Ach Gott, wie zerspellt magst du jetzt durch den Krieg sein, du Kunstmünchen!

Schön, dieser hohe und stille Himmel mit der kleinen Mondscheibe und die weißen Dächer, die toten Straßen, in die man hineinsieht und die trotz ihrer spielerigen, neuen Giebel – und Türmchenrenaissance ganz spitzwegisch-geheimnisvoll sind, … Das ist München!

Und diese ganz leichte Frostluft, die schon Berge ahnen läßt, – das ist München!

Eigentlich ist kaum Schnee auf den Straßen, leicht gefroren der Boden, glitzernd von tausend Kristallen. Ein paar Autos stehen mitten auf dem Damm, auf dem großen nächtlich-leeren Bahnhofsplatz, langweilen sich, senken die Nasen und rattern mit den Motoren, warten auf splendide Gäste. Aber der Münchener ist selten splendide. Ein paar robuste Leute gehen mit bloßen Knieen über grünen Wadeln an Doktor Herzfeld vorüber, in Joppen, mit Rucksäcken und mit grünen Hüteln, die sie sich anscheinend mit Gummi arabicum auf das linke Ohr geklebt haben. – Das ist München!

Eine rauchige Wolke wird von irgendwo herübergeweht, die nach Malz riecht. Wer weiß, von welcher Brauerei her … Das ist München!

Ein paar ehrwürdige Reichsjungfrauen (wie ehedem Papa Siegel schrieb) umlaufen ihr Straßenkarree, gehen mit sirenenhaften Blicken ihrem freudlosen Gewerbe nach, die gleichen wie vor fünfundzwanzig Jahren … Das ist München! sagt sich Doktor Herzfeld.

Der Herr Dukta, etwas weniger schwammig als früher, wankt, (einsam, aus später Kneipe kommend), leise vor sich hinsingend daher, mit verknautschtem offenem Havelock und Stock mit dem Hirschhorngriff in der Patsche; mit Eberzähnen an der Uhrkette, die über dem Bäuchlein klappern, mit Liegekragen und feistem Hals, mit Hirschgrandeln in der Krawatte und mit dem Rasierpinsel, der zum Trocknen hinten auf den Filz gesteckt ist … Das ist München?

Ein Liebespaar kommt heran, wortlos und langsam; er ein Soldat, Artillerist, mit Händen, die eine Kanone umdrehen können; und sie gewiß aus seiner Heimat, Dienstmädchen hier, weißschürzig, barhäuptig, schön, schwer und still, ein großes Menschenwesen, eine Freude für einen Bildhauer, ein Stück lebendig gewordener Erdscholle, im Gehen ganz an ihn gelehnt, gleichsam seitlich auf ihm ruhend, eng umschlungen, nichts sehend, auf nichts achtend, nur noch dumpf-zitternd und schwingend innerlich, wie ein ganzes Orgelregister, gleichsam betrunken vor Liebe und Sinnlichkeit … Das ist München in seinen Anlagen und in den Sommernächten im Englischen Garten! denkt Doktor Herzfeld. Das ist München!

Seine alte gemütliche Bude von Hotel ist renoviert und vornehm geworden, hat Lift bekommen, den Besitzer gewechselt. Er kennt dort niemand mehr, nicht mal den Nachtportier. Zimmer 32. Man führt ihn hinauf, dritter Stock, vorn heraus. Eine Miniaturausgabe von Pikkolo (Kriegsernährung auch hier!) spielt dabei den dienernden Ober. Nein, das ist nicht sein altes München.

Irgendwo schellt es. Zenzi, das Zimmermädchen, die in einem kleinen, käfigähnlichen Verschlag thront, sieht nach der Nummer, die sie verlangte: ›23!‹ … und machte ihren Mund auf und sagt ausdrücklich, laut und schallend: »Solch an Mistviech so an saudummes, solch an saudummes Mistviech!«

Nein, das war doch sein altes München! Da brauchte man keine Furcht zu haben; München würde sich noch lange Jahrzehnte in schöner Unberührtheit seiner Sitten und Gebräuche erhalten.

Ja – ob er noch etwas zu essen kriegen könnte … aufs Zimmer?! Eigentlich nicht, … aber man würde sehen, ihm die Speisekarte bringen. Alles gestrichen bis auf »Herzel mit Kraut« und »Kitzbäuscherl am Roast« … Das war München!

Immerhin, es gab Kostbarkeiten, – wenn auch nicht mehr vorhandene! – auf dieser Karte, von denen man sich in Berlin nichts mehr träumen ließ, und die Doktor Herzfeld Perspektiven eröffneten.

Aber Aufschnitt gäbe es.

»Schön, – dann Aufschnitt.«

Er kam und zeigte überraschende Details wie Schinken und Räucherzunge, von denen Doktor Herzfeld angenommen hatte, daß sie in Deutschland längst prähistorisch geworden waren.

O wie war er müde! Diese Gefängniszelle von Hotelzimmer! Aber … es war ja modernisiert. Es hatte zwar noch die alten Kirschholzmöbel, doch es hatte ein neues Messingbett bekommen. Und eine Tapete mit großen üppigen Veilchensträußchen bedeckt hatte es auch gekriegt; immer in jedem Oblong saß ein Strauß mit 18 Blüten. Das galt als Biedermeiergeschmack.

Man konnte sie von links nach rechts sehen, diese Oblongs, von rechts nach links, von oben nach unten und kreuz und quer. Sie verführten gleichsam, daß man sie zählte (Doktor Herzfeld ließ die Augen wandern) oder berechnete, 45 Stück von links nach rechts, … 21 von oben nach unten, … rechte Wand, … linke Wand, … 90 mal 21 … das macht 1890. Drüben Fensterwand, hier Türwand. Ja … da gingen die Löcher der Fenster und der Einschnitt der Tür freilich nun ab, das konnte man nur schätzen: 26 mal 21 und 33 mal 21 … das macht 59 mal 21, das macht 1239. 1890 und 1239 das sind 3129 Veilchensträuße à 18 Veilchen; das macht, sagen wir so rund 55 000 Veilchen an der Tapete. Ein ganz hübscher Zimmerschmuck im Biedermeiergeschmack für den Anfang!

Ja, ja, es war eben modernisiert worden, sagte Doktor Herzfeld. – Über dem Bett hing auch ein neues Bild: Christus und die Ehebrecherin, Außerordentlich passend, geradezu prophylaktisch für solch Hotelzimmer, sagte Doktor Herzfeld. Und rechts drüben war ein Druck im schwarzen Rahmen, der eine sich mit einer Rosenguirlande verrenkende Dame in grauer Balltoilette zeigte und einen weißen Pfau auf einer Gartenmauer neben ihr. Das war gewiß was ganz Schlimmes, sagte sich Doktor Herzfeld: so etwas mit weißen Pfauen und Rosenguirlanden und Damen in grauseidenen Toiletten, die Hüften bogen und bloße Schultern zeigten, galt in München vor fünfzehn Jahren als der Gipfel der Erotik.

Über dem Schreibtisch jedoch war ein alter lieber Stahlstich von ehedem, um 1850. Es war eine Matinee bei Rubens. Es war sehr schön! Genau wie man sich das vorstellt. War gewiß mal ein Jahrespreis für die Abonnenten eines Kunstvereins gewesen, hatte mindestens zehn Taler und fünfzehn Silbergroschen gekostet, und jetzt prangte er noch in gepreßtem Goldrahmen. Irgend jemand war mal sehr stolz darauf gewesen und war sich sehr gebildet und kunstsinnig vorgekommen, weil er solche Schätze besaß.

Doktor Herzfeld betrachtete den Stahlstich, ehrfürchtig und eingehend: aus dem Hintergründe tänzelt ein Knabe mit einer erhobenen Silberschale heran; er trägt Pumphosen an den Beinen, die ganz aus Waden bestehen. Sein Weg muß ihn vorüberführen an drei haarreichen Herren mit Ehrenkrausen, die – mit der Würde von Statisten an einer kleinen Hofbühne – diskutierend sich um ein unmögliches Tischchen lagern, und fürder an einem bewamsten Lautenspieler, der melancholisch an einen Säulenstumpf gelehnt ist und zu einer Gruppe atlasgekleideter Frauen herüberschmachtet, die, nur um die Festons ihrer Busen zu weisen, (Mutterglück vorschützend,) ein paar schwerverzeichnete Kinder emporheben. Rubens aber, der Meister selbst, steht in der Mitte des Raumes vor einer Staffelei mit jenem Hut auf dem Kopf, den eben nach ihm Rubenshut benannt ward, und zieht, das Antlitz dem Beschauer zugewandt, ohne hinzusehen, einen Pinselstrich quer über ein fertiges Gemälde, während er mit seinen sehr würdigen Schülern ein belehrendes Kunstgespräch führt. Der Vordergrund ist gleichmäßig belebt von Hunden, Büchern, Äpfeln, Marmorfliesen und einem Warenhausteppich, der anscheinend aus der gleichen Quelle stammt, wie das gesamte Mobiliar des Rubens'schen Hauses.

Und sicherlich, sagte sich Doktor Herzfeld, während er das Licht ausschaltete, daß die 55 000 Veilchen scheu in die Wände zurückflüchteten, o sicherlich hat einmal der Almanach der Kunstfreunde darüber bogenlange Kritiken gebracht, und mit einem ganzen Schnappsack von Wissen hat jemand nachgewiesen, daß dieses herrliche Bild leider der geschichtlichen Treue entbehre, da die quergeschlitzten Ärmel erst zehn Jahre nach Rubens Tode aufgekommen sind … Sieh nur diesen grünen Lichtbalken von Mondschein, der durchs Zimmer gleißt, genau wie auf der Bühne, wenn das Szenarium verlangt: der Graf löscht das Licht, der Mond fällt in das Zimmer.

Aber der Mond ist hier schon heller, denkt Doktor Herzfeld, lichtkräftiger als in Berlin, weniger bleichsüchtig; es ist eben bald hundert Meilen südlicher; das macht etwas aus. Und wieder über hundert Meilen in jener Dezembernacht damals, zwischen Rom und Neapel, da lagen die Aquädukte ganz scharf, schwarz und silbergrün, in einer spukhaften Tageshelle mit ihren hochgestelzten Bogen, durch die, – so sah es vom Zug aus, – die grünen Strahlen hindurchschossen wie die flirrenden Pfeile der Diana, … während unten um das Mauerwerk und auf der weiten Campagna ein wallender Nebel schwebte, aus dem es nur hie und da phosphorleuchtend und geheimnisvoll aufblitzte, als wäre es von den Schilden, Helmen und Lanzen gespenstischer Legionen, die dort marschierten … Wann wird man wieder mal nach Italien kommen?!

Eigenartig, Doktor Herzfeld versucht die Augen zu schließen, eigenartig, seit sieben Jahren ist gewiß diese Stelle des Pflasters und die Straßenbahnschiene direkt unter dem Fenster reparaturbedürftig, und auf die einzige Nacht in diesen sieben Jahren, da ich hier bin und gerade im Mittelzimmer nach vorn heraus schlafe oder zu schlafen gewillt bin, müssen sie warten (trotz Krieg) damit zu beginnen, hier beim heraufzuckenden Schein von Quarzlampen Kopfsteine auszubrechen, zu behauen und dann einander unter neckischer Rede und Widerrede zuzuwerfen; – und nebenher Schienen abzuschleifen, … was wohl als das herzigste Geräusch in der Musik der Großstadt gelten kann. Nun, da wird von Ruhe nicht gesprochen werden dürfen. Aber warum sollte man auch Ruhe haben? Endlich liegt man hier ja immer noch gut und warm in einem anständigen Bette, während zehn Millionen draußen im Dreck liegen und keine Garantie haben, ob sie morgen früh noch die Sonne aufgehen sehen, denn Nachtangriff soll hüben wie drüben ein sehr beliebtes Gesellschaftsspiel sein – und der Morgensegen tut auch, was er kann. Was ist doch der Mensch für ein armer und getretener Hund. Titatata tum tati, ach du lieber Augustin!

Ob man Licht machen und lesen soll?! ›So ist man »scheinfrei« denn nach manchen Jahren,‹ nein, lieber nicht. Den gleichen Schlafanzug habe ich damals in Dornburg um Rehchens Schultern gehängt, den ich heute anhabe, er ist mit ihr in Berührung gekommen. Doktor Herzfeld schien es plötzlich, als ob noch etwas von der Wärme ihres geliebten Körpers über Jahre unverlierbar in ihm haften geblieben war. Sie hatte ihn immer sehr gern gehabt, gerade den, einmal, – da oben noch in dem Haus von Hermann Gutzeit, – da hatte sie ihn heimlich angezogen, und als ich heraufkam, – ich war noch gegangen, etwas zum Abend zu holen, ein paar Annehmlichkeiten, die heute längst verschollen sind, Fenocci und Grapefruit, Hummer und eine Flasche Volney – da saß Rehchen plötzlich, – ein schlanker, lächelnder, junger Herr – in meinem Lehnstuhl im blauen Pyjama und blies den Rauch einer Zigarette von sich. O was war sie hübsch damals! So hübsch ist sie später nie mehr gewesen. Ich kam gar nicht mit den Augen von ihr los. Eigentlich war sie ja damals noch nicht viel mehr als eine kleine, kluge Bekannte aus einem Café, die sich für allerhand Dinge interessierte und wie ein Irrlicht geistig flackerte, die niedlich und geschickt und mit kleinem, billigen Geschmack zeichnete und die Dutzende von. Freundinnen hatte – und von »Freunden«, die meist auch nicht wußten, wovon sie übermorgen ihr Mittagessen bezahlen sollten. O, es war wohl schon das Beste, taub und, blind zu sein, denn wer hätte den Schaden gehabt: ich oder sie?

Sie war so wundervoll offenherzig. ›Sei nicht böse übermeine Unmoral,‹ schrieb sie mir mal, ich weiß es noch, ›ich würde dir mehr sagen, Horace, aber ich kann mich nicht verteilen; und weißt du, man kann nicht, wenn man jung ist, mit entfernten Menschen leben. Trotzdem … schreib mir. zum 25., da ist mein Geburtstag, und da bin ich sentimental.‹

Ich sehe sie noch, wie sie nachher sich in ganze Berge von Büchern eingemauert hatte, – sie holte sich immer neue, Stöße heran, in denen sie blätterte: sie nannte das ›in der Diagonale lesen‹. – Und sie baute vor sich eine ganze Kette kleiner chinesischer Glasfläschchen von Snowboddles auf und, spielte damit, stellte sie so und so zusammen. Sie schuf einem dichten Wall von Dingen um sich und knabberte dazu Körben mit Cakes, Datteln und Mandarinen aus; sie schnurrte sich zusammen wie ein Frettchen auf dem Sessel, – weil sie behauptete, daß ihr die Füße frören, – und ließ sich bedienen,, bis sie plötzlich einschlief, eigentlich mitten im Satz, und ich, sie auf den Arm nahm und ins Bett trug, ohne daß sie aufwachte, … wie ein Kind, das über seinem Spielzeug plötzlich eingeschlafen ist, und das nun die Mutter ganz vorsichtig, in den Wagen legt. Vielleicht tat sie nur so, als ob sie schliefe aber ich will ihr auch dafür dankbar sein, – es kommt ja im Leben alles auf die Illusion an! – denn sie war alsbald durchaus nicht verschlafen.

Seltsam, immer wieder war sie aus meinem Dasein verschwunden, wie weggeblasen; und ich habe es kaum schwer empfunden, weil ich wußte, daß sie zurückkehrte. Warum habe ich sie eigentlich nie zu halten versucht? Sie war und blieb dann Wochen und Monate für mich verschollen, schrieb mir, sie wäre umgezogen, nach Hause gefahren; dabei haßte sie eigentlich diese Leute da, von denen sie sagte, daß ihr Horizont nur bis zur nächsten Straßenecke reichte, und daß diese Ecken peinlich dicht bei einander lägen. Und doch trieb es sie immer wieder dorthin, trotzdem sie zu Hause nur doppelt ihre eigene abgesonderte Menschlichkeit fühlte. Aber sie hing an ihrem Vater, dem sie doch sehr wenig bedeutete, und der von ihrem eigentlichen Wesen seiner ganzen geistigen Struktur nach nichts wissen und begreifen konnte; und sie war eifersüchtig auf ihre Stiefmutter, die ihn ihr entfremdete … denn Frauen sind Feinde untereinander … selbst Mutter und Tochter; – wieviel mehr erst solche, die das nicht sind.

Ich verstand eigentlich nie, warum sie gerade dann abbrach, wenn wir glaubten, uns nicht mehr trennen zu können. Sie sagte gern, daß sie eben die Flüchtigkeit und die leichte Geste liebte, aus der man aus allen Beziehungen sich zu sich zurückrette. Aber, wenn ich es jetzt mir überlege, habe ich ihr eigentlich sehr weh getan – dadurch, daß ich es für wahr nahm.

