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Den ganzen Tag hatte es auf Berlin aus niedrig ziehenden Wolken herabgetropft wie aus einem nassen Badelaken. Es waren schwere Wolken, die dahinschleiften und stets und ständig die Gestalt änderten. Einzelne Nebelfetzen, die sich gelöst hatten oder nur durch dünne elastische Bänder mit ihnen verbunden blieben, versuchten, ob es ihnen nicht gelänge, die Dächer zu berühren, oder ob sie sich nicht wenigstens an den Wipfeln der Pappeln draußen – denn die ragten am höchsten – irgendwie einen Augenblick festhalten könnten.

Also: solche Wolken waren das, wie sie eine Quelle des Entzückens für den Maler bilden mit lehmgelben Lichtern inmitten von tausend Abstufungen, die von Maulwurfsfarben bis zum hauchfeinen, kaum noch lasierten Silbergrau reichen und die man auf Gemälden über alles gern sieht … sie fordern zu hastig geistvollen Pinselhieben geradezu heraus – bei einem Ruysdael setzen sie uns in Entzücken, über selbst bei dem jüngsten Anfänger ist ihr plumpes Widerspiel unseres Lobes sicher – also: (um es schlicht und rund zu sagen) solche Wolken waren das, die, sofern sie, tropfend und schüttend, von früh bis spät ohne Unterbrechung über die Vorstädte einer triefenden, halbdunkeln, glitschigen Großstadt dahinjagen, uns jedes Lebenssinns zu berauben scheinen und uns noch zehnmal unmutsvoller und verzweifelter machen, als wir es ohnedies schon sind … an solch einem trübfeuchten, von kommender Winterkälte durchschauerten Tage des späten November, … einem Tage, dessen ihm innewohnende Hoffnungslosigkeit sich einzig dadurch noch zu steigern vermag, daß seit über zwei Jahren die ganze Welt Tränen und Blut weint.

Man wird meinen: was haben diese Wolken mit der Erzählung hier zu tun?! Gewiß soll das wieder nur solch Anfang sein, eine Einführung, ein Auftakt, ein Stimmungsmoment, über das hinwegzulesen Pflicht ist, wie man es von je liebt, und mit dem seit hundertfünfzig Jahren eben alle Schauerromane beginnen: »es war an einem stürmischen Novembertag, … der Wind fegte die letzten welken Blätter in Wirbeln von den dürren Ästen; … die Wolken, schwer und schwarz, wälzten sich von Osten her über den Himmel … und trommelten mit dicken Tropfen auf die Dächer des Faubourg St. Julien …«

Nein, weit gefehlt: würde es zum Beispiel hier heißen, »... es war ein müder, seltsam blauer Tag; spät war er hochgezogen, mit einem leise, ganz hauchleise nebelverhangenen Himmel, der doch schon am Vormittag vor der alten Sonne bald völlig und bis in den letzten Winkel klar geworden war; und nun schien er nur von den schönen Erinnerungen an den Sommer zu leben, schien uns vergessen machen zu wollen, daß schon vor vierzehn Tagen die letzten Georginen verblüht und die letzten spitzen Blättchen von den Weidenruten gestäubt waren. Die Luft, mattblau und durchwärmt, schmeichelte uns vielleicht nur deshalb, damit wir nicht die Schwalben in ihr vermissen sollten. Es war der vierte in einer Kette milder Spätherbsttage, und man fühlte, er dürfte noch eine ganze Reihe von Brüdern im Gefolge haben« … würde es so lauten, so müßte damit unsere ganze Geschichte hinfällig werden und auf ewig ungeschrieben bleiben.

Stunden, Tage, Wetter, Himmel, Kälte, Wärme, Regen und Sonnenschein, Nebel und Frost sind ja nicht gleichbedeutend für unser Dasein und nicht immer in sich von gleichem Sinn für uns, so wenig wie Tag und Nacht. Es gibt Stunden und Voraussetzungen im Himmel, im Wetter, im Atmosphärischen für Einkehr in uns selbst, für Erinnerungen, für Liebe und Begehren, für Geborenwerden, für Sterben und Selbstmorde. Ich weiß nicht, ob man darüber Nachforschungen angestellt hat, wann Leute sich verlieben, sich das Leben nehmen, sterben, in welcher Stunde, unter welcher Witterung … (Beethoven starb während eines Gewitters mit Schneesturm.) In der Ziege des Herrn Seguin heißt es: die ganze Nacht kämpfte sie, mais lorsque le jour arriva le loup la mangea. Sie durfte eben nicht eher sterben als mit dem heraufdämmernden Licht des Tages. Und könnte es in Goethes italienischer Reise gleich zu Anfang anders heißen: als »an einem schönen, stillen Nebelmorgen; die oberen Wolken streifig und wollig, die unteren schwer,« hat nicht Goethe selbst empfunden, daß es nur so und nicht anders sein durfte, als er jene Reise antrat, die einen Knick bedeuten sollte in seinem Dasein?! »Mir schienen das gute Anzeichen,« schreibt er.

Wir ruhen im Atmosphärischen, sind weit tiefer in ihm verankert, weit geheimnisvoller von ihm gelenkt, geschoben und beeinflußt, als wir das ahnen und glauben mögen. Es schafft uns Komplexe unseres Denkens, läßt uns das Dasein heute leicht und jubelnd oder morgen müde und quälerisch empfinden wie eine allzuschwere Last, die wir um jeden Preis von den Schultern werfen müssen. Es drückt uns zur letzten Lässigkeit nieder, und es regt uns zu Taten an, schafft plötzliche Entschlüsse, von denen wir selbst Stunden vorher nichts ahnten. Es setzt uns Zufälligkeiten aus, die eben keine Zufälligkeiten sind.

Und so ich hier von den »Wolken« spreche, so tue ich es also nicht, um meine Geschichte gut einzuführen; nein, diese Wolken hier sind der Beginn, der Schlüssel, die Voraussetzung der ganzen Geschichte, das Wichtigste an ihr. Ohne diese tiefhängenden Wolken eines trübfeuchten Tages am späten November wäre diese Geschichte ganz anders geworden, hätte sich überhaupt nie ereignet.

Und wenn es weiter heißt, daß sich am Nachmittag die schweren Tropfen eben dieser Wolken allmählich in breite, federnde Schneeflocken wandelten, so ist auch das keine nebensächliche Arabeske am Rande unserer Geschichte, sondern gehört zu ihr, ist ihre Wurzel, eine ihrer Bedingtheiten. Erst gab es also Regen und Schnee, dann Schnee und Regen und endlich nur noch Schnee. In unregelmäßigen Tanzfiguren schwebten die Flocken herab, einzeln und miteinander verklebt. Man konnte meinen, daß von oben unsichtbare Frauenhände Papierfetzen herabstreuten, mal noch in größeren Blättchen, mal mit Sorgfalt zu ganz kleinen Stückchen zerrissen, gerade als ob sie von unwichtigen und von wichtigen Briefen herrührten, denn je wichtiger und persönlicher ein Brief ist, desto kleiner sind ja die Stücke, in die ihn Frauenhände nachher zu zerreißen pflegen.

Liegen blieben sie noch nicht, die Schneeflocken, wenigstens keineswegs überall und durchaus nicht alle; die meisten verschmolzen miteinander auf dem Boden zu einer gelbgrauen Kruste, die unter den Schritten der Menschen mit dumpfen runden Lauten wehklagte, wie wenn jeder Tritt auf einen Frosch träfe, während sich die Wagenspuren, lang, dünn und geglättet, in ihr abzeichneten, und wie mit hohen zwitschernden Fisteltönen um Hilfe riefen.

An einigen Stellen behielt der Schnee aber doch seine weiße, weiche, himmelgegebene Wesenheit. Man konnte nicht vorher bestimmen, wo er es tun würde. Er hatte dafür seine eigenen, geheimnisvollen Gesetze. Er sammelte sich zu weißen Polstern an Zaunwinkeln, um Laternenpfähle, auf der Umhüllung junger Alleebäume, auf den Teerpappendächern von Schuppen und Gartenlauben. In Vorgärten und um Türnischen machte er sich seßhaft. Um die roten Knöpfchen, neben den Weichen im schwarzen Geäst der Schienen hinten auf dem Bahnkörper zog er genau abgezirkelte Kreise. Und über die Bremserhäuschen – nur über Bremserhäuschen, nicht etwa über die Dächer der Güterwagen selbst! – hing er seine dünnen und löcherigen Wolldecken auf. Auf unmerklichen Erhöhungen der Wege und Straßen draußen im Vorort blieb er liegen: so – hier bin ich, und hier werde ich vorerst einmal bleiben, und sollte es auch nur eine kleine Unsterblichkeit von vierundzwanzig Stunden sein. Er bildete seltsame Muster und lustig gezackte Inseln da, und wenn man von oben von den Fenstern herabsah, so krochen die Straßen da draußen – in der Stadt selbst mochten sie schwarz und naß noch sein – mit ihren leichten Windungen … grau, dunkel und weiß gescheckt … wie riesige Schlangen dahin.

Jemand, – wir werden uns mit ihm noch näher, und vielleicht mehr zu beschäftigen haben, als uns lieb ist – jemand war also ohne ersichtlichen Grund von seinem Schreibtisch aufgestanden, unruhig und mißgestimmt, seit wohl einer Stunde schon überzeugt von der tiefen Zwecklosigkeit seiner Tätigkeit. Er war eine Weile durch das Zimmer gegangen; hatte sich dann breitbeinig vor die Bücher gestellt, ohne zu entdecken, welches ihn etwa in diesem Augenblick reizen würde, es herauszunehmen (alle waren gerade alt geworden); hatte auf das Schachbrett geglotzt, diese Zufluchtsstätte der Innerlich-deracinierten – und hatte dann sich über die bronzierten Behänge der Zentralheizung geärgert, die ihn immer an Schnüre von Haifischeiern aus dem alten Aquarium erinnerten, und die stets irgendwie in Verwirrung geraten waren, sodaß man lange Zeit brauchte, um sie wieder ins Lot zu bringen. Richtig, da waren wieder ein paar von den vergoldeten Haifischeiern aus der Reihe gekommen und hatten sich über die anderen geschoben; er versuchte, sie in Ordnung zu bringen, aber seine Finger waren zu ungelenk und hastig, und er zog nur die andern, die bisher glatt gesessen hatten, mit in den Wirrwarr hinein, »soll sich morgen die Roggemann 'mit ärgern – was gehts mich an …,« sagte er sich und ließ die gelben Blechschnüre fahren, daß sie rasselnd durcheinander fielen und eine Weile mit hellen Metalltönen noch hin und her schwankten, seltsam musikalisch heute. Nein, nicht die Blechschnüre …, da wurde ja schon wieder irgendwo im Haus Klavier gespielt. Man tat das fast stets, unter ihm oder über ihm. Er saß gerade in der Mitte. Er wußte es nie recht, von welcher Ecke er musikalisch unter Feuer genommen wurde. Es war ein durch und durch klavierverseuchtes Haus. Er hatte sich hier eingemietet, weil einem keine Nachbarn in die Fenster gucken konnten. Aber dieser Leibschaden war ihm verschwiegen worden. Er hatte sich auch ziemlich daran gewöhnt. Manchmal überhörte er es sogar – selbst beim Schreiben. Manchmal war es beinahe absoluter Genuß, ganz abgeklärt, reinste in sich schwebende Musik, die im Raum für sich lebte, ohne durch Spieler und Instrument entweiht zu sein. Unerhört beseligend konnte das oft sein, und wenn es auch das Gestümper eines Kindes war, das durchaus nicht einsah, warum man den »Fröhlichen Landmann« nicht zwischendurch auch in C-dur spielen sollte; ja, selbst wenn es ein Schmachtfetzen war, der versicherte, daß irgend jemand im Himmel einen Freund hätte, oder daß an der Wieden ein kleines Hotel stände … nur ein paar Töne davon, plötzlich erhascht, losgelöst und verschwebend, konnten ihn dann durchrieseln wie ein edles Adagio, als das Sinnbild aller Musik. Aber heute brachte ihn dies wilde Gehacke da oben, das mitleidlos wie ein Spielautomat sein Pensum herunterrasselte, zur Verzweiflung … einen Spielautomaten kann man abstellen, einen Spielautomaten kann man entzweischlagen, bis die Räder und Stifte einzeln durch die Stube fliegen … aber das war ein unsichtbarer Feind, irgendwo im All wohnend, dem er ohnmächtig gegenüber stand, und der auf seinen Nerven herumschlug wie auf einem Hackbrett; man mußte es über sich weggehen lassen, einfach wie eine Welle über den Rücken, den Kopf einziehen und warten bis es vorüber war … So, jetzt kommen schon die letzten sich kräuselnden Spritzer, bim … bam … bumm … bummmm!!! Gott sei Dank! – … Ah, sieh mal: da draußen schneit es sogar.

Er ging hinüber und stellte sich an das Fenster, um stumpf und zwecklos gen Himmel in die tanzenden Schleier von weißen Funken zu blicken. Es fiel ihm ein, wie er als Kind immer den Schneeflocken kommandiert hatte: lang–sam … lang–sam … schneller … schneller … schneller … schneller! Er versuchte es zweimal, dreimal, aber sie spotteten seiner, gerade umgekehrt taten sie es. Er hatte die Macht über die Schneeflocken verloren, die er einstmals in seiner Jugend unbeschränkt besessen hatte … (was hatte er eigentlich seitdem nicht verloren?!). Er versuchte es noch einmal, ob er sie nicht wieder an sich reißen könnte, es nützte nichts, die Flocken fielen wie sie wollten. Ja, sie hielten überhaupt kein Tempo ein, sie kamen angeschossen aus dem dicklichen Grau wie ein Steinhagel, wie weiße Fliegerpfeile und, wenn er ihnen sein » Schneller« zurief, dann blieben sie wie angenagelt in der Luft stehen und schwebten nur gemächlich auf und ab wie die Engel in einer Kindervorstellung, die an Drähten vom Schnürboden hängen; oder sie senkten sich ganz milde, feierlich und lautlos wie mit weißen Fledermausflügeln; und sowie er sie mit einem » Langsam« beschwor, kamen sie in Schuß, als ob sie ein Magneteisen anzöge. Er konnte es weder regieren, noch listig vorausbestimmen, damit er den Flocken gegenüber doch recht behielte … sie waren voll barocker Einfälle und schienen sich über ihn lustig zu machen … er verlor immer wieder in dem Spiel und wandte endlich seine Blicke von den herabstäubenden Funken ab und sah auf die Straße, die da unten schwarz, weiß und grau in leisen Windungen zwischen entlaubten Bäumen und einzelnen villenartigen Häusern, die mißmutig in kahlen Gärten froren, entlang kroch. Woran erinnerten ihn doch diese Schneeflecke im Grau und an den Ruten der Büsche? Woran nur?!

Ach, richtig, das hatte er ja schon in der letzten Nacht geträumt; er träumte ähnliche Dinge jetzt oft, ohne daß er ahnte, woher sich sein Hirn damit beschäftigen konnte. Er hatte die letzte Nacht von einem kleinen braunhaarigen Elefanten geträumt, einem kaum mannshohen, feisten, rotbraunen, zottigen Vieh, das es auf der Erde nicht mehr gab … vielleicht ehedem einmal gegeben hatte. Mit elementarer Wucht stürmte es durch eine herbstliche moorige Wildnis, patschte durch die großen unregelmäßigen Schneeflecken unter den Büschen – genau solche wie jetzt da unten lagen – und warf sich dann plötzlich, sodaß es um ihn nur so aufspritzte, in das schwarzgelbe, ziehende Wasser eines nordischen Flusses; Ob, Jenissei, Lena, wie man das in der Schule lernt (so stellt man sich es vor). Schnell und kräftig-tretend schwamm das Tier in ihm dahin, hatte dabei den Rüssel nach hinten über den Kopf geworfen, und die Wellen wühlten in den braunen Zotten seines Rückens und seiner Flanken. Dann sprang es am andern Ufer empor, schüttelte das Wasser ab wie ein großer Hund und stürzte sich über die gleichen Schneeflecke auf grauen Boden hin, um alsbald mit knackender Wucht ins Unterholz einzubrechen und den Blicken zu entschwinden … während das Schwanken der Büsche noch lange die Bahn wies, die da im Dickicht dieser unheimliche, gedrungene, kleinäugige Bursche entlang trabte, wild, tückisch, trotzig, ungebändigt und zerstörungswütig wie eine Naturkraft … Da, also da, hatte er doch diese Schneeflecke im Grau schon gesehen –! schon vorgeahnt! …

Seltsam … wie kam er jetzt nur zu solchen Träumen?! Sie lagen weit ab von den Vorstellungsketten seiner Tage. Wenn er noch Naturwissenschaftler gewesen wäre, Geograph, irgendwie Gelehrter, aber das war er doch nicht. Er nannte sie seine Urträume: Erinnerungen von vor dreißigtausend Jahren, oder von weit über hunderttausend Jahren zurück. Blasen, die in ihm hochstiegen aus den letzten Tiefen seiner Seele, wohin nie ein Lot sich hinabsenken konnte.

Vielleicht, meinte er, kamen sie jetzt in ihm empor, weil er sich so alt fühlte; nicht körperlich etwa viel mehr als seine Jahre, – er war eben die fünfzig vorüber, und das hatte ja bis vor kurzem noch nicht als allzu alt gegolten, wenn sich auch inzwischen die Ansichten darüber geändert hatten und plötzlich ein dicker Strich gezogen war, eine klare und deutliche Trennungslinie: jenseits davon fängt das alte Eisen an … nein, nicht körperlich … aber seelisch fühlte er sich unvordenklich-alt jetzt, um tausend Generationen älter als seine Umgebung. Er empfand seine Vergangenheit bis zu den Pyramiden hinab.

Diese letzten zwei Jahre Krieg hatten ihn schwer aus seinem Zentrum geworfen. Er selbst war zwar nicht mehr in dieses Völkermorden hineingezogen worden. Er stand abseits mit verschränkten Armen und sah es wie eine Straßenschlägerei vom Balkonfenster aus an. Er war eigentlich jetzt damit fertig. Alles, was er darüber zu denken hatte, hatte er gedacht. Die paar jüngeren Freunde, die er verlieren konnte, hatte er verloren. Und die paar älteren Freunde auch; denn sie hatten sich mehr oder minder jubelnd mit dieser Lebens- oder richtiger: Todesnotwendigkeit für die Andern – abgefunden. Der Krieg war ihnen ja nichts neues mehr. Sie hatten sich – langsam oder schnell – an den Gedanken gewöhnt, daß, während sie Kaffee tranken, ihre Zigarette rauchten, während sie aßen, schrieben, schliefen, liebten, arbeiteten, ins Theater gingen, im Kino hockten, – daß zu dieser Zeit gerade irgendwo im Osten, Norden, Süden oder Westen eine Flattermine die Gliedmaßen einiger hundert Menschen, – mit Steinbalken und Erdklumpen untermischt –, unter merklichem Lärmaufwand durch die Lüfte schleuderte; oder, daß gerade ein »Nest gesäubert wurde«; oder daß eine Horde von Menschen zu eben dieser Stunde mit Bajonetten in den Eingeweiden einer anderen Horde von Menschen herumwühlte (man nannte das technisch »Nahkampf«) … und sie hätten sich benachteiligt gefühlt, wenn sie es am nächsten Morgen nicht in der Zeitung gelesen hätten … Ja, sie verlangten noch als Zugabe, daß man die City der »Festung London« ausgiebig mit Bomben überirdischer Sprengwirkung, die die geniale Überlegenheit deutschen Gelehrtenfleißes dartat, belegte, und sie waren erst beruhigt, wenn man dabei stundenweit-leuchtende Brände festgestellt hatte. Dabei waren es alle seelensgute Menschen – (soweit es sich nicht um sie selbst, um ihre Dinge und um ihre Behaglichkeit drehte –) nichts weniger als mordgierig, hätten nie selbst einen Stein nach einem Spatzen geworfen, geschweige denn nach einem Kind … aber sie nahmen den Krieg als eine Gegebenheit und technische Notwendigkeit hin, so ungefähr wie den Eisenbahnbetrieb, von dem man weiß, daß er stets vorhanden ist, Tag und Nacht seine Züge durchs Land rollen läßt, aber der einen eigentlich nur dann etwas ernstlich angeht, wenn man selbst im Zuge sitzt.

Sie hatten sich eben umgestellt, seine älteren Freunde, fast alle ohne Ausnahme …, auch der Hermann Gutzeit. Ihm war es nicht gelungen: er bekam dieses Summen nicht aus den Ohren, – er wachte damit auf, und er legte sich damit hin, – dieses Sausen von den ewig-schwirrenden Granaten da draußen in der Welt. Es war die ständige Begleitung zu allem, was er sprach, las, tat, dachte … es verließ ihn nicht, druckte ihn nieder. Es überkam ihn manchmal, als ob er durch die Straßen laufen müßte, durch die Theater, über die Plätze, überall, wo Menschen sinnlos sich zusammenrotteten, und wie ein Lear die Fäuste schütteln und brüllen, »heult! heult! … seid ihr denn alle von Stein?!« bis er nicht mehr konnte, bis ihm der Schaum vorm Mund stand, bis er zusammenbrach. Was dann?! – man hätte ihn doch nur als Narren eingesperrt … und hätte fortgemordet … und hätte genau so schöne Worte dazu gemacht, wie man das bisher tat. Was vermochte ein Einzelner, wo man täglich Tausende zerstampfte?! Vielleicht gab's noch andere, die wie er dachten. Sie hätte sich auch wohl zusammentun können. Aber sie waren allein. Kannten sich nicht. Waren ohne Verbindung miteinander. Lebten jeder für sich auf einer einsamen Insel, verängstet, halb irre, umgeben von einem wellenhohen Meer von Gedankenlosigkeit, Dummheit und Gemeinheit, durch dessen Brandung kein Schrei, kein Zeichen bis zu denen weit drüben drang.

Und selbst wenn er sich den Andern hätte vernehmbar machen können, – was dann?! Es lag nicht in seinem Wesen, Proselyten zu machen, für oder gegen irgend etwas in der Welt. Für Gedanken zu werben, andere zu sich herüberzuziehen, hätte ihn in tiefster Seele nicht befriedigt. Er wußte genau, es wären doch immer wieder Stunden gekommen, wo er sich vor den Kopf geschlagen hätte: was hast du eigentlich, du … Doktor Alwin Herzfeld, Doktor philosophiae Alwin Herzfeld damit zu tun? Was geht es dich an? Und wenn all das, was du verlangst, gewährt wäre, würde dadurch auch nur um eine Haaresbreite dein Dasein weniger problematisch geworden sein? Also – wozu das alles?! Ich kenne mich doch: ich selbst, mein Ich würde nur aus mir heraustreten und sich abseits stellen mit verschränkten Armen, (so wie ich jetzt hier am Fenster stehe,) und mir zuschauen wie einem ganz fremden Wesen, wie einem Schauspieler, der eine Rolle mimt; es würde klatschen, sich begeistern, zischen, würde ergriffen sein, wenn er dahinsinkt, aber – es hätte nie selbst mitgespielt.

Gewiß, es gab ja Leute, die daran glaubten, die daran arbeiteten; man hätte sie finden, sich vereinen, sich ihnen anschließen können. Aber all die Leute hatten – so dünkte es ihm – bei ihrem Gebäude, das sich so schön und leicht und logisch und selbstverständlich in die Zukunft zu bauen schien, eines, eine ganze Kleinigkeit nur, nicht mit in Rechnung gezogen: das Fundament, auf dem sich eben nichts bauen ließ – die menschliche Seele. Sie war weder gut noch böse, die menschliche Seele, sie war seit Urgedenken so, wie sie ist, unverändert und unbelehrbar, stumpf und unzugänglich für jeden Einfluß. Wenn die menschliche Seele keine Religion vermocht hatte zu modeln, die doch seit Jahrtausenden mit Keulen immer wieder auf sie eingeschlagen hatte, – nirgends; wenn auch nicht einen Deut von der ihr innewohnenden Trägheit, Roheit, Mordgier, Zerstörungswut, Unversöhnlichkeit und Denkunfähigkeit – (aber das Denken der Seele ist ja Fühlen) – ihr ein Buddha, ein Christus oder ein Mohammed … ja auch ein Moses nicht genommen hat, denen doch bei höchster Geistigkeit Mittel von unvergleichlicher Kraft und von stärksten, ausgeklügeltsten Methoden seit Jahrtausenden zur Verfügung standen, – Kraft, Wollen und Einsicht miteinander verbindend, wie es sich nie sonst in dieser Welt mehr vereinte … was konnte da diese Hand voll Leute erhoffen, diese Piraten des Geistigen, diese Intellektuellen, wie er einer war, die paar Extatischen, in denen es aufschreit: »aber es darf ja nicht sein … es muß sich ändern … von Grund auf.«

Was haben denn all diese Religionen vermocht bisher?! Im besten Fall haben sie für eine kurze Dauer die menschliche Seele untergetaucht wie einen Korken, den man im Wasser mit der Hand niederdrückt … und sowie sich der Druck lockert, schnellt eben der Korken wieder zur Oberfläche, schwimmt oben. Mit all ihrem Druck, mit jahrtausendlangen Mühen haben sie unter all ihrer Beeinflussung ebensowenig die Struktur der menschlichen Seele geändert, wie die Hand, die den Korken niederdrückt, ihn etwa dadurch zu einem Stück Eisen macht, oder ihm jemals sein spezifisches Gewicht nehmen wird, das nun einmal nicht schwerer als Wasser ist … oder ihm jemals die Tendenz und die Triebkraft rauben wird, nach oben zu steigen und eben – als zu leicht befunden, – oben zu schwimmen.

Doktor Herzfeld hatte die Stirn an die Scheiben gedrückt und sah immer noch durch die Schneeschleier auf die Straße hinab. Unten auf dem Damm im nassen Grau schob ein Junge – sicherlich ein Schuljunge noch! jämmerlich mager und klein und mit zu knappen Sachen: Hosen bis an die Waden, und Ärmel bis zum Ellbogen nur … blaurot vor Frost und doch in einer Dampfwolke wie ein Lastpferd, – einen schwer beladenen Handwagen, der immer wieder kippte und immer wieder von ihm hochgerissen werden mußte. Niemand hätte noch vor zwei Jahren solch einem Bürschchen solch eine Arbeit zugemutet. Jetzt aber war alle Welt entsetzt … nicht darüber, daß man es tat, sondern darüber, daß man es, wie man annahm, zu hoch bezahlte … Es ging dem Volk zu gut … Es wurde anspruchsvoll … Jungen, die Handwagen schoben, rauchten Zigaretten! – Ein grauer, großer, sehr hagerer Wolfsspitz, schmalflankig und leicht schleppend die linke Hinterpfote, trottete langsam durch die offene Tür eines Vorgartens, schob sich bis zu den Alleebäumen vor und blieb ratlos auf einem weißen Schneefleck, die vier Pfoten eng zusammengeschoben, stehen, ohne den Handkarren oder den Jungen auch nur zu beachten und ihm seine Feindschaft – denn er war ein vornehmer Hund, ein Villenhund, und die hassen Jungen mit verwachsenen Beinkleidern, die Karren schieben – nachzuknurren. Er blickte sich nur melancholisch nach allen Seiten um, hob den Kopf und – heulte. Früher hätte dieser erste Schneetag solch einen Hund gewiß rasend gemacht; jetzt stand er unschlüssig, matt, traurig – und heulte. Doktor Herzfeld kannte ihn längst. Wenn man so draußen etwas abseits lebt, kennt man mit der Zeit jeden Hund, der in der Straße wohnt. Es waren schöne große Hunde hier gewesen, Haus bei Haus. Stille, schwere, treue, menschenkluge Bernhardiner von anständiger Denkweise, und ein paar Ulmer Doggen, mühsam gehend und doch schnell dabei. Ein Barsoi, falsch, tückisch, mit dem Rückgrat einer Eidechse und dem Kopf eines Gardeleutnants, der wegen Spielschulden seinen Abschied nehmen mußte. Auch ein paar schwarze Wolfsspitze, borstig und haarstarrend wie Rauhköpfe, wie Kaminkehrerbesen … und einer nach dem andern war »abgeschafft« worden. Der da drüben war eigentlich der letzte der Straße … bis auf ein paar kleine Bläffer, die nicht zählten … und es war nur eine Frage der Zeit, wann auch er den andern folgen sollte.

Es war den Hunden eben gegangen wie allem hier draußen. Vor zwei Jahren waren neben dem Fahrweg hüben und drüben noch lange, breite Streifen sorgsam gepflegten grünen Grases gewesen, in denen alle zwei Monate Beete von neuen Blumen standen, von Stiefmütterchen und Vergißmeinnicht über Primeln und Geranien bis zu Fuchsien und bunten Herbstastern. Im vorigen Jahr waren nur noch grüne kleine Streifen gewesen von verwahrlosten ungeschnittenen Grasbüscheln; und dieses Jahr hatten sich noch um die Bäume der Straße ein paar armselige, niedergetretene Rasenfleckchen hie und da hervorgewagt – aber nur um frühzeitig zu vergilben. Das war das Schicksal der Straße gewesen, ihr Signet, ihre Lebensgeschichte im Krieg: es war für sie symbolisch.

Als Doktor Herzfeld hier herausgezogen war, vor vier, fünf Jahren, was war das hier für eine schöne, stille Gepflegtheit gewesen! Ein paar Mietshäuser waren auf der einen Seite der Straße, auf seiner Seite. Es war die unvornehme; denn man durfte sich nicht verhehlen, – wenn man auch nicht gern davon sprach und es im Sommer kaum bemerkte: eben diese Häuser sahen mit der Kehrseite, mit Küchen und Mädchenzimmern, ja selbst mit Schlafräumen auf die Eisenbahn hinaus. Und der Eisenbahnkörper war hier sehr breit; es rußte auch etwas; … ferner hatte man Kohlendepots hier angelegt, die staubten, wenn in ihnen gearbeitet wurde – eine Tatsache, die kein Hauswirt je zugab! … und endlich rangierte man des Nachts, spät in der Nacht bis in die Morgenfrühe unter Pfeifen und Rufen und Quietschen der Puffer – dirigiert vom Zischen alter, asthmatischer, ärgerlich taktierender Lokomotiven, – rangierte man all die Güterwagen, die sich hier aus allen Himmelsrichtungen tagsüber zusammengefunden hatten, trennte sie voneinander und fügte sie zu neuen Ketten zusammen.

Aber drüben, auf der andern Seite, nach vorne heraus, gab es dafür auch nur die Aussicht auf Villen, auf Landhäuser in großen Gärten; alleinstehend ein jegliches, und diskret wieder von einander durch Baumstücke getrennt. Auch die Mietshäuser ließen es sich beileibe nicht ansehn, daß sie nur solche waren. Von Hunderten, die vorbeigingen, ahnte kaum einer, daß hier es auch Leute gäbe, die in gemeiner Weise zur Miete wohnten. Es war schon eine angenehme und vornehme Straße gewesen.

Aber jetzt in den zwei Jahren waren die Häuser keineswegs so blitzblank mehr wie vordem, sondern verstaubt, ja verrußt und sichtbarlich vernachlässigt. Es kam vor, daß eine zerschlagene Scheibe durch Wochen überklebt blieb, bis man sie ersetzte, daß durch Wochen ein Schild hing »Klopfen, die Klingel ist entzwei.« Die Gärten sprengte niemand, so wenig wie die Straße. Niemand hatte im Herbst das Laub zusammengekehrt, und niemand die Hecken beschnitten; die Beete hatte man kaum angepflanzt. Man hatte sie, – das galt als patriotisch – mit Kohl besetzt, der nie gediehen war, und dessen armselige Strünke jetzt da unten langsam und mürrisch einschneiten. Für Blumen war kein Platz mehr, sie galten als überflüssig, spielten keine Rolle mehr, sie waren abgeschafft worden. Sie waren wertlos geworden, wertlos wie all die Dinge, von denen Doktor Herzfeld bisher geglaubt hatte, daß sie den eigentlichen Sinn, die Essenz des Lebens ausmachten: – wertlos, … abzuschaffen!!

Er und sein Beruf waren doch genau so wertlos geworden, abzuschaffen wie die großen Hunde, die Blumen auf den Beeten, die Kunst in den Museen, wie die Bücher da drüben in den Regalen, wie alles was er liebte. Sein Beruf? was hatte er, Doktor phil. Alwin Herzfeld, eigentlich für einen Beruf – Gar keinen! Er nannte sich Privatgelehrter. Ja doch, er war Intellektueller von Beruf, – ein Beruf, der augenblicklich nicht hoch im Kurs stand, geradezu verhaßt verlacht und überflüssig war. Intellektueller, Ideologe war ein Schimpfwort geworden: es kam an Rang und Schwergewicht gleich nach Pazifist. Ein Mann, der denken konnte und fühlen mußte, nicht für sich allein, der so etwas wie Verantwortungsgefühl für die Welt hatte, war jetzt verdammt wenig begehrt. Er hatte zu schweigen; es sei denn: er bejahte. Eigentlich wars für ihn nicht schade drum; denn, wenn man als Intellektueller erst über ein gewisses Alter hinaus ist, so erwartet die Welt nichts mehr von uns und wir von der Welt nichts mehr. Er war auch kein Mann des öffentlichen Wirkens, das wußte er. Immerhin: die Enttäuschung war etwas allzu heftig gewesen. Wenn ein armer Teufel hundert Mark mühselig gespart hat und sie verliert, dann ist er eben wieder ein armer Teufel. Das mag traurig sein. Aber trauriger ist es doch, als Millionär über Nacht ein Bettler werden, nichts wiederfinden, nicht mal sich selbst.

Und er war Millionär gewesen und jetzt Bettler geworden. Millionär, nicht materiell, dem Geld nach, das ihm kaum gestattete, ohne direkte Sorgen sein Dasein hinzubringen; dem Verdienst und Verbrauch nach war er ein armer Schlucker gegen alle ringsum, die hier wie Fafnir, schwer und gewichtig, von sich sagen konnten »ich lieg und besitz« – aber mit den Augen, mit den Sinnen war er Millionär gewesen, reicher sicherlich als die andern. Er war nicht stumpf durch seine Jahre gegangen. Er hatte nicht Wissen in sich aufgehäuft – er haßte Wissen! – aber Verstehen. Offenbarung war ihm das Leben gewesen, und mit allen Sinnen hatte er sich an dessen geheimnisreiches Widerspiel, an die Kunst geklammert. In seinem Hirn gab es schöne und kluge Worte, die irgendwer einmal gesprochen, aus Jahrhunderten und Jahrtausenden waren sie ihm vererbt. – Der Klang von Versen, … Blumen, Gärten und Treibhäusern, … das Bild der Welt mit jedem Baum und jedem Stück Rasen, der seine Rispen durcheinanderflocht; das Gebet der Kunst und der Glauben an die Kunst – sie hatten für ihn bestanden; waren vorhanden gewesen, gleichsam als die Seele des Lebens, des Seins (soweit es dem Menschen gehört). Er war reicher geworden durch das Geschenk der Frau, reicher als andere, vielleicht gerade deshalb, weil es ihm mehr Qual als Lust war.

Und alles war wertlos, nicht vorhanden, hatte sich zu ducken, wurde von dem Granatengeheul der Phrasen in Fetzen gerissen; es bedeutete nicht mehr als jener Schnee, der da oben vom Himmel kam und in den Pfützen zu Dreck wurde, und den jeder mit Füßen zu treten das Recht hatte. Und das Schlimmste war, daß es ihm selbst jetzt oft sinnlos erschien, als ob er sein ganzes Herz und sein Dasein durch ein Leben lang an ein paar Nichtigkeiten gehängt hatte, ein paar Spielereien, die nicht vorhanden waren, oder doch nicht zählten.

Immerhin war es doch nur für Tage und Stunden, daß sein Herz an den alten Göttern zweifelte und ihnen fluchte, daß er zu ihnen flehte und sie ihn leer und unbegnadet ließen, … abtrünnig war er ihnen nie geworden. Er hatte nicht umgelernt. Nicht eine Minute war er der Massensuggestion verfallen. Nur eine namenlose Traurigkeit hatte vom ersten Augenblick an sein Herz bedrückt. Für Phrasen war seine Rasse zu alt, das fühlte er stündlich. Und, um die Hoheit und Fülle, die in den Worten und Begriffen: ›Mensch‹ und ›Leben‹ schlummern, zu erfassen, waren die andern Rassen um ihn anscheinend noch zu jung.

»Der Weise hat nur einen Glauben, den an sich selbst, und nur ein Vaterland: das Leben.« Den Satz hatte Doktor Herzfeld vor einigen Tagen irgendwo gelesen, und er fiel ihm jetzt ein, als die Schlußfolgerung einer ungedachten Gedankenkette. Es war ihm wirklich ziemlich übel hier ergangen; er marschierte mit einem verdammt bittern Geschmack aus dem Leben, nach dem andern Tor hin, schwer desillusioniert.

Doktor Herzfeld erinnerte sich plötzlich, daß er auf einer Reise, … es war in Mainz, er hatte Backofens wehklagende, ernste Apostel im Dom gesehn, … ja in Mainz war es, daß er da müde und hungrig in ein Café gegangen war, so von der Straße ganz passabel ausgesehn hatte. Und zuerst schien es ihm auch ein leidlicher, recht wohlgepflegter und kultivierter Aufenthalt zu sein. Er hatte sein Schälchen Kaffee genommen, ein paar Blätter angenehm durchblättert, alles fesselte ihn, er erinnerte sich deutlich: das Bildnis des wirklichen geheimen Regierungsrat Obertreter, Dezernent des königlich preußischen Kultusministeriums, der die Schwerter zum Roten Adlerorden zweiter Klasse am Bande erhalten hatte, … Deutschlands älteste Linde, … Die Teilnehmer am Gepäckmarsch … dann der erste Sieger nochmal allein mit einem riesigen Eichenkranz behangen, abgehetzt wie ein Hund, der von Köln nach Königsberg gelaufen war, … die Gräfin von Hohenhausen mit ihren beiden Lieblingshunden Senta und Emir auf der Terrasse ihres Schlosses Klein-Hohenheim  … Bierkarussell im Hofbräuhaus … die Wunder der Tiefsee … lebende Kristalle! Und nach einer Weile hatte er die Blätter befriedigt beiseite getan und sich dafür die Gesichter der Gäste angesehn: »Himmel – in was für eine Spelunke und unter was für ein Gesindel bist du denn hier eigentlich geraten?! Wenn du nur hier erst wieder heraus bist.« Und wirklich machten sich schon ein paar Bauernfänger an ihn heran, und es kam zu einer üblen Schlägerei, in der Messer gezogen wurden.

Das hatte er jetzt wieder erlebt: Neunzehntes, zwanzigstes Säculum, hübsch und lustig mit Kulturfirniß gestrichen die Fassade; nervenpeitschende Musik; äußerlich ein ganz reputables Caféhaus; etwas kitschig zwar, – aber welches Café wäre das nicht?! – Man schlürft angenehm sein Schälchen Mokka, sieht die Blätter durch, raucht seine Zigarette, ohne sich viel um den Bettler zu kümmern, der von Tisch zu Tisch geht; und man freut sich daran, was die Welt doch so alles erreicht hat: Da fliegen zum Beispiel Menschen in der Luft, auf klugen Maschinen reitend; das wollte man seit Ikarus schon, konnte es nie … Irgendwo, an einem Erdpol steht eine Stange, in der schnurrt es ein wenig; und am andern Erdpol steht auch eine Stange; und im gleichen Augenblick beinah hört die andere Stange das, was die erste ihr schnurrend erzählt, und alle Welt kann es mit ihr hören, … eine Angelegenheit von beinah kosmischer Seltsamkeit, so als ob man dem Wind oder einer Sternschnuppe einen Auftrag gäbe: bitte sei so gut – sags ihm, aber sags bescheiden … Die Kunst, die veredelnde: … nie ist die Kunst so populär gewesen wie heute, beinah so wie Bismarck: die Kunst dem Volke! die Kunst dem Kinde! in jedes auch das ärmste und abseitigste Dasein soll ein Abglanz von ihr fallen!! Nun ja, man schafft sie nicht gerade neu, aber es scheint doch, als ob man sie liebt und von ihren Resten mit Hochachtung, ja mit Verzückung spricht; sie ist langsam daran, für viele Menschen in allen Ländern die Stelle der Religion zu ersetzen. Man erschauert ordentlich, wenn man ihren Namen nennt. Sie ist das einzige für sie, um dessenwillen sich eigentlich ihr Leben erst lohnt: sagt nicht Heine schon von irgend jemand, er wäre ein Heide und persönlicher Feind Jehovas, der nur an den Hintern der Venus von Canova glaubt, (»Jehova« und »Canova« reimen sich so gut) … Nicht gerade so, aber so ähnlich sagt er es. Und Elend und Armut! Kümmern wir uns nicht darum: der Statistiker wird ihnen schon beikommen, sie zwischen seine unerbittlichen Zangen nehmen; er ist das Gewissen der Welt. Und wenn wir sie erst mal in ihrer ganzen Ausdehnung kennen, dann brauchen wir sie ja eigentlich nur noch zu beseitigen. Und wie wir das machen werden, das wird uns nachher der Herr Nationalökonom schon sagen. Und die Krankheit?! Wozu hätten wir denn den Arzt, diesen Freund des Menschen: er zielt jetzt chemisch. Eine Maladie nach der andern wird er abtun, – Volksgesundheit!! Wir sind alle Brüder auf dieser Erde!! Euer Schmerz ist unser Schmerz!! Arme Neger nur, die auf Martinique ums Leben kommen, – aber welch ein tausendfältiger Jammer! Menschenleben und Menschenfleiß zerschellen an tückischen Eisbergen, und ein einziges Schluchzen geht über den ganzen zivilisierten Erdkreis.

 …Nun ja, nun ja … die Probleme dieses Seins sind zwar nicht sehr geklärt, und man lebt in ziemlicher Finsternis über sich selbst, seine Wesenheit, Sinn des Lebens, Weltenaufbau im Kleinsten wie im Größten dahin; irgendwann mal herabgeschneit wie diese Flocke da, und ebenso erkenntnislos vergehend, wie eben diese; – aber, wenn man das und alles Persönliche sonst ausschaltet, an dem ja äußere Dinge: Reichtum, Armut, Gesundheit, Krankheit, Fron oder Freiheit nichts ändern können, so hat man es gerade zu der Stunde, da man in diesem etwas kitschigen Großstadtcafé des zwanzigsten Säculums auftauchte oder verkehrte, nicht allzu übel getroffen … Also noch ein Schale Haut, strecken wir die Beine von uns, ziehen wir die Bügelfalten zurecht und rammen wir uns noch eine Zigarre ein … Piccolo, Streichhölzer!

Aber plötzlich, – gerade als wenn man ein zu torpedierendes Handelsschiff wäre, – ohne Warnung, daß man sich noch schnell vorher hätte aus dem Lokal stehlen können, reißt man die Masken vom Gesicht. Himmel – unter was für ein Gesindel und in was für eine Spelunke waren wir doch eigentlich hier auf dieser Erde geraten! – Dieses Ding, das da oben herumschnurrt, ist nur dazu ersonnen, dieser uralte, wolkenstürmende Menschheitstraum ist nur dazu verwirklicht worden, um Tod und Vernichtung auch dorthin zu tragen, wo die alten Mittel noch nicht hinreichten, zu nichts sonst, … es besteht seine Blutprobe vorzüglich … Ikarus, Ikarus … Jammers genug! … Man spricht von Pol zu Pol einzig und allein deshalb, um den Lügen noch längere Beine zu machen, und sie hatten doch schon vordem die Stiefel Peter Schlemihls an. Fündundzwanzigtausend Tons, zwei Militärtransporte versenkt, – hurra! hurra! hurra! Fahnen raus!!! Der ›Freund der Menschen‹ erklärt, daß für Tuberkulose Schützengraben das beste Heilmittel wäre, und, daß Fleischessen, ja daß Essen überhaupt eine schädliche und üble Angewohnheit sei. Der Statistiker beweist, daß Einbeinige länger leben als solche mit zwei Beinen; und der Herr Nationalökonom löst alle Fragen, indem er den Leuten Papierscheine in die Hand drückt, für die sie nichts kaufen können, was sie zum Dasein brauchen; und er begreift nicht, warum sie immer noch klagen, nun hätten sie doch was sie benötigen: … unzufriedenes und undankbares Gesindel … sind glücklich … es geht ihnen gut … und wollens aus reinem Übermut nicht einsehen. Die Heeresberichte führen eine neue starke Ära unseres Schrifttums herauf. Kriegsgedichte! … das schöne Instrument der deutschen Sprache ist nie mit größerem Ungeschmack zu Reimereien mißbraucht worden. Aber selbst die Philosophie denkt Maschinengewehre, – von der Wissenschaft zu schweigen – (Züchten von Dummköpfen auf Universitäten) – denn man kann ein großer Gelehrter und doch ein Riesenrindsvieh sein! von der Wissenschaft zu schweigen, aber Scheler, »Genius des Krieges und der deutsche Krieg«, tu etiam Scheler, … Vernunft ist Freiwild, ist ein toller Hund, den man hetzt und mit Keulen totschlägt … Wer läßt vielleicht auf gotische Dome etwas kommen, sie sind allein schon für die Artillerie zum Entfernungsschätzen und zum Sich-Einschießen unersetzlich. Theater … wird als Volksunterhaltung nur noch durch das Kino übertroffen, ist zu protegieren, weil es die Massen am Denken hindert. Seit Sophokles sah es nicht so gute Tage. Bücher – notwendig; seitdem die Zigarren rar werden für Lazarette, Wachtstuben und Schützengräben. Die Kunst ist ein Dreck, den jeder mit Füßen tritt, wie der auf dem zerstampften matschigen Weg da unten, ein belangloses Nichts ist sie, das man zur Seite gestoßen hat: … geh hin und krepiere, die Welt hat deiner nie bedurft, und bedarf deiner jetzt erst recht nicht. Man sollte dich abschaffen wie einen Hund, für den man keine Knochen mehr beim Schlächter bekommt. Wozu die Blumen!! … Kohlstrünke! …die Welt braucht Kohlstrünke!!

Drüben tappte die Briefträgerin aus dem Haus, klein mit verklebten Haarsträhnen unter der Postmütze, die mit spießender, langer Nadel schief auf dem hohen Bau von Zöpfen saß. Der übernommene Männermantel war ihr viel zu groß und schleppte fast, und die schwere Ledertasche, aus der sie mit roten Fingern einen Packen Zeitungen und Schriftzeug zerrte, zog ihre linke Schulter herunter. Die kleine Person warf die Vorgartentür ins Schloß, die nicht einschnappen wollte und noch eine Weile pendelte, ehe sie, etwas schief hängend, Ruhe fand, und dann tappte sie vorsichtig, – man sah es ihrem Schritt an, daß ihr bei jedem Auftreten Wasser durch die Löcher der Sohlen kam – und gewissenhaft nach den Schneestellen suchend (aber sie waren auch von Feuchtigkeit unterminiert) über den Damm fort auf Doktor Herzfelds Haus zu. Der Hund, der neben einem Baum am Straßenrand Posto gefaßt hatte, hob den Kopf und sah ihr melancholisch nach. Noch vor zwei Jahren war diese Briefträgerin da seine geschworene Feindin gewesen, der er straßenweit nachbellte, – (er hatte diese Feindschaft von ihrem Vorgänger, dem schon längst in Rußland kein Zahn mehr weh tat, einfache dem Beruf nach auf sie übertragen). – Heute, … heute hatte er keine Feinde mehr.

Doktor Herzfeld fühlte plötzlich, daß diese Frau etwas für ihn brachte. Er bekam eigentlich im letzten Jahr wenig Briefe, sein Verkehr hatte sich sehr eingeschränkt, er hatte nicht den Sinn und den Mut, Leuten Unaufrichtigkeiten zu schreiben, und sie wußten wohl auch nicht mehr, was sie ihm sagen sollten. Geistige Gemeinschaft, die Menschen einst verband, war durch den Krieg aufgehoben. Geistigkeit hatte an Wert verloren. Viele, ja die meisten waren von ihr fahnenflüchtig geworden, und jeder war mißtrauisch geworden. Und außerdem war Doktor Herzfeld ja von je Eigenbrödler gewesen, – »man lebt am besten abgezäunt«. – Und doch hatte er manchmal die Sehnsucht nach Mitteilung, nach Hineingestellt-sein und zitierte sich gern das W. k. G. (Warenhaus für kleines Glück) dieses famosen Morgenstern, »Palmström kann nicht ohne Post – leben …sie ist seines Tages Kost … Selten hört er einen Brief – plumpen – in den Kasten breit und tief.«

Trotzdem – hundertmal hatte er die Frau da unten schon mit ihren stets verklebten Zotteln unter dem Mützenrand am Haus vorbeigehn oder selbst ins Haus hineinschreiten sehn, ohne daß ihn das irgendwie alteriert hätte. Er wußte all die hundertmal genau, in ihrer Schicksalstasche hatte sie kein Wort, das ihn betraf, das irgend jemand von draußen an ihn gerichtet hatte, ebenso genau wie er jetzt empfand, daß sie da etwas für ihn heranschleppte, irgend was Belangreiches, – erfreulich oder nicht, – doch was gab es Gutes in dieser elenden Welt?! –

Da schlug auch schon die Klingel an, so langweilig und geschäftsmäßig-anteillos wie sie immer es tut – es tut, wenn ein Briefträger sie in Bewegung setzt, weder neugierig, wie sie sich meldet, wenn ein seltener Besuch Einlaß begehrt, noch selbstverständlich-vertraulich, wenn ein Familienmitglied schellt, noch zaghaft, ja zärtlich, wie sie auch sich regen kann, …nein, gleichsam beamtenhaft, kurz und phrasenlos, ohne Überschrift und Höflichkeitsbogen, schlug sie an, trocken und beinah-militärisch. Doktor Herzfeld wandte sich, um aufzumachen, als er auf dem Flur Schritte vernahm: er wußte garnicht, daß die Roggemann schon wieder zurück war. Sie war in die Stadt gefahren, Einkäufe machen; – eine Sache, die jetzt ganze Nachmittage dauerte, und die man früher in halben Stunden erledigen konnte, – aber heute war sie also schon eher zurückgekommen. Die brave Roggemann … Doktor Herzfeld hing sehr an ihr, – … sie war so wunderbar indifferent. Doktor Herzfeld mußte immer an muffig gewordene birkene Kommoden aus Portierstuben denken, wenn er sie sah.