Wie oft ist es in drei Jahren das Gleiche gewesen. Es schien mir manchmal, als ob sie mich floh. Gerade dann, wenn es den Anschein hatte, als ob wir uns nie mehr voneinanderreißen könnten, war sie verschwunden, schien in andere Affären versponnen, fortgefahren, umgezogen, mußte arbeiten … und statt ihrer kamen dann Briefe, die … ich bin nie wieder einem weiblichen Wesen begegnet, dem so das Wort folgte, mit jeder Nuance ihres Empfindens mitging, wie ihr. Sie, die auch schüchtern, schweigsam und wie verschlagen in der Rede sein konnte, plauderte, wenn sie schrieb, Worte aufs Papier, um die ein Dichter mühevoll ringen muß. Wie sagte sie doch mal, als wir in Potsdam gewesen? Ach ja: ›die ersten Schmetterlinge sind wie blasse Töne, die aufklingen, wenn man versehentlich an eine Geige stößt.‹ Vielleicht kam so etwas daher, weil sie seit ihrem dreizehnten Jahre Tagebuch führte. Das hatte sie mit der Feder ihren Gedanken folgen und ihren Empfindungen Ausdruck geben gelehrt. Sie wollte es mir geben einmal – tat es aber nicht, überhaupt habe ich nie gewußt, wie Rehchen lebte; wir waren stets nur zusammen und trennten uns dann wieder. Sie war mit meinem Leben vertraut, liebte es in seinen Einzelheiten, nahm teil daran … ich nicht an ihrem.

O ich erinnere mich ein paar Tage danach, … ich hatte Bücher, Ingwer und Zigaretten vorbereitet und einen neuen Schlafanzug von mir über die Lehne des Sessels gehängt, einen bastseidenen von schönem mattem Gold, und wartete … und statt ihrer kam ein Brief von irgendwoher mit Worten, wie sie sonst eine Frau selten findet. Ich hatte ihn eine zeitlang ganz genau behalten. Heute ist mir manches aus dem Gedächtnis gewichen. ›Horace, Lieber, das Gefühl des Zueinandergehörens ist noch in mir und eine klingende Freude über die heimlichen Stunden zwischen Abend und Morgen. Ich gehe immer noch in einer süßen lässigen Gelöstheit wie in einem warmen Mantel. Ich fühle Deine Hände und höre Deine Stimme zwischen Porzellanen, Bildern und chinesischen Vasen. O ja, ich möchte schon mit Dir irgendwo sein, Horace Walpole, Dich neben mir spüren und nichts anderes denken als Dich in einer beglückend fremden Umgebung.‹ Und wie ging es dann weiter? Nein nicht so … ›oder ich wünschte, Du wärest bei mir heute, wo ich vor Müdigkeit kaum den Zeichenstift noch halten kann und hättest mich lieb. Meine Sehnsucht nach Leben ist ja doch zum Schluß nichts anderes als meine Sehnsucht nach Dir.‹ Warum habe ich damals über so etwas nur fortgelesen … ›Und doch, ich weiß es Horace Walpole, für Dich beginnt jetzt so etwas wie Klassizität, man kann nicht mit 50 dasselbe Lebensmilieu haben wie mit 25, und, siehst Du, deswegen, … außerdem hat mein Vater geschrieben, ich sollte heimkommen. Überlegen wir es uns einmal, ob es nicht besser ist, daß alle letzten Sensationen, Kämpfe und Leidenschaften im Blut verströmen, als daß sie …‹

Nein wirklich, diese Kerle da unten glauben, daß die ganze Straße ihnen gehört! So stelle ich mir die Kämpfe der Lapithen und Centauren vor, die auch unter Kriegsgeheul mit Steinen Fangball spielten.

Und in drei Wochen plötzlich: … ›ich komme nächsten Sonnabend, will mit Dir nach Potsdam fahren. Mit wem soll man es denn sonst tun, wenn nicht mit Dir? Du bist mein Potsdamfreund, Horace.‹ Und dann kam sie, traf mich, wir fuhren hinaus, gingen durch Stadt, Gärten und abgelegene Winkel, sie zeichnete, ich las ein Buch, lagen uns irgendwo im Arm, blieben ein, zwei Nächte beieinander … und wieder begann das Spiel. Sie war wie ein Irrlicht, das mir immer wieder entfloh. Sie liebte es, sich nicht zu sehr zu verankern; aber jetzt, wenn ich ihre Briefe betrachte, scheint es mir, als ob sie doch mehr vor sich selbst floh, als vor mir.

Nein, diese Schienenschleifer, als ob einem beim Zahnarzt sechs Backzähne auf einmal ausgebohrt werden, immer ssss rrrr … rrrr, ssss! … und es nützt nichts, wenn man sich die Kissen in die Ohren stopft.

Wie oft habe ich mir gesagt, ich sollte zwanzig Jahre jünger sein und manches sollte anders gewesen sein in meinem Leben. Nicht wahr, Lene Held oder richtiger Frau Regierungsrätin Amélie de Beautemps?! (Ob heute bei ihr Gesellschaftsabend ist?) – Aber, wenn ich wiederum 20 Jahre jünger gewesen wäre, so wäre ich eben nicht der gleiche gewesen, und um die Arbeit dieser zwanzig Jahre, die ununterbrochen an mir herumgeschnitzelt haben, wäre ich ärmer, form- und empfindungsloser geworden. Nein, nein: – ›so mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, so sagten schon Sybillen, so Propheten!‹

Gottlob, jetzt scheinen sie unten abzurücken, sagte sich Doktor Herzfeld, denn die Lichtstrahlen von der Straße her zuckten plötzlich nicht mehr über die Decke hin, sie flackern noch einmal auf … ganz hell, tauchen das Zimmer in Licht und verschwinden, lassen das Zimmer in grünlicher schneeiger Dämmerung zurück. So, – jetzt werfen Sie die Brechstangen und Hämmer zusammen. Es klingt doch anders, wenn Eisen auf Eisen trifft, als wenn Eisen und Stein zusammenprallen. Wozu rollen sie eigentlich da Fässer … oder sind das die Schleifmaschinen, die sie zu heben versuchen? Und nun rasselt unter Himmelherrgottsakramentsflüchen ein Fuhrwerk ab und verklingt in einer Seitenstraße. Wie dämmerig es ist. Grün und schneeig. Solche Stimmung im Zimmer wie am frühen Morgen nach einem Todesfall. Da hängt auch solche eigene kalte Dämmerung im Raum; im Raum, der still ist und doch hallt, und in dem, unbestimmt und verschwommen, die Möbel geistern und plötzlich fremd geworden sind, … genau wie Möbel dieses Hotelzimmers hier, zwischen denen jede Nacht ein anderer schläft und atmet.

Und sich nun sagen, sich das klar machen: ein Mensch ist mit mir verbunden, hat nie einem anderen wirklich sich erschlossen, hat nie eine andere Ergänzung seines Wesens gehabt – und dann vielleicht tausend, zweitausend Meter von ihm sein, ohne daß er es ahnt, einsam und fröstelnd in einem Hotelbett liegen, während irgendein Taps, der Bartelmeier heißt, neben diesem Wesen schnarcht, … ein Mann, der einen Sprachfehler hat, und der brav und anständig jahraus, jahrein zu Dutzenden fliehende und sichernde Gemsböcke malt … Juhu, daß einem das Herz im Leibe schnackelt! Mit Lawinensturz und karminroten Alpenrosen in unmöglichen Felsritzen, mit Schneeflecken im Gestein, mit zoelinblauen Himmeln um Gletscherränder, mit weiß aufgepatzter Sonne, mit Nebelfetzen in Abstürzen (durch den Riß nur der Wolken erblickt er die Welt) und vor allem mit den Wilderern, die mit schiefen Hüterln und einem zugekniffenen Auge um Felsblöcke schielen.

Schön: wäre sie mit irgend einem von den Ihrigen zusammengegangen, hätte meinethalben einen hoffnungslosen Bohémien geheiratet, sie wäre doch in ihrem Reich geblieben, unter Menschen, die ihre Worte sprechen! Aber so, von allen guten Geistern verlassen, fahnenflüchtig werden: einen Minchener Kinstler! Das ist doch ein Wahnsinn, so etwas auszudenken!!

Wie früh eigentlich ein Hotel erwacht, (und doch nicht heute nur!) da schlurft schon Personal den Gang entlang. Viel Schlafenszeit haben sie nicht. Alles um die paar Mark Trinkgeld. Man hört ganz deutlich die schleifenden Töne, mit denen der Hausdiener die Kreidezahlen auf die Stiefelsohlen schreibt. Das erste Liftsausen, … es klingt, als ob jemand eine große Kanne mit einem dünnen Strahl Wasser voll laufen läßt. Irgend jemand wird schon geweckt, ein robuster Kerl von Hausdiener, der gegen die Tür bummert und »fümfi« mit einer Krähstimme schreit.

Und dabei gehört sie mir, nicht jenem; wenn überhaupt ein Mensch, der nur sich selbst gehört, je einem anderen zu eigen sein kann. Gewiß, ein Mensch ist kein Eigentum. Ein Gegenstand ist ja nicht mal Eigentum, nur Leihgabe. Ich werde hingehen, einfach hingehen. Wir wollen nicht reden über Gewesenes, Rehchen, – nicht wahr? Wir haben uns eigentlich stets fast wortlos verstanden. Das sind plumpe Dinge, die man nicht mit einem Blick und einem Händedruck unter sich abmachen kann. Dein Mann wird an dir hängen. Gewiß, er wäre ein Narr, wenn er das nicht täte. Er wird das sein, was man einen guten Mann nennt, vielleicht etwas robust, (Besteigung der Griskogelkarspitze über die Ostwand!) aber du brauchst deine Menschen, Rehchen, die deine Sprache reden und deine Sensationen fühlen und zwischen den Dingen mit dir leben, zwischen denen einzig deine Seele atmen und ihre Erfüllung finden kann. Gewiß Rehchen, du tauschst vielleicht nur wenige Jahre gegen Dezennien. Es steht nicht in meiner Macht, dir mehr zu geben; aber ist nicht oft schon in deinem Leben ein Monat mehr gewesen als ein Jahr? Sieh mal, wir haben ja viel nachzuholen, was wir leichtsinnig versäumten; wir müssen gedrängt leben. Beardsley, – weißt du, du kopiertest ihn ehedem – schuf, weil die Schwindsucht ihr Menetekel mit Blut an seine Tür geschrieben hatte, in wenigen Jahren ein fast unübersehbares Lebenswerk. So wollen wir zusammen leben, alles, was zwei Menschen einander bieten können, leiblich und seelisch, wollen wir zusammenpressen in Stunden, Tage und Monate. Wie sagtest du denn damals?!: Siehst du denn nicht, wie ich dich liebe, du Mensch du?! Ich komme nicht als Verführer. Ich will dich ganz ruhig, vielleicht wortlos fragen. Rehchen, … du schriebst mir einmal, daß du verheiratet bist … Wir werden nie mehr darüber sprechen, – willst du von heute an wieder zu mir gehören?! Wer ich bin, weißt du, wie das, was dich jetzt und später einmal bei mir erwartet. Keine Worte, kein Ja, kein Nein. Wenn du Bedenken hast, kämpfe sie ohne mich durch. Ich erwarte deine Entscheidung, Rehchen; du kommst wie du gehst und stehst. Es darf dich nichts an jene Zeit erinnern mehr, die wir nicht zusammen waren, die Brücke von jenem letzten Tag, wo du da oben unter dem Flieder saßest, bis zum Heute ist das Nichts, ein Vakuum, ein luftleerer Raum, ein Schlaf ohne Träume gewesen für dich und für mich. Jetzt habe ich dich mir wachgerissen und deine Seele aus dem Schlummer gerüttelt.

Doktor Herzfeld war plötzlich ganz froh geworden, wie wohlig und erlöst; – das war sein Weg! Er liebte es von je, mit den Gedanken zu spielen, bis die Gedanken mit ihm spielten. Es begann ihn ganz zu beherrschen; er verstand nur das Eine nicht, warum er das nicht früher getan: › Ein Mensch in der Welt gehört zu dir und du hast ihn jahrelang in der Welt umherirren lassen, bis er sich in eine nebensächliche Ehe verkrochen hat.‹ Er lachte vor sich hin. Er begann es sich auszumalen, träumte halb zwischen Schlaf und Wachen, farbig und bilderreich in Wunscherfüllungen. Nein, er würde jetzt hier so lange in einer Pension für sich und Rehchen zwei Zimmer nehmen; er wußte schon, wo. Denn vielleicht würde es ja doch für sie irgendetwas zu erledigen noch geben. Dann würden sie einige Zeit ins Gebirge gehen und später nach Berlin zurück oder lieber ganz von Berlin fort. Denn es war keine reine Freude mehr, in Berlin zu leben. Irgendein Häuschen mit Atelier, man könne ja jetzt so etwas billig kaufen im Badischen oder am Bodensee in der Nähe einer Großstadt, und doch abseits von der plumpen Gemeinheit des politischen Lebens, das nur irgendwo draußen mit seinem ganz fernen, dumpfen Gebrause liegen darf, – man brauchte keine Zeitung zu lesen da draußen, – um nur die Ausstrahlungen des geistigen und künstlerischen Lebens aufzufangen. Man würde reisen, irgendwohin in eine hübsche, kleine Stadt. Sie müsse wieder ihr Bastkleid und die Kiepe tragen, damit sie ganz dazu passe … Oder zu einem Provinzmuseum mit gotischen Bildern.

Doktor Herzfeld begann das Haus einzurichten, stellte Schränke auf, hing Kronen, ordnete die Bibliothek. Und Rehchen müsse ein Zimmer bekommen mit zierlichen Möbeln, nicht so schweren wie die seinen. O, er hatte schon noch wo einen Satz Rokokostühle, den man kaufen könne, irgendwo abseits der Heerstraße, wo kaum Händler hinkämen und von dem keiner etwas wisse. Er begann seine Chinoiserien aufzuteilen, was dahinein passe. Er sah den Garten mit halbhohen Bäumen und Blumenbeeten, eine Terrasse, von der es mit breiter Treppe hinabführte. Es war Abend, und sie gingen zwischen Krimsen, weißen und roten Kletterrosen, auf und nieder … Er hätte nie geglaubt, daß das Leben einen so angenehmen Pulsschlag haben könnte. Unsereins lebt doch immer sonst nur wie ein Wurm zwischen Baum und Borke.

Langsam fangen die fünfundfünfzigtausend Veilchen an den Wänden an, wieder aufzublühen. Sie duften nicht, aber sie schimmern irgendwie bläulich und veilchenhaft, und Doktor Herzfeld beginnt die Flecke der Bilder zu unterscheiden: da tänzelt der wadenbegabte Knabe durch Rubens Atelier, dort sitzt der weiße Pfau als Symbol tiefer Sittenverderbnis neben der hüftenverrenkenden Dame mit Rosenketten im grauen Atlaskleid in ihrer billigen Münchener Faschinggrazie; und da oben schimmert der Buntdruck Christus und die Ehebrecherin. Was soll das?! Unsinn: Sie hat mir die Ehe gebrochen, nicht jenem braven Nobody, jenem Quidam, dem xbeliebigen Herrn Bartelmeier, dem sie zufällig angetraut wurde.

Ein fleißiger Mann, mein Herr Nachbar, ganz früh am Morgen hustet er schon.

Ob ich ihr schreiben soll, Rehchen, ein paar Worte, ganz wenig nur? ›Ich bin gekommen, dich holen, Horace Walpole‹ nichts sonst. Nein, ich werde zu ihnen gehen, ganz ruhig. Sie kann es dem Manne sagen. Rehchen ist nicht eine, in deren Gegenwart rohe und grobe Worte fallen. Wie wird das Zimmer sein? Ein Eßzimmer mit Eichenmöbeln, die im illustrierten Katalog des Möbelhändlers als deutsche Renaissance geführt werden; eine Hängelampe mit gehämmertem Messingschirm, in dem bunte Glassteine sitzen über dem Tisch … mit grünem Behang. Ich liebe das so. Da sitzt er, er ist blond, groß, mit gestutztem Bart über den etwas dicken Lippen. Er weiß nicht recht, was er mit mir anfangen soll, möchte höflich sein, fürchtet mich aber irgendwie. Ich sage, … nein, ich sage gar nichts … Rehchen steht auf: ›Lieber Freund, gewiß, du hast es mit mir so gut gemeint, wie du es verstandest. Ich will nicht undankbar sein für die zwei Jahre, die ich bei dir war, auch wenn ich sie jetzt aus meinem Dasein löschen werde. Es tut uns leid, das wir dir weh tun müssen; aber danach können wir ja zum Schluß beide nicht fragen, weil wir uns viel weher tun würden, wenn wir darauf Rücksicht nehmen würden. Ich gebe dir noch einmal die Hand; und ich weiß, du wirst mich jetzt nicht zurückhalten, wenn ich von dir gehe.‹ Und damit stößt Rehchen den Stuhl zurück, und sie schwebt mit mir zusammen durch Türen, die sich von selbst vor uns öffnen, die Treppe hinab, immer in derselben Höhe. Über den Stufen gleiten wir hin mit einem ganz leise vibrierenden Schnurren, das uns durchrieselt. Ich habe die Augen gesenkt, die Fußspitzen abwärts, die Arme halb gehoben und gebreitet, und ich blicke in ihr Gesicht, weil sie etwas höher schwebt als ich, ich sehe in die Sterne ihrer Augen, erkenne jeden Zug um ihre feinsten Nasenwinkel, fühle, wie meine Lippen von den ihrigen getroffen werden; – nicht im Kuß, sondern wie in einer blütenzarten Berührung ruhen sie darauf – und unaufhaltsam gleiten wir weiter. Ich kenne die Straßen. Das ist die Ludwigstraße. Ich sehe die großen glatten Gebäude mit Kreidestrichen von Schnee in den Linien der Geschosse. Ja, da das Denkmal, – ist das nicht von Thorwaldsen? Diese Kirche habe ich stets sehr gern gehabt, Rehchen, geradeüber vom Hofgarten, wo die Griechenbegeisterung vergangener Tage in Fresken erstarrte. Die Leute wundern sich über uns, wie wir so über ihre Köpfe dahingleiten; aber sie sagen nichts, drücken sich nur ganz scheu emporblickend an den Hauswänden entlang …

Als Doktor Herzfeld endlich aufwachte, schien die Sonne ganz hell hinein ins Zimmer, eine ganz frische, fast mittägliche Sonne, wie er sie lange nicht gesehen. Er war irgendwie sehr froh. Er besann sich allmählich auf alles, was geschehen; er lag in München in einem Hotelzimmer dritter Stock vornhinaus. Er würde jetzt hinuntergehen frühstücken, bei Rehchen anrufen oder gleich zu ihr fahren. Das Kragenknöpfchen jedoch war fort, herausgehüpft, nirgends zu finden; und eingepackt hatte scheinbar die Roggemann keine anderen. Aber auch das konnte Doktor Herzfeld, nachdem er eine Weile auf dem Teppich umhergerutscht war und den Kontakt der Nachttischlampe herausgerissen hatte, als er unters Bett leuchten wollte, nicht die Laune verschlagen. Nun gut: er würde sich die Stiefel anziehen und ein solches kaufen, – was weiter! Aber als er sich den rechten Stiefel angezogen hatte und auftrat, da drückte ihn etwas peinlich unter dem kleinen Zeh, und als er den Stiefel wieder auszog und nachsah, war es natürlich das Kragenknöpfchen, das in den Stiefel gekrochen war (denn Stiefel üben auf Kragenknöpfchen von jeher eine starke Anziehungskraft aus) und das nunmehr unter scharfer Bewachung zur weiteren Strafverbüßung wieder in sein Halseisen zurückgebracht wurde.

Draußen war Krieg. Vielleicht?! Möglich! Denn, wenn inzwischen Frieden gemacht worden wäre, würde man Glocken läuten. Aber was ging das Doktor Herzfeld an. Es waren gewiß wieder Hunderte gemordet worden, während er schlief, ganz junge Burschen, kaum erst Lebensabiturienten, geschweige denn Muli. Traurig, sehr traurig; – aber was betraf es ihn eigentlich.

Doktor Herzfeld war völlig frisch. Die nervöse Überwachtheit der letzten 36 Stunden war ganz von ihm gewichen. Die Welt schien ihm neu und belustigend, auch nicht so grau und abgebraucht wie die Tage vorher. Das lag aber wohl an der stärkeren Sonne hier im Süden oben auf der Hochebene, die ja auch im Winter sich nie so ganz verleugnen kann, wie es an solchem feuchtgrauen, lichtlosen Novembertag in Berlin geschieht. Und dann heute war ein Glückstag ja für ihn, Schicksalstag, ›Lebenswende‹, wie es in Romanen heißt. Eine ganze Horde von blassen und übernächtigen Pikkoli in allen Abschattierungen der Lausbubenhaftigkeit spielte Kellner und Oberkellner, teilte sich in die Funktionen, die vordem nur ein jahrzehntelanges Studium des Hotelwesens den Einzelnen lehrte. Und trotzdem diese Rotte Korah doch noch genügend Zeit fand, Boxmatches paar- und gruppenweise auszukämpfen und mit »Letztem ohne Wort und Widerschlag« sich um die Tische zu jagen, machte sie doch ihre Sache kaum schlechter als die Erwachsenen, die (dachte Doktor Herzfeld) wie der alte Augustinus schon sagt, großsprecherisch wie stets, ihre Spielereien Beruf nennen.

Nein: er wollte nicht mehr frühstücken; aber man könne ihm doch noch etwas Tee bringen in die Restauration hinüber. Er wolle gleich etwas speisen; denn er hoffe, daß der Krieg nicht die gute alte Münchener Sitte geändert habe, daß man schon um halb zwölf Mittag ißt und, daß um Vierteleins die Speisekarte nur noch aus Strichen besteht, zwischen denen einsam »Kron am Roast« prangt; – und wenn man es neugierig bestellt, um zu erfahren, eine wievielzackige Krone das ist, die sie da geröstet haben, dann stellt es sich heraus, daß sie sie nur zu streichen vergessen haben. Man erfährt es nie.

Wirklich, trotzdem es so gegen dreiviertel zwölf war, war das Lokal gefüllt; und die würdigen und respektablen Kellnerinnen, alt wie das Corps de ballet einer Hofbühne, (in diesem Beruf scheint man wie bei der Medizin recht spät zu etwas zu kommen, nein, München hatte sich nicht verändert!) trabten, gellende Schlachtrufe ausstoßend, mit leeren oder gefüllten Näpfen und Schüsseln und Gläsern vom Büfett in ihr Revier oder vom Revier zum Büfett und zum Schanktisch hinüber. Da saßen die lieben Münchener wieder und schimpften auf irgendetwas. (Man kann nicht sagen, daß sie sich geändert haben durch den Krieg, meinte Doktor Herzfeld;) Nun ja, die Stühle waren ein bißchen enger zusammengeschoben, – weil der Einzelne nicht mehr ganz soviel Platz einnahm wie vorher; aber er war noch breit und reputabel genug. Das Bier, das vordem eine positive Rolle gespielt hatte, spielte nunmehr eine negative, aber kaum weniger wortreiche. Einzig die kleinen, schlitzäugigen Japaner fehlten, die vordem im Hintergrund immer Billard gespielt hatten, – sonst war alles wie ehedem. Das abgehungerte kleine Männchen wie in Berlin (gerade die Alten sahen dort so gerippehaft, vergilbt und jämmerlich aus) gab es hier eigentlich nicht. Die Mode hatte sich auch nicht viel geändert in München. Man liebte nach wie vor Kniehosen und Joppen und verabscheute Eleganz; es sei denn, man war jung und eroberungslustig. Man züchtete alpine Moose auf gelbgrünen Hüten; und an den Frauen war alles vorübergegangen, was die letzten Jahre an › hautes nouveautées‹ und › dernier cri‹ oder die ›Großmutter als Enkel‹ gebracht hatte. Man trug genau wie ehedem ein Hüterl und a G'wandl und sah zu, wie die Ehegatten am lichten Vormittag tarokten.

Immerhin, … es war überraschend annehmbar und reichlich, was man erhielt … für lächerlich geringes Geld, wenn man daran dachte, wie einem in Berlin für Surrogate von Surrogaten der letzte Pfennig aus der Tasche gezogen wurde.

Doktor Herzfeld gegenüber saß ein würdiger Kaplan, ein schwarzer Mann der Kirche mit einem feinen Sybariten- und Gelehrtenkopf, nicht ohne Geist, nicht ohne Feuer in den Augen, nicht ohne eine starke und schwingende Energie in den Zügen … und spielte mit grünen Erbsen Hockey auf seinem Teller, trieb sie so lange hin und her, bis er sie endlich auf sein Messer oder seine Gabel praktiziert hatte und beförderte sie dann, genau nach dem Schaufelsystem arbeitend, – mit Bewegungen, als ob er ein Paddelboot durch die Fluten lenke, – in die ziemlich breite Klappe seines gewiß linguistisch sehr gewandten, sprachgewaltigen Mundes. Und bei alledem, dachte Doktor Herzfeld, sie sind doch Verwalter eines großen Erbes; – nur sollte man sie nicht essen sehen.

Und damit stieß er den Stuhl zurück, zahlte und ging.

O, draußen war Schneeglöckchensonne, richtige Schneeglöckchensonne wie bei uns im März. Aber nein, erst müsse er noch an Rehchen telefonieren, sie würde sicherlich einen Anschluß haben.

Wie anders, denkt Doktor Herzfeld, wenn man aus einer Koje spricht, wie wenn man einfach am Schreibtisch sitzt und den Hörer ans Ohr nimmt. Da ist man ein Mensch, der gesellschaftlich plaudert, leicht, ungezwungen, sich zurücklehnend mit einem unsichtbaren Zweiten sich unterhält, dünkt sich ein Kaufmann, der eine gute Zigarre raucht und nochmal die Einzelheiten eines Abschlusses mit dem Geschäftsfreund durchspricht. Man ist der, der man alle Tage ist, ja eigentlich mehr als sonst; man ist gleichsam ein jüngerer, klügerer, eleganterer und vitalerer Bruder seines Selbst. Und sowie man in eine Sprechzelle tritt, und die Tür sich lautlos in ihre Filzränder wieder geklemmt hat, ist man ein nervöser Gefangener, erregt und voller Erwartungen; man ist atembeklommen, gestört durch den Schein der elektrischen Birne, die einem in den Schädel sticht und die Haut brennen läßt. Man vergißt vor Erregung die Telefonnummer, schreit in den Apparat hinein, kurbelt unmäßig, tritt abwechselnd mit dem linken Fuß auf den rechten, und mit dem rechten auf den linken …

Nein, ich werde lieber nicht von hier sprechen, aber nachsehen kann man ja mal. Was das in München für eine Menge Bartelmeier gibt … königlich bayerische Eisenbahnsekretärswitwe, … Viktualienhandlungsinhaber … Selcherei … Josef Bartelmeier, Kunstmaler, … das ist er. Ach ja, das wurde mir erzählt; sie wohnt ja da am Englischen Garten, – war es Königin- oder Kaulbachstraße?

»Herrgott, klopfen Sie doch da draußen nicht immer! Sie werden noch früh genug Ihre Schiebung von zehntausend sofort greifbaren Woylachs ›effektuieren‹ können! Ich wünschte, Sie wären sofort greifbar und nicht die Woylachs!«

Wie macht man das hier? – ach ja, dort ist solche Scheibe, und da bestimmt man die Nummer selbst. Ganz praktisch. Man braucht sich nicht über ein Telefonfräulein zu ärgern. Also – wie ist das?! Drei … zurück; Null … zurück; … sieben … zurück; acht … zurück; zwei. Es ist doch ein Nonsens, einfach anzurufen, – was soll sie von mir denken? Ich werde Rehchen schreiben.

»Hier das Mädchen vom Herrn Kunstmaler Bartelmeier.«

»Ob die gnädige Frau da ist?«

»Einen Augenblick, ich werde umstellen.«

»Wer dort? Ach so, Horace, du bist es, siehst du, … du bist aber schon gestern gekommen?!« …

»Ja, Rehchen, hast du mich gesehen? … aber ich verstehe dich nicht gut, du sprichst so leise, ich kann die Farbe deiner Stimme gar nicht recht erkennen, Rehchen.« …

»Du bist gestern abend spät gekommen, ich könnte dir die Minute sagen. Ich habe es gespürt, ich merke jetzt so etwas.« …

»Wann kann ich dich sehen, Rehchen; darf ich zu dir kommen?« …

»Weißt du, Walpole, hole mich um drei ab.« …

»Um drei?!« …

»Ja, denn bis ich fertig bin, ist es doch erst drei. Ich bin noch nicht aufgestanden. Ich spreche nämlich noch vom Bett aus. Wir haben den Tischapparat umlegen lassen, der steht hier auf dem Teetisch neben mir … Was meine Kunst macht?! Ach Gott, Horace, das Gleiche wie ich, – sie schläft.«

»Du bist ja noch fauler als ich, Rehchen.« …

»Nein, aber ich soll vormittag liegen.« …

»Liegen?! Bist du krank?« …

»Nein, Horace, krank bin ich nicht, ich soll mich nur etwas schonen jetzt. Und wie geht es dir?« …

»So einigermaßen.« …

»Gott, Walpole, wir leiden ja jetzt alle … Wozu war denn noch der Krieg nötig, man stößt sich doch sowieso überall aneinander. Hast du mir viel zu erzählen?« …

»Sehr viel und sehr wichtige Dinge sogar.« …

»Ich bin sehr froh, daß du hier bist. Ich freue mich sehr, dich nochmal zu sehen.« …

»Nochmal, – Rehchen? ich glaube, wir werden uns noch sehr oft sehen.« …

»Vielleicht, Horace.« …

»Gewiß, mein Kind! … Da draußen ist solch ein Schieber, der Kerl bummert an die Scheibe, daß sie nächstens in tausend Scherben gehen wird.« …

»Du kommst dann um drei. Trinkst du bei mir Tee, Horace?« …

»Nein, lieber wo anders.« …

»Wir wollen das der Stimmung überlassen … Um halb fünf möchte ich auch wieder zu Hause sein … Wo willst du hin? Nach Garmisch?! Du willst lieber noch ein paar Tage hier bleiben? Wo bist du eigentlich?« …

»Nein, – vielleicht in einer Pension bleiben.« …

»Also um drei Uhr, Lieber, du weißt garnicht, wie froh ich bin, daß du kommst.« …

»Auf Wiedersehen, Rehchen.«

Doktor Herzfeld kam aus der Sprechzelle und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Der dicke Schieber – er war rot wie eine Feuerbohne vor Wut – stieß ihn beinahe um und zog hinter sich ganz fest und angstvoll die Tür zu. Die Sache war sehr eilig, bis zwölf Uhr war der Mann nur für ihn »freibleibend«, und es war zehn Minuten nach zwölf. Muß da gerade solch Malefizsaupreuß dahergehatscht kommen und sich zehn Stunden lang an das Telefonkastel hängen, Himmelherrgottkruzifixsakramentsakrament! Da hört sich doch wirklich alle Gemietlichkeit auf! Sollte man nicht so etwas einfach gleich hiemachen!

Aber Doktor Herzfeld war diese Wut gleichgültig. War das ein Tag heute! Von den letzten dreihundertundfünfundsiebzig Jahren, an die er sich erinnern konnte, sicherlich der klarste Wintertag, mit einem Himmel wie blaugrünes Gletscherwasser in einem Gebirgssee. Was hatte sie gesagt?: O, Rehchen hatte ihn ganz gut verstanden, – genau! Er brauchte ja nur jedes Wort sich noch einmal zu vergegenwärtigen; alles hatte einen doppelten Boden. Und wie sie da lachte, als er »gewiß« sagte. Nein, über ihre gewesene Ehe wollen wir beide nicht viel sprechen; es ist für sie peinlich und für mich. Was mag ihr fehlen? Nun, – wenn wir erst draußen wohnen, wird sich das schon schnell wieder beheben. Man muß draußen leben, wenn man von sich selbst etwas haben will. Großstadt zehrt uns auf, gibt uns scheinbar tausend Anregungen und trinkt uns dabei langsam aber sicher aus wie ein Ei, in das mit der Stecknadel ein Löchelchen gebohrt wurde. Ehe wir es uns versehen, haben wir nur noch ein leeres Ei auf den Schultern. Fehlen wird ihr nichts von Bedeutung, – das heißt körperlich; denn sie war ja eigentlich unverwüstlich gesund vordem, trotz ihrer Schlankheit. Ob sie sich sehr verändert hat? Wohl kaum: eine Frau verändert sich nicht sehr; den Mann kriegt die Ehe bald herunter in wenigen Jahren. Sie hat sich mit mir gefreut, sie konnte ja erst kaum reden, so erregt war sie; nachher habe ich sie dann besser verstanden.

Ach, da gibt es Ziehharmonikas zu kaufen, Musikinstrumente und Scherzartikel, »sendet Mundharmonikas ins Feld!« Es war eine fixe Idee von Rehchen seit je: sie wollte Ziehharmonika spielen lernen. Oben damals in ihrem Obotritenland spielten des abends die Schiffer auf den kleinen Ostseeboten, die im versandeten Binnenhafen lagen, immer Ziehharmonika, – und du erzähltest mir stets, das wäre so schön, wenn das mit dem Wind von ganz weit her herübergeweht würde. Man spürte dann doppelt die Erlösung der Fläche.

O, das ist München! Noch niemand hat etwas Gutes darüber gesagt, wie es ist, was man empfindet, in welcher Weise man sich einstellt, wenn man an einen Ort zurückkehrt, wo man oft schon war und ganz automatisch, – ohne sich orientieren zu müssen! – alte Wege geht. Man sagt dann nicht zu Dingen, Häusern, Kirchen, Menschen, Straßenbahnen, Anlagen, Kreuzungen: da seid ihr! Sondern sie sagen zu uns: ›ach so, da bist du ja auch wieder einmal! Ich erinnere mich kaum, daß du fortgegangen warst‹ … Da drüben ist das Café, wo ich Schach spielte. Soll ich dahinein gehen? Es wird gerade sein, als ob ich nie weggegangen bin. Ich sah nie einen Wirt, kaum eine Kellnerin, es war ganz nur eine Privatangelegenheit der Gäste – dieses Café. Ich weiß genau, es werden die gleichen uralten Spießer … vielleicht nicht genau dieselben, aber doch innerlich ganz und gar die gleichen … dasitzen; der Herr Huber wird nur Herr Erdinger und der Herr Zwickler Herr Anetzberger heißen; und sie werden die gleichen stumpfsinnigen Schachreden führen wie ehedem, und ebenso im wichtigsten Moment nicht die richtige Fortsetzung finden und die Königin samt der schon fast gewonnen Partie verlieren. Das bleibt, – da wird der Krieg nichts geändert haben. Nein, nicht Schach spielen heute, … auch nicht zusehen.