Vordem war sie ja nur Aufwartefrau bei ihm gewesen, die stundenweise kam; … aber jetzt, seit dem Krieg, war sie, weil der Mann im Felde war, als Haushälterin ganz zu Doktor Herzfeld gezogen, da beiden das zweckmäßiger erschien. Zwar hätte sie als Frau eines Kriegsteilnehmers doch keine Miete bezahlt, und also auch ruhig ihre Wohnküche weiter behalten können; aber die Verpflegung hätte ihr doch kein Hauswirt umsonst gestellt, und bei ihren Stellen ging's nicht mehr so aus dem Vollen, daß sie körbeweise mitnehmen konnte, wie sie das früher beliebte, … ja die Meisten hatten sich eingeschränkt und hatten damit begonnen und aufgehört, daß sie – dem Ernst der Zeit entsprechend, – die Aufwartefrau abschafften und den Dienstmädchen den halben Lohn zahlten. Und so war es der Roggemann besser erschienen, in irgend einen Stall ganz sich einzustellen; und der des Doktor Herzfeld war ihr von ihrer Klientel als der günstigste in vielen Beziehungen erschienen, weil der Inhaber Junggeselle war (ihrer Meinung nach), und fürder von einem Jahrgang, auf den zurückzugreifen der Staat, – wenn nicht Matthäi am Letzten wäre – sich seiner Reputation wegen sehr hüten würde. – Und wenn wirklich? Nun schön: wenn eben der ganze Himmel einfiele, wären alle Spatzen tot.

Der Gatte der Frau Roggemann, der Roggemann, dessen Anwesenheit und Vorhandensein Doktor Herzfeld bis zur Stunde der Kriegserklärung von Frau Roggemann völlig unterschlagen worden war, war für Doktor Herzfeld ein erstaunliches Erlebnis gewesen; denn in Frau Roggemann hatte er nie ein Wesen gesehn, das nur irgendwie auf dieser Welt mit der Geschlechtlichkeit irgendwelche Fäden verknüpft hätten; und er hätte sich auch nicht mehr gewundert, wenn er plötzlich erfahren hätte, daß die Königin Teje von Ägypterland mit einem Hauptmann beim Train im fünften Corps verheiratet sei. Doktor Herzfeld hatte nämlich – wie bei Frau Roggemann – fest angenommen, daß sie eigentlich schon seit dreitausendfünfhundert Jahren für solche Extravaganzen tot wäre.

Dabei war Er, der Roggemann, noch nicht einmal Landsturm zweiten Aufgebots und hatte gleich am dritten Mobilmachungstag fortgemußt.

Aber Doktor Herzfeld hatte sich bald noch mehr erstaunen müssen, als auch in der Woche, – ihm zu Ehren, wie sich ergab – Frau Roggemann sich herauszuputzen begann wie ein Indianer auf dem Kriegspfad, … (es war komisch und rührend zugleich!); als sie sich für ihre zwölf Mark Kriegsunterstützung ein Frisierabonnement kaufte; und als sie ihm Augen nachwarf, wenn er durchs Zimmer ging, in dem sie aufräumte; und als sie fürder oftmals beim Abrechnen wehleidig bemerkte, daß es doch »unstatthaft« sei, wenn ein Mann seiner Frau nur alle vier Wochen schriebe und alle zehn Monat einmal auf Urlaub käme. Aber, da Doktor Herzfeld sich nichts wissen machte, nichts bemerkte, nicht mal sagte: »Sie haben sich doch so fein gemacht, Frau Roggemann«, so schlief das alles bald von selbst ein, ja, die Hälfte der Marken des Frisierabonnements verfielen überhaupt, und die Kleidung wandelte sich schnell wieder von Rosa und Mattviolett zu dem undefinierbaren Graubraungrün, das von je das unauffällige Spezifikum der Frau Roggemann gewesen war, ihr Habitus: Reinemachefrau. Und da Frau Roggemann Doktor Herzfeld nicht mehr bestahl als nötig, so wünschte er es sich gar nicht besser; und, da sie ihn bei der Abrechnung nur um so geringe Summen übervorteilte, daß sich Doktor Herzfeld fast von ihrer Großmut beschämt fühlte, so kamen sie vorzüglich miteinander aus, und er gedachte ihrer im Innern nur mit dankbarer Ergebenheit.

Und schon kam die brave Roggemann herein, legte Zeitungen und einen Brief auf den Tisch, lautlos, gedämpft, – denn sie schonte ihr Schuhwerk, und trug Tag um Tag abwechselnd im Hause ihre Filzschlurfen und die etwas eleganteren, mit gestickten Maureremblemen verzierten Pariser ihres abwesenden Gatten – und entschwand wortlos wieder, nachdem sie einen Augenblick an der Tür gezögert hatte, ob sie das elektrische Licht andrehen sollte, aber sich überzeugt hatte, daß es eigentlich noch zu hell wäre, trotzdem es der Zeit nach wohl geschehn konnte, … (gestern hatte sie es schon um Viertel Fünf getan, aber heute war noch das ganze Zimmer bis in dem letzten Winkel von einer unfrohen, gelblichen Helligkeit erfüllt, von den vom Himmel herabwehenden Schneeschleiern und von dem Widerschein der weißen Patzen unten auf der Straße, auf Dächern und in Gärten.) – Es war ein Licht bei dem man fror, trotzdem das Zimmer trockenwarm war. Wenn draußen richtig, ordentlich Schnee ist, dick und gepolstert, macht das Licht warm im Zimmer; aber bei solchem gelben Matschschnee, der über sich selbst weint, macht es einen schuddern.

Nein, Doktor Herzfeld wollte das nicht mehr sehn! Und er ging an die Tür und drehte den schwarzen Knipser; – und im Augenblick schien die Straße draußen zurückzutreten, zu verdämmern, griff nur noch mit leisen Fingern zaghaft durch die breiten Eckfenster in das Zimmer hinein, das wieder ganz eine Welt für sich war, und sich rings um den rötlichen Lichtkreis, den die alte Glasampel mit ihren goldigen, kerzentragenden Armen, (sie hatten aber unvornehm einer neuen Zeit elektrische Konzessionen machen müssen) auf den Mahagonitisch legte … ringsum um diesen Lichtkreis mit seinen behäbigen Möbeln und all seinem Kleinkram angenehm und gleichsam zwanglos gruppierte … wie eine Gesellschaft feiner, altmodisch-ruhiger Menschen, die Doktor Herzfeld zu einer kleinen abendlichen Unterhaltungsstunde zu sich geladen hatte. Und mitten im Lichtkreis lagen hell Zeitungen, ein paar Briefe, – und der Kaffee stand, dampfte angenehm und wartete auf ihn. Es war richtiger Kaffee; das war das einzige, worin Doktor Herzfeld sich nicht eingefügt hatte, – das andere nahm er alles nicht wichtig. Einmal hatte es Frau Roggemann mit einem Kaffee ersatz versucht, von dem sie sagte, daß er vorzüglich sei, und wohlschmeckender und bekömmlicher als wirklicher Kaffee und daß sie ihn seit Jahren tränke, … von dem aber Doktor Herzfeld bemerkt hatte, daß sie es nicht noch fürder einmal etwa wagen sollte, ihm mit diesem Suffus von Sennesblättern und Sarglack unter die Augen zu treten. Und, da das in der Epoche war, da Frau Roggemann eben die ersten Nummern des Frisierabonnements knipsen ließ, so zeigte sie sich der Mahnung zugänglich, – und es unterblieb in Zukunft.

Doktor Herzfeld warf, während er schon die Zeitung umfaßte und hochhob, über das Blatt hinweg schnell einen Blick auf den Briefumschlag; gewiß irgend etwas Gleichgültiges; er erinnerte sich nicht, diese Handschrift je gesehn zu haben. Und die Drucksache? – »von einer Versicherung; weiß schon: – Diebstahl … wegen der zunehmenden Unsicherheit sollte man … auch Schaden durch Fliegerangriffe, … ohne ärztliches Zeugnis … kennen wir: … Prozesse und Dividendenschinden!« … und schon hatte er sich in die Zeitung verbissen. Doktor Herzfeld las deren mehrere, um sich besser zu informieren; aber die Zeitungen uniformierten nur noch, sie brachten längst alle das gleiche – (nur die Todesanzeigen waren je nach dem Leserkreis verschieden) – und eben das schrieben nicht sie. Möglich, daß noch feine Abschattierungen bestanden, unmerkliche Abstufungen wie bei einem Halblicht Leonardos; aber das Gesicht darunter grinste jedenfalls überall mit dem gleichen süßlich verlogenen Lächeln hervor.

Doktor Herzfeld hatte sich hundertmal geschworen, kein Blatt mehr anzurühren, aber er kam nicht davon los. Es hatte ihn gepackt wie eine alberne, sinnlose Krankheit, ein häßliches Nervenzucken, dessen man sich schämt, das man bekämpft, und dessen man doch nicht Herr wird. Er kaufte immer wieder, wo er ging und stand, diese Phrasen, diese Hinhaltungen, diese Vermahnungen, Verdrehungen, Entstellungen, Versüßlichungen, diese kurzbeinigen Lügen, Vertröstungen, diese für den Nichtwisser zusammengeleimten Strategien, die alles verschwiegen. Er wußte das alles, war noch mißtrauischer als nötig jedem Wort gegenüber, und doch zwang ihn etwas immer wieder, nach jedem Hoffnungsschimmer auszuspähen, Tag für Tag zwei-, dreimal alle Spalten durchzupflügen, wo etwa er aufblitzen könne … auch nur in weiter, kaum geahnter Ferne. Er war nicht mehr so wie in der ersten Zeit, da er immer dachte, daß irgend etwas Wunderbares ein plötzliches Ende innerhalb einer Stunde diesem sinnlosen Menschenmorden bereiten müsse, ein Gedanke, eine Intuition, ein Lichtstrahl, der vom Himmel fiel wie bei Visionen auf alten Bildern; und da er, so früh es ging, lief, sich Nachrichten beschaffen, weil er mit jedem Sieg hoffte, daß er das Ende beschleunigte. Aber auch heute, als fünfhundertmal Betrogener, konnte er noch immer sich nicht losreißen von dem unausgesprochenen Wunsche, seine heimliche Hoffnung über Nacht erfüllt zu sehn; und jetzt, seitdem man drüben den Mann wieder zum Präsidenten gemacht hatte, der weiter und menschlicher, zukünftiger dachte als die Petrefakten der alten Welt, die die Jugend mit sinnlos verhetzenden Phrasen zur Schlachtbank trieben, und deren Macht ständig wuchs mit dem Haß, der auf sie gehäuft wurde … als ob jeder Fluch, der gegen sie geschleudert würde, ihnen gleichsam neue Kraft gäbe, als ob jedes Leben, das sie zerschmetterten, das ihre verstärkte … wahnsinnig, zu denken, daß zehn Greise in Europa Millionen junger Menschen in den Tod treiben durften, auf Generationen hinaus die Menschheit vernichten durften, sie um all ihre Möglichkeiten und Hoffnungen bringen durften, zehn Greise, die das Vorrecht zu leben in frechster Weise mißbrauchten, die überhaupt nach der Statistik längst nicht mehr vorhanden sein durften! … jetzt, da man drüben den Mann, der Zukünftiges dachte, wieder zum Präsidenten gemacht, war Doktor Herzfelds so oft getäuschten Hoffnungen neue Nahrung zugeführt, und ihre Glanzlichter, die schon müde und blind geworden waren, begannen wieder ganz scharf und bestimmt aufzuleuchten und zu funkeln. Endlich brauchte man Amerika ja rechts wie links. Aber die Zeitungen wußten das noch nicht. Es war ihnen noch nicht gesagt worden beim Appell. Vielleicht morgen, vielleicht in acht Tagen werden sie es wissen dürfen.

Da stands in dicker Schrift: Wir hatten wieder mal großartig gesiegt, wir taten das seit zweiundeinviertel Jahren in bescheidenem Maße täglich und wenigstens alle zehn Tage ausgiebig. Alle Monat einmal vollbrachten wir die größte Tat der Weltgeschichte, der bisherigen natürlich. Aber in letzter Zeit blieben die Flaggen wieder gleich wie zu Anfang von einem zum andern Mal hängen, und die Zeitungen hatten gar nicht so viel fette Buchstaben in ihren Setzkästen, wie sie eigentlich benötigten. Die deutschen Heere begannen den Siegeszug durch Rumänien, man siegte in der Wallachei, man siegte am Cernabogen. Und die Sommeschlacht?! (Doktor Herzfeld wußte genau, es war über allen Verstand hinaus furchtbar: man hämmerte wochenlang schon unsere Fronten ein; Riesenzahlen von deutschen Toten; Riesenzüge von deutschen Gefangenen!) – »An der Westfront nichts Neues«. Nun ja, die Sommeschlacht würde sich wohl auch zu unsern Gunsten entscheiden; – außerdem gaben ja die Ereignisse im Westen nicht den Ausschlag auf der Wage des Krieges, sondern … Die »Festung« London war mit Zeppelinen … ganze Straßenzüge … Genaues gaben natürlich die Engländer nicht bekannt, diese perfiden Heuchler … Der deutsche Kaiser hatte schon wieder mal den lieben Gott für sich in Anspruch genommen … Eine grausenvolle Mordtat in der Linienstraße … (Die Zeitungen entsetzten sich ob so viel Rohheit!). Die Goldsammlung verlief über Erwarten günstig … überhaupt ginge es uns finanziell überragend … Und von Kriegsmüdigkeit wäre keine Rede; trotzdem ein dritter Kriegswinter bevorstände, wäre das deutsche Volk (›wie sie das wohl festgestellt haben?!‹ dachte Doktor Herzfeld) einig in dem Gedanken … und so weiter, und so fort. Niemals wäre der Wille zum Durchhalten im ganzen deutschen Volke und in seinen Bundesgenossen stärker gewesen … Wilson: ein nicht ernst zu nehmender Ideologe. (›Ideologe – seit einem Jahr eins der hinterhältigsten Schimpfworte – deckt sich mit dementia praecox‹ dachte Doktor Herzfeld) … Immerhin, man behandelt ihn nicht ohne mitleidige Nachsicht: Wenn er wirklich es ehrlich meinen sollte und die breite deutsche Friedenshand … (man wollte es also nicht mit ihm verderben) … Ein Parlamentarier erklärte, daß Deutschland keine Annexionen machen würde, trotzdem müsse es notwendig Antwerpen haben, um nicht im nassen Dreieck zu sitzen und England jederzeit innerhalb sechs Stunden zur Raison bringen zu können, wenn es je wieder einen so frechen Überfall auf Deutschland plane … Die Bulgaren sind eine kriegsbegeisterte Nation und ein Heldenvolk. (Merkwürdig, das kehrt in den Zeitungen der einst verschiedensten Richtungen überall wieder, also war – sagte sich Doktor Herzfeld – Order gegeben, die Bulgaren sollten etwas gekrault werden: gab da wohl Differenzen, wollten abfallen!) Nun ja, etwas indigniert waren die Zeitungen doch, weil es ihnen nicht gestattet war, die Friedensziele zu erörtern, während man Leuten des öffentlichen Lebens, Professoren und andern Herrn, die aus Beruf das Maul voll nahmen, es gestattete. Wozu waren sie eigentlich öffentliche Meinung, wenn sie das nicht sollten, – he? Dann machte ihnen ja der schönste Krieg keinen Spaß mehr … Der alte Kaiser von Österreich! – er hatte keine sonderliche Presse gehabt; man war für Tote jetzt nicht recht mehr zu sprechen, (außerdem hätte es das Volk verstimmt, wenn zu viel hergemacht würde um das Abgehn eines alten Knaben, da es doch selbst seine jungen Söhne und Enkel hingab, als wäre Leben gleichgültiger als Birnenschnitze). Heute tröpfelten noch ein paar Anekdoten hinterher: wie scharmant er einmal in der Hofburg eine alte, bittstellende Greislerin – keine Greisin, – eine bittstellende Greislerin, bittä! – selbst die Treppe heruntergeleitet: … ehrwürdiges Überbleibsel vergangener Hochkultur, in dem doch schon der moderne Mensch … dieser moderne Mensch, der in seinem Nachfolger zu höchster Reinzucht … Und nun begann der Jubelhymnus, der umso volltönender erklang, je weniger man von diesem Nachfolger noch wußte: der Typ des zukünftigen Monarchen, energisch, bescheiden, selbstständig, nicht eingreifend, repräsentativ, Muster eines Gatten, Sports- und Lebemanns, Soldaten und Zivilisten, – es war alles da … zum Aussuchen! Anzeigen: … ein paar Schwindelannoncen. Von Bekannten war niemand gestorben.

Doktor Herzfeld sah noch einmal auf die fetten Überschriften der Abendblätter: »also nichts! … wer wird über einen Sieg sich freuen«, sagte er halblaut – er hatte sich das jetzt angewöhnt, ohne daß er es wußte, – »wer wird über einen Sieg sich freuen, das hieße ja über den Menschenmord sich freuen, … Das hat schon Laotse begriffen; viel Proselyten hat er bei uns bis heute noch nicht gemacht«, und damit warf Doktor Herzfeld die Blätter mit einer brüsken, ungezügelten Bewegung vom Tisch herunter auf die Polster eines alten, breiten Mahagonisessels. »So, da können sie liegen bleiben, bis die Roggemann sie ihrem eigentlichen Beruf zuführt.« Und dann schob er die inzwischen geleerte Tasse vorsichtig beiseite, – Porzellan achtete Doktor Herzfeld auch in seinem minderwertigsten europäischen Vertreter – und begann in seiner Seitentasche nach einer Zigarre zu suchen. Er war nervös geworden und mußte rauchen. Er hatte noch ein paar Kisten stehen, aber sie wurden allgemach hohler und hohler, und, so viel er auch sparen mochte, in absehbarer Zeit mußte doch einmal bei ihnen der Boden durchblicken. Und das erschreckt ihn … denn der Tabak ist die Stelle, wo ich meine Armut am spürbarsten empfinde, sagt schon des Anatole France Abbé Coignard … Teufel auch, warum schrieb kein Deutscher solche Bücher! dachte Doktor Herzfeld, als die ersten Züge glimmten und seine Nerven von dem milden Tonikum sanft gestreichelt und umschmeichelt wurden: seid still, alte Freunde, was regt ihr euch und zittert, es geht ja alles vorbei hier; in einem Monat, einem Jahr ist all das, was euch heute schmerzt, nur noch das, was ich jetzt werde: Rauch … Rauch … Rauch … Und auch das kaum noch. Seid still! Laßt euch streicheln! So … so … so … Nun habt ihr wieder für ein paar Minuten Ruhe.

Draußen war es noch nicht völlig dunkel, man sah noch, wie die Schneeschleier aus einer trüben, feuchtsatten Luft heranwehten. Sie waren wie Vorhänge von Musselin, die oben an einer Schnur hingen, und die nun ständig hin und her flatterten, mal auf das Fenster zuschwankten und mal von einem Gegenzug zurückgetrieben wurden. Mal deckten sie die dünnen Baumkronen vor dem Fenster ganz zu, und mal ließen sie sie frei und ließen sogar noch die aus den Gärten drüben – Kiefern unter Laubbäumen –, wie aus mattgrauem und weißem Seidenpapier ausgeschnitten, im schneeigen Dunst ahnen. Merkwürdig, woher doch draußen noch das Licht kam, – es mußte eigentlich schon seit einer Stunde Nacht sein.

Ah, – da lag ja noch der Brief! Vorhin hatte er ihn so erwartungsvoll erregt, und nun ließ er ihn bei sich antichambrieren, als ob er, Doktor Herzfeld, plötzlich ein Theaterdirektor geworden wäre. Und doch hatte er, als er ihn jetzt hoch nahm, wieder ein seltsames Zagen, hielt ihn ans Licht, drehte ihn hin und her und wagte nicht recht, ihn zu öffnen. Die Handschrift war ihm doch bekannt, das heißt, nicht diese Handschrift. Es war Doktor Herzfeld, als ob er einen Menschen wiedersähe, alt, krank und morsch, den er einmal frischer und gesünder und jünger gekannt hatte. Es waren Buchstaben, die sich steil halten wollten, und die doch fast umstürzten; einer klammerte sich immer an den andern, vielleicht, daß sie sich gemeinsam besser aufrecht hielten; es waren Buchstaben, die weinten. Aber solch ein H mit einem Anschwung, als ob der Buchstabe angekurbelt würde, schrieb doch eigentlich nur Hermann Gutzeit. Was wollte er denn?!

Doktor Herzfeld riß den Umschlag auf, – seit Jahren hatte er keinen Briefumschlag anders als mit dem Falzbein geöffnet – aber den riß er mit den Händen auf und zog den Brief unters Licht, in die Mitte des Lichtkreises hinein … und dann legte er den Brief auf die Tischplatte, strich mit der Hand eine Weile drüber hin, still, langsam und feierlich, als ob er etwas wegwischen müsse, was da stände. Und Doktor Herzfeld atmete dabei seltsam scharf durch die Nase, während er die Augen mit der Hand beschattete. Ohne die Hand von den Augen zu nehmen, lehnte er sich langsam im Sessel zurück, wandte den Kopf zu den Flammen hinauf, die er doch nicht sah; und er ließ die Hand immer noch auf den Augen liegen, während er ganz leise, hoch und scharf durch die Zähne vor sich hin pfiff, immer die gleichen paar hohen Töne, sein Pfiff: ti … tatata … tum … tati … ach du lieber Augustin, alles ist hin … Dieser Hiob, dieser arme geschlagene Hund! – es war einfach nicht zu ersinnen, … beide Jungen auf einmal, nur zwei Tage auseinander, der eine im Sturmangriff an der Somme, und der andere innerhalb drei Wochen an galloppierender Schwindsucht im Lazarett zu Dortmund … ti – tatata … tum … ta ti … ach du lieber Augustin, alles ist hin! Und der Mann schrieb noch was von stolzer Trauer, von schmerzlicher Beglücktheit, daß er … und er log … log … log … dieser Hermann Gutzeit. Man brauchte ja nur seine Schrift zu sehn. Er log genau so wie mein gefallener junger Freund, der den Tieck herausgegeben hatte, ja … der hatte ein Buch über seine Kriegszeit geschrieben, ganz angenehm zu lesen wie alles, was dieser geschmackvolle Mensch machte, keineswegs geistlos oder ohne Gewissen. Aber wie Doktor Herzfeld ihn zuletzt sah, bevor er wieder hinausging, (um auf Patrouillengang in Atome zerfetzt zu werden), da schrie, bettelte, jammerte es auf dem Grunde seiner Augen: ›glaubt mir nicht, glaubt mir nicht, ich will nicht sprechen, ich vermag nicht … aber glaubt mir nicht! Jedes Wort ist Tempelschändung, das ich zur Rechtfertigung dieses Wahnsinns geschrieben habe.‹ Auch Hermann Gutzeit log … ti – tatata … tum … ta ti … ach, du lieber Augustin … Diese beiden prächtigen Jungens, der eine wenigstens ein schönes junges Tier, aber der andere ein schöner junger Geist. So etwas will nun erst ins Leben hinein, hat nichts vom Leben kennen gelernt, garnichts von dem, dessenthalben es zeitweise erscheint, als ob das Dasein kein Betrug wäre, hat immer nur Menschen über sich gesehn, die es geknechtet haben und wird einfach von der Schulbank auf die Schlachtbank getrieben.

Kurt hatte Doktor Herzfeld gern gehabt; der war oft zu ihm gekommen. Ihre Freundschaft rührte von jenem denkwürdigen Junimorgen vor sechs Jahren her, als er heraufgekommen war, fragen, ob der Vater bei ihm wäre, – es war noch in der alten Wohnung, – und er ihm heimlich die Zigaretten in die Hand gedrückt hatte: (du bist ein Mann und wir gehören zusammen; dieser alte Herr, dein Vater, versteht dich natürlich nicht!) das hatte ihm sein Herz gewonnen. – Hans, den jüngeren – achtzehn und neunzehn waren sie – Hans hatte er weniger gekannt; und Kurt war der, der an der Schwindsucht jetzt gestorben; – nun ja, er war immer etwas lang aufgeschossen, schmal gewesen, wog zu wenig, war verdächtig; immerhin … er wäre ebenso gut darüber hinweggekommen wie im Frieden Tausende seines Alters, – nur ein bißchen Schonung, nur ein bißchen Pflege in den kritischen Jahren.