Das Kino scheint sich aber auch hier Heimatsrecht erworben zu haben, überall die Photos und die Riesenplakate mit den verzerrten Visagen der Kinoleute, die mit weit aufgerissenen Augen einen anstarren … Aber die Pöbelfreude an der Ansichtskarte hat sich doch nicht verdrängen lassen dadurch. Ich habe früher einmal irgendwo München die Ansichtspostkartenhauptstadt von Deutschland genannt, was man mir übel nahm, denkt Doktor Herzfeld, aber sie ist es doch! Alle Variationen, die mit Hindenburg und einem Eisernen Kreuz, mit einem Rettich, einem Bierseidel, einem Münchener Kindl und den Frauentürmen erzielt werden können, – sind erzielt. Man setzt das Münchener Kindl auf die Frauentürme, auf den Rettich, auf das Bierseidel; man setzt das Bierseidel auf die Frauentürme und gibt dem Münchener Kindl den Rettich in die Hand; man schafft Doppelwesen aus Frauentürmen und Rettichen, Münchener Kindln und Bierseideln, Bierseideln und Rettichen; und läßt im Himmel darüber Hindenburg in einem Kranze von Eisernen Kreuzen erscheinen. Diese tobende kunstgewerbliche Kriegsphantasie! Da gibt's Serienkarten; das ist etwas neues: Kriegers Liebesleben, Abschied, Heimkehr. Doktor Herzfeld studiert sie erheitert. Ein als Soldat kostümierter Kinoschauspieler und eine Probiermamsell mit dem Gesicht einer Verkäuferin in einem Schokoladengeschäft, blicken sich tiefinnig in die Augen, »Das ist der Liebe goldne Zeit!« steht darunter, »vom ersten Blick zum ersten Kuß, Wenn du, schon voll von Seligkeit, vorahnst, was dir noch werden muß!« O, welche rührende feldgraue Poesie! Das ist die Dichtung, die das Herz des Volkes trifft!

Und doch diese schöne Stadt! Eine mattblaue, etwas rauhe, leicht zu atmende Luft. Wie nett es sich hier geht. Gar nicht so trostlos und verkommen wie Berlin jetzt. Hübsche Geschäfte. Allerhand Dinge noch, die bei uns längst verschollen sind; sogar ein Laden, wo man Porträtaufträge entgegennimmt, richtige Ölbilder im Fenster; »Spezialität: Damenporträts; Herrenporträts in realistischer Auffassung,« sagt ein Schild, »Preisermäßigung für Kriegsgefallene«.

Die Menschen sehen besser aus als in Berlin … Die Reichen! Immerhin, die einfachen Leute, die hier vordem so robust und gut genährt waren, wie kaum irgendwo sonst, scheinen auch übel genug daran zu sein. Und nun erst die Kinder! Da ist eine Schule aus, – man hört es kaum, wie sie herauskommen. Früher war so etwas ein Lärm, daß es ein ganzes Stadtviertel weit dröhnte, als ob ein Lastzug über eine eiserne Brücke fährt, und jetzt trappen sie ganz ruhig aus dem Portal heraus, wie Schafe, die sich aus der Stalltür drängen.

Wie nett das aussieht! In den schwarzen Krallen der Kastanien hängen weiße Schneebällchen; die Häuser und Dächer sind angestäubt, – nur wo die Sonne hinkommt, tropft es von den Dachrinnen; aber sonst taut es nirgends ab. Die Straße ist glatt, hart und sauber. Neben den Bürgersteigen liegen ziemlich reine Schneeberge, werden sorglich zusammengekehrt von Frauen mit schiefgetretenen Hacken und grünen Filzhüten … Man baut gut hier, hat so schöne alte Kästen von Hallen und Kirchen, wuchtiges Barock, das wie ein Büffelrücken in den Himmel schneidet; und selbst die neue Renaissance macht sich nicht übel, – wenn Schnee darauf ist.

Bei uns in Berlin (rekapituliert Doktor Herzfeld) hat man das Gefühl, daß jemand die einzelnen Bauwerke, die er in der Schürze hatte, plötzlich abgestellt hat, weil es ihm zu schwer wurde; – eines hierhin, das andere dorthin, wie es gerade traf. Aber hier ist überall Planmäßigkeit, Durchblicke, jedes ist an seine Stelle gerückt; oder es ist altes Gewinkel, das malerisch ist, und von Neuem umwallt wurde. Da sind zum Beispiel plötzlich in die Straße zwei Tore oder Brunnen mit Säulen und alten Barocklöwen eingebaut. Haben sie mal für sich gestanden? Waren sie an einem Tor? In einem Park? – genug: sie sind noch da, und alles ringsum ist Schwindelstil der Gründerzeit. Aber doch irgendwie noch pompös und anständig dabei (gegen das Heute!). In alten Gartenlokalen hat man manchmal Kleiderriegel an die Bäume gemacht, und die sind dann von der nachwachsenden Rinde der Bäume umwallt worden und ganz in sie eingebettet worden, sind eingesunken, kucken nur noch halb vor – daran erinnert das Durcheinanderwachsen vom alten und neuen München manchmal.

Um drei soll ich erst bei Rehchen sein. Wir werden vielleicht zusammen einen Brief an ihren Mann dann aufsetzen. Warum sind eigentlich so viele Soldaten auf der Straße? Sie sollten endlich mal nach Hause gehen, sich sagen: der Maskenball ist nun aus. Wahrlich, es wäre wohl mal Zeit, daß die Maskerade aufhört, ehe für Deutschland Aschermittwoch kommt. Ach Gott, dieser Kurt, der arme Junge – titatata tum tati … Und ich habe den Brief an die Eltern immer noch in der Tasche! Aber Anatole France hat doch vielleicht recht: der Mensch ist ein flintentragendes Tier; man gebe ihm die Aussicht auf eine Schlacht, und er ist glücklich!

Wohin?! Ich könnte den wieder aufsuchen oder jenen. Man soll so etwas nie tun, es ist jetztimmer eine Enttäuschung; und dann würde ich ihnen nur in die Suppe fallen. Das nimmt man übel in München. Ach, ich werde in die Pinakothek gehen. Heute ist gutes Licht. Ich werde zwar nicht viel davon haben. Immerhin, ich werde mir vorstellen, daß Rehchen neben mir ist; (und es ist vielleicht schöner etwas zu erwarten, als es zu haben). Durch sechs Jahre hatte ich mich damals auf den Tag meines Abiturs gefreut, und ich bin nie so hoffnungslos-niedergeschlagen gewesen, wie an diesem Tage.

Hier sind die Hotels für die Reichen mit den Halls und Bars und dem anderen Stumpfsinn, der Leuten mit Autos weißmachen will, daß sie ihr Leben genießen, während sie sich doch nur Champagnerflecke in den Smoking machen. Diese Straßen dahinter liebe ich aber sehr … die um den Obelisken mit den Widderköpfen da drüben. Zwischen kahlen Bäumen sehen mich die Propyläen an mit ihren Tempelbauten rechts und links. Klenzes Akropolis im Schnee! – Doch ein schöner Traum! Lauter Straßen hier herum, deren Namen man von Heine her kennt: Schelling – »war als Philisoph ergötzlich und als Mime hochgeehrt«. Niemand (außer mir) würde noch etwas von Maßmann wissen – (denn ich habe einmal am Maßmannplatz gewohnt vor undenklichen Tagen,) ohne dich Henry Heine aus der Rue d'Amsterdam: … » Me Hercule, Maßmann spräche Latein, der Marcus Tullius Massmanus!« Und es war doch Münchens große Zeit, die ihm das Gepräge aufdrückte. Wo gibt es wieder ein Museum für Bildwerke wie Klenzes Glyptothek mit den herrlichen, farbigen Kassettendecken?! – das ist fast antik! – und mit den Stufen davor wie zum Poseidontempel von Pästum, auf denen immer irgend welche Leute in der Sonne sitzen: Jünger und Jüngerinnen der Künste, alte, ewige Studenten und Kinderfrauen?! Ich muß da noch mit Rehchen hingehen, denn ich glaube, sie kennt diesen einen kleinen Bronzekopf nicht, – nicht den mit der Stirnbinde! – sondern den kleinen Satyr. Er ist unerhört, das Letzte an Seele und Temperament und Schalkhaftigkeit, gar nicht primitiv, im Gegenteil ganz reich, – vielleicht wirst Du ihn deswegen nicht mögen, Rehchen? – den möchte ich auf meinem Schreibtisch stehen haben, damit er meinen Gedanken die Schwere nimmt.

Wie durch einen Schwertschlag sind diese langen beschneiten Straßen durch die Sonne gespalten; hie Licht und hie farbige, mit Weiß untermalte Schatten, die sich in der Ferne gegen einen mattblauen Himmel verlieren.

O, da kommt ein ganzes Genesungsheim aus einem Lokal, wo es wohl gespeist wurde; irgendwelche Geschenke tragen sie noch in kleinen Paketchen mit sich. Doktor Herzfeld muß stehen bleiben, bis diese Herde von Krüppeln, von denen manche von Krankenpflegern und Sanitätern gestützt werden oder sich gegenseitig stützen, vorüber ist, sich vorbeigeschoben hat; die hüpfend, mit ungefüllten, schlenkerndem Hosenbeinen; die von einem ständigen Zittern geschüttelt; die mit leeren Rockärmeln; die lachend mit einem halbverblödeten Kinderlachen, – all diese armen Hunde, denen Operationen schon zur Lebensgewohnheit geworden sind … Und im Augenblick hämmert der ganze Jammer der Zeit wieder auf sein Herz ein! Endlich ist das ja nur ein Tropfen in diesem Ozean von Leid, nur ein Tropfen. Ob es denn nicht eine Stelle der Welt gibt, wo man dem entgehen kann! Wie Odysseus das zweite Mal die Heimat verließ, um ein Land zu suchen, wo sie kein Ruder kennen, so möchte ich ein Land suchen auf dieser Erde, wo sie keine Waffen kennen.

Warum habe ich nur immer Herzklopfen, wenn ich die Treppe zu der Pinakothek hinaufgehe? Sie ist gar nicht so steil. Ich kann ja sonst ganz gut Treppen steigen: Es ist wohl jedesmal wieder das Gefühl, als ob ich da zu einer Audienz geladen bin, denn es gibt dort oben schon wirkliche Könige, vor die ich hintreten darf, Fürsten, deren Throne unerschütterlich sind, allen Kunstrevolutionen getrotzt haben, immer fester wurden durch Jahrhunderte.

Nein, ich will mich nicht lange aufhalten; – nur ein paar Dinge sehen. Schönes Licht für Bilder heute! Dieser Burkmair da leuchtet edelsteinhaft aus sich heraus in einem ganz kühlen Medium von Helligkeit.

Welche Zauberin ist doch die Kunst! Sie berührt die Dinge, und sie sind ausgeschaltet aus dem Kreislauf des Geschehens, sind herausgerissen aus dem Werdegang der Zeit und werden ewig. Sie bleiben sie selbst, … während ihre Doppelgänger von den Wellen unaufhaltsam weitergezerrt werden und von den Wirbeln des Seins verschlissen und verwandelt werden und nur allzu bald irgendwo mit gleichgültiger Bewegung an den Strand geworfen werden, auf daß sie vergessen werden. Das gibt jenen Frauen eines Tizian in all ihrer blühenden Schönheit den Unterton von Trauer und fragendem Staunen, und dem Blick ihrer Augen unter dem lächelnden Schleier die saugende, herzquälerische Gewalt.

Das traurigste und widersinnigste zugleich sind aber für mich Kinderbildnisse alter Zeit in verschollenen Trachten. Eine Frau oder solch ein Doktor Thulden von Rubens ist doch etwas Beständiges, Seiendes, Abgeschlossenes, nichts Werdendes mehr; aber die Kinder des Rehlinger Hauses von Bernhard Strigel, die da auf dem großen Familienbild, dem sogenannten Franz Hals, Rubens' Knaben, … das ist für mich immer der unheimlichste und rührendste Spuk, den die Kunst je ersann, als ob der Windhauch, der über das Gras geht, bleiben sollte und in seiner zarten, wispernden Flüchtigkeit erstarrt wäre.

Aber es ist kalt heute; es ist leer, – die Fremden fehlen. Nur zwei dicke Damen der Gesellschaft, die gewiß bei Doktor Säusele einen Vortrag über die Kunst des Cinquecento hören, rennen, ohne sich umzusehen, von Saal zu Saal und schwabbeln über ihre Dienstmädchen. Die Galeriediener schlürfen in Filzschuhen über den blanken Steinboden und reiben mit Handschuhen die blauroten Nasen. Kleine Kopistinnen, verhutzelt wie alte Frauchen bei Dou, ganz in Wollschals eingewickelt, hocken auf Stühlchen vor Staffeleien und kopieren mit Akribie holländische Kleinmeister, Mieris oder Netscher.

Ich habe immer für das Heer der Kopisten etwas übrig gehabt, fällt es Doktor Herzfeld ein, ich habe überall in Neapel und London und in Paris mit ihnen geplaudert, es ist das armseligste und schrulligste unter dem Künstlervolk, – die Apotheker unter den Malern –, niemand kennt es, hat bisher von ihnen erzählt: wie sie irgendwo hängen bleiben und hungern, bis sie halb närrisch werden; wie sie ihre Seelen ganz den Seelen der Verstorbenen verkaufen, die sie knechten, aussaugen und zu Grunde richten; wie sie ihr Leben auf Jahrzehnte einteilen: in sieben Jahren soll dann der große Veronese »Die Entführung der Europa« drankommen (wenn er dann frei ist).

Sie lieben ihre Herren, die Gemälde der Großen und der Kleinen (die ja auch oft Große sind) mit einer abgöttischen, angstvollen Verehrung; es gibt Bilder, vor denen sie ganz klein, scheu, ehrfürchtig werden, nasse Augen und versagende Stimmen bekommen, so alte Kopisten … Denn sie fühlen: Ich müßte hundertfünfzig Jahre werden, bis ich dem hinter seine Tricks komme. Sie sind der Meinung: Rembrandt hat vor allem deshalb gemalt, um ihnen technische Rätsel aufzugeben, und die müssen sie ihm abluxen; … aber er ist zugleich ihr Wild und ihr Jäger. Und eines schönen Tages packen sie dich am Ärmel, ziehen dich vor ein Bild und tupfen mit dem Finger auf eine Stelle, sagen ganz scheu, als verrieten sie etwas, piepsig, und doch triumphierend: ›Sehen Sie, da ist nur lasiert, ganz dünn lasiert, einfach über die blanke Holzplatte weg!‹

Welche Dinge sind hier vereint: der Enthusiasmus eines Kunstschülers und die Schlauheit eines gerissenen Händlers; und immer das Angstgefühl: wir können es nicht, wir bleiben im Halben stecken, ein letztes Geheimnis fehlt uns, das den Dingen da die unsterbliche Seele gibt, während unser Werk mit dem Tag verblüht. Aber es muß doch irgendwie zu packen sein! Und was hat es überhaupt für einen Sinn, Eigenes zu schaffen – da wir doch wissen: was die vor uns gemacht haben, werden wir nie erreichen!

Halt, diesen Goya kenne ich nicht! O … Rehchen, dieser Truthahn ist ja das berauschendste Stück eleganter Malerei, das ich je gesehen habe, läßt alles, was später Manet konnte, weit hinter sich. Es ist doch immer wieder erfreulich, sich in Erinnerung zu bringen, daß es solch eine jubilierende Schönheit, solch eine Verklärung und Überhöhung des Seins gibt, daß uns sogar die Fleischtöne an dem Hals und an der Brust eines Tierkadavers, einer elenden gerupften Pute einfach rasend vor Entzücken machen können! …

Aber es ist kalt, … kalt, … kalt! Meine Füße sind Eisklumpen! Man sollte lieber die Kohlen zum Museumheizen verwenden, statt damit Maschinen zu treiben, die Granaten drehen!

Nur das eine Bild muß ich noch sehen, bevor ich gehe: das vom Meister des Marienlebens, … weißt du: … Begegnung der beiden Marien! Die eine hochschwangere, die zusammenschrickt und die Arme breitet, hat mich immer an dich erinnert, Rehchen. Du siehst zwar ganz anders aus; aber da oben zwischen Nase und Stirn, da ist etwas von dir, und in den Händen... Diese Hände der Marien und der heiligen Jungfrauen bei den alten Gotikern sind ja zum Schluß doch nur Kunstgewerblerinnenhände, die Hände der Frauen, die die schönen Rosen, Greifen und Kelche auf die Altardecken stickten und die kunstreichen Spitzenbehänge um sie klöppelten … Ich führe dich mal davor und dann vergleichen wir es.

Es ist doch immer wieder, als ob man aufwacht, wenn man aus einem Museum tritt und sieht: Hier war die Welt beständig; aber zehn Schritte davon ist inzwischen alles weitergegangen. (Und draußen schießen sie immer noch!) Die Sonne ist ein Stückchen nach Westen gerückt und ein Stückchen nach unten, zwanzig Straßenbahnen sind vorübergefahren und dreißig Wagen … Da kommt eine Bahn. – Soll ich mitfahren?