Als Doktor Herzfeld gehört hatte, daß man ihn fürs Feld signiert hatte, war er zu Hauptmann Grübenau gegangen, (daran mußte er jetzt denken), eben jenem alten Hauptmann Grübenau seiner Ditopassabeln, der dort gerade ehedem so mitlief, und der jetzt der Matador der Ditopassabeln geworden war, ihr Orakel; – soweit diese Ditopassabeln noch vorhanden waren und sich an alter Stelle zusammenfanden, um jetzt die fünf Weltteile gerecht und ohne Annexionen unter Deutschland und seine Bundesgenossen aufzuteilen; oder Telegramme an Generäle zu richten, deren Namen gerade in den Heeresberichten lobend erwähnt wurden. Sie waren alle begeisterte Kriegsenthusiasten geworden, was ihnen um so leichter gefallen war, da sie meist alte, anhanglose Junggesellen waren, die Ditopassabeln, die mit ziemlicher Bestimmtheit von diesem Krieg wußten: › mir kann der Hund nich beißen.‹

Mit Hauptmann Grübenau war mit Kriegsbeginn eine merkwürdige Veränderung vorgegangen. Doktor Herzfeld hatte ihn mit der Rose von Jericho verglichen, die dürr, runzelig und verschrumpelt ist, kaum noch Leben hat, willenlos über den Steingrund der Wüste von jedem Wind gerollt wird und, wenn ein Regen auf sie fällt, plötzlich aufblüht, Wurzel schlägt, von Saft strotzt. Wirklich, der alte Hauptmann Grübenau, den man vor Jahrzehnten schon mit simplem Abschied geschwenkt hatte, war in den letzten Jahren körperlich, seelisch und materiell sehr heruntergekommen, er war vergreist, gichtisch, und das Frauenzimmer, das seine Wirtschafterin sich nannte, hatte ganz Halsrecht über ihn bekommen und behandelte ihn übel: es war eigentlich niederdrückend, mit ihm zusammenzusein, denn von Hause her war Hauptmann Grübenau kein schlechter Kerl gewesen, ein großes, nicht mal dummes Kind und ein amüsanter Schwadroneur, wie alle leichtsinnigen Luder.

Aber der liebe Gott sollte es besser mit ihm meinen, als es den Anschein gehabt, und – was Grübenau nie gehofft hatte, – er gab ihm noch einmal eine große Zeit: in den Anfang und in den Schluß seines Lebens hatte Gott und die deutsche Politik in zarter Voraussicht je einen Krieg gelegt, und wie er schon ehedem 1870-71 bei der Belagerung von Paris auf der Festung Graudenz als blutjunger Fähnrich Griffe kommandiert hatte, »Gewähr appp...!« so war er, – sofort wieder in hohen Ehren rehabilitiert und eingestellt mit Avancementaussichten, – jetzt, bei den Kämpfen um Verdun, Hauptmann im Berliner Bezirkskommando. – Eigentlich hätte er Bahnhofskommandant sein müssen! – Er strahlte in Uniform und ritt jeden Morgen seine Stunde trotz seines gichtischen Zehs. – Wenn er erst auf dem Pferd war, gings auch ganz gut, bloß das Raufkommen machte ihm Schwierigkeiten und das Herunterkommen ebenso. Wirklich, er konnte von sich sagen wie ein Generalfeldmarschall: dieser Krieg bekommt mir wie eine Badereise. Er klirrte über den Hof des Bezirkskommandos mit den Sporen; er hieb sich mit der Reitgerte auf die Lackstulpen seiner Stiefel; und er sah Generation auf Generation sich versammeln, kommen und schwinden; unermüdlich füllten und leerten sich Höfe und Hallen von »Menschenmaterial«, das an Güte und Verwendbarkeit langsam, aber stetig abnahm, und das mit immer feinmaschigeren Sieben durchfischt wurde. Und diesen Fischzug richtig zu leiten, war die Aufgabe Hauptmann Grübenaus. Er gab den Befehl weiter, ob Netz 1, 2 oder 3 oder gar 4 genommen werden sollte, und in seine Hände war mehr Macht über Sein und Nichtsein gegeben, als in die eines vorderasiatischen Monarchen des frühen Altertums. Er konnte Gesuche befürworten, genehmigen, ablehnen, prüfen, nicht prüfen, wie er gelaunt und gewillt war; er schwebte ferner – wie Gott über den Wassern – über einer Schar von Bezirksfeldwebeln, Vizefeldwebeln, Offiziersdiensttuern, Unteroffizieren, Schreibern, Gefreiten und Ordonnanzen, die vor ihm die Hacken dienstfertig zusammenschlugen und »Zu Befehl, Herr Hauptmann« brüllten, während sie ihn innerlich mit einer Blütenlese jener Invektiven umkränzten, die sie, mehr oder weniger vollgewichtig und abwechslungsreich, die kürzere oder längere Dienstzeit gelehrt hatte … kurz also, – um es festzustellen –: Hauptmann Grübenau stand im Zenit seiner Möglichkeiten.

Und diesen Hauptmann Grübenau hatte Doktor Herzfeld Kurts wegen noch aufgesucht in seinem Reich, war ihm genaht, wie einem König in seinem Palaste.

Grübenau – sein weißer Schnurrbart hatte sich von Zeppelin zur monarchischen Form zurückgefunden, – Grübenau hatte sofort den eisigen Ernst seines Vorgesetztengesichtes in schulterklopfende Jovialität gewandelt, als er Doktor Herzfeld erkannt hatte, hatte ihm einen Stuhl angeboten, mit dem silbernen Zigarettenetui ihm vor der Nase geschnappt und, ohne nach seinem Anliegen zu fragen, ein Kriegsgespräch voll unkontrollierbarer Intima und geheimster Informationen begonnen – natürlich unter Abnahme der Verschwiegenheit – (er käme sonst in Teufels Küche): Spätestens in zwei Monaten wäre der Zusammenbruch der Entente da: es stände glänzend; die Stimmung drüben wäre niederschmetternd, Joffre hätte es selbst gesagt … natürlich bis alles wieder zu Hause wäre, könnte es noch gut ein halbes Jahr dauern … Italien mache schon nicht mehr mit … England würde ganz zu Boden geworfen … ob sich Doktor Herzfeld noch ihres Gesprächs beim Tode des alten Onkel Edi, dieses dicken Schweins, erinnere. Wie recht er gehabt hätte. Nun, man hätte ja von vornherein gewußt, daß England nicht so auf die leichte Achsel zu nehmen sei; und, wie man das anfangs dargestellt hätte, daß die Deutschen einfach heimlich bei Neumond um zwölf Uhr nach Dover 'rüberfahren würden und dort den Nachtwächter verhaften und England für besetzt erklären würden, daran hätte man natürlich in ernsten und eingeweihten militärischen Kreisen nie geglaubt; das hätte man nur so für die Volksstimmung aufrechterhalten, – jetzt würde man aber dem stolzen Albion doch endlich mal den Fuß auf den Nacken setzen.

Aus den Reden des Hauptmanns Grübenau entnahm Doktor Herzfeld soviel, daß jener nicht wie die meisten nur einen Freund im Generalstab haben müsse, dem er seine Weisheit verdanke, sondern, daß der gesamte Generalstab überhaupt nur mit persönlichen Freunden und ehemaligen Kameraden von ihm bis in die höchsten Stellen hinauf gespickt war.

»Ja,« meinte Doktor Herzfeld (Hauptmann Grübenau hatte ihm schon die dritte Zigarette angeboten – eine englische, die ihm von einem alten Fünfzehner, von dem Oberst des siebenundvierzigsten Reserveinfanterieregiments Zumbusch – Doktor Herzfeld war nicht im Bilde: war das der Name des Obersten oder des Regiments? – aus dem Kasino in Bar sur Aube [klingt sehr gut] gesandt worden war), »ja, lieber Herr Hauptmann, ich freue mich, endlich Wirklichgenaues über den Stand der Dinge zu hören und doppelt, da es uns so vorzüglich geht, daß ja der Frieden schon in greifbare Nähe gerückt ist. Und deshalb wird es gewiß für den Herrn Hauptmann desto einfacher sein, mir entgegenzukommen. Sie erinnern sich doch Hermann Gutzeits?«

»Oh, ja,« meinte Hauptmann Grübenau als lese er in seinem Hirn ein halbverwischtes Palimpsest, »natürlich, gewiß: der brave Gutzeit!«

»Seine beiden Jungen sind mit siebzehn und achtzehn bei Kriegsausbruch sofort als Freiwillige eingetreten.«

Hauptmann Grübenau nickte befriedigt.

»Der eine ist schon zweimal verwundet gewesen und ist jetzt Leutnant, – er hat mich in seiner neuen Jägeruniform letzthin noch besucht.«

Hauptmann Grübenau klopfte Doktor Herzfeld, belobend und aneifernd, freundlich auf die Schulter, als ob Herzfeld selbst der Erzeuger eines so herrlichen Sohnes wäre.

Der ältere, Kurt, aber wäre sein ganz besonderer Freund, ein kleiner Gelehrter und Künstler zugleich, wirklich eine Hoffnung mit seinen neunzehn Jahren; er wäre aber nach der Ausbildung wegen eines Lungenknackses wieder entlassen worden.

»Hat also nie das Feld gesehn!« sagte Hauptmann Grübenau mit ganz leichtem, stirnrunzelndem Unmut und trommelte mit den Fingern auf die Silberplatte seines Zigarettenetuis.

»Man hat ihn durch ein paar Lazarette und Genesungskompagnien geschleppt und dann vor einem halben Jahr ganz nach Hause geschickt; und es ist ohne Zweifel seitdem nicht besser geworden; – denn es ist ja jetzt sehr schwer, einen jungen Menschen so zu pflegen wie man das eigentlich müßte.« … Vor einigen Tagen wäre er aber ganz plötzlich untersucht worden, oder richtiger, nicht untersucht worden, für das Feld signiert worden, und hätte schon heute den Befehl zum Einrücken bekommen. Er wäre gerade noch bei ihm gewesen, sich zu verabschieden.

»Ja – und?« meinte Hauptmann Grübenau. Er hatte plötzlich die tiefe Eisigkeit seiner Vorgesetztenmiene. Seine großen kugeligen Augen, die einstmals hellblau gewesen waren und, wie das bei alten Leuten vorkommt, einen grauen Ring um die Iris bekommen hatten, erinnerten Doktor Herzfeld mehr denn je plötzlich an die großen runden Augensterne braunweiß-gescheckter Pferde, wie sie die Märchenmaler lieben. Sie hatten jedoch garnichts Liebes, Putziges, Märchenhaft-Verträumtes; nein, sie waren hart und böse geworden, kalte, mitleidlose Glassteine.

»Ich denke nun, man könnte es doch ermöglichen, den jungen Mann noch einmal untersuchen zu lassen, und kein Arzt der Welt kann die Entscheidung aufrechterhalten. Hier ist das Zeugnis des Hausarztes.«

Hauptmann Grübenau fegte es ziemlich brüsk beiseite.

»Bei der Menge der zu Untersuchenden kann natürlich nicht jeder Einzelne … und da der eine junge Gutzeit ja draußen ist … ich komme nicht im Auftrage … niemandes … nicht der Eltern und nicht des jungen Menschen … sie wissen es nicht einmal, daß ich hier bin …« Doktor Herzfeld fühlte, daß er sich in den Sätzen verhakte, keinen recht zu Ende brachte, – das war sonst nicht seine Art … »Und hier bei Ihnen, Herr Hauptmann, da ja für so manchen ein guter (Doktor Herzfeld wollte Druckposten sagen) … eine gute … Zufluchtsstätte bereitet ist, wird sicher auch für einen jungen und fleißigen Menschen … Was hat denn das für einen Sinn?! – So, wie es jetzt ist, kann man ebensogut ein Beil nehmen und ihn auf der Stelle tot schlagen. Nützen wird er nichts, nur kaputgehn.«

»Oh, lieber Doktor Herzfeld,« sagte Hauptmann Grübenau im Tone der milden, dienstlichen Vermahnung ersten Grades (Kamerad, möchte Sie darauf aufmerksam machen) »Sie können versichert sein: es wird dem jungen Menschen glänzend bekommen. Gerade unsere ärztlichen Erfahrungen der letzten Zeit haben uns gezeigt, daß für so leichte katarrhalische Erkrankungen nichts verfehlter ist als eine falsche Rücksichtnahme … Wenn sich mal später etwas tun läßt – nach einiger Zeit, wenn er draußen war, warum nicht?: man drückt ja auch mal ein Auge zu. – Warum soll man einem alten Freund wie Ihnen, lieber Doktor, nicht gern mal 'ne Gefälligkeit erweisen? … Aber jetzt?! Was meinen Sie, solche Fälle wie den Ihrigen muß ich täglich hundert ablehnen … Und sehen Sie: eine nochmalige Untersuchung?! aber, lieber Doktor, – wo denken Sie hin?! – Sie sehen die Sache als Ziviliste. Der Herr Oberstabsarzt würde mich ja schön anlappen … und, was hat denn die Untersuchung hier zu bedeuten, bei der Waffe, bei der Waffe – da wird er überhaupt erst genau auf Herz und Nieren geprüft.«

Hauptmann Grübenau war etwas schwer aufgestanden und schlenkerte sein Gichtbein. »Jetzt im Augenblick«, sagte er und patschte wieder Doktor Herzfeld auf die Schulter, »ist es wirklich unmöglich! Ich verstehe und würdige Ihre Bedenken, – nicht wahr, rein menschlich: man hat so'n Bengel gern, möchte ihn ja aus dem dicksten Dreck raus haben … aber im Augenblick?!.. nischt zu wollen, Doktorleben. Kommen Sie mal in zwei, drei Monaten wieder oder schreiben Sie, lassen Sie sich sehn …, was geht, soll gemacht werden; ich werde Ihnen dann schon im Vertrauen den Weg angeben, wie wir'n aus'm Schlamassel wieder rausholen, den Jungen.«

Hauptmann Grübenau war zu Doktor Herzfeld ans Fenster getreten. Unten formierte man eine lange Doppelreihe bunt zusammengewürfelter Zivilisten, dürre und kleine, alte und mürrische und blutjunge durcheinander, die mit gesenkten Köpfen ergeben ihre braungrauen Pappkartons in den Händen hielten; auch ein paar Dutzend in schon abgebrauchten Militäruniformen waren dazwischen.

»Herrgott noch mal, da muß ich runter, da murksen doch die Esel immer noch mit der Handvoll Leute herum. Nu, sehn Sie das Kruppzeug da unten sich an: nischt wie krumme Hunde. Und was waren das für Kerle im Anfang, die kamen …, wie die Schlagbäume, sag' ich Ihnen, wie die Schlagbäume! … Es ist wirklich Zeit, daß der Mist, dieser gottserbärmliche Mist (das heißt, Hauptmann Grübenau wählte nicht diese zivile Umschreibung militärischer Ausdrucksformen) allerhöchste Eisenbahn ist es, daß der …dreck zu Ende geht. Adje, Doktor.«

Und dann sah sich Doktor Herzfeld wieder unten über den Hof gehen an den sich formierenden Reihen der Eingezogenen vorüber. Er dachte an den Saal einer großen mechanischen Spinnerei, den er einmal in Manchester gesehn hatte, in dem auf hundert Webstühlen Tausende von Fäden schossen – hier wurden auch Tausende von Schicksalsfäden auf einmal und zugleich versponnen.

Also den Gang konnte er sich jetzt sparen; nochmals brauchte er nicht zu Hauptmann Grübenau. Endlich, – was konnte auch der Einzelne tun, und was war der Einzelne? … Ein Sandkorn, das untergepflügt wurde, und ebenso gleichgültig wie das, … nicht mehr, eher weniger. Dieser famose Junge, ein Frühvollendeter … gottlob, daß keiner von den beiden Eltern eigentlich geahnt hatte, was in ihm war und lebte, wie er frühreif die geistige Bahn durchstürmt hatte. Für den Vater war er ein Junge gewesen, dem die Schule leicht fiel, kaum mehr. Hermann Gutzeit hatte zuviel mit sich zu tun, zu schwer zu arbeiten, um noch Zeit für seine Kinder zu erübrigen; ihm genügte es, wenn er für sie Essen heranschaffte, sich für sie den Rücken und die Finger krumm schrieb, um immer wieder zwanzigmarkscheinweise einen Monat lang sie durchzubringen. Und mehr von ihm fordern, hieße Unmögliches verlangen. So wie der Junge an Körpergröße über den Vater hinausgewachsen, so war er in zwei, drei Jahren geistig über den Vater hinausgewachsen, hatte ihn und seine kleine Journalistenseele, sein armselig-braves, sich quälendes Literatentum, das der Menge diente, ehrlich, nivellierend und beschränkt, weit unter sich gelassen.

Seltsame Menschen, diese jungen Kerle, die da jetzt draußen reihenweise hingemäht wurden … ausgerottet wurden … verbluteten oder verblödeten, um Jahre oder Jahrzehnte geistig zurückgeworfen wurden! Warum hatte kein Mensch eine Ahnung gehabt von dieser Generation, die eben anhub, die Schanzen des Lebens zu erstürmen, und die zum größten Teil noch in den Klauen der Lehrer war, die meist gerade soviel von ihr wußten und verstanden, wie der Bauer von der gothischen Truhe, die in seinem Stall als Futterkiste verkommt!

Doktor Herzfeld sah den Jungen das erste Mal bei sich nach jenem denkwürdigen Morgen, da er – er hatte sich nie so als Diplomat gefühlt, als Puppenspieler, der Marionetten tanzen ließ – da er Hermann Gutzeit und seine Kanaille von Frau, (das heißt: sie war, wie sie war, weder gut noch schlecht, triebhaft-tüchtig und frauenhaft-gewissenlos, verlogen bis in den Kern und doch unerhört lebensstark, ein schönes, prangendes Stück Fleisch) … da er diese beiden wieder an den gleichen alten Strang zusammengekoppelt hatte, von dem sie sich losgerissen hatten, sie wieder angeschirrt hatte, weil es eben doch so am Ende für beide Teile, für ihn und für sie (und auch für die Jungen) am besten war.

Doktor Herzfeld hatte erst gedacht, es ginge um Zigaretten, mit denen er ja die Freundschaft dieses dienernden, frischen, etwas altklugen Herrn von dreizehn Jahren sich erkauft hatte, und überlegte sich, wie weit er, ohne ernstlichen Schaden anzurichten, diese frühzeitige Lasterhaftigkeit unterstützen dürfte, … und, um Zeit für seine Entschlüsse zu gewinnen, hatte er, ohne es ernst zu nehmen, Unsinns halber, ein Gespräch über die Schule begonnen, wie man das so tut; – was soll man sonst mit solch einem Bengel reden.

Und plötzlich war unter Zittern, Fäuste-ballen und vertränten Augen ein solcher Ausbruch von Wut und tiefster Verstimmung gefolgt, daß Doktor Herzfeld tief erschrocken war, weil er fühlte, daß auf dem Kinde Sorgen lasteten, denen es nicht gewachsen war. Und Doktor Herzfeld hatte ihm gut zugesprochen, er wisse zwar auch nichts, aber jener solle ruhig mit dem Julius Cäsar oder den Kongruenzsätzen zu ihm heraufkommen; das würde er schon mit Gottes Hilfe unter Hängen und Würgen noch gerade so zusammenbringen; und der Pythagoras ginge auch noch. Aber Kurt hatte nur trotzig und verzweifelt den Kopf geschüttelt: nein, Nachhilfe brauche er nicht; er wäre stets der Beste der Klasse, solange er zur Schule ginge; aber dieser Zwang, dieser Stumpfsinn, diese Verständnislosigkeit der Pauker, die ohne einen Schimmer … er fühlte sich tief unglücklich … und wer verstände ihn denn zu Hause? Sein Vater?! Sie sprächen ja kaum zusammen … Oder seine Mutter etwa?! Sie denke, sie sorge geistig für ihn, wenn sie ihm Pomade in die Haare mache und den Scheitel zöge … Und Hans?! Sie wären ganz verschieden: Hans wäre nur glücklich, wenn er Faustball spielen könnte.

Und dann, nachdem der erste Ausbruch sich gelegt, hatte Doktor Herzfeld sich weiter mit Kurt unterhalten und zu seinem Staunen gesehen, daß der Junge an Wissen weit über seine Jahre hinaus war, schon die halbe Bibliothek seines Vaters heimlich durchpflügt hatte und wahllos – aber mit einem tiefen Hunger nach der Welt, nach Aufnehmen, Insich-eintrinken, – Historisches, ja Philosophisches, gute Literatur und Tagesbücher, Rezensionsexemplare, wie sie sich bei jedem Schriftsteller anhäufen, gefressen hatte. Und von Stunde an – über vier, fünf Jahre – war Doktor Herzfeld sein Mentor gewesen, und er hatte in all der Zeit nicht genug staunen können, mit welcher Schnelligkeit jener alles so in sich einsog, ein immer durstiger, stets aufnahmebereiter Schwamm. Dabei schien er für alles Zeit zu haben, arbeitete nie, beschäftigte sich nur, es flog ihm unmerklich zu; einen Weg, zu dem andere ein halbes Leben brauchen, legte er in einem Jahr geistig zurück, ohne daß deshalb weniger haften blieb. Doktor Herzfeld war eigentlich nicht mehr wie ein Reisemarschall dabei, der die Route bestimmte, zur Wahl stellte, irgendwelche Bücher lieh oder aus irgend einer Bibliothek besorgte. Innerhalb von ein, zwei Jahren hatte er, wenn er mit Kurt sprach, völlig vergessen, daß er doch einem Knaben gegenüberstand, der erst an die Türen des Lebens pochte. Er nahm ihn ganz als seinesgleichen.

Und das Seltsamste daran war für Doktor Herzfeld gewesen, daß aus all den Dingen, die ihm ja auch zur Verfügung standen, die ja zum Schluß auch in irgend einer Form der Weg seines Lebens gewesen waren, etwas ganz Neues sich zu bilden begann, in trunkenen, lasterhaften, gährend-proletarischen oder griechisch-sehnsüchtig-feierlichen Versen, in kleinen, explosiven Prosastücken, himmelweit entfernt von seinen ersten Versuchen, nicht einmal im übertragenen Sinne diesen ähnlich, … etwas völlig anderes, als er kannte und begriff, eine Welt, die irgendwie in der Zukunft lag, und zu der er, trotzdem er doch unter genau den gleichen Voraussetzungen gelebt hatte und lebte, (das heißt: was ihm Gegenwart und Miterleben war und Formel für beides, war für jene ja Vergangenheit und Überlieferung, nur eine historische Bedingtheit) – zu der er nicht mehr den Weg fand. Er stand einem geheimnisvollen Vorgang gegenüber: er kannte alle Ingredienzien und Bestandteile, die in die Retorte geworfen waren, er hatte sie ja selbst überwacht, mit ausgewählt; und in der Schmelzglut dieses jungen Ichs begann etwas sich daraus zu formen, huben an, Gebilde sich herauszukristallisieren, deren Wurzeln er nicht kannte … geschweige denn sie selbst erahnt hätte.

Und Doktor Herzfeld hatte plötzlich gefühlt: er und seine Zeit, mit all ihrem Wollen und ihren Sehnsüchten war für diese nun kommenden Menschen nur eine Durchgangsstation, ein Pensum, mit dem sie fertig werden wollten und mußten, je schneller, desto lieber, um dann sie selbst zu sein; noch nie hatte eine Generation so unter dem Zwang des Gewesenen und Verwesenden, dessen Hüter sie, die Älteren, waren, geächzt und sich gewunden wie diese kommende! Keine war so im Innersten revolutionär, voll Feindschaft und Verachtung gegen Eltern, Staat, Zwang, so vaterlands-unfroh und menschheitssüchtig gewesen wie diese. Und doch hatte sie mit aufeinandergebissenen Zähnen ihr Leben freiwillig in die Schanze geschlagen gegen ihre Überzeugung; und nun ließ man sie zerfetzen von Granaten, steckte sie in Schlammlöcher und ließ sie in Hospitalbetten fürder verrecken, ohne überhaupt zu ahnen, wer und was sie waren, nahm sie als Menschenmaterial, Nachwuchs, Kriegsfreiwillige, nächste Jahresklasse, Nachfüllung … die Achtzehnjährigen … ach, es war zum Heulen. »Heult, heult, seid ihr denn alle von Stein.«

Doktor Herzfeld sah Kurt vor sich, wie er ihn hundertmal in diesen Jahren gesehn, er vergaß im Augenblick ganz, wie er eigentlich als Knabe ausgesehn hatte; so, wie er hundertmal da, in diesem Sessel, an diesem gleichen, runden Mahagonitisch ihm gegenübergesessen hatte, sah er ihn. Er erblickte die ganze Gestalt, diesen überschlanken, schmalbrüstigen, etwas ungelenken, jungen Menschen, fühlte ihn von den braunblonden, strähnigen, nach hinten gestrichenen Haaren bis zu den Schuhspitzen herunter. Er empfand sie, trotzdem sie ja doch gut zur Hälfte durch den Tisch seinen Blicken verdeckt war. Er hätte ihn zeichnen können in diesem Augenblick, wie er unten die Füße kreuzte, wie er den rechten Arm über die Seitenlehne des Sessels hängen hatte, und wie die linke Hand mit den beweglichen, spielenden Fingern auf dem Tischrand ruhte. Aber das blieb doch eigentlich alles Schatten, leuchtete nur ein wenig aus sich selbst heraus. Auf den Augen jedoch, unter den scharfen Brillengläsern, auf dieser gebogenen, dünn-scharfen Nase, die bei Mischblut – die Mutter war Christin, – häufig ist, auf diesem jungen, glatten Gesicht, mit seiner seltsamen, starken Häßlichkeit, als wäre es von Meidner entworfen, – vor allem aber auf dieser ganz reinen Stirn, die es überwölbte – groß und hoch genug, um ein Schlachtfeld für Gedanken zu sein, – sammelte sich das Licht von den Glühbirnen der Ampel, modellierte es gleichsam überplastisch durch bis zu dem ganz leichten Einkneifen und Zucken der Nasenwinkel und bis zu dem Zusammenziehen der Augenbrauen beim Sprechen, … als ob er in einem Buch mit zu kleiner Schrift läse.

Doktor Herzfeld starrte vor sich hin, (er war sich garnicht bewußt, daß er mit offenen Augen träumte); da hatte er ihm zuerst von Burckhardt gesprochen; und die ersten Nietzschebände hatte er dort vor ihn auf den Tisch gelegt, die hatten ihn trunken gemacht … worttrunken, aber nicht auf lange Zeit. Irgend etwas war in ihm, daß er sich wieder von ihm abwandte, das ihn leer ließ. Endlich zerstörte Nietzsche nur Götzenbilder, meinte er, um neue zu errichten; er war Herrscher, träumte von Macht; es fehlte ihm die Andacht vor dem Leben-an-sich, als unzerstörbare Form des Bestehenden, als Gottes Offenbarung, die Schopenhauer bei allem geistigen Hochmut – und er war ja Schopenhauer! – doch unverlierbar besaß. Ganze Bändereihen literarischer Zeitschriften hatte er von ihm geschleppt und wieder zu ihm getragen. Doktor Herzfeld sah sie vor ihm sich aufhäufen. In wenigen Tagen hatte er stets alles Wichtige herausgelesen, hatte sie immer dann eine Weile vor sich auf die Tischplatte gestapelt und sie mit ihm durchgesprochen, – er liebte es, beim Lesen Streifen mit Stichworten zwischen die Blätter zu legen, – ehe er sie vorsichtig in die Regale nebenan zurückstellte und sich mit neuen versah. Denn gutgezogen war er … dafür hatte die Mutter gesorgt! – Wenn er auch sich ganz formlos und ungezwungen gab, er machte nie einen Verstoß gegen den Takt, blieb eigentlich nie eine Minute länger als unbedingt nötig, fühlte es, wenn er störte; und er mochte noch so hungrig sein, es war jedesmal beinah ein Kampf für Doktor Herzfeld, ihn zum Essen bei sich zu behalten.

Da hatte dieser Junge gesessen, auf diesem Sessel, da … da … da … und da würde er nie mehr sitzen … titatata … tum … tati … Ach, du lieber Augustin! …

Doktor Herzfeld starrte hinüber; und es war ihm, als ob irgend etwas sich auflöste, verwehte, verschwamm, vergeisterte; und erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, wie klar und leibhaft er diesen Jungen da eben gesehn, ihn gehört, mit ihm gesprochen hatte, … er hatte ordentlich den etwas brüchigen Klang seines Organs – mit dem Kehlkopf klappte etwas nicht – gehört.

Ja, von der Kunst hatte er noch nichts gewußt. Doktor Herzfeld dachte daran, wie er ihn ein paarmal auf seinen Sonntagsgängen mit in Sammlungen und Ausstellungen genommen hatte; aber er war noch zu sehr in geistigen Dingen befangen, um Farben und Formen anders als mit dem Verstand nahen zu können. Er lebte noch im Hochmut des Geistigen, und es fehlte ihm noch die Demut und Hingabe der Sinne an die Welt der Objekte. Wo sollte er sie auch herhaben? – Dazu war er noch zu jung und auch zu arm von Hause her. Woher sollte er denn wissen, daß ein Schrank und ein Schrank, ein Stuhl und ein Stuhl nicht das Gleiche ist … wo sollte er so etwas gelernt haben? Etwa in der völligen Gleichgültigkeit des Elternhauses, das wie Hunderttausende des mittleren Bürgertums soviel von Kunst erhellt wurde wie die Tiefsee von dem Licht der Sonne? Oder vielleicht in den Xenophonstunden des Gymnasiums?

Doktor Herzfeld hatte sich schon gefreut, ihn langsam und stetig in diese seine Welt hinüberzuführen. Er hatte seine Aufgabe für die nächsten Jahre darin gesehen. Er hatte schon begonnen, ihm dieses und jenes von seinen Dingen zu zeigen, ihm einmal eine japanische Lackdose in die Hand zu geben oder ein seladonfarbenes chinesisches Schälchen; ja, hatte ihm sogar gestattet, den Glassturz von einer seiner römischen Flaschen zu heben, damit er das bunte Spiel des Perlmutterglanzes von allen Seiten besser betrachten könnte. Er hatte manchmal ganz tückisch gesagt, daß er noch zu tun hätte, um ihn zu zwingen, wenn er auf ihn wartete, die Dinge seiner Sammelschränke sich einzuprägen und vor den Bildern an den Wänden zu verweilen. Und er war dann ganz heimlich beglückt, innerlich-beglückt gewesen, wenn er ihn nicht über einem Buche fand. Doktor Herzfeld fühlte plötzlich, er hatte doch eine ganz seltsame Zuneigung zu diesem jungen Menschen gehabt, er hatte eigentlich um ihn geistig geworben. Warum er das mußte, wußte er selbst nicht. Er war eifersüchtig, – wenn sich Worte mit Begriffen decken! – denn er war sich dessen nie bewußt geworden, aber jetzt fühlte er es plötzlich, sah es in diesem Lichte: plump eifersüchtig auf die Eltern gewesen, die Kurt doch nur wenig bedeutet hatten, eifersüchtig auf irgend eine junge Studentin gewesen, die einen runden Kopf, runde Augen, eine runde Nase, runde Backen und eine runde Brille hatte, als ob sie geradewegs von der Drechselbank käme, und deren Unbildung und Anmaßung sich genau die Wage hielten, und in die Kurt seelische Abgründe hineingeheimnißt hatte, die dieser kleinen, auf die Universität entgleisten Volksschullehrerin weltenfern lagen. Er hatte das Gefühl gehabt, als ob er es sein müsse, dem dieser Junge alles danken solle. Warum sollten sich Leute, die ihn garnicht kannten, anmaßen, ihn Sohn zu nennen, nur weil sie Werkzeuge seiner leiblichen Entstehung gewesen waren? Warum sollte solch ein kleines, rundliches, braun-blondes Etwas sich herausnehmen, ihn Freund und Geliebter zu nennen, … einfach weil es Gesetze eines tierischen Magnetismus gab? Sein werdendes Menschentum dankte er doch nur ihm.

Doktor Herzfeld kam es plötzlich zum Bewußtsein, daß nie eigentlich – bis auf ein paar sehnsuchtsreiche, längst vergessene Gymnasiastenfreundschaften, – Männer in seinem Dasein eine Rolle gespielt hatten; er mochte Männer nicht; sie waren draußen vorübergegangen. Er hatte sich nur mit ihren Kristallisationen, mit Büchern und Dingen befaßt. Sein Ich war seit Jahrzehnten ganz auf sich und auf Frauen gestellt; aber die Frauen waren meist auch nur Tangenten am Kreise seines Daseins gewesen, sie hatten es äußerlich angenehm … ja im Ganzen wohl: angenehm … berührt; und man kann sich zahllose Tangenten um einen Kreis denken. Eine Sekante, die das Innere schneidet, ein Radius, der zum Kern führt, oder gar ein Diameter, der den Kreis spaltet, waren sie fast nie gewesen … oder nur sehr selten und für kurze Dauer.

Aber dieser Junge da war etwas gewesen, was er in sein Leben aufgenommen hatte. Er sah sich hier draußen noch das letzte Mal mit ihm durch die Baumalleen gehen, während die Laternen – grün wie Johanniswürmchen – in den noch hellen Abenden durch die herbstlich dünner-werdenden Laubvorhänge schimmerten, … langsam, Schritt vor Schritt, immer wieder umkehrend und hin und her gehend, ehe sie sich schließlich trennten, in unendlichen Gesprächen, die ganz unpersönlich waren und doch wie mit Pfeilen auf einander zielten. Und plötzlich stand Doktor Herzfeld das Bild einer griechischen Palästra vor Augen, eines Wandelgangs, einer hellen marmorquadrigen Mauer, über die zimmetfarbige und oliven-graue Bergrücken blickten, und über der ein sammetblauer Himmel wie ein Streifen war. Und er sah bärtige Männer in den Chlamys gehüllt, einen Zipfel über die Schulter zurückgeschlagen, auf ihren Sandalen, langsam und wiegend, an dieser Mauer entlang schreiten, und neben ihnen Knaben, die ihnen lauschten oder in Fragen den Sinn ihrer Seele zu erforschen suchten. So in diesem Licht hatte er es nie betrachtet … es erschien ihm auch unsinnig, lag wahrlich nicht auf seiner Linie; und doch wurde innerlich plötzlich eine bisher unbewußte Zärtlichkeit für diesen Jungen in ihm frei und zerschmolz in ungeweinten Tränen.

Und wie er die Hand vor die Augen hielt, sich die Finger, Daumen und Zeigefinger, tief in die Augenhöhlen preßte, so daß dämmrige Farbenspiele vor ihm schwammen, sah er plötzlich mit unheimlicher Deutlichkeit – eigentlich hatte es nichts mit seinen Gedanken zu tun, er sah es visionär – ein Kirchhofsfeld, kahl liegend, von wenigen Bäumen umstanden; Kreuze … keine Denkmäler, … Hügel, … reihenweise, … etwelche schon angegrünt, … leise und brüchig efeuumsponnen; etwelche scharf und hartkantig, wie geschnitten aus einer roten Erde … und die letzte Reihe noch beinahe in Schollen die Hügel. Man erkannte noch die unverbundenen Spatenstiche Erde in ihnen, erblickte noch die rote, lehmige Brühe, die von ihnen herabsickerte. Und Schnee und Regen tropfte langsam auf sie nieder, auf die Hügel und die matschigen, zertretenen und wassergefüllten Wege zwischen ihnen, in denen die Spuren von Nagelschuhen staken. Die letzten Hügel hatten noch nicht mal Kreuze, nur je eine breite, etwas zugespitzte Latte hatte man – so wie das Gärtner tun – an ihrem Kopfende in die Erde gesteckt, eine Latte, die ein paar Zahlen und Zeichen trug, und über der ein Kranz hing, triefend vor Feuchtigkeit, angewelkt und von der gleichen lehmig-schmutzroten Farbe. – Und Doktor Herzfeld empfand genau, daß es eigentlich nicht das letzte Grab war, nicht das von heute, nicht das von gestern, nicht die drei von vorgestern, – sie waren so ganz leise und kaum merkbar verschieden in der Frische und Vermorschung der aufgebrochenen Erdschollen – sondern, daß es das sechste von der letzten Reihe war, worunter man diesen Jungen da geworfen hatte. Das war nun alles, was noch für ihn zeugte: eine Registraturnummer auf einem Gräberfeld … titatata … tum … tati …

Aber da klirrte ja etwas?! Gabeln, Messer, Geschirr; Frau Roggemann, die das Abendessen brachte; – heute hatte sie die Pariser mit den Maureremblemen an, und die waren besonders weich und lautlos wie Pantherpfoten; da hatte er es nicht gehört. Aber, wie sie die Tür öffnete, das hätte er doch vernehmen können. Ach Gott, so spät war es schon! … Er mußte mindestens zwei Stunden verträumt haben.

Frau Roggemann warf mit einer Lassobewegung das Tischtuch über die Platte und schob die Dinge darauf zurecht. Doktor Herzfeld sah ihr eine Weile zu.

»Hören Sie, Frau Roggemann,« sagte er, – er wollte es nicht tun, aber er mußte es irgend jemand erzählen, – es war, als ob er wenigstens einen Scheit Holz von seiner Hucke voll, die ihn zu Boden preßte, abwerfen müßte, vielleicht, daß er dann etwas leichter atmen könnte – »hören Sie, Frau Roggemann, die beiden jungen Gutzeits, der Leutnant und Kurt, … der eine ist gefallen und Kurt ist in Dortmund im Lazarett gestorben, alle beide innerhalb dreier Tage, die armen Jungen!«

Frau Roggemann ließ sich nicht in ihrer Tätigkeit unterbrechen und stellt ruhig das Teeglas neben die Kanne.

»Ja, ja,« sagte sie gemächlich und hob den Deckel von der Kartoffelschüssel, daß es plötzlich empordampfte, »ja, ja, det kommt jetzt öfters vor.« Und damit war das Thema für sie abgetan und ihr Urteil über diese Angelegenheit beschlossen und verkündet.

Doktor Herzfeld blieb reglos sitzen, er fühlte sich nicht fähig, sich zu rühren.

»Davor is Krieg,« ließ sich nochmals, in der Tür sich umwendend, Frau Roggemann vernehmen. Und im Ton dieser Worte, ein sehr bedächtiger und langsamer Ton, lag ihre ganze philosophische Einstellung der Welt gegenüber. Es gab: Frieden. Und es gab: Krieg. Schwer war das Leben so und so für eine, wie sie war, und für die meisten andern – bis auf die Reichen: die Äser! – auch. Das beste und einfachste, es so hinzunehmen, wie es kommt, ohne Hoffnung und ohne Enttäuschung, und sich mit den Tatsachen abzufinden. Und jetzt wurden eben mal gerade eine Zeit lang die Männer erschossen oder zu Tode gequält …gewiß schlimm für den, den es traf; …aber, das war im Augenblick fast in der ganzen Welt so … Also wird's wohl richtig sein und notwendig auch. Und – wenn nicht? na gut! Dann hat's auch keinen Sinn, darüber nachzudenken, da man doch nichts dagegen tun kann.

»Ach, wissen Sie, Frau Roggemann, nehmen Sie das Essen wieder fort, decken Sie ab, ich habe keinen Hunger heute.«

Frau Roggemann kam heran und klapperte die Sachen wortlos wieder zusammen … (›Schön, dann bring ich das der Portierfrau herunter,‹ sagte sie sich) sie hatte ein Amt, aber keine Meinung. »Den Tee aber lasse ich da, Herr Doktor, und die paar Brote auch,« äußerte sie dann in einem fürsorglich-mütterlichen Ton, der keinen Widerspruch aufkommen ließ, denn sie überlegte, daß »er« sicher doch nachher noch etwas haben wollte, und entweder sie noch wecken würde, oder in die Speisekammer gehen, dort Umschau halten und sie damit kontrollieren würde. Und beides liebte Frau Roggemann nicht. Denn erstens wollte sie schlafen; und zweitens wünschte sie nicht, daß etwa der Doktor sich Gedanken mache, wie es denn käme, daß die Vorräte so überraschend dahinschwänden, aus denen nämlich Frau Roggemann in allerletzter Zeit sich eine einträgliche und neuartige Einnahmequelle eröffnet hatte, indem sie sie für Hamsterpreise den Dienstmädchen des Hauses und der Straße verkaufte, auf daß diese sie wieder mit reichlichem Aufschlag an ihre Herrschaften nach dem System des Kettenhandels weitergeben mochten. Warum nicht? Jeder wollte heutzutage leben; – und Frau Roggemann gönnte das bißchen Verdienst den armen Mädchen in diesen schlechten Zeiten von Herzen!

Doktor Herzfeld war wieder allein, er hatte ein eigentümliches Summen und Singen, wie ein Sausen und Abbröckeln vom Sandberg der Zeit in den Ohren, einen Laut, ähnlich dem, wie von brodelnden, offenen Gasflammen, die man vordem in Küchen hatte; … aber das leise, langsam-klingende Tropfen von den Gesimsen auf den Fensterbrettern draußen, und das Knistern von den Flocken, die an die Scheiben geflogen kamen, sich ansaugten und herabglitten, hörte er trotzdem noch ganz deutlich als Oberstimme, – es war wie eine nimmermüde Begleitung. Und doch schwammen all diese Töne in einem dunklen, unbewegten Meer von schwarzer Ruhe. Gott, wie still das war! Doktor Herzfeld glaubte fast den Flügelschlag seiner Gedanken zu vernehmen, die von weit draußen herangeschwebt kamen; er schob den Stuhl zurück und begann im Zimmer auf und nieder zu gehen. »Der Mensch rottet doch alles aus … sogar sich selbst,« sagte es plötzlich laut. Ja, das mußte er also wohl gewesen sein, der sprach; denn es war ja sonst niemand im Zimmer; er war mit seinen Gedanken ganz wo anders gewesen, bei Kurt, und noch draußen irgendwo auf einem eingeschneiten Feld, das von Granatlöchern durchsiebt war wie eine Mondlandschaft von Kratern. ›Ach, nein, das war ja der andere, der Leutnant!‹ er hatte sich mit den Nägeln und mit den Zähnen wortwörtlich in den Boden, in die Allmutter Erde verkrallt und verbissen, – er hatte etwas von einem Kind an der Brust, wie er so dalag, – und die Uniform, auf die er so stolz war, war starr von Lehm, hatte Fetzen, die herabhingen.

Doktor Herzfeld hatte ihn nicht recht gemocht, – er hatte zwar sich früher oft über ihn gefreut, wenn er hier draußen Hockey gespielt hatte, er war von guter Figur und raubtierhaft-schnell; aber er liebte ihn nicht, irgend was stieß ihn ab. Das Freimaurertum des Geistigen, das ihn mit Kurt verbunden hatte, fehlte hier völlig. Doktor Herzfeld fehlte der Schlüssel zu diesem Wesen, ein Sudanneger konnte ihm nicht fremder im Kern sein. Er begriff nicht, woher ein Achtzehnjähriger den Mut und die Selbsteinschätzung nahm, von Männern, die zwei- ja bald dreimal so alt wie er waren, unterschiedslos als ›Kerls‹ zu reden; oder, wie er Höhepunkte seines Daseins darin sehen konnte, daß ihn militärische Banausen ein paarmal für einen Fliegeroffizier gehalten hatten, … und, daß er seinen ehemaligen Mathematiklehrer, den er eigentlich geschätzt hatte, vor sich eine ganze Weile stramm stehen ließ, ehe er sich gnädig herabließ, ihm abzuwinken. Höhepunkte des Daseins?

Gewiß, er hatte äußerlich eine leichte Politesse bekommen, Kasinoton, – Verteilung von Reden, Schweigen und Essen – war abgehobelt, auch von gutem Profil, hätte ein vorzügliches Titelblatt für die Kriegszeitschrift »An vier Fronten« abgegeben; und er hätte in einer Bar des Nachts um Eins, mit dem E. K. I auf der Magengrube und der faltigen Mütze auf dem linken Ohr, die hingebungsvolle Zuneigung aller Besucherinnen ausgelöst, die – bewundernd und mitleidsvoll – es überaus liebten, das junge Leben solcher Totgeweihten noch schnell mit Erinnerungen zu umkränzen.

Aber Doktor Herzfeld hatte ihn nie recht gemocht, weil er ihm auch nur das leiseste, menschliche Wort, das er von ihm erhofft hatte, schuldig geblieben war. Diese bald zwei Jahre Krieg hatten nichts in ihm geweckt, nur verschüttet. Erst hatte er als Junge, vorstellungs- und phantasielos, die Psychologie des Sportplatzes auf die des Mordplatzes übertragen und gewähnt, daß es ein gleiches wäre; und dann hatten ihn Klüngel und Kameraderie schnell, ehe er noch zum Bewußtsein seiner Lage kam, in ihre Arme genommen und ihm Denken und Fühlen unterbunden.

Als er das letzte Mal bei Doktor Herzfeld gewesen war, nachdem der Arm geheilt war, – die paar Splitter hatten kaum Narben gegeben – da hatte er eine so geheimnisvolle Aureole um sich gehabt, und so etwas in dem Blick der Augen, wie es die Photographien von Verstorbenen haben. Aber aus seinem Gehaben und Reden – sie pendelten hin und her zwischen dem Lob des frisch-fröhlichen Krieges als solchem und zwischen dem Glücklichpreisen der andern Völker, gerade von Deutschland besiegt zu werden, das ihnen dafür, (nachher nämlich durch seine kulturelle Überlegenheit) Genesung durch das deutsche Wesen bringen würde – aus seinen Reden ging nicht hervor, daß er sich dessen irgendwie bewußt war; im Gegenteil, sie waren reichlich aufgeblasen und kitschig, schmeckten zudem noch nach den Kriegsgedichten der Sonntagsbeilagen der kleinen Provinzpresse, wie sie sein Vater in mathematischen Progressionen seit zwei Jahren verfaßte und seinem Sohn wohl nicht vorenthalten hatte.

Doktor Herzfeld hatte ihm die ganze Zeit wortlos zugehört, wie Einer, der sich gern von Wissenden belehren läßt. Er wunderte sich eigentlich darüber, weil die Worte, diese väterlichen Verse, die in ihnen wiederklangen, doch schon längst überholt und veraltet waren, nicht großstadtgemäß mehr, gerade noch in der Provinz möglich; denn der Krieg war ja allgemach zur Zeit schon aus seiner Begeisterungsperiode und seiner Haßperiode in seine Rechenperiode hinübergerückt, war ein mitteleuropäisches Geschäftsunternehmen geworden, das man gut zum Abschluß bringen müsse. Man scheute sich nicht mehr, ganz naiv von dem ›Getreidekrieg‹ gegen Rumänien zu sprechen. Noch vor zwei Jahren hätte niemand gewagt, einer so idealen, menschlichen Angelegenheit wie dem Krieg, ein so plump-materielles Mäntelchen umzuhängen; – aber jetzt bemerkte das schon niemand mehr. Solche Reden, wie der junge Gutzeit da führte, waren eigentlich schon längst vorletzter Stil, heute sahen die militärischen Auguren die Dinge weit kaltschnäuziger und smarter.

Und Doktor Herzfeld hatte nichts geantwortet, (wozu auch?) nur zugehört – und hatte dabei doch nur diesen jungen Burschen betrachtet, sein Bild in sich aufgenommen, es studiert; und er hatte mit geheimem Erstaunen erkannt: und doch hatten auch hier Augen und Züge die Worte gefunden für Dinge, für tiefe und letzte, sich auflehnende, verzeihende und trauervoll-hingebungsreiche Menschlichkeiten, die unerkannt in ihm ruhten, und die Mund und Herz nicht auszusprechen wagten. Eigentlich war diese Zertrümmerung eines Seins ja noch grausiger, als die des andern; denn der Sinn des Lebens, des animalisch-schönen Spiels von Kräften hatte sich ja in diesem jungen Wesen weit köstlicher offenbart, noch göttlicher offenbart als in jenem andern, in dem ohne Zweifel ein Übermaß des Geistigen viele der Absichten eines Schöpfers durchkreuzt und zunichte gemacht hatte.

Doktor Herzfeld war schon vor einer ganzen Weile mit gekreuzten Armen vor dem Glasschrank, in dem seine bunten Chinaporzellane im grellen elektrischen Licht wie Reihen farbiger großer Astern leuchteten, stehen geblieben. Er hatte sich in den vielen einsamen und nachdenklichen Stunden angewöhnt, sich vor sie aufzupflanzen und sie anzustarren. Sie waren dann vorhanden, blieben aber außerhalb seiner Gedanken, gingen durch seine Sinne, nicht durch seinen Geist, der andere Wege lief. Und doch empfand er sie ganz dabei, empfand das Schmeicheln ihrer kühlen, in sich leuchtenden, reinen Porzellanfarben, – von Kaiserblau und Mondschein, Ochsenblut und Aubergin, Leberfarben und Teebraun, Dottergelb und Lichtgelb … und von Elfenbein und jenem Apfelgrün, das er so liebte; automatisch und unbewußt zog er, – während er weit fort war, – die scharfen Lichtkanten auf ihren Glasuren nach; die stolzen, einfachen, uralten asiatischen Formen von Vasen, Töpfen, Schalen und Gefäßen, von Höllenhunden, Zaubervögeln, Drachenmustern und Göttinnen glitt er entlang, tastete sie mit den Blicken ab. Komisch: daß man sie nie auslernte, ihrer nie müde wurde! Einiges war noch in den letzten Jahren hinzugekommen, hatte er noch in Paris vor dem Krieg in der rue d'Enghien, in London neben der Viktoriastation gefunden. Warum fand man dort eher mal etwas, als bei uns? Aber zu den Dingen war er noch nicht recht in Konnex gekommen, war mit ihnen noch nicht verwachsen, wie mit jenen, die er zuerst gekauft hatte, von denen jedes seine Geschichte hatte, die ihn gleichsam seit zehn Jahren schon duzten. Da zum Beispiel, diese gelbe, scharfkantige Flasche, wie aus Jade geschnitten der Form nach, flach, gepreßt, – gewiß: sie war schön, … aber tückisch und fremd, wollte nicht sein seelisches Eigentum werden, wie es doch dagegen diese zartgemusterte, weiße Schale da war, sein Blanc de Chine, dieses in Porzellan erstarrte Tiefseewesen, diese lichte, weiße Blumenqualle, von der er noch immer behauptete, sie sähe aus, als ob sie in ewiger, tiefblauer Meeresfinsternis dort unten, unter dem leichten Schwanken der Wassermassen ihre Form gefunden hätte, die eben so seltsam und zerbrechlich war, als hätte sie nie hier auf der plumpen Erde, unter dem Strahlen einer brutalen Sonne entstehen können.

Eigenartig, daß ihn diese Dinge, die ihn ehedem faszinierten – er liebte Farbenträger, hätte sie nicht aus seinem Leben fortdenken können, bedurfte ihrer, sie ersetzten ihm Musik, die seinem Dasein fehlte; er hatte persische Bols, von dem Sammet der Nachthimmel über Bagdad, römische Gläser, die wie Irismuscheln verwittert waren in allen grünen, roten und goldigen Farbenspielen, Rhodosplatten, nelkenüberrankt und metallisch schimmernd, Japanlacke, tiefschwarz und golden, wie die geschmückten Haarbauten asiatischer Dirnen, … all das hatte er bei sich zusammengetragen, hauste fast in einem kleinen Museum … seltsam, daß ihn diese Dinge, die ihn ehedem mit Leben und mit Glauben an eine Welt von sieghafter Schönheit der Gestaltungen erfüllt hatten, ihn gewärmt und erhoben hatten, daß sie ihn in letzter Zeit immer traurig machten, wehmütig, ihn niederdrückten, als ob er durch sie das Schmerzlächeln und den Tropfen Verzweiflung auf dem Grunde aller Menschenkunst deutlicher als vordem verspüre, und als ob er immer die Schatten toter Schöpferhände sähe, die über sie hingeisterten, als suchten sie vergeblich, ihr eigenes Werk noch einmal zu berühren.