Höchst sonderbar, daß ich noch keine Bekannten getroffen habe. Sonst ist doch die ganze Welt eine Stadt! Früher hatte ich meine Münchener Bekannten alle in drei Stunden zusammen. Einmal durch den Hofgarten, einmal die Ludwigstraße, ein Stückchen Leopoldstraße, einmal durch's Stephanie, … da waren sie alle beieinander, männlich und weiblich! Und die übrigen bröckelten so zu. Aber jetzt ist man ja auseinandergeweht.

Nun, eine gute Stunde habe ich noch, bis ich Rehchen sprechen kann. Ich werde also doch in die Pension gehen, mich mach Zimmern umtun, … auf daß wir in keinem Hotel Nr. 247 sind.

Hier hinten in diesen Straßen, da ist das Quartier latin von München, seine Karl-, Novalis-, Eichendorff- und Schumannstraße von Berlin, sein Paris jenseits der Seine, das uralte Huren-, Studenten-, Maler-, Modell-, Wirtstöchter-, Kneipen- und Kaffeeviertel, in dem die akademische Jugend für die Dauer eines Lebens verroht. Hier lebt sie Tür an Tür mit allerhand Gesindel, hat ihre Buden und ihre Freiheit. Jetzt scheint es aber ziemlich ausgestorben.

Und das ist nun wieder die Ludwigstraße. Es gab Zeiten in meinem Leben, da ich sie nicht ausstehen konnte, und es gab Zeiten, da ich sie wie eine feine, sehr alte Dame verehrte, denkt Doktor Herzfeld. Lang, kahl, diese einzige Prachtstraße Deutschlands mit ihren kalten Palästen, die keine Paläste sind, sondern oft nur vernüchterte Parodien südlicher Baugedanken! Und dennoch!: es gibt Sonntagvormittage, da sie hell und menschengefüllt ist und man sie liebt, wenn drüben über den Arkaden die Bäume des Hofgartens im Laub und in Kerzen der Kastanien stehen, wenn hinten das Tor mit seiner Löwenquadriga in den grünen Grund von Gärten hineinführt,. oder wenn auf dem stillen Platz vor der Universität die Brunnen gehen.

Aber vor allem, träumt Doktor Herzfeld weiter, ist sie eine Abendschönheit, die Ludwigstraße … nicht des nachts … nein in der Stunde schätze ich sie, die zwischen Sonnenuntergang und Dunkelheit ist; da ist sie groß und schwermütig in einer wuchtigen und farbigen Majestät mit den bunten Lichtchen der Straßenbahnen, die von ganz fern angesaust kommen, zwei, drei, und die so winzig klein aussehen gegen die Überhöhe der Bauten und in all der Breite der Dämme und Steige. Natürlich: so schön, wie bei der Residenz mit der dicken, grünen Kinderfrau von Kirchenkuppel, die ihre beiden kleinen, bizarren, grünen Kielkröpfe von Seitentürmen ängstlich behütet, ist sie nirgends anders.

Heute ist sie hell und frisch und – jetzt in der Flanierstunde von vielen Offizieren und anderen pelzverbrämten Leuten, die sich wichtig nehmen, und von recht gut angezogenen Frauen bevölkert. Der peinliche Typ, der um die Zeit die Flanierstraßen des Berliner Westens beherrscht, – die reichen Frauen armer Männer, – fehlt hier oder scheint mir wenigstens zu fehlen.

Ach, sieh mal an, man kann sich im Winter auf der Straße in München sogar eine Zigarre anstecken, und das Streichholz brennt ganz herunter, so still ist die Luft. In Berlin muß man sich immer gegen den Wind drehen, der von jeder Seite weht, und nachdem er elf Streichhölzer ausgepustet hat, kriecht man mit dem zwölften in einen Torweg, wo einen die Leute ansehen, als ob man einen Einbruch vorhätte. München ist eine billige Stadt: was man schon in einem Winter an Streichhölzern sparen würde!

Gewiß, man kann sich vorstellen, ich kann mir schon ausmalen, daß man doch vielleicht hier wohnen bleibt (einzig und allein Rehchens wegen) und dann an solchem Tag wie heute langsam hier herunterflaniert, Bekannte grüßt und gegrüßt wird. Es ist doch ganz hübsch, in einen Lebenskreis mitten hineingestellt zu sein; er darf uns nur nicht geistig und seelisch die Kehle zuziehen.

Hier in den Anlagen und Gärten ums Siegestor ist mehr Schnee. In der Stadt selbst ist doch immer nur halber Winter; er kommt eigentlich nur bis an die Tore und ruft 'rein: hier bin ich.

Und da fängt Schwabing an, sagt sich Doktor Herzfeld, allwo der große Völkerpsychologe Wilhelm Wundt seine Studien (Doktor Herzfeld lacht in sich hinein) – er gibt den Ort zwar nicht an, aber es muß Schwabing sein, – seine -Studien zur Pilauru-Ehe gemacht hat. Herr A. ist mit Frau A. verheiratet. So heißt man also Frau A., wie bei Wundt steht, die: Tippamalku. Herr B. ist mit Frau B. verheiratet; so ist also Frau B. die: Tippamalku. Und Herr C. ist mit Frau C. verheiratet. Außerdem ist aber noch Herr A. mit Frau B.; und Herr B. mit Frau A. verheiratet; während Herr A. und Herr B. beide mit Frau C. verheiratet sind. Man sieht, die Sache ist etwas kompliziert. Wundt malt sogar ein Schema auf, das wie die Konstruktionslinien eines neuen Flugapparates aussieht. Warum C. einzig und allein weder mit Frau A. noch mit Frau B., sondern ganz armselig mit Frau C. verheiratet ist, welch geheimer Aberglaube dagegen spricht, daß er es nicht sein darf, blieb Wundt uns schuldig. Auch verrät er uns nicht, ob nun diese Eheform in Schwabing obligatorisch ist, oder ob auch andere dort geduldet werden. Und endlich verschweigt er, wie Herr C. bestimmt wird, ob durch Los, Volksabstimmung, geheime oder öffentliche Wahl; oder … ob es durch freiwillige Meldung geschieht. Und ferner, ob er auf lebenslängliche Dauer zum C. degradiert ist, oder ob er auch mal A. oder B. werden kann, oder es vordem gewesen sein darf. Das sind alles völlig unerforschte Fragen der Pilauru-Ehe. Ich habe zwar diese seltsame Bezeichnung persönlich in Schwabing nie gehört, aber sie wird schon dort gang und gäbe sein; denn wie sollte der große Gelehrte sonst auf sie kommen?!

Wenn wir da bleiben sollten, Rehchen, du angebetetes Wesen du, so gedenke ich über die ungeklärten Lebensformen des Stammes Forschungen anzustellen, deren Resultate ich in den Mitteilungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichen werde unter dem bescheidenen Titel »Zur Pilauru-Ehe in München-Schwabing.«

Da ist ja das Haus. Es ist ein alter palastähnlicher Bau aus den 50er Jahren des vorletzten Säkulums, riesig und schwer aus der Zeit, da die Fassade alles war und der Innenraum nichts. Es hat eine Wendeltreppe (wie ein mächtiger innerer Treppenturm), die mit flachen Stufen in schwindelhaft-vielen Windungen sich bis oben unter eine vielscheibige Glasglocke hinzieht, von der das Ganze ein schachtähnliches Licht bekommt. Man glaubt, in der Tiefe eines Brunnens zu sein und wähnt von unten selbst am hellerlichten Tage die Sterne zu sehen. Und trotzdem hat man das Gefühl von Italien, wenn man ins Haus kommt. Hier könnte eine römische Pension sein. Wundervolle Zimmer, nicht allzu proper, aber mit schönen antiken Möbeln. Überall irgend etwas Nettes darin. Ein richtiges Heim für Gelehrte und Künstler, etwas salopp, aber gerade gut für Halbarrivierte, oder solche, die gern daran erinnert werden, daß sie es einmal waren, und sich nicht dadurch stören lassen, wenn die Mäuse zur Nacht um die Waschschüssel Karussell fahren.

Hier habe ich einmal schöne Herbstwochen verlebt, denkt Doktor Herzfeld, und hier werden wir … aber wenn nun Rehchen nicht in München bleiben will, wenn sie sofort weg will?! … Nein, ich lasse das lieber.

Doch da wird die Tür aufgestoßen, und man hört plötzlich eine vorjährige Operettenmelodie herunterpauken. (Nichts süßer als eine neue, nichts ekelhafter als eine abgeleierte!) Irgendwelche Gäste kommen heraus. Ein Marinier mit einer blonden Dame fragt Doktor Herzfeld, was er wünsche, und im gleichen Augenblick geht drinnen auf dem Korridor (das Haus hat Reitsäle von Zimmern und Kegelbahnen von Korridoren) die Hausdame vorüber, die Doktor Herzfeld erkennt und große Freude mit ihm hat … oder zeigt.

Sie ist eine ältere, blonde, etwas schwammige Person mit einem Eierkuchengesicht und Elfenbeinröschen in den Ohren und am Halse. Sie hat etwas von einem rosigen Marzipanschweinchen, aber einem, das fünf Wochen schon im Schaufenster gestanden hat und etwas runzelig und verstaubt geworden ist. Sie ist halb auf Biedermeier, halb auf modernes Kunstgewerbe zugeschnitten, wie sich das hier geziemt, wo Kunst von Heute und Morgen in den Environs von Vorvorgestern lebt: Ja, sie hätte aber nur noch zwei Zimmer ganz oben, sehr ruhig, ganz abseits, sehr nett. Sie würde ihn gleich heraufführen. Er könne sie ja mal ansehen. Am zehnten würden seine alten Zimmer ziemlich sicher frei werden, und so lange würde er sich ja dort behelfen können (so etwas sagt sie allen alten Gästen, trotzdem sie genau weiß, daß vor drei Monaten sich bei ihnen überhaupt nichts rückt und rührt). Und sie klappert verlockend mit einem Schlüsselbund und geht voran, immer höher und höher zur verstaubten Sonne des Glasdaches sich emporwindend, während Doktor Herzfeld etwas zaghaft folgt. (So! … hier!), nimmt dann schlüsselklappernd eine jener Kegelbahnen von Korridoren, in der alte Schränke den Weg versperren, … und stößt die Tür zu den beiden Zimmern auf.

»O ja, das wäre schon etwas!« meint Doktor Herzfeld, und blickt sich erfreut um, geht von einem Zimmer ins andere, belebt jede Ecke des Raumes mit Rehchen, erfüllt sie mit ihrem lieben Leben … Da kann sie am Tisch sitzen des Abends unter der grünseidenen Lampe, die von oben ihr Licht sendet, dort kann sie nachmittags Tee trinken, Freundinnen zu sich bitten, (denn sie wird doch welche haben!) Und die Aussicht aus dem Fenster wird sie zeichnen, vorn eine blühende Kaktee auf dem Fensterbord (die muß man kaufen), … denn im Obotritenland liebte sie ja auch die Dächer so sehr.

»O, hier oben,« sagt Doktor Herzfeld zur Hausdame, denn sie ist literarisch, wie sich das hier an Schwabings Grenze geziemt; »hier bei Ihnen hätten Raabe, Keller und Schopenhauer arbeiten können, 'hoch über der Menschheit Mummenschanz!', Nietzsche weniger; Wilde wäre wahnsinnig geworden und Kasimir Edschmid würde Selbstmord begehen, … was vom menschlichen Standpunkt aus bedauerlich wäre.«

Ich würde – er führt sein Zwiegespräch schweigend weiter –, vielleicht hier nichts tun, wie aus dem Fenster sehen; … aber ich würde mich ganz behaglich dabei fühlen. Hier kann man sitzen und Briefe schreiben und lesen … oder besser dort drüben im Großvaterstuhl. Besonders das Eckzimmer, das ist prachtvoll! Das hat vier Fenster und eine Aussicht auf vierund dreißig Schornsteine, (vom anderen Zimmer aus sieht man nur vierund zwanzig!) … Schornsteine aller Sorten und aller Zeiten: alte und junge, kleine und große, welche wie Kröpfe und welche wie Giraffenhälse; Schornsteine mit Halskrausen und mit Hauben; und schwarze Röhren, die aus quadratischen und rhombischen Schornsteinkombinationen abenteuerlichster Art emporwachsen. Und dazu gibt es noch Dachtrockenplätze und zahllose Mansardenfenster mit beschneiten Schnittlauchkästen. Und dann kommen die Dächer, die angeschneiten Dächer, fernhinwallende Hügelketten von Dächern, Ziegeldächer, alte, geschwärzte, die von neuen Reparaturen gesprenkelt sind, Dachabstürze, Glasdächer, Schieferdächer, eine Unmasse Dächer und eine Menge Himmel darüber … Die Höfe aber liegen ganz unten, und man muß sich weit hinauslehnen, um auf ihren Boden zu sehen.

»No, Herr Dukta, … g'fallt's Ihnen?«

»O ja,« meint Doktor Herzfeld und blickt sich interessiert nochmal um. Endlich muß er doch Rehchen gleich berichten, – und er mietet es nicht nur für sich. Ihr Geschmack ist keineswegs immer derselbe gewesen. Gewiß, das Zimmer ist etwas abgetreten; der Fußboden war wohl mal grün gestrichen, und die Decke ist seit vierzig Jahren nicht neu geweißt; aber der kleine alte Kachelofen, der muß Rehchen gefallen. Und diese weißlackierten alten Möbel auch. Solch eine Flickendecke am Boden ist bunt und lustig, und der alte Umschlageschal, der auf dem runden Tisch liegt, ebenfalls; auch solch ein ovaler Goldrahmenspiegel aus der Kaiserin-Eugenienzeit liegt Rehchen sicher sehr. Er gibt für den Menschen, der hineinsieht, immer einen netten Ausschnitt. Nun ja, der Waschtisch …, ich vergaß nach dem Waschtisch zu sehen. Er ist klein: eine Waschkommonde; und man hat das Gefühl, daß seit sechzig Jahren auf ihr übergeplanscht wurde, und daß sie nie einen Gummischwamm und Houbigant, aber zahllose Kämme mit ausgebrochenen Zähnen, Stangenpomade und Klettenwurzelöl gesehen hat. Er wird nicht viel Gnade vor Rehchens Auge finden. Aber diese spanische Wand in Mahagonirahmen mit einem großblumigen Stoff bezogen, wie aus Novellen um 1850, wird ihr mehr gefallen. Sie ist nicht hoch; wenn Rehchen mit dem Kopf herübersieht, das könnte sich ganz lustig ausnehmen. In das Kleiderspind geht eine ganze Ausstellung von historischen Kostümen hinein; und Maupassant hätte darin der Reihe nach ein halbes Dutzend Liebhaber, Anatole France ein halbes Dutzend politischer Flüchtlinge versteckt, denkt Doktor Herzfeld. Die Tapete, – vielleicht werde ich auch noch nach der Tapete gefragt: – braun-graugrün mit einem Granatapfelmuster von überwältigender Langerweile. Man sieht so etwas nur noch, wenn Häuser abgebrochen werden und wie ein umgedrehter Handschuh plötzlich ihr Innerstes nach außen kehren, ihre Innenwände plötzlich dem kalten Licht der Straße zukehren.

Die Hausdame macht sich indessen etwas unruhig an einem Bord mit allerhand Kleinigkeiten von Vasen und Porzellanen zu schaffen. Da liegt der Staub fingerhoch. »So an Saustall!« Sie wird der Marie aus dem dritten Stock einen Marsch blasen.

Aber beinahe hätte ich das Bett vergessen. Wieviel Glück unsres Lebens, wieviel von der Laune unserer Tage hängt von ihm ab! Das eine hier scheint neuerer Konstruktion zu sein, hat Daunendecken und weiche Matratzen; aber das andere im Nebenzimmer ist eine uralte Kiste, ein Kastenbett mit einer Zarge, an der man sich immer die Schienbeine, die Knie, die Kniekehlen, die Waden stößt, (wie man es auch anstellen mag: buff … man hat eins weg!) ich kenne so etwas. Und die Matratze riecht auch multrig, multrig von Generationen. Schön also; man wird sie dann umstellen müssen, denn Rehchen wird wohl das Zimmer drüben haben wollen.

Die Hausdame klappert ungeduldig mit den Schlüsseln. Sie weiß, mit diesen- Zimmern hier oben hat sie nicht viel Glück, sie sind nicht jedermanns Sache; etwas hoch, und dann die vielen Schornsteine. Das hatte man vordem jungen Malern gegeben; aber jetzt sind die meisten draußen.

»Hören Sie,« sagt Doktor Herzfeld, »Fräulein, (ja, was soll er sagen, er kann die Zimmer doch nicht ohne Rehchen fest nehmen, er weiß ja garnicht, was sie wünscht und will; aber freibleiben sollen sie doch für sie) »hören Sie, ich muß noch heute nachmittag im Hotel eine Depesche abwarten, ob ich hier bleibe. Halten Sie sie mir bis abends reserviert, ich rufe dann an oder schicke gleich meine Sachen.«

Die Hausdame klappert indigniert mit den Schlüsseln: solche Depeschen kennt sie. Komisch, daß alle Menschen, die das Zimmer hier oben sehen, noch Depeschen abwarten müssen. »Ja,« sagt sie, »ich muß nun wieder herunter, von z' wegen der Wasch, wo kommt. Sie geben mir dann noch Bescheid, nicht wahr, Herr Dukta?«

Und damit schreitet sie mit starken Schritten an Doktor Herzfeld vorbei zur Tür hinaus, daß die Elfenbeinröschen an ihren Ohrlappen schaukeln, und Doktor Herzfeld folgt ihr ziemlich kleinlaut durch die Kegelbahn von Korridor und den Treppenturm hinab. An der Tür ihrer Etage dreht sich die Hausdame noch einmal kurz um: »Also, Herr Doktor, lassen's mich wissen. Entschuldigen's, aber es pressiert mir.« Und damit schließt sie die Tür zu und läßt Doktor Herzfeld auf der Treppe stehen: Für Gäste, was nicht mieten, ist sie nicht zu sprechen!