Aus den Durtönen seiner alten Freunde waren Doktor Herzfeld jetzt Mollklänge geworden, denen er sich willenlos hingab wie einer melancholischen Steppenmelodie, und die er doch noch weniger denn jene vordem aus seinem Leben hätte löschen können.

Wirklich, er mußte mit den Nerven sehr herunter sein, denn es kam jetzt manchmal vor, daß er bei dem scheinbar ganz uninteressierten Hinstarren auf solchen römischen Glasbecher oder solch einen alten Schreibkasten, oder sogar auf solche Farbenreihe von Porzellanen hemmungslos nasse Augen bekam. Es war ausgesprochen lächerlich! Richtig … da hatte er sie schon wieder. Er mußte ordentlich schlucken, um der Tränen Herr zu werden: … Gott diese armen beiden Jungen … titatata … tum … tati … Ach, du lieber Augustin! …

Man muß dem Vater wohl schreiben. Armer Kerl, dieser Hermann Gutzeit … Wie es das Leben so mit sich bringt. Quälte sich täglich von neuem, um die Karre weiter zu schieben, die paar Tausend … Fünf … Sechs … Siebentausend Mark zusammenzubringen, die er so brauchte, schrieb sich den Kopf dumm und die Finger krumm, rannte in seinem lederfarbenen, faltenreichen Oberlehreranzug, mit seinen Klappkrägen und Knötchen aus den achtziger Jahren und in seiner Talentwindel, seinem flatternden Havelock, – er hatte etwas darin von einer abblätternden Kutscherzigarre – unterschiedslos Sommer und Winter herum; hatte Kinder gehabt, die entweder über ihn hinweggewachsen waren, oder von der erhabenen Höhe ihres Leutnantstums huldvoll auf den alten Herrn herabsahen, hatte eine blonde Frau von unverwüstlicher Gesundheit, die seiner, wenn auch bescheidenen literarischen Ideenwelt nicht nur gleichgültig, sondern feindselig gegenüberstand, – durch zwanzig Jahre war nicht ein Tropfen davon an ihr hängen geblieben, – die ihn betrog – Doktor Herzfeld mußte plötzlich lachen, kicherte leise und heimlich vor sich hin, er mußte an den Lackowitz, »Taschenflora der Mark Brandenburg« denken, nach der er so oft als Schüler auf Ausflügen Pflanzen bestimmt hatte – »Ob noch?!« stand da immer bei der Angabe der Fundorte – die ihn also (›über das Tempo wollen wir nicht streiten!‹) durch Jahre und Jahrzehnte, ohne daß er es ahnte, mit geschäftsmäßig-gleichgültiger Sicherheit betrogen hatte. Und das eine Mal, da er darauf kam, da er ausbrechen wollte, wie hatte sie ihn da schlichtweg wieder eingewickelt und mit einer kurzen Bewegung in die Tasche geschoben, wie einen ihr gehörigen Gegenstand! Nein, nein … so uneben war sie keineswegs: wie sie das Haus hielt, sogar Geselligkeit pflegte, indem sie ihre Familie um sich vereinte und die Freunde des Mannes herausekelte, bis er ganz allein allen gegenüberstand; wie sie den Kindern die Haare pomadisiert und Manieren mit Katzenköpfen anerzogen hatte; wie sie einkaufen ging und ein Mädchen anlernte oder hinauswarf nach derselben Pomaden-Katzenkopfmanier; wie sie ihre Kostüme selbst modernisierte … das war schon etwas! Sie war ein ins Weibliche übersetzter Kapitän eines Handelsschiffes, bieder und verschlagen dabei, trinkfest wie ein Igel und jeder Schiebung und jedem Laster zugänglich. Man konnte sie sich auf einer Kommandobrücke vorstellen ins Sprachrohr rufend: »Stopp, backbord!« Und nun war auch ihr Leben geschlossen!

Früher hatte der arme Gutzeit unter einem Lärm schreiben müssen wie unter einem Dampfhammer; die letzten Jahre war's schon stiller geworden; und jetzt mußte es sehr still um ihn geworden sein. Komisch: wie Menschen plötzlich in eine andere Welt hineinwachsen, wieder ganz auf sich selbst gestellt werden! Er hatte sich nach den Tagen der äußeren Ruhe gesehnt, immer von ihnen gesprochen; eine Wiedergeburt davon für sich erhofft; alte Pläne wollte er herausholen; – aber er irrte sich: Lärm, Ärger, Unmöglichkeit sich zu regen, waren Lebensnotwendigkeiten für ihn gewesen, erhielten seine Spannkraft, schufen Gegensätze, peitschten ihn weiter. Jetzt schlief er geistig ein, fand neben seinem Alltagsjournalismus nichts mehr in sich außer ein paar hölzernen, trivialen Versen, die er fast mechanisch abhaspelte …. ›Ja, ich muß ihnen also wohl schreiben!‹

Doktor Herzfeld war unter der Ampel stehen geblieben und zog den Brief unter die Augen. Wieviele solcher Briefe werden gerade in diesem Augenblick in der Welt gelesen, sagte er sich. In Deutschland, in Österreich, in Frankreich, in England, in Rußland, in Kanada, in Italien, wieviel Tausende solcher Briefe wohl? … Was schrieb der da? – Er teile es ihm persönlich mit, sonst kaum jemand, weil er nicht liebte, seinen Schmerz durch die Zeitungen zu zerren (gut! anständig!). Er wolle seine stolze Trauer, seine schmerzliche Beglücktheit, daß er seine beiden Söhne hingeben durfte, nicht wie jene andern vor die Öffentlichkeit tragen. Er, der ja ein so guter Freund seinem Sohn gewesen, werde mit ihm fühlen, begreifen, was er hingegeben hätte. Er bäte, sie nicht aufzusuchen. Er litte stumm, gedenke ihrer stumm. Und wenn auch Kurt nicht vor dem Feinde mit der Waffe in der Hand … so ist auch er den Tod eines Helden für das Vaterland … Er und seine arme, liebe, gute Frau – sie wäre stolz und herrlich im Tragen wie eine antike Mutter – sie hätten sich beide ihr Alter anders vorgestellt: es würde sehr einsam sein. Aber er würde die Zähne aufeinander beißen und arbeiten, … er hätte jetzt nichts mehr zu geben … und doch, wenn er heute noch einmal gefragt würde, die Wahl hätte … der Hauptmann hätte selbst an ihn geschrieben; sein fähigster, junger Offizier … Ja, so ging das ziemlich wirr und mit Wiederholungen, – aber man konnte wirklich von ihm keine gedankliche und stilistische Durcharbeitung verlangen, – durch vier eng und klein geschriebene Seiten fort; denn wie alle, die viel schreiben, Eigenes zu Papier bringen, schrieb Hermann Gutzeit klein, steil und eng.

Doktor Herzfeld schüttelte den Kopf, er mußte an Emerson denken: ein Kind ist mir gestorben. Wie ein Blatt ist es von mir abgefallen. Und bald sehe ich: das allerschrecklichste an diesem Tode ist, daß er mich nichts lehrt … Ja, ja, da müßte man dem Hermann Gutzeit also wohl schreiben.

Und ohne daß er dessen sich bewußt war, war Doktor Herzfeld auch schon in das Bibliothekzimmer gegangen, das nach hinten, nach dem Bahnkörper heraus seine Fenster hatte, hatte die Schreibtischlampe angeknipst und sich wieder in seinem Stuhl, den er vor ein paar Stunden verlassen, zurechtgesetzt. Er schob seine Manuskripte beiseite; er maikäferte da schon lange an einer Arbeit, pumpte und pumpte Gedanken, Notizen, las, excerpierte, ohne doch richtig sich zu erheben, ohne loszukommen von der Scholle, ohne fliegen zu können. Er hatte seit Jahren den Wunsch etwas über Bücher, über das Buch zu schreiben, seinen Sinn und Wert, über die Psychologie des Lesens, warum wir es tun, was uns dazu treibt, – wozu lesen wir eigentlich? Es mögen viel gute Bücher geschrieben worden sein, aber sicherlich war nie ein gutes Buch über das Buch geschrieben worden. Er konnte von sich sagen, daß er Jahrzehnte gelesen hatte, ganze Bücherreihen hinter sich gelassen hatte; … und alles war daran ungeklärt: was zwang ihn immer wieder zu neuen zu greifen, von denen er ja nicht wußte, oft kaum ahnte, irgendwie nur divinatorisch erriet, was sie enthielten, was er finden würde. Also mußte er doch irgend etwas in ihnen suchen. Und welche Bereicherung seines Lebens hatte er von denen empfangen, die er hinter sich gelassen? Warum war er von ihnen stets ungestillt und ungefüllt geblieben? Was zwang den Einen, Bücher zu schreiben, und was zwang den Andern, sie zu lesen, Menschen zuzuhören, die vielleicht vor hundert Jahren fünfhundert Meilen von ihm entfernt gelebt hatten? Was zwang einen manchmal, Tage hinzubringen mit Durchschnittsbüchern, an denen alles kunstlos, ungepflegt und – es gibt auch eine schöne, zwingende Unwahrscheinlichkeit! – grob-unwahrscheinlich war, und in denen auch nicht ein Wort stand, das einem auch nur die Haut ritzte, … einlullende Nichtigkeiten wie der Gesang einer Kinderfrau, … und die er doch brauchte wie eine Zigarette, die es ihn zwang, sich anzustecken, auch wenn er vorher wußte, daß der Tabak schlecht und verfälscht war. Was nötigte ihn dazu? Alles Dinge, in die niemand ganz hinabgeleuchtet hatte, und mit denen er sich abquälte, ohne daß sie ihm klar Rede und Antwort standen. Immer wenn er glaubte: nun hätte er es gestellt, nun könne es ihm nicht mehr ausweichen, vernahm er kaum mehr als das Echo seiner Frage.

Das quälte ihn, und er schob es unwirsch zur Seite, nur um ein zweites Manuskript bloszulegen. Es ging auf Doktor Herzfelds Schreibtisch zu wie in Ilion, wo auch sechs Städte übereinander gebaut waren, die abgegraben werden mußten, bis man zu Priams Veste kam. Da lag noch etwas, mit dem er auch seit Jahren nicht zu Rande kam: über Frauenschönheit! … und er warf es dem andern nach. Es ging ihm dabei ganz ähnlich wie mit den Büchern. Niemand wußte, was er suchte, was sie ihm gab … warum seine letzte Sehnsucht immer ungestillt und unerfüllt blieb … Und auch die Trägerinnen selbst, die Antwort hätten geben müssen, blieben sie schuldig. Ja, sie konnten nicht einmal entscheiden, ob das Geschenk ihrer Schönheit für sie Segen oder Fluch war; geschweige denn, daß sie ahnten, was es bedeute, und welche Wechselbeziehungen zwischen Kern und Schale, Seele und Leib beständen … Auch hier hatte noch niemand Antwort gegeben, so viele sich damit geplagt hatten, (vom alten Firenzuola an) Kunstleute, Gelehrte, Ärzte, Ethnologen, Philosophen. Das war ein Labyrinth, aus dem kein Faden führte, und in dessen letzter Kammer das feuerspeiende Ungeheuer lauerte; es ging hinab bis zu den tiefsten Wurzeln alles Fühlens, ja, alles Seins überhaupt. Wer konnte sagen, warum uns unsere Sehnsucht fast ein Leben lang immer wieder zu neuen Frauen trieb? … Was suchten wir bei ihnen, und was war die Wesenheit ihrer Schönheit, die uns stets wieder von neuem entzückte, die wir anbeteten, und die uns doch ihr Letztes schuldig bleibt, und uns weiter träumen läßt, so wie wir noch auf unserm Totenbett nach einem neuen Buch greifen … Richtig – als sein Vater starb, bat er – es war wenige Stunden vor seiner Auflösung – man möchte ihm ein Buch geben, und seine Mutter gab ihm Börnes ›Pariser Briefe‹, weil er sie stets so geliebt hatte, aber er schob sie zurück … nein, man möchte ihm ein anderes Buch bringen, das er noch nicht gelesen habe: Börne kenne er auswendig.

Warum hatte er eigentlich das Zimmer hier zu seinem Arbeitsraum gemacht? In den Nachtstunden – und er war Nachtarbeiter – war es doch unruhig von der Bahn aus. Ach, da schrie schon wieder eine Lokomotive wie ein hungriger Raubvogel, und der Wind galoppierte von drüben über den Wald heran, setzte mit einem Sprung über die weite Bahnfläche, schnaufte in unregelmäßigen Atemstößen, als ob ihn der Weg angestrengt hätte, und verweilte nur, um mit Grobschmiedfingern auf den Harfensaiten der Telegraphendrähte ein Tremolo zu spielen. Und irgend ein ganz greller Lichtschein (wie von einem Scheinwerfer) kam plötzlich in das Zimmer hineinspaziert, lief über die Decke, als ob er da irgend etwas suche, sah sich ein-, zweimal nach allen Seiten um – nein, es war nicht da! – und ging, ohne sich zu entschuldigen oder auch nur adieu zu sagen, wieder heraus. Da drüben im Wald machte wohl ein ehrgeiziger, heimatliebender Kompagnieführer eine Nachtübung, richtete zweihundert arme Burschen vorerst mal auf den hölzernen Drachen ab. Keinen Hund würde man heute herausjagen bei diesem Schneesturm!

Doktor Herzfeld griff herüber und stellte heimtückisch noch den Nachtschalter des Tischapparates um. So! jetzt war er von der Außenwelt abgeschnitten, konnte ihn niemand mehr anrufen … auch Goldschmid nicht, der allabendlich in halbstündigen Telephongesprächen sich bei ihm einfand. Goldschmid war ein geborener Bibliothekar mit seinem unerhörten Gedächtnis, nicht für Bücher sondern für Buchtitel. Und wie er, ein lebender Weihnachtskatalog, sich vordem der Literatur zugewandt hatte, von der er sich jetzt ganz zurückgezogen hatte, so hatte er seine ungewöhnlichen Gaben nunmehr als Externer dem Krieg zur Verfügung gestellt, den er zwar als friedfertiger Fondsmakler aus tiefster Seele perhorresicerte, dessen Kursschwankungen, dessen Auf und Ab er aber mit einer Genauigkeit verfolgte, als würde er am jüngsten Tage vom lieben Gott geprüft werden: Goldschmid, was war am 9. September 1916?

Es war wirklich bewundernswert, wie sich die gesamte Kriegsmaschinerie in einem Kopf vereinigte. Er kannte jedes ehemalige Dorf, von dem nur noch die Karten und die Wegweiser wußten, jede Ausbuchtung der Fronten, piekte zu Hause die Bewegungen der Armeen mit buntköpfigen Nadeln auf großen Karten ab, die er sich ringsum an die vier Wände gepinnt hatte, führte Statistiken über Schiffsversenkungen, addierte Gefangene, Verluste, las mit dem Notizblock und dem Blei neutrale und feindliche Blätter, orakelte, wo sich etwas ereignen könnte, wußte sogar – rätselhaft, wodurch? – den Stand der Formationen; kurz, Goldschmid hatte ganze Kartotheken im Kopf, vereinigte in sich zum mindesten zehn Abteilungen des Generalstabs. Und er hielt es für seine Pflicht, Doktor Herzfeld täglich in einer Art Geheimsprache von Apfelsinen, Pudding, Pasteten und ähnlichen schönen Dingen telephonisch Bericht zu erstatten, den Doktor Herzfeld sicher nicht entgegengenommen hätte, wenn er nicht immer wieder herausgefühlt hätte, wie schwer doch bei alldem Goldschmid unter den Dingen litt, und daß er diese allabendliche Entlastung brauchte, wenn er nicht seelisch vollends zusammenbrechen sollte.

Außerdem fühlte sich Goldschmid zu dem Doktor Herzfeld hingezogen, weil ihn doch ein Geheimnis mit ihm verband von damals, aus der Affäre Gutzeit-Stüber her. Er hatte dicht gehalten; außer ein paar Dutzend Ganz-intimen hatte wirklich niemand von ihm gehört, daß sich Stüber eigentlich aufgehangen hatte und zwar noch dazu (höchst belustigend!) am Buffet seiner Wirtsleute. Schweigen konnte er.

Nein, diesen Goldschmid – er mochte ein guter Kerl sein! – diesen Goldschmid konnte Doktor Herzfeld heute wirklich nicht brauchen!

›Lieber Freund, ich danke Ihnen, daß Sie mich zu den Vertrauten Ihres Hauses zählen und mich in Kenntnis setzen von dem Schweren, das Sie und Ihre Frau betroffen hat. Wir wollen nicht darüber sprechen, daß mich die Nachricht aufs Schmerzlichste durchschüttelt hat und meine schreibende Hand zittern macht; nicht, daß ich mir die Fäuste in die Augenhöhlen bohre; nicht, daß mit diesem Verlust auch mein Leben in seinen letzten Hoffnungen verwaist ist. Wir wollen auch nicht Worte tauschen, die man sonst bei diesen Anlässen zu wechseln liebt, und die hier nur noch kümmerlicher wirken müßten, als sie es ohnedies schon zu tun pflegen, hier, wo das grausige Doppelspiel blöder Zufälligkeiten, oder richtiger satanischer, staatlicher Machenschaften Sie innerhalb dreimal vierundzwanzig Stunden um alles betrogen hat, was Sie besaßen, oder doch zu besitzen glaubten.

Ich will Ihnen keine Trostworte sagen, da ich sie für mich selbst nicht finde, geschweige denn für Sie erklügeln könnte, und deren Sie ja, – wenn ich Sie recht verstand! – auch nicht bedürfen; das heißt: Sie wollen es sich und mich glauben machen, nicht, daß Sie sie verachten, weil jeder Laut, jedes Wort Verrat an den Mysterien Ihres Schmerzes wäre, – dann würde ich Ihnen, alter Freund, stumm die Hand drücken und mit Ihnen weinen; – sondern, daß sie sich erübrigen, weil die ›Beglücktheit‹ jenem großen, überpersönlichem Ganzen Ihres Volkes und Vaterlandes, das gegeben zu haben, was Ihr Dasein ausmachte, was über Sie hinauswuchs, was die Zukunft Ihres Ichs war, was Ihnen menschliche Ewigkeit versprach, weil ›diese Beglücktheit des Opfers‹ jeden Trost überflüssig macht, und Ihr Schmerz von diesem großen Plus seines negativen Vorzeichens beraubt worden ist.

Und wenn ich es recht betrachte, Hermann Gutzeit, ist die wunderbare Lüge, in der Sie seit Beginn dieses Krieges leben, vielleicht das einzige Glück – denn Sie haben nicht viel davon gehabt! – das Ihnen je widerfahren ist. Und, wenn man es fürder gut mit Ihnen meint, so können noch Monate und Jahre vergehn, bis diese Illusion, bis dieser Selbstschutz von Ihnen abgefallen ist; und inzwischen wird der lautlose Baumeister Zeit, wird die Lebensgewöhnung, der wir nun alle einmal untertan sind, so ganz leise Stein für Stein Ihres zerbrochenen Daseins wieder bemörteln und an seine alte Stelle, oder gar an eine neue, einfügen. Und eines schönen Tages, wenn diese Illusion, dieser Selbstschutz von Ihnen abfallen wird, – und es kommt der Tag! – und es in Ihnen schreien wird: wo sind meine Jungen, meine beiden Jungen?! mit welchem Recht durfte man sie mir erschlagen?! schwerkrank durch nasse Gräben hetzen, bis sie in Fiebern zusammenbrachen? … wenn das in Ihnen plötzlich emporschreien wird, dann wird es leer schon und widerhallos in Ihnen sein; und die Wunden werden in Ihnen schon vernarbt sein, wie die Stümpfe der fortgerissenen Gliedmaßen unter dem Verband vernarben, ohne daß wir uns des Verlustes eigentlich bewußt werden. Und wie der Arzt den Verband nicht früher abnimmt, als er ihn abnehmen darf, so wird auch von Ihrer Seele dieser Selbstschutz sich erst lösen, wenn sich darunter die Wunden geschlossen haben.

Und somit erübrigt es sich eigentlich, Hermann Gutzeit, daß ich Ihnen mehr sage. Sie bedürfen meines Trostes nicht. Ich weiß, Sie werden, wenn Deutschland aus diesem wie Sie glauben – unverschuldeten, aber wie Sie mir kaum bestreiten werden, immerhin mitverschuldeten Krieg als Sieger oder auch nur unbesiegt hervorgeht, … Sie werden dann als der ›Vater der Heldensöhne‹ erhobenen Hauptes durch das Menschengewühl gehn. Und ich weiß weiter, wenn Deutschland ein neues 1806 erlebt, so werden Sie in irgendwelchen Belanglosigkeiten den Grund hierfür suchen. Ich kenne Sie zu genau, um nicht vorauszusehen, daß Sie dann Haß und Verblendung an die Stelle der Erkenntnis setzen werden und von Ihrem Vorrecht, als Mensch eben kein denkendes Wesen zu sein, in weitgehendem Maße Gebrauch machen werden. Sie werden wie ein Franzose » Nous sommes trahis« schreien. Ich verarge Ihnen all das nicht, denn es ist für Sie eine Selbsthülfe, ist für Sie ja die einzige Möglichkeit, ein Dasein voller Schmerz, Schuld und Mord auch nur eine Stunde zu ertragen. Es wird Ihnen ohnedies schwer genug fallen.

Hiermit wollte ich eigentlich schließen; aber auf meinen Briefbogen hat sich eben eine Florfliege herabgesenkt und deshalb möchte ich zu Ihnen reden, Hermann Gutzeit. Ich kenne diese Florfliege schon ein paar Wochen: sie scheint sich für diesen Winter bei mir eingenistet zu haben. Sie liebt es, in den Lichtkreis der Lampe zu kommen, und bevorzugt es, sich auf mein Papier zu setzen. Sie hat ein grünes Körperchen, große schillernde Elfenflügel darüber gebreitet, spielt nervös mit den geschmeidigen Gerten ihrer haarfeinen Fühler, und ihre Augen sind zwei große, grüne, metallschimmernde Kugeln. Ich weiß nicht, was in diesem Wesen vorgeht, kenne sein armselig-beschränktes Weltbild nicht, aber ich kann es nicht betrachten, ohne bis ins Innerste zu erschauern, weil ich plötzlich fühle, daß dieser flüchtige Weggenosse so alt und so heilig ist, wie alles Leben auf der Erde überhaupt ist, und daß es bis zu dieser Nachtstunde am Ende November des Jahres 1916 nicht eine Sekunde in all den ungezählten Jahrmillionen gegeben hat, da er nicht lebte. Ich sehe auf, Hermann Gutzeit, und da verfängt sich mein Blick auf einer kleinen, schwarzen Steinplatte auf meinem Schreibtisch. Es ist ein versteinerter Fisch. Sie erinnern sich wohl an ihn. Ich verehre ihn, weil er mich lehrt, weil er mich nie vergessen läßt, daß das Leben älter als der Stein ist … Dieses kleine Wesen auf dem Papier, ich weiß: ich brauchte nur jetzt sinnlos meine Hand zu erheben, und mit einem lässigen Fingerdruck diese heilige Lebenskette zu zerreißen, und ich würde einen Baum gefällt haben, dessen Wurzeln in die Ewigkeit hinabreichen. Stattdessen hebe ich das kleine zappelnde Ding vorsichtig von meinem Papier herab und setze es wieder auf den Blumentisch zwischen den Fenstern, wo es tagsüber wohnt, damit dieser Schößling lebe, weiter treibe durch die Jahresmillionen vor sich zu unbekannten Körper- und Geistesformen.

Sie würden auch heute, selbst in dieser Stunde noch, – so wenig hat Sie der Tod Ihrer Söhne gelehrt – achtlos dieses Insekt, Hermann Gutzeit, zu Boden werfen und zertreten, weil es Sie stört; und dann weiter schreiben. Und Sie würden mir sagen, daß es trotzdem immer noch genug Ungeziefer auf der Welt gäbe; und Sie würden mir entgegenhalten, daß der Kampf der Selbstbehauptung des Einzelwesens ja noch weit mitleidsloser sei. Oh, ich kenne das, Hermann Gutzeit, aber gerade, weil es so schrecklich ist, darf er nicht noch vermehrt werden. Und der Gedanke quält mich, daß, um mein Dasein zu erhalten, ständiger Mord geübt wird. ›Du tötest, um zu leben, und schlimm macht bös.‹ Ich vergesse es keine Stunde. Aber gerade das, diese gedankenwidrige Notwendigkeit, hat nur meine zitternde Verehrung zu dem Leben in jedweder Form noch vertieft, und gerade diese Qual hat mich die Bruderschaft alles atmenden Seins gelehrt, das von Ewigkeiten kommt und zu Ewigkeiten geht und wie in dem Spiel ›Taler, Taler, du mußt wandern‹ von Geschlecht zu Geschlecht gereicht wird.

Eigentlich sind Sie zu beneiden, Hermann Gutzeit: für Sie sind die Dinge, wie sie sind, und sie haben keinen doppelten Boden. Und so wenig wie Ihnen das Dasein dieser Fliege mit den grün-goldenen Augen und den Elfenflügeln ein Mysterium ist, ebenso wenig ist es für Sie das Dasein des Menschen, das doch in der Bewußtheit seines eigenen Ichs, in dem Umfang seiner Welt millionenfach über die paar vegetativen Lebensnotwendigkeiten solch eines Kerbtieres hinauswuchs. Ja, selbst das Ihrer eigenen Söhne ist es Ihnen nicht.

Erinnern Sie sich, Hermann Gutzeit, an ein Gespräch, das wir ehedem hatten – Sie werden ja den Tag auch nicht vergessen haben? als ich Ihnen das Wort van Goghs sagte?! Er schrieb da in einem seiner Briefe: ›Mir wird es mehr und mehr klar, daß die Menschen die Wurzeln alles Lebens sind …‹ und so fort … Erinnern Sie sich? Sie fanden das Wort damals ›wundervoll‹. Gelernt haben Sie nichts daraus. Beherzigt haben Sie es nicht. Es geht Ihnen wie den Athenern, die im Theater dem spartanischen Gesandten Beifall klatschten, weil er aufstand und seinen Sitz einem Greise überließ, der keinen Platz gefunden hatte. ›Die Athener wissen, was sich schickt,‹ sagte der spartanische Gesandte, ›aber sie tun es nicht.‹ Nein, Hermann Gutzeit, vielleicht wußten Sie einmal, wovon ich jetzt spreche, heute haben Sie es seit Jahren vergessen, und nicht ein Schimmer einer Erinnerung ist in Ihrem Hirn davon zurückgeblieben.

Ich weiß, Sie haben es schwer gehabt im Leben, und Sie haben – das konnte vielleicht nicht anders sein – Ihre beiden Söhne nicht gekannt. Sie wären vielleicht unter anderen Umständen ein guter Vater gewesen, und es war einmal Ihre Hoffnung, den Jungen Freund und Lenker, Erwecker ihrer Seele und ihrer Menschlichkeiten zu sein. Es hat sich aber anders gefügt. Der Eine bedurfte Ihrer nicht und fand, was Sie vielleicht kaum bis heute wissen, an mir den Wegbereiter. Und der Andere vermißte Sie nicht. Sie haben Ihre Jungen hingegeben, schreiben Sie, … Sie sind stolz, … daß Sie auf dem Altar des Vaterlandes Ihre beiden Söhne, das Liebste und Einzigste, was Sie auf der Welt hatten … Ihr Leben wird einsam sein, … Ihre Hoffnungen haben Sie mit ihnen in die Erde gescharrt … aber trotzdem! … und so weiter und so weiter …

Ja, soweit ich sehe, Hermann Gutzeit, leben Sie doch, und Ihre Söhne sind tot. Wie es mir scheinen will, befassen Sie sich etwas zuviel mit Ihrem eigenen Schmerz und zu wenig mit dem, was jene verloren haben! Sie legen sich auch nicht die Frage vor, was man ihnen genommen hat, warum und durch wessen Schuld es geschah?!

Wir wollen uns nicht darüber streiten, ob Nichtsein besser als Sein ist, und ob es vielleicht nicht das Ratsamste wäre, im Buch des Lebens den Schluß zuerst zu lesen. Ich glaube, Sie werden mir zugestehn, Hermann Gutzeit, daß das Leben trotz aller Rohheit, Enttäuschung und Qualen etwas Herrliches ist durch das ungelöste Geheimnis des Ichs, durch das Gefühl der Bewußtheit und durch das Bild der Welt, das durch unsere Sinne zu ihm einströmt. Und, daß das ganze Dasein Ihrer Söhne bisher nur ein einziges, uneingelöstes Versprechen, unerfüllt, ein Anfang war, daß man sie um ihre Vollendung betrog, um alles brachte, was überhaupt das Leben erst zum Leben macht, das werden Sie ebensowenig bezweifeln.

Ihr Schmerz ist ein Nebenher, eine belanglose Begleiterscheinung. Sie trennen sich von etwas, von dem Sie glaubten, es zu besitzen – nur glaubten. Sie haben sich nicht in Todesqualen gewunden, Sie haben kein Ich aufgegeben, kein Bild der Welt unersetzlich verloren, keine Hunderttausende von Möglichkeiten eingebüßt. Wenn Sie heute sterben, Hermann Gutzeit, – was ist das? Sie geben eine Gewohnheit auf, als ob Sie von heute an nicht mehr rauchen. Und ob Sie das fünf Jahre früher oder später tun, ist letzten Endes kein großer Unterschied. Ihre Möglichkeiten und Ihre Wahrscheinlichkeiten sind ziemlich erschöpft. Diese Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten aber waren unbegonnen, ungeahnt und unerschöpflich. Von Ihnen ist nicht die Rede! Seien Sie stolz! Seien Sie unglücklich! Seien Sie einsam. Opfern Sie dem Vaterland, was Ihnen mehr ist als Ihr Leben, … was Sie immer wollen! … was liegt daran.

Aber diese armen, armen, armen Jungen, die man hingemordet hat; den einen jungen mißleiteten Menschen, dem man einen falschen Sinn des Lebens vorlog, den er für bare Münze nahm, bis er – sich selbst fluchend – in Todeskrämpfen sich wand, und der ein Stück harmonischer Schönheit wie eine junge Linde sein Eigen nannte; und den Andern, mit dem für uns tausend neue Welten zusammenstürzten, und in dem tausend Welten lebten, von denen er vorzeitig Abschied nehmen mußte, von ihnen und nur von ihnen sollte die Rede sein. Wer hat sich das Recht herausgenommen, – nicht bei uns allein! – sie vor die Kanonen zu hetzen, und wofür wagt man es zu tun?! Wer ist daran Schuld, daß es geschehen konnte?! Sie, Sie alle. Nicht von heute und gestern sind Sie es, nein, durch Jahre, durch Jahrzehnte sind Sie es … schon, da Sie gedankenlos das Wort Feind schrieen, da Sie Armee schrieen, Generäle, hurrah! da Sie Vaterland brüllten, Weltmacht, blaue Jungens, da Sie Ihre mühsam erarbeiteten Milliarden für Todesmaschinen jubelnd hingaben; da Sie den Mord hunderttausendfach vorbereiteten, nur um ihn zu vermeiden, wie Sie behaupteten; da Sie, was eine andere Sprache sprach, haßten oder sinnlos mißachteten. Nie ist einer Generation von Vätern so geflucht worden wie der Ihrigen, nie fand eine Generation von Söhnen ein mehr schuldbelastetes Erbteil, das man ihr aufzwang, weil sie garnicht erst gefragt wurde, ob sie es annehmen oder verzichten wollte.

Sie, Hermann Gutzeit, Sie haben jetzt, wie Abraham, Ihr eigenes Fleisch und Blut geschlachtet, nur daß Ihnen kein Gott befohlen hatte, es zu tun, um Sie zu prüfen, und daß kein Gott Sie noch im letzten Augenblick davor bewahrte.

Was bedeutet denn Ihr Schmerz, der Ihnen nur Haß und Wut stachelt und weitere Millionen in den Tod peitscht, bis ganz Europa zusammenbricht und nur noch ein Friedhof und ein Lazarett und ein Armenhaus ist. Was ist er gegenüber dem Grausen, das Ihre Phantasiearmut und Ihre Gedankenlosigkeit über diese Generation nach Ihnen gebracht hat? Was haben Sie aus diesen zwei Jahren Morden gelernt? Nie ist Ihnen der Gedanke gekommen, daß es vielleicht auch anders ginge. Haben Sie sich vielleicht nur einmal an die Brust geschlagen: mea culpa! Und was lehrt Sie jetzt der Tod Ihrer Söhne, Hermann Gutzeit? Genau so wenig, wie Sie der Tod von Hunderttausenden vorher gelehrt hat. Es erschüttert Ihr Kartenhaus, aber es stürzt nicht in sich zusammen, im Gegenteil, es fügt noch ein paar Stockwerke hinzu.

Verschanzen Sie sich nicht dahinter, daß es immer Kriege gegeben hat, daß Kriege eine vielleicht traurige aber zwangsläufige Notwendigkeit wären, gegen die der einzelne Staat nichts tun könnte – und außerdem ein gesunder Staat müsse sich eben expandieren – geschweige denn der einzelne Mensch. Die Monbuttus, die das Fleisch des Zwergvolkes der Aka-Aka denen der übrigen sie umgebenden Stämme ihres Wohlgeschmacks wegen vorziehen, sind auch der Meinung, daß, so lange die Welt stände, man immer Menschen gefressen hätte und daß man es in alle Ewigkeit weiter tun könne und müßte. Man fresse die anderen oder würde vielleicht gefressen. Das wäre eben nun einmal so. Die Monbuttus haben nach dem Stand ihrer Kultur das Recht, so zu denken, Sie nicht mehr, Sie sind mitschuldig an diesem millionenfachen Mord.

Draußen hatte schon vor einer Weile das Rangieren der Züge eingesetzt. Die ganzen endlosen Wagenreihen waren in Bewegung gekommen, brodelten lärmend durcheinander. Männer liefen, brüllten, schwenkten Laternen in Kreisbogen, ganzen und halben, rechts herum, links herum, je nachdem. Nah und fern schnauften Lokomotiven oder ließen ihre Dampfpfeifen gehen. Welche schrieen plötzlich kurz auf, wie Kinder aus dem Schlaf, wenn sie etwas Böses träumen. Von ganz fern kamen sie durch die Schneewehen heran, eine nach der anderen, die langsam, selbstbewußt und würdig, die hastig, nervös und keuchend, als ob sie hier zu bestimmter Stunde eine Vereinssitzung abhalten wollten und Strafgelder in die Kasse zu werfen hätten, wenn sie sich verspäteten. Man hörte erstes, wildes Aufeinanderstoßen von Puffern, das sich scheppernd durch eine Wagenkette fortpflanzte, mit einem Geräusch, als ob Flaschen gespült würden. Die Zentralheizung war auch schon seit Stunden schlafen gegangen. Die sich abkühlenden Röhren hatten noch ein paar mal klingende, sirenenhafte Laute ausgestoßen und waren dann fröstelnd eingeschlummert. Eine Weile war noch die Wärme ihres Atems in dem Zimmer geblieben, und dann war es von Minute zu Minute kühler und ungemütlicher geworden, … naßkalt von draußen her.

Doktor Herzfeld hatte klamme Finger bekommen, und er hatte mehr als einmal die Füße auf der Rohrmatte gegeneinander geschlagen. Er sah ordentlich seinen Hauch an der Lampe vorbeistreifen. Er hatte lange geschrieben, erst zögernd, das Wort wählend; aber allmählich waren seine Gedanken in Marsch gekommen, und die Feder hatte kaum mit ihnen Schritt halten können. Nun warf er sie unwillig hin und stieß den Sessel zurück. Er vernahm plötzlich, daß es um ihn lärmte – so lange hatte er es nicht gehört, hatte es ihn nicht gestört, – und trat ans Fenster. Ach, ihm war zum Weinen traurig.

Der ganze weite Bahnkörper war jetzt von vielen neuartig-grellen Bogenlampen überstrahlt, die ganz hoch auf verdämmernden Lichtmasten schwebten und die wie eine Unzahl kleiner Monde aussahen. Über die langen angeschneiten Wagenketten, über die funkenstäubenden Lokomotiven, die prustend im eigenen Wasserdampf standen, über das schwarzblanke Schienengeflecht mit seinem niedrigen Lichtgewimmel bunter, wechselnder Signale inmitten der abgeteilten Schneeflächen, über alles das warfen diese Monde von ihrer stolzen Höhe herab phantastische, blauviolette Schleier, in denen ab und zu noch ein paar letzte Schneeflocken wie Flitterchen blinkten … Schleier von einer ähnliche unwahrscheinlichen und leise kitschigen Art, wie sie auf dem Nixenballet einer Vorstadtbühne um die Hüften der Choristinnen flattern. Hoch über allem stand aber, weit und hoch über dem hellgesäumten Rand der stummen, verschneiten Kiefernwälder, auf dem dunklen Himmel in einem dünnen, silberigen Wolkenschaum er, der alte Mond selbst, und lächelte verachtungsvoll auf seine unfähigen Nachahmer herab. Er war spät gekommen; aber er hatte sich Platz geschaffen und den Himmel sich fast rein gefegt. Auch für ein paar große, scharf-funkelnde Sterne hatte er Raum am Himmel gemacht; mochten sie ruhig etwas blinken und glitzern, gegen ihn kamen sie nicht auf.

Doktor Herzfeld sah hinaus, drückte, wie er es liebte, seine Stirn an die Scheiben (nachdenklich wie alle, deren Wissenschaft das Leben ist): Schnee und elektrisches Licht von Bogenlampen, das waren zwei Sachen, die zusammen gehörten, sich gegenseitig erhöhten, auf einander abgestimmt waren. Schnee und Gas, Schnee und Öllampen paßten nicht recht zu einander, warm und kalt; aber diese grünlichen Lichtkreise und der angestäubte Boden schienen ihm aus der gleichen abstrakten Gedankenwelt zu stammen. Und da oben der fast noch runde Mond, – leicht unheimlich, wie es abnehmender Mond ist – in seinem Gazegewand von Wolkenfloren … in eine Sommernacht kann sein grünliches Silber einen falschen Ton bringen, aber auf schneegepuderten Weiten, die selbst unter seinem Strahl wie zu einer luftlosen Mondlandschaft werden, offenbart er doch eigentlich erst ganz den Sinn seines kalten, erborgten Lichtes.

Über diese Schienen da unten war die Mobilmachung gegangen, Zug an Zug, Tage und Wochen lang in jenem überheißen, gleichmäßig erbarmungslosen blauen August 1914. Am Tage ging's; man eilte hinunter und verteilte Zigarren, und es lag so etwas wie Stimmung und Heiterkeit, Landsknechtton, ja sogar Verbrüderung und Weichheit über dem ganzen. Nein, nein, was hatte man denn geglaubt?! Der Krieg war ja eigentlich eine ganz nette und lustige Angelegenheit: junge blumengeschmückte Menschen und hellgekleidete Mädchen mit Körbchen am Arm, die lächelten, winkten und Kußhände nachwarfen, wenn die Züge wieder anrollten. Aber in den Abendstunden und in den heißen erregten ersten Nächten, wenn das »in der Heimat, in der Heimat da gibt's kein Wiedersehn«, immer von neuem von den gleichmäßig dahinrollenden Zügen durch die Stille kam, (und die Welt war ja mit einem Schlag sehr, sehr still geworden – die Zeit war gefroren und stumm der Raum –,) dann mischte sich doch dieser ferne, dumpfe Singsang und die erschütternde Monotonie der Schienenstöße durch die Nachtschwüle hin zu einer alles erdrückenden Traurigkeit ineinander, die, wie der Tabakrauch jedwedes Gefühl durchtränkte, und die man sich auch nicht am nächsten Morgen, wenn die Sonne gleich grell wie in den Tagen vorher emporkam, im hellen und scharfen Licht der Wirklichkeit – auch dann noch nicht – sich aus dem Herzen reißen konnte.

Über diese Schienen waren im Verrinnen von 28 Monaten zahllose Truppentransporte gegangen, die von Osten nach Westen, von Westen nach Osten geworfen werden sollten, drüben dezimiert waren, zur Ruhe kommen, oder, frisch aufgefüllt, in Flandern eingesetzt werden sollten. Hin und wieder hatte mal hier einer des Nachts gehalten, und ein mürrisches lärmendes Gewimmel schwarzer Gestalten hatte sich schwerfällig über Schienen und Bahndämme ergossen, nur um auf Hornsignale und Kommandorufe alsbald fluchend, sich schiebend und stoßend mit schweren Stiefeln wieder in die Wagen zu klettern. ›48 Mann – für Viehtransport ungeeignet,‹ stand an manchen, wie als Überschrift, als Symbol für die Bewertung der Menschen.

Und alle paar Nächte, schon von der ersten Woche an, schob es sich, wenn Berlin längst schlief, geheimnisvoll heran, kam in langem Halbrund langsam hinten aus dem Wald geschlichen, zog leise und fast feierlich unter den Lichtkreisen der Quarzlampen dahin und tauchte weit drüben nach der Hauptstadt zu von neuem ins Dunkel ein. Sie gemahnten Doktor Herzfeld immer an die stumm vorüberwallenden Klagechöre der Tragödie, diese Lazarettzüge. Manche Nacht folgten viele nach einander, schoben sich, mit ihren aufdringlichen roten Kreuzen an den Wagenflanken und auf den Dächern, unter den Lichtmonden dahin und verschwanden wieder, nur um ihre Trauerlasten – die tägliche Abnutzung des Krieges, wie die Zeitungen schrieben, – noch ein Stückchen weiter zu schleppen, sich ihrer zu entledigen und sich morgen schon wieder für neue bereitzumachen. Sie hatten ihre eigene Mollmelodie der Schienenstöße, diese Lazarettzüge, die Doktor Herzfeld schon hörte und unterschied, wenn sie noch von weither aus dem Dunkel der Kiefernwälder nur leise und unbestimmt erst herüberwehte: dam … dim … dam … dom … dam … dim … dam … dom.

Kam da nicht schon wieder einer durch die Nacht herangeschlichen? Doktor Herzfeld erkannte deutlich den Laut aus den vielen Geräuschen heraus, die über den weiten Bahnkörper hingeisterten.

Richtig, da waren drüben schon die ersten roten Kreuze auf dem weißen Feld. Sie waren so groß, daß durch sie die Wagen ganz klein wurden, niedrig und kurz. Doktor Herzfeld mußte unwillkürlich zählen, es zwang ihn gleichsam, diese Vervielfältigung des menschlichen Elends ganz mit zu erleben, fünf, zehn, schon fünfzehn, zwanzig, dreißig, immer mehr, immer mehr. Da waren nun gewiß dicht bei einander Deutsche, Engländer, Franzosen und Belgier, Freunde und Feinde, nur noch arme, fiebernde, nackte, wundenzerfetzte Menschen, und der Arzt ging von einem zum andern, balanzierte über die Verbindungsstege von Wagen zu Wagen und stellte fest, daß sie sich durch garnichts unterschieden, daß bei den verschiedensten Nationalitäten eine Tetanusinfektion genau den gleichen Verlauf nahm. »Proletarier aller Länder, schlagt euch gegenseitig tot«, murmelte Doktor Herzfeld vor sich hin, während er die Lippen kaute und mit brennenden Augen zusah, wie jedes Glied dieser rollenden Kette, voll von Schmerzen, Qualen und Stöhnen, drüben wieder allgemach Wagen für Wagen sein blutiges Kreuz an dem letzten Licht vorbei in die grünliche, schneeige Dämmerung trug, um gemach zu verschwimmen und endlich nur noch Hauch und Laut zu werden: die melancholische Melodie eines Schienenstoßes. Und sich sagen, daß überall jetzt in diesem Augenblick diese gleichen Züge voll Grausen durch das Land rollen, hundert vielleicht, und nicht wahnsinnig werden … Man wird es vielleicht nur nicht aus Mangel an Vorstellungskraft, eben weil es unserem Hirn nicht gegeben ist, in hunderttausendfachen Vergrößerungen zu denken. Und zum Schluß gibt es vielleicht gar keine Vervielfältigung, nur Reihen. Ob eine Granate einen oder zehn zerreißt, einen oder zehn zu Krüppeln schlägt, ist das Gleiche: Der Tod und das letzte in Nöten sich windende Menschentum stehen am Ende: sie sind nicht zu steigern.

Doktor Herzfeld war in Gedanken wieder zu Kurt zurückgeflogen, ohne daß er es merkte: »Gott, dieser arme Junge, ob man den auch noch erst so durchs Land geschleift hat?! Hoffentlich ist ihm wenigstens das erspart geblieben.«

Vorn auf den ersten Schienensträngen stellte man gerade einen Güterzug zusammen, ließ einzelne Wagen von weither anrollen, aufprallen, als ob sie Billardkugeln wären, schleifte sie gleich zu dreien und vieren heran. Man schien es nach dem uralten Prinzip der Hexameter zu machen, lauter Daktylen, langkurzkurz, lang-kurz-kurz. Auf dem ersten Wagen stand ganz für sich allein eine kleine Lokomotive – Feldbahn oder Bergbahn – und es sah aus, wie sie immer hinter der Alten, Großen, Schwarzen, Prustenden hinterherlief, wie ein Lokomotivjunges, das noch die Brust bekommt und sich deshalb noch nicht weit von der Mutter forttraut. Dann wechselten mächtige, von leicht angeschneiten Planen überspannte Heuwagen mit je zwei kurzen, offenen Lowries mit gelbweißen Schwellen und zugeschnittenen Grubenhölzern. Ganze Wälder wanderten hinaus, um in die Erde der Schützengräben und Unterstände zu versinken. Wieder Heuplanen. Dann Drahtverhaue, grollend, schwarz und stachelig. Dann Wagen mit Rätselworten beschrieben, die nicht verrieten, was sie enthielten, die geschlossen, versperrt, plombiert waren, und deren Luken noch zum Überfluß mit Stroh und Lappen verstopft waren … Alles von Schnee überpudert, der eigentlich kaum auf den Flächen lag, sondern eher wie mit weißer Kreide die Linien, die Umrandungen der schwarz schraffierten Formen nachgezogen hatte. Nur die Bremserhäuschen hatten sehr feine, durchbrochene Schneedeckchen sich aufgelegt.

Plötzlich kam ein neuer Daktylus hinzu, drei Wagen, geschlossen, sehr lang … kurz … kurz …, über und über in Schnee gehüllt. Sie erinnerten Doktor Herzfeld an die Teilnehmer der Expeditionen durch Alaska, die immer sich photographieren lassen, den rechten Fuß auf eine tote Robbe gestemmt. Sie hatten ganze Lasten von Schnee auf ihren Dächern, dicker als Eisbärfelle. Er hing in schweren Quasten von den Rändern herab, bauschte sich ordentlich. Hie und da war er abgebröckelt, und an den Bruchstellen sah Doktor Herzfeld, daß er nicht von heute und gestern war, sondern Schichtungen hatte wie ein Kalksteingeschiebe; zweimal, dreimal war es wohl getaut, gefroren und neu überschneit worden. Ihre Puffer und ihre Stirnwände waren auch ganz mit Schnee verklebt. Der Schnee mochte durch Rauch und Städtedampf hindurchgezogen sein, aber er hatte nichts davon angenommen, hatte seine Wesenheit gewahrt, war von zäherer, herberer Art, festerer Konsistenz als der andere Schnee um ihn, er trug Nachtfrost, klingende Sternennacht und Gebirgswälder gleichsam mit sich.

Wo mochten diese Wagen, diese drei Frostheiligen wohl her sein? Doktor Herzfeld versuchte umsonst irgend welche Zeichen an ihnen zu entziffern. Das blaugrüne, leichenfahle Licht war zwar hell, aber nicht allzu sehr, es tat eigentlich mehr so, als ob es leuchtete. Man überschätzte es leicht. Die Wagen bewegten sich auch, wurden auf- und abgeschoben; jetzt waren sie fast dicht unter dem Fenster und dann schon wieder ein Stück weiter unten. Diese phantastischen Schneemänner, die herausfielen aus ihrer schlichteren Brüderschaft. Und endlich, ja … waren Doktor Herzfeld's Augen auch nicht mehr die allerbesten. Aber – wo mochten sie herkommen? Sicher waren sie gestern den ganzen Tag durch den Thüringer Wald gewandert, hatten unter Tannen gestanden, die, wenn sie auch unter den weißen Lasten die Arme gesenkt hatten, doch den Kopf hoch hielten, verdammt hoch, und sich den Sturm um die Nase gehen ließen, als ob das so sein müßte. O, sie waren wohl noch weiter aus dem Süden heraufgewandert: vielleicht aus Tirol oder aus den deutschen Alpenländern, wo jetzt gewiß schon ganz Winter war, weiß und blau mit kandierten Wäldern unter den Silbergipfeln und mit gefrorenen Wasserfällen von den Felswänden.

Eine Lokomotive schrie weit drüben plötzlich auf, mitten aus dem Wirrwarr von Zügen heraus, lang gedehnt und sehnsüchtig … Unter allen mechanischen Lauten, Lauten, die eben kein Gotteswesen, – Mensch oder Tier oder Baum, – ausstößt, gibt es keinen, der so beseelt wäre, wie der Lokomotivenschrei. Er ist die Sehnsucht schlechthin: fort, weiter, diesen Ort verlassen, andere Bilder, andere Menschen, Ebenen oder Gebirge, Seen und Zypressen; er hat etwas Wildes, Schmerzhaftes und Gequältes in eins; er ist bitter, unersättlich und unstillbar; und er weiß genau, daß er ewig unbefriedigt bleiben wird und muß. Er schwebt der wildesten Jagd der Räder voran, als ob er nicht schnell genug woanders hin gelangen kann, wo er doch zum Schluß auch nur seine eigene Melancholie wiederfinden wird. Das sagt sein Verebben, sein wehes Verklingen schon, das sich wie mit einem Reif um die Stirn legt und die Augen mit Tränen füllt.