»Schade,« meint Doktor Herzfeld, wie er langsam hinausgeht zum Haus, »dieses verstaubte Marzipanschweinchen hätte mir beinahe die Laune genommen … und das sollte heute doch nicht sein!«

Draußen hat die Sonne schon einen leichten rötlichen Schein bekommen, und die Schatten beginnen lang zu werden. Aus kahlen Gärten drüben kommt trotz des Schnees eine kalte Nebelfeuchtigkeit. Morgen kann es Rauhreif geben. Ach, da sitzt ja noch meine freundliche Blumenfrau von ehedem. Ihr Leibesumfang hat sich nicht geändert, nur die Auswahl ihrer Kiepen ist ärmlich geworden –, früher war da im Winter ganz Nizza und Bordighera drin, – doch hat sie Nelken und Veilchen und Zyklamen.

»Der Herr Dukta! San's a mal wieder do?« ruft sie schon von weitem.

»Ich kann's nicht leugnen,« meint Doktor Herzfeld.

»A gengen's, Sö san immer noch so g'spaßig! Gut sehn's aus; aber grau san's g'worden. Gehen's, – kaufen's mir was ab!«

»Deswegen komme ich ja,« sagt Doktor Herzfeld und stellt einen Strauß zusammen, damit er wenigstens nicht ganz leere Hände hat. Wo hatte er nur seinen Kopf, daß er nicht vorher daran gedacht hatte? Blumen können ja nicht häßlich sein! Aber endlich und zum Schluß ist das hier doch wahrlich kümmerlich genug. Trotzdem … noch etwas sonst zu besorgen, dazu ist keine Zeit mehr: sie wird gewiß schon warten. Ob sie auch so erregt ist, wie er? Ob sie überhaupt ahnt, was er will?

Langsam setzt Doktor Herzfeld einen Fuß vor den anderen. Alles, was in ihm innerlich schon gelöst war, scheint ihm plötzlich schwankend. Er würde gewiß ein menschliches Recht auf seiner Seite haben, und doch würde es ihm verargt werden. Was fragt er nach den Leuten, und was hat Rehchen bisher danach gefragt! Aber, wenn sie nun anders geworden sein sollte? Denn die Ehe ändert ja Menschen, so gut wie ein Beruf sie ändert; – wenn die Zuneigung von ihr zu ihm sich gewandelt haben sollte und er für sie auf der Leiter der Gefühle die paar Stufen herabgestiegen sein sollte, die von einstigen Geliebten zum Freund führen, … wenn er nur noch ein Stück Erinnerung für Rehchen geworden wäre – und vielleicht nicht einmal eine solche, bei der sie gern zu Gast ist?! Wenn sie erschrecken würde, weil er recht graue Schläfen in der Kriegszeit bekommen? »O, wieviel trübe Jahre, o, wieviel graue Haare!« sagt schon der alte Logau vom Kriege. Und es ist ja schon recht zu bemerken. Selbst die Blumenfrau hat es mir doch gesagt – Menschen sind immer so geschmackvoll! – Und die wollte doch noch, daß ich ihr etwas abkaufe. Der andere aber ist doch ein junger Mensch! Trotzdem, sie wird doch einsehen, daß es unmöglich ist, das Leben ohne sie zu ertragen und daß es für mich der einzige Ausweg aus dem Wirrsal dieser in den Grundfesten erzitternden Erde ist, sich zueinander zu flüchten. Und welche Vollendung ihres Ichs kann ihr zum Schluß eine Ehe geben mit einem Menschen, der doch recht unbedeutend sein soll, ein guter Junge vielleicht … (Was will das besagen!) und neben dem sie seelisch-stumm und stumpf einhergeht, und der sich nie in ihre Welt, die einzige, die man zu ihr sich denken kann, verirren wird. Sie muß es doch als eine Erlösung empfinden, wenn ich ihr wieder in sie zurückhelfe, sie wieder hinüberziehe, … selbst wenn ich ihr nichts mehr bedeuten sollte. Aber dieses Verschlagen der Worte vorhin am Telefon war echt. So spricht man nicht, wenn ein Mensch einem gleichgültig geworden ist.

Trotzdem, es wird böse Minuten geben. Es ist nicht leicht, so kurz und klar heraus zu sagen, was geschehen muß, ohne mißverstanden zu werden. Ich komme endlich nicht, um das alte Spiel von Scheiden und Meiden wieder aufzunehmen, Rehchen … nicht, um mir vielleicht ein paar Brosamen zu stehlen vom Tische des Herrn Bartelmeier. Das muß von vornherein zwischen uns klar sein. Immerhin, sie gibt Gewohnheiten auf, ein Dasein, in das sie – ob übel oder nicht! – sich eingelebt hat, verläßt Zimmer, in denen sie sich bewegte, und die sie als die ihrigen betrachtete; und sie trennt sich von einem Menschen, der doch durch Jahre ihr Genosse war und, um den sie gewiß auch jene Ängste erlebt hat, die jetzt ja keiner Frau erspart geblieben sind. Ich habe keine Lust, mit diesem Bartelmeier große Dispute zu führen. ›Lieber Herr‹ werde ich ihm sagen, ›ich kenne Sie nicht und Sie kennen mich nicht. Warum wollen wir also das angenehme persönliche Verhältnis, in dem wir beide bisher zu einander standen, verschieben?!‹

O, da drüben beginnt der Englische Garten mit seinen schönen, hohen Baumkronen, in denen Schnee hängt, – nicht viel, nur ab und an, – und die mit ihrem feinen Gezaser des kahlen Astwerks die rötliche Sonne halten. Irgend ein eisgrünes Bächelchen schießt unter Gelärm in einer hübschen Geschäftigkeit an weißglitzernden Büschen vorüber und bringt Frische und Leben. Doktor Herzfeld ist an einer hohen Gittertür stehen geblieben und starrt da herüber in die Bäume hinein.

Wozu das alles! Warum will ich in ein anderes Leben eingreifen? Besinn dich doch! Du hast dein ganzes Dasein fast allein verbracht, und du hast es auch ertragen können. Denk dran, Mensch, du hast einmal schon über einen anderen, der sich mit dir verband, ein armes kleines, liebes, süßes Wesen von Frau – jede Frau ist ein Stück Kind, aber sie war ein Kind, das eine Frau spielte – über ein junges, verwöhntes Ding, das sie zu Hause wie eine Elfenbeinschnitzerei gehalten hatten, die man nur den Gästen zeigt, die aber immer im Schrank steht, und die man nur bewundern, aber nicht berühren, ja kaum anhauchen darf (und gleich wird sie wieder mit ganz spitzen Fingern gepackt und hinter ihre Glasscheibe gestellt) … hast über so etwas … das Unglück eines frühen Sterbens gebracht, … nicht von mir verschuldetes Unglück, vielleicht nein: wohl gewiß nicht! – aber allein dadurch, daß es dir sich anschloß. Denn es gäbe ohne dies wohl heute ein Grab, nein zwei Gräber weniger auf der Welt. Wenn ich ein Methusalem werde, ich werde nie den Ausdruck von Angst und traurigem Staunen vergessen, der in den Augen lag, als das urarme Ding fühlte, daß der Tod auf sein Herz zu hämmern begann. ›Ich habe noch garnicht gelebt, ich will ja erst beginnen, aufzuwachen, – und das soll nun alles sein? Aber bei allen Göttern, das kann doch nicht möglich sein, … ich komme ja erst, ich komme ja erst, – hört ihr denn nicht? – Und ich will doch noch nicht wieder fortgehen!‹ schrien sie, die Augen, bettelten und jammerten sie, die Augen, … während der Mund kein Wort sprach und nur leise stöhnte.

Wie die Jahre hingehen! Das hat mal sein Dasein zerrissen, wie von einem Angler achtlos ein Regenwurm in zwei Stücke gerissen wird, und jedes von ihm trotzdem weiterlebt. Und heute ist es fast in mir vermoost und vergessen. Es ist auch zuviel in den letzten beiden Jahren über einen Menschen, wie ich es bin, hinweggestürmt.

Ich glaube, ich habe nie davon zu Rehchen gesprochen. Das muß ich ihr doch sagen, ehe sie mit mir geht, denn sie ahnt es sicher nicht … sagen, daß ich einem Menschen wenig Glück gebracht habe, daß ich sie warne, … und wenn sie es dann trotzdem tut, dann sehe ich eben, wie sie … Es wußte ja kaum einer. Hermann Gutzeit, mit dem ich durch Jahr und Tag fast jeden Abend zusammen war, hat es ja auch erst in jener Nacht von mir erfahren. Ich erinnere mich noch der Stelle, wo es geschah in jener kleinen Konditorei, mit dem fixen frechen Kellner, der einen Beruf aus seiner Unverschämtheit machte und den man vielleicht gerade deswegen gern hatte … (armer Teufel, gleich bei Lüttich hat's ihn umgelegt!)

Ach, lassen wir das. Gehen wir ins Hotel. In drei Stunden fährt der Zug weiter. Gerade noch Zeit genug, um sich auszuruhen und ein paar Zeilen zu schreiben, irgend eine Entschuldigung; ich wäre plötzlich nach Garmisch gerufen worden. Vielleicht spricht man später auf der Heimreise dann einen Tag vor.

Doktor Herzfeld blickt auf, sieht endlich das Schild, das an dem Tor hängt, vor dem er vorhin stehen geblieben war. Richtig, hier ist ja die Tierarzneischule in der Nähe. Da sah man früher zahllose alte Fräuleins, die in Marktkörben kranke Katzen oder Hunde trugen, aus denen sie dann ganz verwundert herauskuckten wie junge Vögel aus dem Nest. Was steht da? Mit großen Buchstaben schwarz auf weiß: »Sprechstunde für Pferde 11–1.« Doktor Herzfeld beginnt zu lachen, laut und auffallend. »Sprechstunde für Pferde«, bin ich etwa Gulliver und ist etwa Bayern das Land der Houyhnymus, von dem Jonatan Swift erzählt?! Und dieses Lachen gibt ihm seine ganze Laune, seinen ganzen Mut wieder, balanziert ihn, der eben ins Wanken kam, innerlich vollkommen wieder aus. Was sonst; in einer Stunde wird er seine Arme um Rehchens wundervollen schlanken Hals legen. Wer ist Herr Bartelmeier?! Ich habe nie ein Gemälde dieses obskuren Herrn gesehen. Und die Blumen fangen auch schon an, in der Hand welk zu werden. Meine dicke, alte Freundin hat zwar von je schöne Blumen und billige Blumen; aber mit der Verpackung hat's noch immer gehapert. Es ist Zeit, daß ich mich ihrer entledige. Die zwei Zimmer da oben werden schon richtig sein; sicherlich für ein paar Tage. Rehchen hat schon weniger gut gewohnt und ich auch.

Welche Nummer war es? Dreiundvierzig, Fünfundvierzig? Ach da hinten das fünfte Haus muß es sein …. Ein hübsches Haus; sauber und aus einer vornehmen Zeit so für die Reichen um siebzig herum. Man hat in München wirklich immer mit gutem Sinn und schlichter gebaut, denkt Doktor Herzfeld. Nur zwei Parteien. Sie müssen also eine große Wohnung haben. Welcher Knopf ist es? … Sehr weiträumig der Flur, breite Treppen mit roten Läufern, antikisierende Gipsreliefs in den Wänden, (oder ist es sogar richtiger Marmor?) nicht gut mehr, aber doch von einer angenehmen Unaufdringlichkeit; ganz breite Milchglastüren mit Messingknöpfen. Alles spricht mir von einem alten Reichtum der Leute, die hier wohnen. In solchen Häusern wohnt man lange, ich kenne das. Da hat gewiß schon der Vater gewohnt, der es sich gebaut hat.

Ein Dienstmädchen mit weißer Haube öffnet, sieht sehr bescheiden, ganz leise und gut aus; und an diesem Mädchen fühlt Doktor Herzfeld noch mehr wie an allem: alter Reichtum, eine gewisse Kultur des Hauses. Seltsam, denkt er, die Mädchen sind immer genau wie die Herrschaft. Nehmt die da und tut sie drei Straßen weiter zum Selcher Huber, sie wird in Latschen daherschlampen und fragen: ›Ha, was winschen's denn?‹ Aber sie wird eben nie beim Selcher Huber dienen wollen. Sie wird lieber hier vierzig Mark bekommen, als dort sechzig und alle Tage Weißwürst und Ripperl.

Doktor Herzfeld ist eigentlich doch sehr erregt, all diese aufgespeicherte, zurückgedrängte Zärtlichkeit für Rehchen macht ihn ganz traurig vor Glück. Er hat einen eigenartigen Gradmesser in seiner Empfindung Frauen gegenüber von je: wird er heiter, lustig, beredt, fühlt er sich angeregt, so ist er innerlich ganz unbeteiligt; und wird er traurig, still und bedrückt, würgt es ihn im Halse, bekommt er nasse Augenwinkel, schwanken seine Empfindungen um den Pol des Mitleids, weil auch so etwas wie dieses Wesen da nicht beständig ist und genau wie alles sonst den Gesetzen der Vergänglichkeit unterliegt, weil es leiden muß, da es Schönheit ist, und doch Häßlichkeit und Rohheit die Herren dieser Welt sind … sehnt er sich danach, nur ganz leise mit den Fingerspitzen eine Strähne ihres Haares zu berühren, nicht mehr, … so weiß er genau: es kann Jahre dauern, bis er von dem Traum dieser Frau zur Wirklichkeit erwacht. So war das von je. Und vielleicht in fünf Minuten wird er vor Rehchen sein und seinen alten müden und zerquälten Kopf in ihrem Schoß haben, wie damals, an jenem Morgen, vor bald acht Jahren am Schwielowsee. O ja, er wußte schon, was er sagen wollte, ganz kurz, nicht dreißig Worte, aber jedes eindringlich und klar. Das stille Mädchen mit den leisen Bewegungen hatte ihn hereingeführt, er möchte warten, die Gnädigste käme gleich. Der Korridor war gut, leer, groß, breit, stoffbespannt, mit ein paar schönen, dunkeln, alten Nußbaumschränken, einer dabei mit reichen Einlagen und mit sehr amüsanter Schweifung. Sicherlich Würzburg, taxierte Doktor Herzfeld. Das mußte er tun, es lag ihm im Blut. Und wenn er auf einem Operationsstuhl gelegen hätte unter dem Messer, oder wenn er von der Beerdigung seiner Mutter gekommen wäre, hätte er's getan.

Aber das hier, wo man ihn dann hineingeführt hatte, war ein Salon. Nehmt alles in allem: es war ein Salon, ihr werdet tausend seinesgleichen finden! An den halbdunklen Fenstern schwere geraffte Stoffgardinen aus braunem Velour, mit Quasten, von Goldstangen gehalten; Sessel mit imitierten Satteltaschen bezogen und mit zahllosen Troddelchen behängt; Gemälde in Goldrahmen, die nur die Signatur eines Malers, aber weder die einer Hand noch einer Zeit trugen; ein Moses von Michelangelo auf schwarzem Palisanderpostament gegen das Fenster gestellt, sodaß man das Licht durch den Nabel schimmern sah, – weil er aus Alabaster war. Und als Hauptstück eine riesige, geradezu ein shoking monstre von einer Cuivre-poli-Vase, lang und dünn, gut kindshoch mit durchmodellierten Rosen überlegt. Um Leib und Henkel windet sich eine Schlange; ein Vogel flattert irgendwo angstvoll auf; ein Eichhörnchen springt fort in dem Rosengerank; und wo die Bauchung in die Länge des Halses übergeht, klebt querüber in ganzer Plastik eine bronzene Amorette mit dem Leib auf der Vase, – mit dicken Armen, mit dicken Beinen und mit zerzausten Flügeln strampelnd. Und, da er doch irgendwie befestigt sein mußte, so hatte der kleine Bronzekerl eine Schraube in medias res, eben an jener Stelle seiner Rückseite, von der die Fabrik glaubte, daß die Schraube dort, – weil versenkbar!, – am wenigsten bemerkbar sein würde. Aber gerade das fiel erst recht auf. Auf einem Bord stehen Rokokojünglinge und Rokokodamen aus Porzellan mit rosigen Gesichtern und weißblauen Delfter-Kostümen. Und zwischen solchen Dingen muß Rehchen dahinvegetieren! Nun, Gottseidank – nicht lange mehr!

Merkwürdig, meint Doktor Herzfeld, – und betrachtet diese aufdringliche Frechheit von Vase! – es gab doch keinen Griechen, für den ein Phidias und ein Homer umsonst gelebt hätten; aber Rembrandt und Dürer, Beethoven und Goethe haben für hundert Millionen von Deutschen umsonst gelebt. Ihr Vorhandensein ist und wird allezeit gleichbedeutend für sie sein wie ihr Fehlen.

Da hört Doktor Herzfeld nebenan Schritte und springt vom Sessel auf. Nein, nicht auf sie zustürzen, sie nicht in die Arme nehmen. Noch ist sie ja die Frau des Besitzers dieser Vase, dieses ominösen Herrn Bartelmeier. So lange ich nicht geredet, heißt es nur, ihr ganz still und förmlich die Hand geben.

»O,« ruft Rehchen von drinnen, »da bist du, Horace?« während die Tür halb geöffnet wird vom Mädchen. »Da hat man dich hereingeführt? Weißt du, er ist nämlich sonst abgeschlossen, weil es der Salon der Eltern war; und geheizt ist auch nicht, da ist's ungemütlich. Komm doch zu mir herüber und laß dich mal ansehen. Wie geht es dir? Ich bin so froh, daß du da bist, ich habe genau gewußt, daß du gekommen bist. Ich habe es gestern zu meinem Mann gesagt: jetzt ist Horace gekommen! Ich hätte dir sonst geschrieben, denn ich wollte dich einmal sehen.«

Doktor Herzfeld geht sehr, sehr langsam ins Nebenzimmer, beklommen, die Kniee sind ihm wie geschwollen, die Stimme scheint ihm gelähmt, und er fühlt plötzlich eine große und zitternde Müdigkeit über den Rücken rieseln. Es ist ein breiter, großer Raum, den er betritt mit breitem süddeutschen Mobiliar, wuchtigen alten Barocksachen, einem späten Waldgobelin, alten Bildern, noch ein wenig im Sammelgeschmack der Lenbachzeit, alles vielleicht mehr dekorativ als kunstwertvoll das Einzelne, aber das Ganze dabei unstreitbar von einer schönen, stilstarken, sonoren und prunkenden Geschlossenheit. Und dazu edle Teppiche auf dem Boden und über Truhendeckel. Und alles sehr hell von breiten, kaum verhangenen Fenstern, durch die die rosigen Reflexe von dem weiten beschneiten und besonnten Park drüben mit einer für den Norden ganz unbekannten Lichtfülle hineindringen. Und Rehchen sitzt dort neben einem niedrigen gedeckten Tisch mit silberglänzender kleiner geschweifter Teekanne auf einem hochlehnigen Sessel, hat ein sehr weites, sehr faltiges, schwarzes Samtkleid an mit Pelzbesatz um den flachgerundeten Ausschnitt von Schulter zu Schulter und um die Handgelenke. Und das Haar ist hinten emporgenommen, das braunblonde, schwere Haar. Wie sie da so sitzt gegen den Gobelin, neben der geschnitzten Truhe, könnte sie, – schießt es blitzend Doktor Herzfeld durch den Kopf, – auf einem Künstlerfest um 1890 das dritte lebende Bild stellen: »Vermeer van Delft«. Rehchen lächelt nicht allzu leicht mit einem ganz eigenen, ein wenig verzogenen Lächeln Doktor Herzfeld entgegen. Wie sie sich jedoch erhebt, um ihm, die Arme nur wenig und fast erschrocken gebreitet, entgegenzugehen, da sieht Doktor Herzfeld doch, daß es kein Vermeer ist, sondern ganz sein Bild, das er eben sah: die schwangere Maria vom alten Kölner Meister des Marienlebens.

Gewiß, das ist ja noch völlig sein altes Rehchen mit allen Göttern der Laune in den Augen, leicht gerötet vor Freude. – Und das verdeckt im Augenblick die Blässe und das durchscheinende Wachs ihres lieben Gesichts, das noch schlanker und schmaler geworden ist als ehedem, … wie ja eine Frau, die nur wenige Tage vor ihrer Entbindung ist, selten gut aussieht.

Das Damenhafte, sehr Bestimmte und Bewußte der letzten Jahre ist ganz von ihr gewichen, und all ihre weichen und süßen, dämmerhaften Kindlichkeiten, die sie damals hatte, vor sieben, acht Jahren, als sie noch das kleine Bohème-Mädchen war, sind durch ihre Unbehülflichkeit und das zage, halb angstvolle Lächeln, durch das Mysterium ihres Leibes wieder an die Oberfläche ihres Wesens getrieben worden. Auch ihre Stimme hat wieder das Tastende und fast Schulmädchenhafte bekommen, das sie ehedem hatte.

»Siehst du, Horace, ich habe jetzt so feine Nerven, ich spüre so etwas. Ich wußte genau, daß du kommst. Und ich mußte dich noch mal sehen. Aber wir wollen doch lieber hier eine Tasse Tee nehmen. Ich habe dir schon eingegossen. Backen lassen konnte ich nichts mehr dazu. Was man gerade so im Hause hat, aber es ist noch ganz gut. Nimmst du ein Brot? Du brauchst nicht mißtrauisch zu sein: – es ist richtige Butter. Aber warum bist du so spät gekommen, Horace? Wenn wir noch fort wollen, haben wir nicht lange Zeit, – und ich bin zehn Tage nicht vor die Tür gegangen.«

Doktor Herzfeld hatte ihre Hand genommen. In seinem Hirn schießt ein Wort vorüber und verschwindet wie ein Marder, der aus der Dunkelheit kommt, über einen hellen Streifen Weges setzt und in der Dunkelheit wieder untertaucht. Wie war das doch bei Dehmel's »Zwei Menschen«?! »Das Kind, das du im Leibe hast, sei deiner Seele keine Last«. Er will etwas sagen, von dem reden, was ihn hierherführte; aber irgendwo in ihm liegen nur noch ein paar armselige Tempeltrümmer umher.

Er hört Rehchen indessen weitersprechen. »Ich freue mich so, daß du gekommen bist. Ich bin nicht die Kräftigste, weißt du, ich habe mich ganz gut gehalten, aber zart war ich immer. Man wollte mir ja auch eigentlich das Kind nehmen, aber ich habe darauf bestanden, daß es nicht geschieht. Ich will (im Ton liegt ein Ähnliches wie bei einem bockigen Schulmädchen), daß es etwas geben soll, das mich noch mehr an meinen Mann kettet, als es schon so geschieht.«

»Gott, Rehchen,« meint Doktor Herzfeld, – er findet langsam sich wieder, nicht den von heute und gestern, sondern den, der er immer war. Von all seinen Gefühlen, die ihn noch vor zwei Minuten durchpulsten, ist nur noch das geblieben, als ob er sie streicheln und streicheln und immer nur ganz sammetsanft streicheln müßte. – »Rehchen, du solltest dich nicht ängstigen. Endlich sind wir ja alle einmal auf die gleiche oder ähnliche Manier zur Welt gekommen, wie es dein Kind tun wird. Und wir haben unseren werten Müttern noch genügend Lebenskraft gelassen, um uns in den beiden nächsten Jahrzehnten so manchen Katzenkopf zu versetzen. Nur in den Novellen von annodazumal sagt der Held schluchzend: ›Bei meiner Geburt raubte ich meinem Mütterlein das Leben‹, während er in den Jambendramen ins Parterre brüllt: ›Mord war auf Erd' die erste meiner Taten‹. Heute ist das unmodern, dafür haben Lord Lister und Semmelweiß gesorgt.«

»Das solltest du, wenn du an dich selbst denkst, eigentlich nicht sagen, … Horace Walpole.«

Doktor Herzfeld fühlt, wie er blaß wird.

»Nein, nein, ich wollte dir gewiß nicht weh tun, Lieber. Wir wollen auch nicht davon sprechen, es ist ja kindisch und dumm von mir, daß ich immer davon rede. Meinen Mann quäle ich auch damit. Ich bin ja so froh, daß du gekommen bist; es ist ja auch alles Unsinn. Nicht wahr, man redet sich so etwas ein. Es gibt keine Frau, die das nicht tut. Sie vergessen es nur nachher wieder, daß sie es getan haben. Komm, wir wollen gehen. Aber eine Bedingung, Horace Walpole, wir wollen nicht über den Krieg sprechen. Ich tue es nicht. Ich antworte dir nicht, wenn du etwa davon anfangen würdest. Wenn ich denke, daß ich jetzt vielleicht einem Sohn das Leben geben soll, nur um ihn später, wie Millionen Mütter heute, dem Wahnsinn dieser zweihundert Leute in Europa zu opfern, die sich das Recht über Leben und Tod der Welt angemaßt haben, wenn ich nur daran denke, dann zittere ich am ganzen Körper vor Schmerz und Wut … Heut' ist doch draußen sehr schönes Wetter, da kann ich ruhig ausgehen. Ich habe noch ein paar Wege vorher. Ich soll es ja eigentlich nicht; aber bis mein Mann um fünf da ist, bin ich längst wieder zu Hause, … denn sonst ist er böse. Das heißt: du mußt nicht glauben, Horace, daß er böse ist; nein – er ist sehr gut, viel zu gut eigentlich für mich.«

»Ich glaube nicht, daß man zu gut zu dir sein kann, Rehchen. Du hast es aber sehr schön hier, so geräumige Zimmer.«

»Für einen gefangenen Vogel, Horace, ist jeder Käfig zu klein.«

»Und wundervolle Dinge hast du doch um dich.«

»Gewiß, Horace, du bist raffinierter; ich denke oft an das, was du gesammelt hast; aber für uns beide mit den Kunstgewerbenerven – das Wort stammt von dir, Horace, falls du es nicht mehr kennen solltest! – ist das hier ja eigentlich vieux genre. Trotzdem glaubst du nicht, welches wundervolle Gefühl von Sicherheit und Beruhigung diese schweren, gesättigten Dinge einem geben können, wenn man sie täglich um sich hat; man wächst in sie hinein.«

»Dein Mann ist Maler?«

»Nein, eigentlich ist er Jurist, von Hause her, er malt nur für sich; er ist recht begabt, er könnte schon etwas werden. Wenn er nur früher angefangen hätte, so wäre er sogar sicher etwas geworden. Aber so, als halber Autodidakt, ist er auch als Maler etwas sonderlich geblieben; und unleugbar ist auch etwas von seinem Leiden in seiner Art zu arbeiten. Ihm würde ich's ja nie sagen, aber dir sage ich es. So etwas spricht sich aus, es gibt auch in seiner Malerei eine gewisse Ängstlichkeit, gleichsam ein Stottern. Weißt du, er hat doch einen kleinen Sprachfehler, das macht ihn sehr scheu, und das hat mich so gerührt. Wir haben uns zufällig auf der Straßenbahn kennen gelernt; ich war noch nicht vierzehn Tage in München. Ich habe mich darüber geärgert, weil so ein bayerischer Hias'l, der ihm auf den Fuß getreten hatte, sich nicht bei ihm entschuldigte und ihm noch nachmachte, wie er zu ihm sagte, daß er zum mindesten ›Verzeihung‹ hätte sagen können. Und jetzt muß ich oft an dein Wort denken, das du mal sagtest: Liebe ist für eine Frau meist etwas, das auf der Plattform einer Straßenbahn beginnt und auf dem Operationsstuhl eines Arztes endet.«

»Ja und,« begann Doktor Herzfeld etwas schwer (wo war all seine Überlegenheit?!) »weiß dein Mann? …«

»Gewiß, denkst du, ich hätte ihn sonst geheiratet? Ich habe ihm damals gesagt, daß ich ihn nicht liebe, aber daß ich versuchen werde, ihn lieb zu gewinnen. Ich habe ihm ganz ruhig gesagt, daß ich einen Mann sehr gern habe, der viel älter ist als ich, und der aber mich nicht heiraten soll, und den ich nie heiraten würde; und daß ich deshalb jetzt auch nach München gegangen wäre. Und er hat geantwortet, er würde sich damit abfinden und warten, bis ich ihn lieb gewänne. Und so haben wir uns dann geheiratet. Aber jetzt, – er war doch draußen 1915, aber sie haben ihn dann wieder von der Front zurückgeschickt, weil es wohl doch nicht ging mit ihm … und wenn man einen Menschen verlieren soll, dann merkt man erst, wie lieb man ihn eigentlich hat … aber jetzt danke ich jeden Morgen meinem Schöpfer, daß er ihn hier im Generalstab sitzen und Karten zeichnen läßt. Ich sage ihm täglich, er soll nur recht langsam und akkurat arbeiten, daß es ja noch etwas später für ihn zu tun gibt. Ich bin ganz glücklich, daß er jetzt bei ›Mesopotamien, eins zu zehntausend‹ ist, da kann der Krieg hundert Jahre dauern, bis er damit fertig wird.«

Doktor Herzfeld lachte. »Rehchen, die Blumen, ich halte sie immer noch in der Hand wie ein Sekundaner beim ersten Rendezvous! – Für dich!«

»Ach – die hübschen Blumen, wo hast du denn die aufgetrieben; man kriegt doch keine mehr. Warte, ich will ihnen Wasser geben. Nein, laß, Horace, ich klingele hier nach der Zofe.«

»Weißt du, was ich dir eigentlich mitbringen wollte: eine Ziehharmonika. Ich habe da oben am Bahnhof eine gesehen, eine schöne mit Zügen und Doppelklappen und Schingschellen zum Aufsetzen; aber ich fürchtete, du wärest zu vornehm dazu geworden.«

»Gott, Horace, man bleibt, wer man ist: man wird nicht vornehm. Nur wer sich stets verändert, erkennt sich selbst, heißt es. Deswegen erkennt sich wohl keiner selbst, weil sich niemand eigentlich verändert, wenigstens niemand, der etwas ist; – und die anderen zählen doch nicht. Siehst du,« – sie hatte der Zenzi die Blumen gegeben und sich noch, bevor sie ging, in den schönen langen, tiefbraunen Pelzmantel helfen lassen – »wie ich den Zobelpelz hier, – er soll etwas ganz besonderes sein, – von meinem Mann bekam, (und von dem, was er kostete, hätte ich früher vier Jahre gut und gern gelebt) da dachte ich mir zwei Tage lang: Nun bist du eine große Dame, Rehchen! Und am dritten Tage wußte ich wieder ganz genau, ich bin doch nur ein armes Luderchen, gerade wie alle anderen auch. Weißt du, die erste Zeit habe ich immer geglaubt, wenn mein Mann bei mir war und ich die Augen schloß, das wärest du, und du wärest lieb und gut zu mir. Aber jetzt bin ich beruhigt, geborgen und ganz emotionslos. Ich dachte immer, mir fehlt die Grazie des Verzichtenkönnens; aber es muß doch wohl nicht völlig so sein. Ich weiß, Horace, wir beide werden uns immer einmal wiedersehen in diesem Leben … oder irgendwo sonst, – das ist ja letzten Endes gleich, – wo wir uns wiedersehen ist Leben: Wir werden uns die Hände geben, und wir werden Jahrzehnte in diesem Händedruck spüren; und das genügt mir.«

»Gewiß, Rehchen, im Aufleuchten eines Auges und im Druck einer Hand ist vielleicht das Feinste umschlossen, das wir zu geben haben. Weißt du noch, Rehchen, in einer Walpurgisnacht … aber wir wollen nicht davon reden, … da erinnertest du mich, daß ich einmal vor dir gekniet und geweint hätte. Nein, nein, ich will das ja nicht tun … aber darf ich dir deine Madonnenhände küssen? … Weißt du, ich war vorhin in der ›Alten‹ und da habe ich herausgefunden, daß die Madonnen der Gotiker alle Kunstgewerblerinnenhände haben. Ach du, du … Geliebte … Nein nein, … also wir wollen gehen, Rehchen, wenn du doch bald wieder zurück sein mußt.«

»Aber du mußt langsam mit mir gehen, vor allem die Treppen hier unten. Auf der Straße ist es nicht so schlimm, da merkt man kaum was. Früher bin ich dir immer zu schnell gelaufen, jetzt wirst du mir zu schnell laufen.«

»Arbeitest du eigentlich noch etwas? So Buchhüllen und Teepuppen, Lampenschirme und Vorsatzpapier?«

»Und lauter solche Dinge, die ich zwar nie gemacht habe, aber die du so liebst!« Rehchen lachte. » Ich kenn' dich doch, Horace! Nein, ich habe seit zwei Jahren nicht einen Stift mehr in die Hand genommen, aber vielleicht fange ich mal wieder an. Ich glaube aber, mein Mann sieht es nicht gern.«

»Rehchen, wirst du wohl die Hände von der schweren Haustür lassen!«

Draußen war es immer noch schön; Flanierende, aber eigentlich jetzt ganz andere als vorhin. Die nahmen wohl ihren Tee gerade, waren eingeladen um diese Zeit. Die jetzt um vier waren ja auch noch gut gekleidete Menschen, aber eine Schicht schon tiefer als die zwischen zwei und drei. Sonne fast am Untergang, und ganz leichter, rötlich und violett durchstrahlter Winternebel in den langen Straßenzügen, in die man hinblickt. Der Himmel nicht mehr ganz klar: ein paar schnelle, graue Wolken, die von Osten heranfliegen, über den Wipfeln der Parkbäume, … trotzdem die Luft unten ganz windstill und unbewegt ist und eine frische, beginnende Nachtkälte atmet, in der schon das Glitzern der Wintersterne liegt.