Doktor Herzfeld spürte diesen Schrei da oben an seinem Fenster bis in die Haarwurzeln hinauf, d. h. seine Haare waren ziemlich dünn geworden, recht weit nach hinten gerückt mit den Jahren und stark grau untermischt, wie das bei dem Ditopassabeln so üblich war. Und im Augenblick, wie durch ein Wunder, – Doktor Herzfeld selbst hätte es noch eine Sekunde vorher nicht geahnt, – bekam diese Sehnsucht ein greifbares Ziel: dieser Lokomotivschrei und der tiefverschneite Daktylus von Güterwagen verband sich in ihm mit einander; er mußte sich, seinem Schmerz, seiner Bedrücktheit entfliehen, seine Unrast an einen anderen Ort tragen. Das kam im Moment wie ein Zwang und wie eine Erlösung über ihn. Es packte ihn Sehnsucht nach Schnee, nach großen, weißen Flächen, silbrig, kühl und jungfräulich, ganz eingepolstert in Felle von Weiß, kaum getrübt von der Fußspur eines Vogels oder eines Wiesels, nach Schnee, der das Herz erfrieren läßt, vornehm und menschenfern, als ob man gestorben in einer anderen Welt erwacht wäre und nun erst wüßte, daß man wirklich tot ist.

Wieder schoben diese drei Gespenster da unten vorbei, geisterten im Leichenlicht der Quarzlampen vorüber, und, wie Doktor Herzfeld scharf hinsah, da erspähte er so etwas wie ›München‹ daran … oder hieß es ›über München‹? denn es stand noch ein Wort davor; aber das konnte er nicht entziffern. Und da wußte er, daß er noch heute, nein, morgen mit dem frühesten fort mußte. Seit über zwei Jahren hatte er keinen Fuß aus Berlin gesetzt. Es war ihm, als hätte ihn jemand hierher gebannt. Er war sich durchaus klar darüber, daß hier, und gerade hier alles am schwersten zu ertragen war, daß ihm nirgend so sehr das verkappte Elend des Krieges – selbst unter der Maske der gierigsten Lustigkeit – entgegengrinste wie gerade hier; daß die Luft sich hier keine Sekunde entspannte; daß es in Berlin keinen Sommer, Frühling oder Winter mehr, sondern unterschiedslos nur Tag und Nacht – und auch diese kaum mehr – gab. Und doch blieb er wie gebannt, während er sich immer sagen mußte, daß es noch gewiß genug Orte in der Welt gäbe, wo die Sonne wie immer emporstiege, die Wälder in Mittagsgluten oder in Herbstbränden träumten, und nur ganz fern so etwas wie Krieg durch die Wipfel rauschte.

Nein, er mußte fort, wenn er überhaupt noch einmal atmen sollte … »Der Schnee des Alters bleichet deine Haare, such eine Freistatt für die kurze Zeit.« Der Vers, irgendwo von ihm erhascht, vor hundert Jahren in grünster Jugend, schoß ihm plötzlich durch den Kopf. Bis zu diesem Augenblick hatte er sich in Doktor Herzfeld aufgespart, um endlich Wahrheit und beziehungsreich zu werden.

O ja, er hatte ja noch zwei Zimmer da unten im Gebirge, die warteten auf ihn, standen da und warteten. Es waren sogar ein paar einfache Möbel drin, selbst einige Bücher, die ihm gehörten. Bis vor dem Krieg war er jedes Jahr mehrere Male ein paar Wochen dort gewesen; in den letzten Jahren jedoch hatte er es meist anders vermieten lassen und so die paar hundert Mark gespart, die sie ihn sonst als Miete gekostet hätten. Aber jetzt seit dem 1. November waren sie wieder leer geworden. Richtig, die warteten auf ihn. Ob er hier oder dort lebte einige Zeit, war gleich, kam auf eins heraus.

Unten trottete der Zug fort, war fertig, wurde hinausgeschleppt, schob sich langsam nach der Stadt zu, von der man deutlich einen Lichtschein, matt wie ein ersterbendes Nordlicht, über dem Horizont sah; und aus der dunklen, kaum angestäubten Kette leuchteten noch von weit her die drei Wagen mit ihren schweren, bauschigen Schneedecken, bis sie rechts drüben sich in eine Kurve schoben, und einer nach dem andern noch ein allerletztes Mal herüberwinkten.

Doktor Herzfeld wandte sich wieder ins Zimmer zurück. Eigentlich war das ja eine Narrheit, dieser plötzliche Entschluß! – aber er war überrumpelt, und es hatte ihn gepackt, – er kannte das, – und dann ließ es ihn nicht los. Und warum auch dagegen ankämpfen? »Es« wisse schon, was es damit wolle, dieses »Es«; es wäre sicher sein Bestes; er würde sonst doch nur daran zu Grunde gehen. Das Zimmer war noch ganz still und unbefangen im Lichtkreis der Schreibtischlampe, ahnte noch nichts, daß man es verlassen wollte. Die Bücher standen mit dem Lederrücken und in ihren bunten Schildchen in Reihen die Wände entlang in den Regalen und warteten, daß er sie herausnehme, sie sahen ihn ordentlich erwartungsvoll an, denn jeden Abend kam irgend eines von ihnen an die Reihe, um ihm noch ein paar Seiten lang seine Klugheiten vor dem Schlafengehen zu schenken, immer ein anderes; es war wie in einem Weinkeller, wo die Fässer stehen, verschiedene Jahrgänge, verschiedene Lagen, und man sich nur ein Glas abzapft, mal hier, mal dort.

Doktor Herzfeld eilte mit den Blicken die Reihen entlang. Er wollte ein paar Bücher sich mitnehmen. Plato, den Lysis und Phaidros, … gerade vielleicht den Lysis. (Kurt, der arme Junge!) Aber nein, die helle, weitsichtige Klarheit, die fließenden und doch scharfen Linien wie auf den Figuren attischer Amphoren, irgend etwas log für ihn in dem Dennoch dieser Welt, in dieser adelsreinen Geistigkeit, die aus einem Jahrhundert langen Gemetzel sich erhoben hatte und erhob. Das war nicht, was er im Augenblick suchte, hätte nicht geklungen, und darauf, auf das Klingen bei uns, kommt es doch an, nicht auf das Werk. Das ist ewig. Uns soll es etwas sein. – Und wir sind ephemer.

Emerson: Er hatte ihn durch Jahre sehr geliebt; aber er verschwamm ihm jetzt. Dies beweislose Aneinanderreihen aufdämmernder Gedanken. Er hatte etwas von einem Strand, der voll von Muscheln geworfen war, wahllos, wie ihn eben der Atem des Meeres aus sich herausschleudert, mit Tang und Geröll zusammen. Und zum Schluß glaubt er doch wie ein Leibnitz an eine beste der Welten – und die Welt ist schlecht, schlecht, … schlecht! Thoreau: Walden … ein Buch für die Einsamkeit, herrlich und kühl wie ein Fichtenwald bei Sonnenaufgang, voll Menschentum. Aber – was nützt mir jemand, dem die Dinge nichts sind, die die Kunst schuf. Nein, nicht Thoreau! Alexander v. Villers ›Briefe‹. Er ist Künstler oder er hat das Wesen des Künstlers in sich gefühlt und erkannt; er ahnt den Prozeß des Formens feiner als andere. Das ist schön. Aber – er formt nicht. Um hundert Zeilen Villers, die man auswendig lernen könnte und sich täglich hersagen möchte, kann man nicht zwei dicke Bände lieber Nichtigkeiten schleppen, auch wenn man selbst die noch an dir schätzt. Bleib da! Laotse, Urquellen, diese tausendjährigen Weisen, – er liebte sie sehr, – aber die Luft war so dünn und rein um sie; er konnte sie nicht lange atmen. Ja, wenn er reifer wäre und ruhiger und älter, zehn, zwanzig Jahre älter; aber, noch war er zu schwer verstrickt in dem ganzen Wahnwitz dieses Lebens; nein, nichts davon.

Doktor Herzfeld hatte die Hände auf den Rücken gelegt, – eine Lieblingsstellung von ihm, – und glitt die Bücher mit den Blicken entlang. Sollte denn unter den bald zweitausend Bänden wirklich nichts sein, was ihn begleiten durfte? Kleist, cyclopische Quadern von Prosa – er hörte den Schritt preußischer Grenadiere, schneidende Kommandorufe, Kants harte, unerbittliche Pflichtbegriffe daraus klingen, als er den Band hervorzog, und er drückte ihn wieder auf seinen Platz zurück. Raabe's Abu Telfan, – er hatte ihn lange nicht zur Hand genommen: ›wenn ihr wüßtest, was ich weiß, würdet ihr viel weinen und wenig lachen‹. Aber ihm graute vor dem Schnörkel, vor dem Graben durch tote Gesteinschichten, bis man zu den Erzadern kam. Das war nicht das, wonach es sich jetzt sehnte. France ›Coignard‹, sonst sein delikatester Freund; und doch: die Welt ist nunmal keine Universität, in der weinselige, verbummelte Cyniker sich lachend Wahrheiten aus dem Herzen reißen. Bleib da, alter Junge! Remi de Gourmond: Nacht im Luxembourg. Es ankert im Religiösen letzten Endes; aber seltsam und stark ist es! Nein, – abgelehnt! ich kann es nicht brauchen. George Moore, ›Aus toten Tagen‹, Buch für Fünfzigjährige. Jedes Alter hat seine Bücher. Die Kataloge wissen zwar nur von Kinderbüchern, Büchern für die reifere Jugend; aber sie sollten auch in Bücher für Männer, Bücher für Frauen, für Zwanzig-, Dreißig-, Vierzig-, Fünfzig- und Sechzigjährige eingeteilt sein, die Kataloge. George Moore, dich kann man hundertmal lesen, Dichter mit den Maleraugen, in Frauen und Frankreich verliebter Ire. Ich möchte schon deinen Traum von Orelay noch einmal träumen …, wenn bessere Zeiten kommen, wie meine Seele hofft. Dageblieben! Charles Louis Philippe, ›Croquignole‹, halt, du hast das, was ich suche, du empfindest den doppelten Boden aller Dinge. Du kennst das nackte, gemeine Leben und die tiefe Rührung selbst über seine kleinste Erbärmlichkeit. Du kannst weinen über einen schmutzigen, zerbrochenen Kamm auf dem Nachttisch einer Dirne, weil du das für uns alle Schicksalshafte in ihm siehst. Und doch, – ich möchte jetzt nicht zehn Seiten von dir hören, geschweige denn dreihundert. Bang's graue Melancholie, – der Größten einer in Europa! Wie still bei dir die Leute am Wege sterben. Auch Tine tut es; – aber es ist Krieg drin und Heereszüge und anmarschierende Truppen. Nein! Hamsum, du Wilder, du Barbar, alter Wikinger, der du die Schlüssel dem Herrgott geraubt hast und nun alle Kammern unserer Seele aufschließt, auch die verbotenen, die noch nie ein Fuß betreten hat und betreten durfte. Ein Ruck, und du sprengst die Tür auf, steigst zu den Mysterien die steilsten Wendeltreppen hinab, du belauerst Pan im Wald, wie er seine zottigen Beine um einen Buchenast schlingt. Ich kenne dich – aber ich habe jetzt keine Sehnsucht nach deinen Labyrinthen.

Tolstoi, Dostojewski, Turgenjew … Wie kommt es eigentlich, daß ich mich immer mehr zwingen muß, Russen zu lesen, die mal alles für mich waren, Apostel, Führer, Eroberer? Vielleicht die Alten, wie Gogol oder noch Halbrussen, wie Turgenjew, … aber bei Tolstoi, bei Dostojewski und den anderen von heute habe ich das Gefühl, als ob ich mich in einem riesigen Urwald verirrt habe. Ich sehe bald nicht mehr die Wunder der Waldriesen, die Größe und Feierlichkeit ihrer grünen Hallen, Brombeerranken, Sümpfe, Waldwiesen, Hirsche und Bären, höre keinen Adlerschrei und keinen Spechtlaut aus der Ferne. Heiliger Himmel, nur ein Zelt, eine menschliche Behausung, nur einer von den Meinigen, dem ich die Hand drücken kann! Gewiß: Menschlichkeiten, – zugegeben! – und wenn ihr mit eurem Skalpell auch den letzten Nervenfaden der Qual bloslegt und im Mörder und in der Prostituierten Gotteswesen seht, schuldig und schuldlos wie jeder von uns, zugegeben, (ich glaube es; weiß es besser als ihr,) das ist Antäus, – nicht Apoll! Aber nur ein Witzwort, zeigt mir ein Witzwort, ein Schillern, ein Aperçu, eine angenehme Geste, ein Zimmer, ein hübsches Möbelstück, eine charmante Frau, eine polierte Stelle in der ganzen russischen Literatur, ein Wort Goethe, eine Zeile Altenberg oder Hoffmannsthal! … eine Seite, die da ist: sinnlos und schön wie der Staub auf den Flügeln eines Perlmutterfalters, – er fliegt genau so gut, wenn ihn der Regen oder eine rohe Kinderhand heruntergerieben hat. Zeigt mir den Staub auf den Schmetterlingsflügeln eurer Kunst, Russen, und ich will euch wieder lieben, wie ich es ehedem tat. Nichts, nichts, nein nichts, wonach ich Sehnsucht hätte.

Doktor Herzfeld ging zu dem andern Regal herüber und begann zu suchen, zog unentschlossen heraus, schlug den und jenen Band auf und schob ihn dann doch wieder zurück in seine Reihe … Narr und Fanatiker, Schnorrer und Kindskopf, voller Laster und Beschränktheit, weise wie ein Heiliger, dumm wie ein Stück Holz, kaum gebildet, ganz auf das Leben gestellt und klug wie zehn Schlangen, eitel wie eine Siebzehnjährige und Meister im Florett des Wortes, das stets das rote Herz auf dem Wams traf, nichts dieser Klinge unerreichbar. Du magst Schwaches geschrieben haben P. A., aber nie eine Zeile, die nicht ganz du war, die irgend wer in der Welt dir nachschreiben könnte. In einem Land mit Sinn für Literatur hättest du dein Stadthaus am Ring gehabt und dein Auto, um auf dein Landgut zu fahren. Unter hundert Millionen deutschsprechender Menschen, an die du dich wandtest, weil du in ihrem Idiom schriebst, mußtest du Schnorrer bleiben und von der Gnade anderer in einem Zimmer 33 im vierten Stock im Grabenhotel wohnen, oder auf dem Semmering warten, wer dich zu einer Wagenfahrt einlud. Aber auch Altenberg würde nicht klingen, jetzt nicht. Er glaubt an die Dinge; aber er spielt doch nur mit ihnen.

Doktor Herzfeld war mit den Blicken auf eine andere Reihe gesprungen, war bei den Jüngsten angelangt. Er liebte sie selbst dort, wo er nicht mit ihnen gehen konnte, weil sie in eine Welt wiesen, der er nicht mehr angehören würde. O ja, es waren schon Säulen dabei für neue Tempel; Werfel, dem das deutsche Wort klingender und melodischer wurde als denen der Generation vorher, und der zugleich Pionier neuer Menschlichkeit war; Sternheim, ihr Molière, in Essig und Galle getaucht, aber doch vom Holz, aus dem die Literatur ihre Besten schneidet. Ehrenstein, der aus seiner Jahrtausend alten Schwermut über den Tanz der Marionetten zu lachen versucht; Kornfeld, in dem aus der gleichen Schwermut und aus tiefstem Lebensüberdruß doch Extasen brennen. O es gab schon Säulen dort, … viele vielleicht; nur, daß sie kein Dach trugen, keines bauten und wohl auch, wie die Dinge in ihnen und um sie lagen, auch keins bauen konnten. Merkwürdig,‹ dachte Doktor Herzfeld, ›wie doch von denen schnell jetzt jeder seine Mission erfüllt hatte, seine Sache dem nächsten übergab und sich trollte. Früher blieb solch Mann ein, zwei Lebensalter am Steuer, heute sind sie wie Sportsleute schnell verbraucht, werden gedruckt und treten ab.‹

Aber plötzlich zog Doktor Herzfeld aus einem Spalt zwischen Rilke und Däubler ein kleines, schwarzes, dickes, sehr ramponiertes Kalikobändchen, das sich da verborgen hielt, hervor. Kurz und asthmatisch sah es aus. Ein Bändchen wie eine kleine Bibel war es, wie ein dickleibiges Gesangbuch alter Zeiten, und Doktor Herzfeld streichelte mit sehr zärtlichen Fingern darüber hin. Da hatte er ja, was er suchte. Das wog ganze Bibliotheken. Da in dem Andachtsbuch war alles, was er für jede Stunde brauchte. Man konnte lange darin blättern, ohne zu ermüden, und es genügten auch drei Zeilen für die Wegzehrung eines Tages. Es war mit ihm schon weit herumgekommen, hatte ein gut Teil von Europa gesehen, es war in Sizilien gewesen, hatte in London und in Wien und im Norden auch in manchem Hotelzimmer gelegen. Es war der Extrakt eines ganzen Lebens darin, – und wessen Leben?! Da waren die Silberspiegel auf den Flügeln des Perlmutterfalters, und nur die Silberspiegel. Irgendwie hatte es sich mal bei ihm angefunden als einziger Überlebender seiner fünfzehn gleichen Geschwister, dieses Bändchen Goethe einer alten Taschenausgabe aus den sechziger Jahren, merkwürdig anständig gedruckt, wie man das früher tat, ohne viel Aufhebens davon zu machen, bei Herrn von Cotta in Stuttgart. Die ›Sprüche in Reimen,‹ die ›Maximen‹ und den ›Westöstlichen,‹ das enthielt es, … fast nichts sonst: es genügte aber für ein Menschenleben. Flieh, auf! hinaus ins weite Land! Und dies geheimnisvolle Buch von Nostradamus eigener Hand, ist es dir nicht Geleit genug? Man mochte es aufschlagen, wo man wollte, man fand nie das, was man erwartete und stets das, was man eigentlich gesucht hatte, ohne es zu wissen. Was brauchte er anderes da draußen noch. Doktor Herzfeld mußte plötzlich an das Buchorakel in Kellers Sinngedicht denken, und er schlug das Bändchen auf, als ob er Zukünftiges befragen wollte. Er mußte aber zum Schreibtisch herüber gehn, denn hier war es nicht hell genug, um gut zu lesen.

›Die Liebe, deren Gewalt die Jugend empfindet, geziemt nicht dem Alter‹, das waren die ersten Worte, auf die sein Blick fiel. »Nein, nein, das paßt wohl jetzt nicht für mich«, meinte Doktor Herzfeld (denn wir ahnen ja nie, was für uns paßt) und schob das Büchelchen in die Tasche.

Ach, da lag ja noch der Brief an Gutzeit, den müßte er also jetzt noch kuvertieren.

Und wie Doktor Herzfeld aufschaute, um sich einen Briefumschlag zu suchen, die oben in den Fächern des Aufbaues seines Schreibtisches lagen, traf sein Blick – er hatte es den ganzen Abend nicht getan – auf seine schöne altersschwarze Mingbronze, auf den Hotei, den Kindergott, den Fettbauchbuddha, der da oben auf eben diesem Aufbau in der Mitte gleichsam als Bekrönung hockte. Und sei es nun, daß es so erschien, weil das volle Licht der Schreibtischlampe – während der Körper mehr im Schatten war – mitten in sein stilles Gesicht und auf die kahle Kugel seines Schädels fiel, es kam Doktor Herzfeld so vor, als ob dieser stumme, behäbige, uralte Herr ihn ebenfalls ansah mit einem ganz deutlichen Lichtblitzen in den Löchern seiner ehernen Augen, ja, als ob die Blicke ihn gesucht hätten, ihn angezogen hätten und schon eine ganze Weile mit ihrem stillen, verstehenden Lächeln auf ihm geruht hätten.

Unbeweglich wie stets saß er da, der Buddha, mit seinem wundervoll kahlen Schädel auf dem kurzen Schwartenhals; groß und lappig auf beiden Seiten des runden Kopfes hingen seine Ohren, und die Weisheitswarze warf einen deutlichen Schatten mitten auf die Stirn. Er rückte und rührte sich nicht, hatte das eine Bein unter den Leib gezogen, hatte die Fettpatsche auf dem anderen Knie; und in den Falten seines Kleides, das von der feisten Schulter herabgefallen war, und aus dem Brust und Bauch fett und behäbig sich empor wölbten, glitzerten die letzten Spuren alter Vergoldung, die der beißende Qualm der Weihrauchbecken noch an ihm gelassen hatte.

So hockte er da oben und sah auf Doktor Herzfeld hernieder, leicht belustigt, mit seinem tief-verstehenden, welten-überlegenen, asiatischen Lächeln. Und Doktor Herzfeld griff mit der Hand hoch, um ihm, das tat er gern, über den so unerhört gut geformten Schädel zu streichen, an dem man gleichsam alle Nähte und Knochenplatten spürte.

Und wie seine Hand nicht los kam von diesem zarten Spiel feiner Abstufungen, so kam sein Blick nicht los von diesem Lächeln des innern Siegers und von diesen eindringlichen, halb gütigen, halb vermahnenden, sehr ruhigen und sehr nachdenklichen Augensternen, die – weil sich wohl das Licht von unten her in ihnen verfing, – plötzlich geheimnisvolles Leben bekommen hatten und fast wie vorwurfsvoll auf ihm ruhten.

Die andere Hand aber vergaß ganz, nach den Briefumschlägen zu greifen.

Ja, ja, ich verstehe dich ja, du hast recht: man ist nicht mit jemand deshalb befreundet, um ihm unangenehme Wahrheiten zu sagen. Das widerstrebt der uralten Höflichkeit deines Landes. Was habe ich davon, und was nützt es dem andern? Und dann: du hast schon mehr gesehen als ich, länger den Dingen hier zugeschaut; du weißt es: es geht alles vorüber. Wozu sich erregen?! In zehn Jahren sicherlich da werden die Knochen dieser armen beiden Jungen schon zu zerbröckeln beginnen. Ich werde nicht mehr da sein; Hermann Gutzeit wird längst vergessen sein – er schreibt nur für Zeitungen, um eines Tages selbst eine Notiz in einer Zeitung zu werden; er stirbt im Feuilleton seines Blattes mit Nachruf (in der ersten Beilage anderer Blätter mit zwei Zeilen und einem Kreuzchen), das ist nun mal so. Wozu den Lauf der Dinge stören? Nichts leiten. Nichts regieren wollen. Es löst sich alles hier von selbst. Der Sinn ist ewig ohne Handeln. Das Schwache siegt endlich über das Starke. So heißt es ja wohl bei dir! Ich verstehe dich; aber – es ist hart für uns, die wir dabei zu Grunde gehen. Du weißt es, denn dir bleibst, du bist das Lächeln dieser Welt – was immer geschehe. Also, wozu Sturm laufen gegen die Illusionen anderer Leute! Wozu dem andern noch wehtun? Er ist ja trotzdem eine arme, geschlagene Kreatur, ist ein Baum mit gekapptem Wipfel, auch – wenn er meint, daß er noch aufrecht stände. Du bist also jetzt der Ansicht, ich sollte nur das schreiben, was man stets sagt, bei solchen traurigen Anlässen, nicht mehr, nicht weniger. Du magst recht haben.

›Lieber alter Freund, ich bin tief erschüttert durch die traurige Nachricht, die Sie mir sandten. Ich spreche Ihnen und Ihrer Frau, da ich nicht zu Ihnen eilen darf, mit diesen dürren und kärglichen Worten mein Beileid aus. Ich wünsche Ihnen, daß Sie beide die Kraft finden mögen, das Schwerste Ihres Lebens zu ertragen. Nach meiner Rückkehr – ich verreise morgen – hoffe ich Sie einmal aufsuchen zu dürfen. Wenn Sie vielleicht ein Bild von Kurt für mich hätten, wäre ich Ihnen dankbar, doch ich werde auch diesen jungen, herrlichen Menschen ohnedies nie vergessen.‹ Nicht, das meintest Du, sollte ich Hermann Gutzeit schreiben, kein Wort mehr?!«

Aber der Buddha hockte da oben genau so wie vorher mit seinem stillen Lächeln und dem Lichtschimmer in seinen ehernen Augen. Und Doktor Herzfeld strich ihm noch ein letztes Mal über den Schädel, und dann stand er auf und warf ein paar Manuskripte zusammen, die er sich mitnehmen wollte.

Ja, er müsse doch wenigstens die Dinge herausnehmen, die er für die Reise brauchte.

Aber, als er draußen an den Schränken herumrumorte, erschien in Schlappen – den eigenen jetzt! – in Barchentjacke und einem haubenähnlichen Etwas über dem Haarwulst, die brave Roggemann, die wähnte, daß ›er‹ doch vielleicht in die Speisekammer sich begeben möchte und deshalb fragte, was der Doktor denn eigentlich noch so spät wolle. Und Dr. Herzfeld sagte ihr, daß er morgen früh verreisen würde und daß er das und jenes in den kleinen Koffer gepackt haben möchte; anderes könne man ihm nachsenden. Sie möchte es zusammensuchen, und morgen früh um sieben spätestens solle sie ihn wecken. Er möchte noch etwas ruhen, er sei sehr müde.

Und damit ging er in sein Zimmer und legte sich aufs Sofa unter die Reisedecke. Bett und Ausziehen lohnte sich nicht mehr. Frau Roggemann aber war des zufrieden. In die Speisekammer war er ihr wenigstens nicht gekommen.

* * *


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