»Laß dich mal ansehen,« sagt Rehchen, sie lacht noch. »Du hast dich kaum verändert in den bald drei Jahren. Ich habe mich eigentlich oben gar nicht um dich gekümmert, so viel hatte ich dir zu erzählen. Die meisten Menschen sind jetzt sehr herunter, kaum noch wiederzuerkennen, vor allem in deinem Alter. Wirklich, du siehst weit besser aus, als ich fürchtete, daß du aussähest. Nun ja, das bischen mehr Grau da oben; da kann man ruhig sagen: ›Hei steiht ihm aber god.‹«

Doktor Herzfeld geht langsam neben Rehchen her, die vorsichtig und auch etwas schwer die Füße setzt. Zwar ist die Straße ganz sauber; immerhin, es könnte irgendwie doch glatt sein. Er wagt nicht ihr den Arm zu bieten; er will Lustiges und Gleichgültiges sprechen, aber es gelingt ihm nicht.

»Siehst du, Rehchen, die langen Eisenketten da, die zwischen den kurzen Steinpfosten schaukeln, die den Vorhof von der Straße trennen … Was ist das nebenbei für ein Gebäude hier? Ach, das Kriegsministerium! … Sollte in die Luft gesprengt … nein, nein, in ein Findelhaus umgewandelt werden. Weißt du, was das mit den Ketten für eine Bewandtnis hat? Nein? Und du willst Münchnerin sein?! Das sind die Uhrketten der ehemaligen Stammgäste des Hofbräuhauses, die ihnen früher über den Bauch baumelten und ihnen kaum von einer Westentasche zur anderen gingen, und die ihnen heute dreimal um den Leib gehen würden. Und sie sind jetzt vor kurzem gesammelt und zum ewigen Andenken an die fetteren Zeiten vom bayerischen Staat hier aufgehängt worden für nachwachsende Enkelgeschlechter.«

Rehchen lachte. »Auf München lasse ich nichts kommen.« »Diese Ketten scheinen nebenbei ein Zeichen kriegerischer Gesinnung zu sein; denn in Berlin vor dem Zeughaus gibt es auch welche. Und das Schönste in meiner Jugend war, mich auf ihnen zu schaukeln und dann vor dem drohenden Schutzmann wegzulaufen.«

Die breite Ludwigstraße mit ihren durcheinanderträufelnden Menschenfluten war jetzt ganz anders, bekam ihr Abendgesicht, hatte ihre heure bleue, ihre schönste Stunde, war reich belebt. Die grüne Kuppel der Theatinerkirche, – die dicke Kinderfrau mit ihren beiden Zöglingen rechts und links, – schnitt dunkel und übergroß nun in einen flammigen lichtgrünen Himmel.

Ja, Rehchen hätte in der Weinstraße zu tun.

Doktor Herzfeld spricht wenig, – es fällt ihm immer schwerer, Worte zu finden, – er geht ganz langsam neben Rehchen her und fühlt über sich eine Welle von wehmütiger Wonne hinstreichen; er hört kaum zu, was Rehchen spricht.

Sie erzählt von ihrem Mann, (irgendwie hat sie Doktor Herzfeld gefragt, ob er, weil er Gemsen male, wohl ein eifriger Wilddieb und Gipfelstürmer wäre.) Nein, nein, wie Horace darauf käme, das sei eine dumme und häufige Verwechselung, er habe einen entfernten Vetter, der scheußliche Gemsenbilder kilometerlang male und gar nicht genug herstellen könne, jetzt für den neuen Münchener Reichtum. Ihr Mann hätte nur einmal eine alpine Landschaft von Haider kopiert, als er anfing, zu arbeiten; gewiß, er liebe auch Hochgebirgslandschaften sehr, weil er seit über zehn Jahren nur die Berge von unten noch sähe; (sie hätten noch ein kleines Sommerhaus am Tegernsee) aber da er doch ohne Zweifel zu Asthma neige (wegen seines Leidens etwas), so könne er natürlich nicht sehr gut steigen, und ein Jäger wäre er auch nicht. Es liegt ihm nicht, Tiere zu töten, durchaus nicht; denn er wäre ein sehr weicher und scheuer Mensch, der sich seit seiner Studentenzeit viel mit Buddhismus beschäftige, und der nie ohne Not eine Flinte zur Hand nehmen würde. Er wäre auch eigentlich ihr gegenüber scheu und oft noch mit seinen siebenunddreißig wie ein Schuljunge in seiner Verehrung. Aber das, gerade das tut einer Frau manchmal sehr wohl.

Die Schluchten der Theatiner- und Dienerstraße, die sich rechts und links von der Feldherrnhalle auftun, sind schon fast dunkel, nur von einem gleichsam zornig-farbigen Abendhimmel überflammt, der oben auch die beschneiten Dächer phosphoreszieren macht. Hier gibt es schöne Geschäfte mit gefüllten Auslagen.

»Ah, schon Weihnachtskerzen, Rehchen!« ruft Doktor Herzfeld.

Rehchen blickt Doktor Herzfeld eine Sekunde an, ihr Auge huscht nur über sein Gesicht fort, aber dieser Blick ist mehr als eine Hingabe. »Komm weiter. Ich kann keine Kerze leiden, Horace, die nicht gebrannt hat. Sie muß brennen oder – erloschen sein. Ein Drittes gibt es nicht.«

Doktor Herzfeld fühlt: jetzt mußt du sprechen, – und preßt die Lippen aufeinander und schweigt.

Graue Wolken, wie sie vorhin über die Parkbäume dahinsegelten, sind jetzt herangekommen und stäuben feine, langsame Flocken herab, nicht viel, eigentlich kaum zu merken, aber genug, um das Pflaster ein wenig glatt zu machen und Rehchens Schritten eine erhöhte Unsicherheit zu geben.

»Horace, du mußt mir den Arm reichen,« sagt Rehchen und hängt sich bei Doktor Herzfeld ein, »und ich denke, ich gehe nach Hause, ich kann ja auch an die Leute telefonieren. Weißt du, wie das so plötzlich schneit, das erinnert mich: wir hatten zu Hause einen Briefbeschwerer, eine Glaskugel mit Wasser gefüllt, und da war eine Winterlandschaft drin; und wenn man die schüttelte, dann schneite sie so ganz langsam wieder zu. Das war sehr schön, aber es dauerte nur kurze Zeit. So wird es mit dem Schneefall auch sein … paß auf, es wird gleich wieder klar.«

Doktor Herzfeld fühlt sich wie benommen. Diese etwas schwere Berührung ihres Armes, – sie ist wohl müde! – und die Wärme, die durch den Pelz verursacht wird, geben ihm mit nicht zu überbietender Deutlichkeit das Gefühl von dem Überströmen ihres Blutes in das seine, … und seines Blutes in das ihrige. Er hat die Empfindung, als ob auch er gleichsam Lebenskräfte diesem werdenden Wesen da zuführt, und eine schmerzhafte Zuneigung packt ihn zu diesem ungeborenen Kind, das schon in wenigen Tagen, ja vielleicht schon in wenigen Stunden seinen Weg in die grausigste aller Welten sich suchen soll. So bist du mit einer solchen Frau am Arm doch schon einmal gegangen in deinem Leben … vor fünfzehn Jahren! schießt es ihm durch den Kopf. Er hat im Augenblick ganz vergessen, daß das Kind nicht ihm gehört, und er meint, kurz vor einer Erfüllung und Verewigung seines Seins zu stehen, das sonst hoffnungslos ins Leere verflattern würde. Und das ist für ihn mit einer so schmerzlichen Beseligung verbunden, wie er sich nicht erinnert, sie jemals gespürt zu haben. Zugleich aber flutet ein Mitleid mit der Schwere alles Frauenseins von der Kraft eines ins Geistige überhöhten Liebesgefühls durch ihn hin, das ihm Auge und Stimme verschleiert. Ist er nicht wie Josef, der alte graue Josef, der Maria mit dem fremden göttlichen Kind im Leib stützt auf dem Gang nach Bethlehem?

Rehchen hat irgendwie seine Hand, die er durch ihren schwedischen Handschuh mit jedem Zucken und jedem Pulsschlag fühlte, im Gehen ganz auf die seine geschoben (sie liebte das von je, aber jetzt tut sie es vielleicht, um mehr Stütze zu haben).

»Wollen wir einen Wagen nehmen? Ich glaube, es ist besser für dich, drüben am Hofgartentor stehen welche.«

Es ist inzwischen dunkel geworden, Laternen blitzen auf, erleuchtete Tramways jagen vorbei. Fernen sind ganz verdämmert schon. Die kommende Nacht läßt den Himmel wie einen Sargdeckel über die Straßen herabsinken. Aber es will doch noch nicht ganz dunkel werden, der Schnee hält irgendwie Licht.

»Nein, die paar Schritte … Und wenn wir einen Wagen nehmen, dann kann ich ja nicht mit dir gehen, Horace, … und ich gehe doch so gern noch mal mit Dir.«

In Doktor Herzfeld klingt es von ungesprochenen Worten; es ist ihm, als ob er reden müßte: und was soll unser Kind einmal werden, Rehchen? Alle Größe der Welt ist immer wieder aus eurem Schoß gekommen. Seit zehntausend Jahren haben Väter gehofft und Mütter gefleht, daß ihre Kinder frei würden, es besser hätten als sie, und stets sind sie der alten, urewigen Sklaverei des Seins verfallen, in der die Welt immer wieder sich verblutete. Und doch trägt jede von euch den Erlöser in sich und jede eurer Töchter kann die Mutter des neuen Welterlösers werden. Erst wenn die Macht zerschellt ist, können die Menschen kommen, die nicht am Leben zerschellen, wie wir es tun. Und ich weiß, du wirst ihm das Dasein schenken und der Glanz davon wird über dich und mich hingehen.

Oder es wird ein Mädchen sein, und sie wird dir gleichen; (niemand kann sie sich besser wünschen!) aber sie wird tanzen und springen und klug und frisch und schön sein; und die Liebe wird sie in ihre Arme nehmen und sie so glücklich machen, wie wir es werden wollten, Rehchen. Und so wird auch sie die letzte Erfüllung von uns sein. Und sie soll ganzen Geschlechtern mit hellen Augen das Leben geben, die durch Jahrhunderte ihr Reich verkünden, kommen und gehen, nicht mehr Sklaven auf dieser Erde, nicht Gäste, sondern mutvolle, wohlgemute, ringende Menschenkinder, die alles dem Sein abtrotzen, was es ihnen bietet, und nicht an dem zerbrechen, was es ihnen ewig versagen muß durch die Bedingtheit alles Menschenlebens. Ich habe einmal vor dir gekniet, Rehchen; und heute, wo du die Mutter der Menschen bist, knie ich wieder vor dir, und wenn es auch als verbrauchter Bettler ist, … und nur an einer Seitenstufe deines Altares.

Aber von all dem verrät Doktor Herzfeld nichts. Höchstens einmal, daß ein Zucken seiner Hand oder ein ganz scheues Streicheln ihrer Finger etwas davon Rehchen offenbart. Auch Rehchen, die sich immer zu plaudern bemüht, – denn sie fühlt genau, sie muß reden, um Herrin der Lage zu bleiben, – bringt immer größere Pausen in das liebe Geplätscher ihrer kleinen Worte.

Plötzlich bleibt sie aufatmend vor einem Blumenladen stehen. Er hat schöne Blumen für die Jahreszeit. Aber die will sie nicht. Ganz in die Ecke auf einem Glasbrettchen duckt sich ein kleines, rotes, bemaltes Tontöpfchen, nicht viel größer als ein Fingerhut, wie ein paar grünen, kleeartigen Blättchen darin, und zum Überfluß ist noch ein kleiner hölzerner Fliegenpilz in den Boden gesteckt. Sie zeigt auf das und bekommt ganz heiße Augen; die plötzliche Besitzsucht der Schwangeren macht sie ordentlich zittern. »Kauf mir das, Horace,« sagt sie, »ich muß das haben, ich finde es so hübsch,« und sie ist nicht zufrieden, bis sie die kleine Scheußlichkeit wohl und sorgsam eingewickelt in ihren Händen trägt.

O, da sind sie wieder an ihrer Tür. Rehchen hat sich losgemacht, steht ihm gegenüber. Sie ist jetzt gerötet von der Luft, und da der weite Zobelmantel fast nichts von ihrem Zustand erkennen läßt, scheint sie im Augenblick mit diesem geheimsten Lächeln unter den verwirrten Locken genau die gleiche wie jene, die dort auf der Terrasse unter dem Flieder saß, nicht ein Zug ihres Gesichtes, nicht ein Glied ihres Körpers hat sich verändert. Jetzt sprechen … (Wie heißt es doch?! … Das Kind, das du im Leibe hast, sei deiner Seele keine Last). Und du weißt, sie geht mit dir, mit dir, mit dir! …

Aber Doktor Herzfeld preßt die Lippen fest zusammen, und seine an sich schon dünngeschnittenen Lippen werden so schmal wie ein Strich, wie die Lippe auf einer japanischen Maske.

»Willst du noch heraufkommen, Horace? Ich glaube, mein Mann kennt dich besser als du dich kennst, soviel habe ich ihm von dir erzählt. Aber ich verstehe, daß du das nicht magst. Küß mir nicht die Hand, bitte! Wir wollen nicht lange von einander Abschied nehmen. Abschied ist stets bedrückend, und schließlich sehnt man das Ende mehr herbei, als man sich vor ihm fürchtet. Sparen wir uns das, Horace … Warum sprichst du nicht? … Weißt du, schreib mir ein paar gute Worte dann und wann, ich bin dir dankbar dafür, und zeig mir hin und wieder« – jetzt ist Rehchen schon wieder ganz Dame, ganz bei sich zu Hause innerlich, und Doktor Herzfeld ist nur noch eine lebende Erinnerung – »hin und wieder einmal, daß du mich nicht ganz vergißt. Bei mir brauchst du keine Furcht zu haben, daß es geschieht; mir geht alle Freude und aller Schmerz so tief ins Blut, daß ich nie vergessen kann. Leb wohl, Horace Walpole!«

»Leb wohl, Rehchen, und alles Gute über dich für die nächsten acht Tage! Und dann, für die nächsten fünfzig Jahre! Laß, ich öffne dir noch die Tür …, sie geht so schwer auf, Rehchen.«

Und dann war noch ein matter brauner Schimmer eines Pelzmantels da für Doktor Herzfeld; dann der Klang von zagen Schritten; und dann – nichts mehr.

A la joie de ne vous revoir jamais! … Und draußen schießen sie immer noch! Ja, ja, wirklich, sie tun's, auch wenn ich fünf Stunden nicht mehr daran gedacht habe. Ich habe ganz deutlich jetzt wieder das Summen in den Ohren.

Plötzlich war Doktor Herzfeld drüben am Zaun und hielt sich mit beiden Händen an den Eisenstangen. Was stand doch da dran vorhin? ›Sprechstunde für Pferde?!‹ … Aber das ist ja das Komischste, das ich seit zehn Jahren gelesen habe! Hahahahaha! Sprechstunde für Pferde! Pferde können rechnen, ziehen Kubikwurzeln, – ich habe selbst als Erster den klugen Hans gesehen, – aber sprechen, nein, das tun sie nicht. Ich muß da aber irgendwie mit dem Gesicht in Schnee gekommen sein, denn ich bin ganz naß im Gesicht … denn endlich bin ich ja doch kein homerischer Held, der schluchzend sein Haupt verhüllt … Nein: Nicht hier bleiben! Schleppen wir den Leichnam meiner Seele noch ein Stück weiter! Um sechs geht mein Zug. Wenn ich eine Tram nehme, bekomme ich ihn noch; zahlen kann ich ja schnell im Gasthof; gepackt ist … Die psychiatrische Wissenschaft kennt Fälle von Leuten, die in einem solchen Zustand, – wie nannten sie diesen Dämmerzustand doch?! – vom Bahnhof Friedrichstraße bis nach Bombay gereist sind und alles richtig gemacht haben, kein Mensch hat etwas gemerkt. Merkwürdige Welt; auf die Kathedrale von Reims schießen sie und auf das Rathaus von Löwen, aber auf das Rathaus in München schießt kein Mensch mit Kanonen, – verkehrte Welt! Bin zwar vollkommen und durchaus gegen jegliches Schießen – aber immerhin wäre rein aus architektonischen Gründen zu begrüßen, daß, wenn schon überhaupt Bauwerke demoliert werden sollen, man das durch eine Kunstkommission nach ästhetischen Grundsätzen regeln würde.

Warum hat man eigentlich nur so schlechte Beleuchtung des Nachts hier. Alles verschmiert und alles dunkel. Leute rennen rum wie Ratten in einem Keller. Eigentlich doch einer Großstadt unwürdig! Wie war da gestern der Vers, den ich nicht los wurde, solch ein spaßiger Vers … Ach nein, das war ja die Blumenfrau, die sagte, daß ich ein spaßiger Herr wäre, nicht der Vers, von dem hat sie, die Blumenfrau, gar nicht gesprochen. Der Vers war von Goethe …, ja ja, Goethe. »So sind wir, scheinfrei, denn nach manchen Jahren nur übler dran, als wir zu Anfang waren«. Und dann war da noch was, das hieß: »Das Liebste wird vom Herzen weggescholten«.

Woher dieser Mann das nur alles gewußt hat?!

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